So schaffen wir das - Othmar Karas - E-Book

So schaffen wir das E-Book

Othmar Karas

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Beschreibung

Othmar Karas, Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments, und Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der WU Wien, legen gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Politik und Wissenschaft pragmatische Vorschläge zur Lösung der größten humanitären Herausforderung unserer Zeit vor. Ohne linke und rechte Emotionen zeigen sie, wie sich Zuwanderung und Flucht in einer modernen, den Menschenrechten verpflichteten Demokratie organisieren lassen.

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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Othmar Karas,Judith Kohlenberger:So schaffen wir das

Alle Rechte vorbehalten© 2023 edition a, Wienwww.edition-a.at

Cover: Valeriya GridnevaSatz: Bastian Welzer

Gesetzt in der PremieraGedruckt in Deutschland

1      2      3      4      5      —      26      25      24      23

ISBN: 978-3-99001-640-4

eISBN: 978-3-99001-641-1

Othmar KarasJudith Kohlenberger

SO SCHAFFEN WIR DAS

Wie wir das Thema Asyl und Migration dem linken und rechten Rand abnehmen und die Krise überwinden

INHALT

Vorwort der Herausgeber

Einleitung

Gemeinsame Migrationspolitik zum Greifen nah

Asyl in der EU, ein Glücksspiel?

Wer kommt? Wer bleibt? Zuwanderung nach Europa und ihre Folgen

Flucht und Recht: Von Afghanistan bis Ukraine

Tatenloses Zuschauen kommt teuer

Von der Festung Europa zum schwer bewachten Haus

EU-Außengrenzen gemeinsam schützen – aber richtig

Rote Karte für Pushbacks

Halte Dich einfach an Deine Regeln, Europa!

Legale Fluchtwege aus der Asylkrisenfalle

Ein Plan zur geordneten Rettung

Mahnmal Moria bleibt »Europas Schande«

Mit Migration den Fachkräftemangel minimieren

Integration – Dauerauftrag für Zivilgesellschaft, Staat & Kirche

PatInnen für Kinder auf der Flucht

Die Integrationssegel neu setzen

Verräterische Sprache, kollektive Amnesie und die Macht von Vorurteilen

Kontrolle gegen Machtmissbrauch

Was wir aus dem großen Flüchtlingsjahr 2015 lernen können

»Ein wahrer Anwalt des Rechts« – Laudatio für Wilfried Embacher

Schlussfolgerungen

Fußnoten

Quellenverzeichnis

AUTORINNEN UND AUTOREN

Doro Blancke

Menschenrechts-Aktivistin und Geschäftsführerin des Vereins »Flüchtlingshilfe / refugee assistance - doro blancke«

Lukas Gahleitner-Gertz

Asylrechtsexperte und Sprecher / asylkoordination österreich

Corinna Geißler

Leiterin Advocacy & Kinderrechte / UNICEF Österreich

Hermann Glettler

Diözesanbischof / Diözese Innsbruck

Irmgard Griss

Präsidentin des Obersten Gerichtshofes a. D.

Dominik Hangartner

Professor für Politikanalyse / ETH Zürich

Dominik Heinrich

Director of Innovation / UN World Food Programme

Arif Husain

Chief Economist und Director of Research, Assessment and Monitoring / UN World Food Programme

Ralph Janik

Universitätsassistent für Völkerrecht und Menschenrechte / Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien

Harald Jauk

Hochschullektor, Projektleiter Vienna Law Clinics / Asylrechtssparte

Othmar Karas

Erster Vizepräsident Europäisches Parlament, Präsident Hilfswerk Österreich, Obmann BürgerInnen Forum Europa

Gerald Knaus

Gründer und Leiter / Europäische Stabilitätsinitiative

Judith Kohlenberger

Migrationsforscherin / Wirtschaftsuniversität Wien

Stephanie Krisper

Abgeordnete zum österreichischen Nationalrat

Erika Kudweis

Gründerin und Obfrau / PatInnen für alle

Rainer Münz

Migrationsexperte / Central European University, Diplomatische Akademie Wien

Ariane Olschak

Rechtsanwaltsanwärterin, Juristin mit Fokus Asyl- und Fremdenrecht, ehem. Allianz Menschen.Würde.Österreich

Christoph Riedl

Asyl-, Integrations- und Menschenrechtsexperte / Diakonie Österreich

Margaritis Schinas

Vizepräsident der Europäischen Kommission

Judith Spirig

Assistenzprofessorin für Politikwissenschaften / University College London / Assoziierte Forschende Universität Zürich

Andreas Steinmayr

Professor für empirische Wirtschaftsforschung / Universität Innsbruck

Katharina Stemberger

Schauspielerin, Mitinitiatorin Initiative Courage – Mut zur Menschlichkeit

Bettina Vollath

Mitglied des Europäischen Parlaments a. D.

Beate Winkler

ehem. Direktorin der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und später der EU-Grundrechteagentur (FRA)

Ruth Wodak

ehem. Professorin (Diskursforschung) und Wittgenstein-Preisträgerin / Lancaster University, Universität Wien

VORWORT DER HERAUSGEBER

Dr. Othmar Karas, M.B.L-HSGDr.in Judith Kohlenberger

Am Beginn der 2015 eingetretenen »Flüchtlingskrise« herrschte jene empathische Stimmung, die die Österreicherinnen und Österreicher immer ausgezeichnet hat, wenn Menschen in Not waren. Als 1956 zehntausende Ungarinnen und Ungarn die Grenze passierten, weil russische Panzer den Freiheitswillen der »Gulaschkommunisten« niederwalzten, nahmen wir ÖsterreicherInnen sie mit offenen Armen auf. Das gleiche Bild war zu sehen, als die Sowjets 1968 dem »Prager Frühling« in der damaligen Tschechoslowakei den Garaus machten. Und auch ab 1992, als Österreich tat, was zu tun war, und 75.000 Menschen, die aufgrund des Jugoslawien-Kriegs flüchten mussten, aufnahm und erfolgreich integrierte.

Ebendiese spontane Hilfsbereitschaft dominierte auch, als im Sommer 2015 die ersten Flüchtlinge die ungarisch-burgenländische Grenze passierten. Das blieb so, als ganze Züge mit Flüchtlingen am Wiener Westbahnhof Station machten. Es gab eine breite Welle der Solidarität, getragen von vielen freiwilligen HelferInnen aus der Mitte der Gesellschaft, moralisch unterstützt durch RepräsentantInnen der Zivilgesellschaft bis hin zu amtierenden MinisterInnen fast aller politischen Lager.

Selbst, als sich immer mehr Flüchtlinge auf den Weg machten und bald täglich zu Zehntausenden Österreich passierten, um sich mehrheitlich Richtung Deutschland aufzumachen, blieben diejenigen in der Minderheit, die die vielen freiwilligen HelferInnen als »Willkommensklatscher« zu denunzieren suchten.

Die Stimmung kippte erst, als im Spätsommer 2015 Bilder von verzweifelten, oft monatelang unterwegs gewesenen Menschen, die ungeordnet und unkontrolliert die Grenze überschritten, medial wie auch politisch instrumentalisiert wurden. Diese Bilder brannten sich nachhaltig im kollektiven Gedächtnis ein: Polizisten, die zur Steuerung der Fluchtbewegung vor Ort waren, konnten nichts anderes tun, als zuzusehen, wie große Menschengruppen ohne Registrierung oder Identitätsfeststellung über die Grenze kamen. Wenn die Angst vor Kontrollverlust mit der menschlichen Empathie in Widerstreit gerät, droht die gesellschaftliche Balance zu kippen.

Populisten hatten danach ein leichtes Spiel. Erst denunzierten sie Kriegsflüchtlinge als Menschen, die »nur ein besseres Leben wollen« – als ob an diesem grundlegenden und für uns alle nachvollziehbaren Wunsch etwas verwerflich sei. Zerrbilder des vermeintlichen »Wirtschaftsflüchtlings« oder gar des radikalisierten Dschihadisten mobilisierten verdrängte Ängste vor Zugewanderten, die schon seit Jahrzehnten bei uns leben und zu produktiven Mitgliedern der Gesellschaft geworden waren. Versäumnisse bei der Integrationspolitik, die besonders in Ballungszentren und anhand der hohen Bildungsvererbung hierzulande offenkundig wurden, gerieten plötzlich ins grelle Scheinwerfer-Licht. Und damit war es komplett, das Amalgam, aus dem Populisten schöpfen: Flüchtlinge, MigrantInnen und selbst Zugewanderten in dritter Generation seien eine Bedrohung. Grenzen dicht, für wen auch immer.

Seit 2015 wurden fast überall in Europa wieder vermehrt Überfremdungsängste geschürt, die skrupellosen Vereinfacher und hemmungslosen Nationalisten haben seitdem Hochkonjunktur.

Angst ist kein guter Ratgeber. Fremdenangst schon gar nicht. Und trotzdem versagte die politische Mitte im Umgang mit dieser hochemotionalen Krise. Die Thematiken Zuwanderung, Flucht, Asyl und Migration den politischen Rändern – links und rechts – zu überlassen, ist unserer Ansicht nach ein bis heute vorherrschender Fehler.

Das inhaltliche und politische Versagen in dieser größten humanitären Krise unserer Zeit erleben wir mittlerweile seit über sieben Jahren. Die Europäische Kommission hat zwar bereits im Herbst 2020 ein neues Migrations- und Asylpaket präsentiert. Bisher sind die EU-Mitgliedstaaten nur leider nach wie vor nicht vom Reden ins Handeln gekommen.

Zu wenig weit gehen ExpertInnen viele der Vorschläge, zu kurz kämen Grundrechte und zu klein bliebe die Tür für legale Migration in die EU. Wenn von der Fachwelt derart viel Kritik kommt, verwundert es nicht, dass die Politik weiter zaudert und zögert. Trotz der Dringlichkeit aufgrund zunehmender weltweiter Fluchtbewegungen und der starken direkten Betroffenheit Europas sind die Auffassungen der EU-Mitgliedstaaten in dieser Sache zu unterschiedlich. Zu oft stehen Angst und politische Feigheit im Vordergrund. Zu selten die Ehrlichkeit und politische Verantwortung.

Angesichts dieser Pattsituation haben wir in den vergangenen Monaten zahlreiche Gespräche mit Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen jeglicher Couleur geführt, um aus dieser politischen Sackgasse einen Ausweg zu suchen. Der Succus dieser Gespräche wurde zur Grundlage des vorliegenden Werkes. Die ExpertInnen wollen mit ihren Reformvorschlägen einen inhaltlichen Beitrag bei der Suche nach einer tragfähigen politischen Lösung leisten.

Dieses Buch dient somit als wertvoller inhaltlicher Leitfaden, um nicht alte Ängste zu befeuern, sondern gemeinsam neue Lösungen für die europaweit offenen Fragen rund um Flucht, Vertreibung, Asyl, Migration und Integration zu finden. »So schaffen wir das« bietet zudem Erfahrungsberichte, um den gerade in diesen Bereichen so entscheidenden persönlichen Erlebnissen gebührend Gewicht zu geben.

Thematisch ist der vorliegende Band bewusst breit angelegt, um möglichst viele wesentliche Teilbereiche der komplexen Materie Flucht abzudecken: Fluchtursachen und die Hilfe vor Ort, Grenzschutz und die Aufnahme von Flüchtenden, die Schaffung von legalen Migrationswegen, die Verteilung und die Kooperation innerhalb der EU, der Integrationsprozess bis hin zur Sprache und Rhetorik. Allen voran steht aber der ehrliche Ansatz einer ganzheitlichen Migrations- und Asylpolitik, die auf unserem Recht und unseren Werten fußt und einen Beitrag zur Problemlösung liefert – für alle Beteiligten.

Eines dürfen wir bei aller Expertise und allen politischen Debatten aber nicht aus dem Blick verlieren: Eine gemeinsame europäische Migrations- und Asylpolitik ist nicht eine Frage des Könnens oder des Wollens, sie ist mehr denn je eine humanitäre, politische, wirtschaftliche und rechtliche Notwendigkeit. Sie ist eine Frage des politischen Willens und der Verantwortung für die Zukunft.

EINLEITUNG

Dr. Othmar Karas, M.B.L-HSG,Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments

Die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöste Fluchtbewegung ist die größte, die die Europäische Union je erlebt hat. Über acht Millionen Menschen mussten ihr Land, die Ukraine, verlassen, Millionen weitere sind Flüchtlinge im eigenen Land. In den Jahren zuvor schufen die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und der Syrienkrieg ebenso die Notwendigkeit für viele Millionen Menschen, aus ihrem Heimatland zu flüchten. All das erschütterte und erschüttert Europa – Flüchtlingsunterkünfte platzten regelrecht aus ihren Nähten, rechte Populismen florierten wie lang zuvor nicht und seit dem Fluchtjahr 2015 sind mittlerweile fast 20.000 Hilfesuchende im Mittelmeer ertrunken.

Die Situation im Iran, in Syrien, dem Irak und Afghanistan hat keine kurzfristige Aussicht auf nachhaltige Stabilisierung. Dem nicht genug, sorgen Klimawandel und Umweltzerstörung für die Unbewohnbarkeit mancher Weltregionen und verursachen überdies weitere Konflikte und Unruhen. Im Jemen herrscht seit Jahren einer der blutigsten Kriege der Welt und in der Sahelzone in Afrika tobt ein Kampf um die letzten Ressourcen, Millionen von Menschen droht der Hungertod.

Umweltzerstörung, Klimawandel, explodierendes Bevölkerungswachstum, Gewalt, Unterdrückung, Diskriminierung sowie daraus hervorgehende Konflikte und wiederum daraus resultierende Hunger- und Elendssituationen werden immer bedeutsamer. Auch internationale Konflikte und Kriegssituationen nehmen nicht ab, sondern werden aktuell sogar dramatischer.

Wären die EU und Europa nur sekundär oder am Rande betroffen, könnte man – wie manche meinen – »ein Auge zudrücken«, abwarten, hoffen und vielleicht Zäune bauen. Doch nicht einmal jene, die davon kaum betroffen sind, können es sich leisten, passive ZuschauerInnen zu sein. Flucht wird immer mehr zu einem globalen Phänomen. Umso mehr darf Europa nicht tatenlos zusehen.

Europa ist doppelt unmittelbar betroffen – sowohl als weltweit der Ort, an dem internationaler Schutz beantragt und gewährt wird, als auch, aufgrund des Ukrainekriegs, als derzeit eine der Herkunftsregionen, aus denen die meisten Vertriebenen stammen. Wir – Europa und die Europäische Union – müssen also handeln.

Die sogenannte »Flüchtlingskrise« hatte folgenreiche Auswirkungen auf den politischen Stil und die Debattenkultur in unserem Land. Asyl, Migration und »die Ausländer« wurden zu den bewusst gewählten strategischen Kampfthemen der Populisten und Extreme. Aus der anfänglichen Solidarität und Hilfsbereitschaft und der gemeinsamen Suche nach der politisch besten Lösung wurde ein Kampf der Emotionen und Angst – geprägt von Naivität, Hass und (sprachlicher) Gewalt.

Die Spaltung der Gesellschaft geht quer durch viele Familien, Freundschaften und Parteien. Es ist nicht nur eine Frage von Links oder Rechts; »Willkommensklatscher« oder »Fremdenfeind«. Es ist auch ein Versagen des politischen Willens »das Problem« gemeinsam zu lösen und die öffentlichen Debatten transparent, auf dem Boden unserer rechtlichen und moralischen Verpflichtungen, Daten und Fakten zu führen. Die Krisen – oder besser Herausforderungen – unserer Zeit benötigen einen neuen Stil des Miteinanders. Nur gemeinsam werden wir es schaffen.

Verantwortungsvolle Politik darf deshalb vor dieser Gemengelage nicht davonlaufen, sondern muss nach gemeinsamen europäischen Lösungen suchen. Wenn dies nicht erfolgreich gelingt, sind nicht die asylsuchenden Menschen schuld, sondern der mangelnde politische Wille der in Verantwortung stehenden Politiker. Das bestehende europäische und internationale Recht, viele positive Initiativen der Zivilgesellschaft sowie Best-Practice-Modelle in den EU-Mitgliedstaaten können uns den »So schaffen wir das«-Weg aus der Krise zeigen.

Diese Analyse soll von einem aber nicht ablenken: Ja, wir haben ein Problem. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben in der Asyl- und Migrationspolitik klar versagt. Das liegt vor allem am fehlenden politischen Willen und an einigen Ländern, die geltendes Recht brechen und damit auch uns schaden. Die Antwort auf diese aktuelle Krise ist es daher nicht, neue Sündenböcke zu schaffen – wie es in Österreich viel zu oft passiert. Die Antwort ist, endlich eine gemeinsame EU-Asyl- und Migrationspolitik umzusetzen und damit den Weg zu einem EU-Außengrenzschutz, fairer Verteilung und einem gemeinsamen EU-Asylverfahren freizumachen.

Um einen Beitrag zu dieser Lösung zu leisten, habe ich verschiedene Expertinnen und Experten zu mehreren Gesprächen eingeladen, ihnen zugehört und Fragen gestellt. Ich habe sie gebeten, ihre Erfahrungen, Gedanken und Lösungsansätze zu Papier zu bringen. Jeder und jedem Einzelnen bin ich sehr dankbar. Daraus ist dieses Buch entstanden, das ich gemeinsam mit Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien, herausgeben darf.

Meine persönliche Motivation hierbei ist klar: Oft werde ich gefragt, warum ich 2015 das Flüchtlingslager in der Votivkirche und am Westbahnhof besucht habe. Oder warum ich gegen die Entlastung der Grenzschutzagentur Frontex stimmte und gegen die Morias auf europäischem Boden, die rechtswidrige Indexierung der Familienbeihilfe sowie die illegalen Abschiebungen meine Stimme erhoben habe. Ja, warum? Weil es immer um Menschen geht, die die gleiche Würde besitzen wie Sie und ich. Weil es immer um die Einhaltung gemeinsamen Rechts und gegenseitiger Verpflichtungen und die Verteidigung unserer gemeinsamen Werte geht.

Für mich bedeutet die Besinnung auf die Charta der Vereinten Nationen, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Genfer Flüchtlingskonvention die Europäische Menschenrechtskonvention, und viele andere Verträge keine ideologisch einseitige Moralisierung der Politik. Sie sind Verpflichtungen, die die Grundlage unseres politischen Handelns darstellen. Die im Verfassungsrang aller Mitgliedstaaten der EU stehende Charta der Grundrechte der Europäischen Union unterstreicht in ihrer Präambel, dass sich »die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität (gründet). Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns […].« (Charta der Grundrechte der Europäischen Union: C 364/8)

Ich zitiere dies deshalb so ausführlich, weil viele Probleme unserer Zeit auch deshalb unlösbar erscheinen, weil zu viele die Grundlagen unseres gemeinsamen Handelns infrage stellen beziehungsweise lautstark ignorieren. In einer Vielzahl an folgenden Beiträgen wird daher darauf verwiesen, dass ein wesentlicher Teil der Problemlösung die Einhaltung bestehenden Rechts ist – dafür brauchen wir nichts Neues schaffen.

Daher wollen wir in diesem Buch die Fakten, Expertisen und Erfahrungen sprechen lassen. Gemeinsame Lösungen können nur auf dem Boden des Rechts und des Kompromisses gefunden werden. Das ist das Wesen der Europäischen Union, auf das wir uns alle wieder besinnen sollten. In diesem Buch wollen wir Brücken bauen, Bewusstsein schaffen, die Debatte versachlichen und neue Lösungsansätze liefern.

GEMEINSAME MIGRATIONSPOLITIK ZUM GREIFEN NAH

Margaritis Schinas, Vizepräsident der Europäischen Kommission

Europa war und wird ein Anziehungspunkt für Migration bleiben. Die Herausforderungen durch Fluchtbewegungen sind für keine zwei Staaten in der EU gleich. Die Chance für gemeinsames Agieren ist dennoch so groß wie nie, denn die rasche und effiziente Aufnahme von rund fünf Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine hat gezeigt, wie kraftvoll die EU gemeinsam agieren kann. Noch vor der nächsten EU-Wahl 2024 soll es eine einheitliche Asyl- und Migrationspolitik geben.

Margaritis Schinas war EU-Abgeordneter und Chefsprecher der EU-Kommission. Seit 2019 ist er Vizepräsident der Europäischen Kommission und als Kommissar für die Förderung des europäischen Lebensstils zuständig für Migration, Gleichheit und Diversität.

Die Anthologie von Othmar Karas, Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments, und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger der Wirtschaftsuniversität Wien ist ein äußerst wertvoller Beitrag zum Thema »Asyl und Migration in der Europäischen Union« – ein Thema, das im Mittelpunkt unserer Anliegen und politischen Prioritäten steht.

Migration ist für Europa ein Thema, das es schon immer gegeben hat. In den vergangenen Jahren hat die Debatte um Migration jedoch dramatische Ausmaße angenommen. Bis heute wird der öffentliche Diskurs über das Thema zum großen Teil auf hitzige und toxische Weise geführt. Bis zu einem gewissen Grad war dies nach den Krisenjahren 2015 und 2016 und angesichts der Art, wie durch sie die Mängel unserer Asylsysteme offenkundig wurden, zu erwarten. Dennoch besteht nach wie vor die Notwendigkeit, das Narrativ über die Migration zu versachlichen und so zu gestalten, dass von der falschen Vorstellung einer einzigen, magischen und allgemeingültigen Lösung abgerückt wird.

Ich fand es stets interessant, dass gerade Migration eines der emotionalsten politischen Themen und zugleich eines der technisch kompliziertesten politischen Angelegenheiten ist, die Aufnahmeländer zu bewältigen haben. Dabei muss betont werden, dass die Zusammenarbeit der EU in den Bereichen Migration und Asyl verhältnismäßig jung ist. Die Zuständigkeit für Asyl- und Migrationsangelegenheiten wurde der EU erst im Jahr 1999 durch den Vertrag von Amsterdam übertragen. Die erste Generation des gemeinsamen Europäischen Asylsystems gibt es erst seit dem Jahr 2000. Wir haben es also mit lediglich zwanzig Jahren Politikentwicklung zu tun.

Darüber hinaus sind Asyl und Migration Themenkomplexe, die traditionell und überwiegend aus einem nationalen Blickwinkel betrachtet werden, gilt doch die Auffassung, dass sie zentrale Fragen der nationalen Souveränität beträfen. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich diese Wahrnehmung zwar allmählich verändert, jedoch nur schrittweise.

So, wie die Pandemie die Notwendigkeit eines europäischen Ansatzes für Gesundheitspolitik deutlich gemacht hat, wurde durch eine Reihe von Krisen verdeutlicht, dass ein europäischer Ansatz für Migrationssteuerung erforderlich ist.

Doch wie es in der Geschichte Europas oft der Fall war, nahm dieser europäische Ansatz, der innerhalb der EU-27 Gegenstand langer Debatten und zahlreicher Streitigkeiten war und ist, bereits lange bevor er geltendes Recht wurde, still und leise Gestalt an.

Wir haben das etwa in den Jahren 2015 und 2016 erlebt, als wir, selbst wenn sich die Mitgliedstaaten nicht auf ein neues Paket von Rechtsvorschriften einigen konnten, eine Reihe von Ad-hoc-Maßnahmen festlegen konnten, um die Krise zu bewältigen: Wir verdreifachten die Zahl der Seenotrettungsschiffe, riefen eine Operation im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Bekämpfung von Schleppern ins Leben, stärkten die Grenzschutzagentur Frontex und die Asylagentur der EU und beschafften Finanzmittel zur Bewältigung des Bürgerkriegs in Syrien sowie der Fluchtursachen in Afrika.

Zuletzt zeigte sich die Wirksamkeit des europäischen Ansatzes anhand der Ereignisse in Evros und Ceuta sowie an Lettland und Litauen. In diesem Zusammenhang gilt es gegenüber autoritären Machthabern unmissverständlich zu zeigen, dass Migration nicht als Waffe instrumentalisiert werden darf. Angesicht der Geschlossenheit der EU ist jeder Versuch einer solchen Spaltung durch die Ankunft Schutzsuchender bedeutungslos.

Zuletzt zeigt sich das anhand Europas beispielloser Aufnahme der vielen Menschen, die vor Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine flohen. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde die EU-Richtlinie zur Gewährung vorübergehenden Schutzes, die sogenannte »Massenzustrom-Richtlinie«, angewandt. Hierbei handelt es sich um ein Instrument, das es uns ermöglicht, den Millionen von Menschen, die vor dem Krieg fliehen, einen sofortigen Schutzstatus zu gewähren. Ich war sehr stolz darauf, dass ich am 4. März 2022, weniger als zehn Tage nach dem Ausbruch des Kriegs, im Rat der InnenministerInnen eine einstimmige Vereinbarung unserer Mitgliedstaaten vermitteln konnte. Die Gewährung dieses umfassenden Schutzes für alle Ukrainer und Ukrainerinnen, die vor dem Krieg fliehen, ermöglichte Millionen von ukrainischen Flüchtlingen den sofortigen und bedingungslosen Zugang zu unseren Arbeitsmärkten, Aufenthaltsgenehmigungen, Gesundheits- und Bildungssystemen.

Nach vielen Jahren in der europäischen Politik kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass dies wahrscheinlich einer der größten Momente europäischer Solidarität war. Das war »Europe at its best«.

Heute sind 17,7 Millionen Menschen in der Ukraine auf dringende humanitäre Hilfe angewiesen (OCHA, 2022). Auch wenn die Zahl der Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine mittlerweile etwas zurückgegangen ist, sind es immer noch 6,5 Millionen Menschen (UNHCR, 2022a: Stand Dezember 2022). Und zum ersten Mal kehren nun auch immer mehr Menschen in ihr Land zurück: UNHCR beziffert die Zahl auf sechs Millionen Rückkehrende (IOM, 2022b). Unsere humanitäre Hilfe muss also multidimensional und flexibel genug sein, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen. Die Zahlen zeigen uns, was wir bisher erreicht haben: Mehr als 13,5 Millionen Menschen haben bis zum 29. November in der gesamten Ukraine Hilfe erhalten (European Commission, 2022a; OCHA, 2022). Mehr als neun Millionen Menschen erhielten Nahrungsmittelversorgung, 8,6 Millionen Menschen gesundheitsbezogene Unterstützung und 3,9 Millionen Menschen Bargeldleistungen. Und mehr als sechs Millionen Menschen wurden kritische Schutzmaßnahmen zuteil (European Commission, 2022a). In Europa wurden 7,9 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine registriert, von denen 4,8 Millionen vorübergehenden Schutz oder ähnliche, nationale Aufenthaltstitel erhielten (Operational Data Portal, 2022).

In diesem Zusammenhang halte ich es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Prioritäten der EU nicht für Kiew entschieden werden, sondern voll und ganz mit den Prioritäten der ukrainischen Regierung übereinstimmen: insbesondere in Schlüsselbereichen wie Unterbringung, Gasversorgung, Nahrungsmittelhilfe, Schutzgewährung und Bildung.

Eine der wichtigsten Forderungen unserer humanitären PartnerInnen vor Ort ist die Verstärkung unserer Präsenz in der Ostukraine, einschließlich der Lieferung von Hilfsgütern in die befreiten Gebiete, in denen der Bedarf an humanitärer Hilfe immer noch sehr hoch ist. Und wir tun dies nicht allein: Unsere PartnerInnen leisten nach Angaben humanitärer ExpertInnen ebenfalls Hilfe vor Ort. Die Zahl der humanitären PartnerInnen der EU, die an der Seite unserer Agenturen agieren, nimmt weiter zu. Um ihre Arbeit zu unterstützen, hat die Europäische Kommission 22 humanitäre PartnerInnen über eine Plattform, die wir »Europäische Kapazität für Humanitäre Hilfe« (EHRC) nennen, mit europäischen Logistikdiensten unterstützt.

Unparteilichkeit und Neutralität stehen im Mittelpunkt der humanitären Hilfe der EU. Die gesamte humanitäre Hilfe in der Ukraine beläuft sich seit Beginn des Konflikts auf 1,5 Milliarden Euro (European Commission, 2022a). Am 21. Oktober hat die Europäische Kommission ein beispielloses Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von bis zu 18 Milliarden Euro für das Jahr 2023 vorgeschlagen (European Commission, 2022b). Während der Krieg weiter wütet, wird unsere humanitäre Hilfe wichtiger denn je. In diesem Zusammenhang sollten wir nicht nur die Bedürfnisse der Ukraine, sondern auch jene der Republik Moldau im Auge behalten, dem ärmsten Land Europas, das infolge dieses Krieges eine unverhältnismäßig große Last zu tragen hat. Die gemeinsame Reaktion Europas hat die europäische Zusammenarbeit im Bereich der Migration neu gestartet. Nun muss sie auch in Form von Rechtsvorschriften kodifiziert werden.

Die Parameter der Migrationspolitik, die unser Kontinent benötigt, wurden bereits festgelegt. Sie beginnen jenseits unserer Grenzen. Die Kommission tritt für einen behördenübergreifenden Ansatz ein, um für unsere Partnerschaften mit wichtigen Herkunfts- und Transitdrittstaaten eine neue Grundlage bei größerer Gleichberechtigung zu schaffen, wobei die Gesamtheit unserer politischen Instrumente – von Handel und Entwicklungshilfe über Visumpolitik bis hin zur freiwilligen regulären Migration – kombiniert wird. Dies erfordert einen grundlegenden Wandel in der Art, wie wir in Bezug auf unsere Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitstaaten vorgehen. Dieser Wandel ist jedoch unbedingt erforderlich.

Eine weitere Notwendigkeit ist ein inklusiver Ansatz für Kompetenzen, Bildung und Integration, der dadurch erreicht wird, dass die Arbeitskräftemigration besser in die Arbeits- und Beschäftigungsstrategien und -instrumente eingebettet wird. Dies strebt die Kommission im Rahmen der europäischen Kompetenzagenda, der Schaffung eines EU-Talentpools und des Abschlusses von Fachkräftepartnerschaften mit wichtigen Drittstaaten an.

Im Rahmen eines umfassenden Migrationskonzeptes ist es auch erforderlich, unsere Außengrenzen im Einklang mit Grundrechten derart zu stärken, dass dadurch die für die EU so symbolträchtige Freizügigkeit weiter ermöglicht wird. Das umfassende Migrationskonzept erfordert auch ein wirksames Rückkehrsystem für Personen, die kein Aufenthaltsrecht erhalten. Darüber hinaus erfordert es Asylverfahren, die effizienter und solider sind und durch die das Problem der Sekundärmigration in Angriff genommen wird.

Am wichtigsten ist vielleicht die Erkenntnis, dass ein europäischer Ansatz im Bereich der Migration weder top down geregelt noch pauschal gelöst werden kann. Keine zwei Mitgliedstaaten sind mit genau den gleichen Herausforderungen konfrontiert. Das weitere Vorgehen muss von allen getragen werden.

Dies war mein Ausgangspunkt bei der Ausarbeitung des neuen Migrations- und Asylpakets (»New Pact on Migration and Asylum«) – eines umfassenden Pakets von Reformvorschlägen, das die Kommission im Anschluss an umfassende Konsultationen mit allen Beteiligten am 23. September 2020 vorgelegt hat.

»Pact« ist ein sehr nobles Wort. In Wirklichkeit wurde mit dem Paket jedoch lediglich aufgeschrieben, was ohnehin schon immer unser Instinkt war. Immer wieder haben die EuropäerInnen unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, sich zusammenzutun, wenn die Zeiten ungewiss sind. Die Einigung über die Vorschläge des Pakets wird der größte Beweis für unsere Solidarität in Migrationsfragen sein, wie sich in der Praxis bereits vielfach gezeigt hat.

In diesen instabilen Zeiten, in denen Europa eine Reihe von Krisen erlebt, besteht unser übergreifender Kompass darin, dass Europa immer ein Zufluchtsort für Asylsuchende bleiben wird, die vor Krieg, Diktaturen und Verfolgung fliehen.

Das ist es, was Europa ausmacht. Das ist die europäische Lebensweise.

Es gibt so viel in der EU, worauf wir stolz sein können. Die EU ist der größte und am besten regulierte Markt der Welt, sie verfügt über die weltweit zweitstärkste Währung und sie ist Verfechter der Menschenrechte. In der Pandemie haben wir uns zusammengetan, um Impfstoffe zu beschaffen. Es ist uns gelungen, einen enormen Aufbaufonds zur Unterstützung unserer Volkswirtschaften und Gesellschaften zu schaffen.

Wir haben viel erreicht, allerdings noch keine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik. Jetzt bietet sich die Chance für eine große europäische Einigung in diesem Bereich.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die EU sich vor dem Ende dieser Wahlperiode im Hinblick auf eine einheitliche Migrationspolitik einigen wird, die an die Werte, die unsere Union mit derartiger Leichtigkeit verkörpert, und das Gesellschaftsmodell, für das wir stehen, angelehnt ist.

ASYL IN DER EU, EIN GLÜCKSSPIEL?

Dr. Harald J. Jauk, LL.M., MA

Flüchtlinge, Zuwanderer, »Asylanten«, »Wirtschaftsmigranten« – wenn es um jene zehntausende Menschen geht, die Jahr für Jahr regulär oder irregulär die Grenzen passieren, wird nach der ordnenden Hand des Staates verlangt. Mehr Ordnung beim Reizthema »Asyl« beginnt damit, Auslöser und Ziele der weltweiten Fluchtbewegungen präzise zu benennen.

Harald Jauk, Mitarbeiter in einschlägigen Wissenschaftsprojekten und ehemaliger Policy Advisor im Kabinett des Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, ordnet die wichtigsten Daten und Fakten in Sachen Flucht.

Jede Analyse, will sie zumindest einen gewissen Anspruch an wissenschaftliche Seriosität stellen, sollte von der Faktenlage getragen werden. Das gilt auch und – wenn man die oftmalige Tragweite politischen Handelns betrachtet – insbesondere in der Politik. Daher ist in einem ersten Schritt ein Blick auf Zahlen1 und Daten betreffend der Fluchtsituation weltweit zu werfen und anschließend jene in Europa ins Blickfeld zu nehmen, um dann in angemessener Weise über weitere Fragen zu reflektieren. Wenngleich die in der Folge genannten Daten ExpertInnen der Materie weniger überraschen mögen, beinhalten sie jedoch sicherlich für den »interessierten Laien« ein gewisses Informations- und Überraschungspotenzial.2

Flucht weltweit3

Laut dem letzten Halbjahresglobalbericht vom United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) vom Oktober 2022 ist die Zahl der weltweit vertriebenen Personen (»forcibly displaced persons«) keine geringere als 103 Millionen4. Die Mehrzahl dieser sind – anders als in Medienberichten häufig der Anschein gegeben wird – Binnenvertriebene. Die vom UNHCR genannte Schätzung der Anzahl dieser beläuft sich auf über 60 Millionen5. Anders gesagt sind also über 58 Prozent aller Flüchtlinge6 Binnenvertriebene.

Im Gegensatz dazu gab es Mitte 2022 »lediglich« knapp 43 Millionen extern vertriebene Flüchtlinge7 (gut 41 Prozent aller forcibly displaced persons). Dabei gilt es, die Gruppe der AsylwerberInnen – also jene Personen, die sich in einem Asylverfahren befinden – hervorzuheben. Dies aus dem einfachen Grund, dass diese, anders als oft in der öffentlichen Wahrnehmung verankert, nur 4,9 Millionen – also nicht einmal fünf Prozent der weltweit vertriebenen Personen insgesamt – ausmachen. Die große Mehrheit aller Flüchtlinge weltweit sind also keine »Asylanten«. Dieser despektierliche Begriff ist schon allein aus dem Grund, dass er der Realität nicht entspricht, strikt abzulehnen8.

Von den Anträgen auf internationalen Schutz werden im Übrigen mehr als die Hälfte (57 Prozent)9 positiv entschieden. Wenn man davon ausgeht, dass die Staaten, in denen diese Anträge gestellt werden, die Schutzwürdigkeit gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ordnungsgemäß prüfen und die dortigen Behörden dem Resultat dieser Prüfung entsprechend entscheiden (was aufgrund einer teils ausdrücklich restriktiven nationalen Asylpolitik nicht einmal immer der Fall ist), können diese 57 Prozent positive Entscheidungen als Indiz gegen die Annahme, es handle sich bei den Flüchtenden fast ausschließlich um »Wirtschaftsflüchtlinge«10, gesehen werden.

Vertriebene weltweit

Quelle: UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees), Oktober 2022

Eine weitere verbreitete, irrige Annahme ist jene, dass die Mehrzahl der weltweiten Flüchtlinge nach Europa und in Industriestaaten flüchten würden. Das ist schon allein aufgrund der bereits erwähnten Tatsache, dass über 58 Prozent aller Flüchtenden Binnenvertriebene sind und im Heimatland bleiben, unrichtig. Jedoch auch unter den extern Vertriebenen, also jenen, die nicht im eigenen Heimatland Zuflucht finden, kommen etwa drei Viertel (74 Prozent) in Entwicklungsländern11 unter (gut zwei Drittel in Nachbarstaaten).

Eine erschreckende Tatsache ist zudem, dass in den letzten Jahren über vierzig Prozent der Flüchtenden Minderjährige waren (unter 18 Jahren). Angesichts dieses Faktums erscheint eine Unterstützung der flüchtenden Personen – als Gruppe mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an besonders schützenswerten Personen (Kinder und Jugendliche) – von einem menschlich-humanitären Standpunkt aus besonders dringend (UNHCR, 2022a).

Eine interessant erscheinende demografische Realität ist zudem die, dass der genannte Prozentsatz an Minderjährigen unter den Flüchtlingen um ein Vielfaches höher ist als jener unter den internationalen MigrantInnen (ca. zehn Prozent), während der Prozentsatz an über 50-Jährigen unter den Flüchtlingen (ca. acht Prozent) deutlich kleiner ist als unter den internationalen MigrantInnen (ca. dreißig Prozent).12 In anderen Worten lässt sich also feststellen, dass Flüchtlinge in Summe tendenziell jünger sind als internationale (nicht flüchtende) MigrantInnen (UNHCR, 2020; UNHCR, 2022a; UNHCR, 2022c).

Womöglich weniger überraschend erscheinen die Erstgereihten in der weltweiten Liste der Herkunftsstaaten der internationalen Flüchtlinge. So kommen derzeit mit Abstand die meisten Flüchtlinge weltweit aus Syrien (6,8 Mio.), gefolgt von Venezuela (5,6 Mio.13) und der Ukraine (5,4 Mio.). Besonderes Augenmerk verdient letztere Anzahl, denn die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge verzweihundertfachte sich zwischen Ende 2021 (ca. 27.000) und Mitte 2022 (ca. 5,4 Mio.), was somit als der schnellste »Fluchtexodus« aus einem bestimmten Staat seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet werden kann.

Bei den Aufnahmestaaten sind es entgegen möglicher Annahmen in diese Richtung nicht die »klassischen« westlichen Industriestaaten, die jeweils am meisten Flüchtlinge aufnehmen. Im Gegenteil – unter den »Top 5« der Aufnahmestaaten (Türkei, Kolumbien, Deutschland, Pakistan, Uganda14) befindet sich mit Deutschland schon seit Jahren nur einer dieser Staaten. Während quantitativ die Türkei die größte Anzahl an Flüchtlingen aufgenommen hat (knapp 4 Mio.), hat der Libanon im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtenden aufgenommen (0,9 Mio. + 0,5 Mio. UNRWA-Flüchtlinge 2021). Somit ist bei einer Bevölkerung von 6,7 Mio. (UNFPA, 2022a) fast jede fünfte Person im Libanon Flüchtling, während in Deutschland (Platz 3 der Aufnahmestaaten mit 2,2 Mio. Flüchtlingen) bei einer Bevölkerung von knapp 84 Mio. (UNFPA, 2022b) nur etwas mehr als jeder vierzigste Flüchtling ist (2,6 Prozent)15 (UNHCR, 2022a; UNHCR, 2022c). Nichtsdestotrotz hat Europa – wenn man die Türkei hinzurechnet – aufgrund der durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine initiierten erheblichen Vertreibungsbewegung laut UNHCR fast vierzig Prozent der weltweiten (externen) Flüchtlinge aufgenommen.

Von diesen Gesamtzahlen gilt es, die Flüchtlinge, die tatsächlich Anträge auf internationalen Schutz stellen, zu unterscheiden. Wie erwähnt, machen diese nur einen Bruchteil der weltweit vertriebenen Personen insgesamt aus (knapp fünf Prozent). Die »Top 5« der Staaten, in denen am meisten Asylanträge gestellt wurden, sind wohlgemerkt fast gänzlich andere als jene fünf genannten Staaten, die am meisten Flüchtlinge aufnehmen. In anderen Worten: In den Staaten, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, werden nicht auch eo ipso die meisten Asylanträge gestellt. Es wurden also weltweit allgemein verhältnismäßig wenige Anträge gestellt, auch wenn die Anzahl dieser zuletzt mehr geworden ist.

Die meisten und damit verhältnismäßig16 deutlich mehr Anträge auf internationalen Schutz wurden 2021 in den USA (189.000 neue Asylanträge), Deutschland (148.000) und Mexiko (133.000) gestellt. In Europa wurde in den letzten Jahren, insbesondere auch in Frankreich und Spanien, eine konstant höhere Anzahl von Asylanträgen gestellt. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass sich diese Antragsanzahlen im ersten Halbjahr 2022 in den USA und in Europa deutlich erhöht hat: Im Vergleich zum selben Vorjahreszeitraum verzeichneten die USA mehr als eine Verdreifachung (436.000) und Europa mehr als eine Verdoppelung (503.00017) der Asylantragszahl (UNHCR, 2020; UNHCRb, 2021a; UNHCR, 2022c).

Was längere Entwicklungen betrifft, kann zudem gesagt werden, dass die gesamte Anzahl der weltweit vertriebenen Personen seit 2011 stetig steigt. Die UNHCR-Zahlen bescheinigen etwa, dass 2011 die Anzahl deutlich weniger als halb so hoch war wie derzeit (38,5 Mio. vs. 2022 103 Mio.) (UNHCR, 2022a; UNHCR, 2022b; UNHCR, 2022c). Es handelt sich somit um eine eindeutige Tendenz, gegenüber welcher es – auch im Hinblick auf neue Fluchtursachen wie erzwungene Landflucht, explodierendes Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung, Klimawandel und Pandemien sowie sich in die Länge ziehende bewaffnete Konflikte – gelten wird, Wege des Entgegenwirkens zu finden.

Besonderes Augenmerk verdient weiters die Tatsache, dass nur eine äußerst geringe Anzahl der extern Vertriebenen, nämlich 3,9 Millionen Personen, in der Dekade 2010-2019 in ihr Heimatland zurückkehrte18 (UNHCR, 2020). Nicht nur für sich allein genommen, sondern ebenso verglichen mit den beiden Dekaden davor (1990-1999: 15,3 Mio.; 2000-2009: 9,6 Mio.) (UNHCR, 2020) erscheint diese Zahl alarmierend niedrig und legt sowohl eine intensivierte Arbeit an einer Stabilisierung der weltweiten Sicherheitslage zur Verringerung der Notwendigkeit von Flucht und der Ermöglichung der Heimkehr als auch an einer verstärkten Integration in den Aufnahmestaaten jener, die trotzdem flüchten müssen und denen eine Heimkehr verwehrt bleibt, nahe.

Aufgrund der dargelegten Informationen lässt sich somit in besonderem Maße hervorheben, dass die Mehrzahl der weltweit flüchtenden Personen im Heimatland und in (angrenzenden) Entwicklungsländern unterkommt und dass nur ein jeweils geringer Prozentsatz der externen Flüchtlinge in ihren Heimatstaat zurückkehrt.

Flucht in die EU

Diametral entgegengesetzt zur Flucht weltweit – wie erwähnt stellen nicht einmal fünf Prozent der weltweit vertriebenen Personen auch effektiv einen Antrag auf internationalen Schutz – sind es in der EU deutlich mehr, sodass der Anteil an Flüchtlingen, die auch einen Asylantrag stellen, der Gesamtflüchtlingszahl nahekommt. Ende 2021 betrug die Gesamtflüchtlingsanzahl in der EU gemäß auf UNHCR-Daten basierenden Angaben der Europäischen Kommission 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, was in etwa knapp 2,9 Millionen Personen ausmacht (Europäische Kommission, 2022a). Nach dem »Pandemiejahr«19 2020 mit lediglich rund 472.000 Asylanträgen waren es 2021 mit circa 632.000 Anträgen wieder ähnlich viele wie in den Jahren vor 2020. Dass die Anzahl der Asylanträge im letzten Jahr also fast ein Viertel (22 Prozent) der Gesamtflüchtlingszahl in der EU ausmachte, veranschaulicht die im Vergleich zum weltweiten Verhältnis Vertriebener zu AsylantragstellerInnen komplett unterschiedliche Lage in Europa (Eurostat, 2022a). Die Tatsache, dass im ersten Halbjahr 2022 bereits ca. 406.000 Asylanträge gestellt wurden, deutet darauf hin, dass die Gesamtasylantragszahl 2022 wohl jene aus dem Jahr 2021 deutlich übersteigen wird (Eurostat, 2022b).

Was die Entwicklung der Zahlen über das letzte Jahrzehnt hinweg betrifft, gibt es – wenig überraschend – zwei hervorstechende Momente: das Jahr 2015, in dem die Asylantragszahlen im Vergleich zum Vorjahr vehement anstiegen (2014: 594.000; 2015: 1,28 Mio.), und das Jahr 2017, in dem die Zahlen wieder abrupt, jedoch nicht in gleichem Ausmaß wie der Anstieg 2014-15, fielen (2016: 1,22 Mio.; 2017: 677.000). Das aktuelle Niveau (2021) ist also, verglichen mit den ersten Jahren der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts (2010: 235.000; 2011: 282.000; 2012: 307.000), ein hohes und, verglichen mit den Jahren 2015 und 2016, ein niedriges. Seit 2017 hält sich – mit Ausnahme des Jahres 2020 als gewissermaßen statistischem »Ausreißer« – die Flüchtlings- und Asylantragstellerzahl konstant auf diesem mittleren Niveau (Eurostat, 2022a; Eurostat, 2022c). Für das Jahr 2022 ist jedoch wie erwähnt erneut eine signifikant höhere Anzahl an AsylantragstellerInnen in der EU zu erwarten.

Ein für manche wohl überraschendes Faktum ist, dass laut auf der Website der Europäischen Kommission veröffentlichten Daten 2020 mehr als ein Viertel der AsylerstantragstellerInnen (26 Prozent der Erstanträge20) visumfrei und legal in die EU einreiste (Europäische Kommission, 2022a). In anderen Worten kann nicht davon ausgegangen werden, dass – wie häufig medial und politisch kolportiert beziehungsweise insinuiert – so gut wie alle AsylwerberInnen irregulär nach Europa gelangen (Europäische Kommission, 2022a).

Asylantragszahlen in der EU von 2010 bis 2021

Quelle: Eurostat, 2022

Betreffend diejenigen, die tatsächlich nicht legal in die EU eingereist sind, lässt sich sagen, dass die irregulären Grenzübertritte 2021 (knapp 200.00021) mehrheitlich (56 Prozent) über den Seeweg (ca. 113.000) stattfanden – die Routen über das Festland sind also nicht mehr der primäre Ursprung der Flüchtlinge in der EU. Einen interessanten Umschwung und allgemein eine relativ große Fluktuation gab es weiters im Bereich der gewählten Seeroute: Während 2019 die östliche Mittelmeerroute die mit Abstand am häufigsten gewählte Route war, war es 2020 die westliche und 2021 (sowie ebenso im ersten Halbjahr 2022) die zentrale Mittelmeerroute. Es lässt sich also bei den Seeüberquerungen in den letzten Jahren eine gewisse Verlagerung von Osten in Richtung Zentrum feststellen (Europäische Kommission, 2022a).

Während wie erwähnt weltweit knapp die Hälfte aller Vertriebenen minderjährig ist, sind in der EU nur knapp ein Drittel (2021: 29 Prozent22) aller AsylantragstellerInnen nicht volljährig. Auch wenn dieser Anteil geringer ist als jener der Minderjährigen an der weltweiten Vertriebenenzahl, kann er als beträchtlich gesehen werden, zumal die AsylantragstellerInnen in der EU auch generell sehr jung sind (51 Prozent zwischen 18 und 34 Jahren im Jahr 2021). Angesichts dieses hohen Anteils an Personen im arbeitsfähigen Alter ist im Hinblick eines akuten Arbeitskräftemangels in manchen Branchen in Europa das diesbezügliche Potenzial geflüchteter Personen tunlichst zu nutzen23 (Eurostat, 2022d).

Was die behördliche Beurteilung der Asylanträge betrifft, wurde 2021 ca. 275.000 AsylwerberInnen internationaler Schutz24 gewährt. In erster Instanz wurden 2021 39 Prozent25 aller Anträge auf internationalen Schutz26 positiv entschieden (ca. 113.000 Asyl, ca. 61.000 subsidiärer Schutz, ca. 28.000 humanitäres Bleiberecht)27. Ein hierbei besonders interessantes Faktum ist, dass es in der EU je nach Mitgliedstaat eklatante Unterschiede bei den Prozentsätzen positiver Entscheidungen gibt. Wurden 2020 in Irland 74 Prozent der erstinstanzlichen Verfahren positiv beschieden, waren es in der Tschechischen Republik gerade einmal zehn Prozent. Ein noch größerer Graben tut sich zwischen einzelnen EU-Staaten bei den Anerkennungsraten bestimmter Herkunftsländer entstammender Personen auf. So lag etwa die erstinstanzliche Anerkennungsquote von AfghanInnen 2020 in Italien bei 94 Prozent, während sie in Bulgarien und Kroatien bei einem beziehungsweise null Prozent lag28 (Eurostat, 2022c; Eurostat, 2022e; Eurostat, 2022e; Europäische Kommission, 2022a).

Diese Daten sprechen für sich und werfen aufgrund ihrer einzelstaatlichen Unterschiedlichkeit Fragen nach der Rechtmäßigkeit der Verfahren in manchen Mitgliedstaaten auf. Zweifelsohne legen sie zumindest ein Auf-den-Grund-Gehen nahe, wenn nicht eine EU-weite verstärkte Harmonisierung der Verfahrensbedingungen sowie ein Eingreifen in Fällen unangemessener Umsetzung dieser. Eine gleiche beziehungsweise gleichwertige Behandlung von gleichgelagerten Fällen über nationalstaatliche Grenzen hinweg wäre bei einer auf gemeinsamen humanitären Werten29 fußenden Union jedenfalls von sich aus naheliegend und angebracht.

Was das Rechtsmittelverfahren betrifft, wurde in gut einem Drittel der Fälle (knapp 35 Prozent) – also etwas seltener als im erstinstanzlichen Verfahren – positiv entschieden, was einerseits die große Bedeutung weiterer (auf die erste folgende) Instanzen im Asylverfahren aufzeigt. Andererseits spricht diese hohe Anzahl nicht unbedingt für die Qualität und Standhaftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidungen der letzten Zeit. Auch im Rechtsmittelverfahren zeigen sich eklatante Unterschiede bzgl. der Anerkennungsquoten: Während 2020 in Bulgarien und in Österreich neunzig Prozent beziehungsweise 62 Prozent dieser Verfahren positiv ausgingen, war in Lettland, Ungarn und Portugal im genannten Jahr keine einzige Entscheidung positiv (Eurostat, 2022a; Eurostat, 2022c; Eurostat, 2022f; Europäische Kommission, 2022a).

Die Haupt-Herkunftsländer der in der EU ankommenden Flüchtenden decken sich in etwa mit jenen weltweit. So kamen 2021 auch die AsylerstantragstellerInnen in der EU zum Großteil aus Syrien (22 Prozent) und Afghanistan (18 Prozent), wenngleich VenezolanerInnen einen im Vergleich zur globalen Quote geringeren Prozentsatz ausmachen (drei Prozent) (Europäische Kommission, 2022a).

Die große Anzahl an UkrainerInnen, die aus ihrem Heimatland aufgrund des russischen Angriffskriegs vertrieben wurden, hatte bis dato nur einen geringen Einfluss auf die EU-Asylantragsteller-Herkunftsstatistik. Denn obwohl sich die Anzahl von ukrainischen AsylantragstellerInnen in der EU im März 2022 drastisch erhöhte (von ca. 2.500 im Februar auf ca. 13.500), sank sie in den Monaten darauf wieder ähnlich rapide (ca. 1.800, 1.500 und 1.100 im April, Mai und Juni). Das hat mit der geschichtlich erstmaligen Aktivierung der EU-Richtlinie Vorübergehender Schutz30 zu tun, mit der sie – anders als häufig AsylwerberInnen – sofort (nach Erhalt eines Vertriebenenausweises) freien Arbeitsmarktzugang in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten genießen.

Die »Top 5« der EU-Mitgliedstaaten, in denen 202131 Erstanträge auf internationalen Schutz gestellt wurden (Deutschland: 28 Prozent, Frankreich: 19 Prozent, Spanien: 12 Prozent, Italien: 8 Prozent, Österreich: 7 Prozent), erscheinen nicht sonderlich überraschend mit der Ausnahme, dass Österreich – anders als in den Jahren davor – nun Teil dieser ist (Europäische Kommission, 2022a; Eurostat, 2022a). Davon zu unterscheiden sind jene EU-Mitgliedstaaten, in denen 2021 im Verhältnis zur Einwohnerzahl die Mehrzahl der erstmaligen Asylanträge gestellt wurde. Die am meisten betroffenen Staaten sind hier teils andere, nämlich Zypern (1,5 je 100 Einwohner), Österreich (0,4) und Slowenien (0,2).32 Österreich hat damit im Vergleich zum Jahr davor (2020), in dem 0,15 Anträge pro 100 Einwohner gestellt wurden, einen deutlichen verhältnismäßigen Zuwachs an Asylerstanträgen erfahren (Eurostat, 2022c, Europäische Kommission, 2022a).

Die genannten Zahlen zeigen somit die stark unterschiedliche Betroffenheit der EU-Mitgliedstaaten was die Anteile von Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten an der jeweiligen staatlichen Bevölkerung auf. Nichtsdestotrotz sind die Prozentsätze auch in den am meisten betroffenen Staaten grundsätzlich niedrige, da sie kaum über ein Fünfzigstel derer Gesamtbevölkerung hinausgehen.

Was die Neuansiedelungen (»Resettlement«) in der EU betrifft, die als wichtiger Teil eines sinnvollen Umgangs mit der Herausforderung weltweit steigender Flüchtlingszahlen zu sehen wären,35 sind die Zahlen ebenso niedrig. Laut Angaben der Europäischen Kommission waren es nach einem starken Rückgang der Resettlement-Zahlen im Jahr 2020 (ca. 9.100 Personen) im Vergleich zum Jahr davor (rund 21.000), 2021 mit knapp 23.00036 neuangesiedelten Personen (ca. acht Prozent der gesamten Schutzgewährungen 2021) erneut etwas mehr. (Europäische Kommission, 2022a) Da der Großteil der neuangesiedelten Personen in einige wenige EU-Mitgliedstaaten fließt37, ist diese von sich aus schon geringe Anzahl in den meisten EU-Mitgliedstaaten eine noch reduziertere, die eindeutig ausbaufähig wäre.