SÖLDNEREHRE (Extreme 4) - Chris Ryan - E-Book

SÖLDNEREHRE (Extreme 4) E-Book

Chris Ryan

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Beschreibung

Chris Ryans Extreme – extreme Action, extremes Tempo, extreme Sprache. Nordirland, 1993: Als die engagierte MI-5-Agentin Avery Chance von der IRA entführt wird, liegt ihre einzige Hoffnung auf Rettung in der Hand eines jungen SAS-Rekruten … Zwanzig Jahre später ist John Bald, jene SAS-Legende, nur noch ein Schatten seiner selbst. Eine letzte Mission soll ihn rehabilitieren. Das Ziel: Kurt Pretorius, ein gnadenloser Söldner, der sich in der Wildnis Somalias zu einer Art Gottheit aufgeschwungen hat. Bald soll Pretorius stoppen, bevor dieser einen geplanten Putsch in die Tat umsetzen kann. Doch schon bald findet er sich in einem gefährlichen Spiel aus Verrat und Täuschung wieder, dessen Preis der eigene Kopf sein könnte … ★★★★★ »Niemand versetzt Sie besser mitten in die Action als Ryan.« - EVENING STANDARD Chris Ryan, ehemaliger SAS-Elitesoldat und Erfinder der erfolgreichen TV-Serie »Strike Back«, befördert Sie mit seiner Extreme-Reihe direkt ins explosive Geschehen. Seine Bücher sind atemlose Actionkost – schonungslos, realistisch und knallhart.

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EXTREME: SÖLDNEREHRE

Band 4

Chris Ryan

übersetzt von Peter Mehler

This Translation is published by arrangement with Chris RyanTitle: EXTREME: SILENT KILL. All rights reserved. Copyright © Chris Ryan 2015

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Danksagung

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: SILENT KILL Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler Lektorat: Manfred Enderle

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2023) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-748-8

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

EXTREME: SÖLDNEREHRE
Danksagung
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Über den Autor

Kapitel 1

Lisburn, Nordirland, 1993. 20:14 Uhr

Die Stimme drang wie ein Schaudern durch die Leitung.

»Avery, Gott sei Dank«, sagte die Stimme. »Die Arschlöcher haben mich eine Ewigkeit in der Warteschleife gehalten. Ich friere mir hier den Arsch ab.«

Avery Chance schoss kerzengerade auf ihrem Stuhl im Hauptquartier des MI5 in der Thiepval-Kaserne auf. Sie erkannte die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort. John-Joe Kicker war ein Lieutenant in der Provisional IRA Internal Security Unit, auch als Nutting Squad bekannt, und verantwortlich für die Überwachung innerhalb der Ränge der Provos. Chance hatte Kicker vor drei Monaten auf ihre Seite geholt. Für eine noch junge Agentin im Einsatz in Nordirland war die Rekrutierung eines Mannes wie Kicker eine Riesensache gewesen.

»Joe«, sagte sie. »Wo stecken Sie?«

»Backstage, zusammen mit Bono. Was glauben Sie denn?«, schnaubte Kicker. Seine Antwort fegte hart und schnell durch die Leitung, wie ein plötzlicher Windstoß. Er fuhr fort: »In einer Telefonzelle an der Falls Road. Hören Sie, ich kann hier nicht lange bleiben. Hier wird man von allen Seiten beobachtet.«

Etwas in seiner Stimme ließ Chance wachsam werden. Er klang ängstlich. Aber Kicker war ein beinharter IRA-Mann und verurteilter Mörder, dachte sie. Er hatte seine Zeit in Long Kesh abgesessen. Kicker hatte keine Angst.

»Was ist los?«, erkundigte sich Chance.

»Nicht am Telefon. Treffen Sie sich mit mir.«

»Die Leitung ist sicher.«

Kicker presste ein Lachen hervor, das sich wie das künstliche Gelächter einer Sitcom anhörte. »Die Leitung war alles andere als sicher, als Martin Sheedy Ihnen sein Herz ausgeschüttet hat. Tatsächlich war sie sogar so unsicher, dass der arme Martin sich für seine Mühen ein paar Kugeln in den Hinterkopf einfing. Ich mag vielleicht meine Leute verpfeifen, aber ich bin nicht blöd.«

Chance lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Dann werde ich mich mit Ihnen treffen. Der übliche Treffpunkt. Neun Uhr.« Sie machte eine Pause und massierte sich die Stirn. »Aber Sie dürfen mich nicht im Dunkeln lassen, Joe. Ich muss wissen, worum es geht.«

Kicker schwieg für ein paar Sekunden, dann sagte er: »Wissen Sie noch, wie ich sagte, dass ich Sie anrufen werde, wenn ich an etwas Großem dran wäre?«

»Das war unser Deal.«

Wieder herrschte eine lange Pause. Chance lauschte dem Knacken in der Leitung, dem dröhnenden Wind, den Polizeisirenen im Hintergrund und dem maschinenartigen Summen des Stadtlebens im östlichen Belfast. Dann holte Kicker tief Luft und sagte. »Nun, dieses Mal sitze ich auf etwas Großem. Und wenn Sie nicht sofort Ihren Arsch hierher schwingen, werden Sie sich morgen um diese Zeit durch einen Haufen toter Soldaten arbeiten müssen.«

Kapitel 2

20:57 Uhr

Chance erreichte den Treffpunkt drei Minuten früher. Sie hasste es, zu spät zu kommen.

Sie war von Lisburn heraufgedonnert und hatte ihren silbernen Vauxhall Cavalier noch mehr angetrieben, als sie sich ihren Weg die Prince William Road nach Norden hinauf gebahnt hatte, in die südwestliche Ecke von Belfast. Ein dünner Nebel hatte begonnen, sich wie ein Netz über die Landschaft auszubreiten, als sie von der B101 und auf die A501 nach Andersonstown schoss.

Irgendjemand hatte Chance einmal erzählt, dass Belfast britischer als die Weihnachtsansprache der Queen und irischer als ein Glas Guinness wäre. Und das stimmte. Aber die Zeiten änderten sich. Bill Clinton war zum Präsidenten gewählt worden. Reagan hatte Witze über die Iren gemacht, Clinton wollte Frieden bringen, hieß es in den tabakgeschwängerten Social Clubs überall in der Provinz, und darin lag ein Fünkchen Wahrheit. Clinton drängte auf einen Waffenstillstand und buhlte um Gerry Adams. Und zuhause in Whitehall schob die Gerüchteküche Überstunden. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, dass die Briten und die Iren im Begriff seien, eine gemeinsame Erklärung im Friedensprozess abzugeben. Nun war Belfast zweigeteilt zwischen jenen, die ihre Waffen an den Nagel hängen wollten und denen, die geschworen hatten, den bewaffneten Kampf weiterzuführen.

Die Straßen waren menschenleer, als Chance die Kreuzung zwischen der Andersonstown Road und der Suffolk Road erreichte. Sie schaltete in den Park-Modus, ließ aber den Motor an und die Heizung auf voller Pulle laufen. Die warme Luft strich zärtlich über ihren Hals und ihr Gesicht. Dafür war sie dankbar, denn draußen herrschte die Art von Kälte, die einen mit Nadelstichen traktierte und bis auf die Knochen fuhr.

Die Sozialsiedlung bestand aus einer schmucklosen Anordnung finster aussehender Häuser und einem Aufgebot an Läden. Verrostete Rollläden hingen wie schwere Augenlider vor den Fenstern eines heruntergekommenen Wettbüros und einem Taxi-Laden. Vom Dach eines jeden Hauses wehte eine republikanische Flagge. Wandgemälde an den Giebelwänden zeigten Hungerstreikopfer und palästinensische Terroristen, lebendige Farben in einem Meer aus Grautönen, während am Horizont einige Berge wie zwei hochgezogenen Schultern aufragten. Ein Schild an einem Gebäude ganz in der Nähe trug einen Spruch aus dem Alten Testament: Begegne deinem Gott.

Andersonstown war die Art von Gegend, wo man Bullen aus ihren Autos zerrte und am helllichten Tag niederstach, und gutgläubigen Zivilisten in die Kniescheibe geschossen wurde, nur weil sie den falschen Nachnamen trugen. Belfast gehörte zu der Zeit zu den vier großen B, zusammen mit Bagdad, Bosnien und Beirut. Orte, die wie offene Wunden eiterten. Orte, die die Welt vergessen hatte.

Chance wusste, dass sie ein großes Risiko damit einging, ein Treffen im Hinterhof des Feindes abzuhalten. Aber andererseits hielt sie es für den perfekten Treffpunkt für ihren Informanten, ganz nach dem Prinzip, sich direkt vor aller Augen zu verstecken. Es würde ihren Informanten besser schützen, als ihn durch die Tore des nächstgelegenen irischen Polizeiquartiers marschieren zu lassen, wo Hinz und Kunz zusehen konnten.

Außerdem holte sie sich von dem Risiko ihren Kick. Schon von klein an, als ihr Vater ihre als Hochschuldozentin arbeitende Mutter für seine Assistentin sitzen ließ, hatte Chance gelernt, dass es, wenn sie es im Leben einmal zu etwas bringen wollte, nicht reichen würde, einfach nur gleichauf mit ihren männlichen Rivalen zu sein. Sie musste besser als die Männer sein. Sie musste härter und länger dafür arbeiten und obendrein klüger als sie sein. Und sie musste darauf gefasst sein, ihren Kopf zu riskieren.

Chance wusste, dass sie nicht auf klassische Weise attraktiv war. Aber sie hatte so etwas an sich. Sie war jene Art von Frau, die Männer eher faszinierte, als sie dahinschmelzen zu lassen. Ihr kurzgeschnittenes braunes Haar besaß blonde Strähnen am Pony und ihre schmalen Lippen standen immer ein klein wenig offen und gaben den Blick auf perlweiße Zähne frei. Sie trug einen dunklen Anzug, der ihre Hüften betonte und ihre kleinen Brüste kaschierte – den einzigen Teil ihres Körpers, den sie hasste. Mit sechzehn war sie am St. Hildas College in Oxford angenommen worden, wo sie Philosophie, Politikwissenschaften und Wirtschaft studiert hatte. Danach hatte sie den Doktor in Logik an der Universität in Sorbonne gemacht, bevor sie mit zweiundzwanzig Jahren zum MI5 wechselte.

Sie gehörte zu der neuen Generation von weiblichen Schnellstartern – Karrierefrauen, die bereit und imstande waren, die bislang von Männern dominierte Rangordnung in den Geheimdiensten hinaufzuklettern. Stella Rimington hatte den Weg innerhalb der Geheimdienste für ihr Geschlecht in den späten Siebzigern geebnet, und mit ihrer Ernennung zur Generaldirektorin im Jahre 1992 war sie endgültig durch die Decke des MI5 gegangen. Seither wimmelte es dort von Absolventinnen, die wild entschlossen waren, das Beste aus dieser Gelegenheit zu machen.

Dabei gab es nur ein Problem: Die Männer mochten keine Senkrechtstarterinnen.

In den ersten fünf Jahren hatte sie sich in einem Wahnsinnstempo ins Aus hochgearbeitet, von einem unwichtigen Bürojob zum nächsten. Den Männern war es gelungen, den Durchstartern den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Für eine Weile hatte Chance überlegt, den Geheimdienst zu verlassen. Das war 1990 gewesen, als der Kalte Krieg vorüber war und der MI5 sich mehr und mehr wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit anfühlte.

Aber an einem verschneiten Februarmorgen ein Jahr später sollte sich ihr Glück wenden. An diesem Tag hatten IRA-Terroristen einen Transporter auf der Horse Guards Avenue abgestellt und drei Mörsergranaten auf die Downing Street abgefeuert. Ihre Mission, den Premierminister John Major umzubringen, scheiterte, aber der Angriff löste eine ganze Welle von PIRA-Bombenattentaten auf britischem Boden aus. Von einer schwer erschütterten Regierung unter Druck gesetzt, wurde der MI5 angewiesen, den Gegner von innen heraus zu zerschlagen. Chance hatte sich für den Posten in Belfast freiwillig gemeldet. Einen Monat später bekam sie ihren Wunsch erfüllt, und die Durchstarterin war wieder im Rennen.

Sie wurde damit beauftragt, PIRA-Mitglieder zu identifizieren, die man möglicherweise zu einer Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst bewegen konnte. Also hielt sie die Augen und Ohren offen und kannte bald schon jeden Mick und Shay nördlich der Grenze, der Heroin an die Schwarzen vertickte oder eine Protestantenschlampe von der Shankhill Road geschwängert hatte. Je dunkler die Geheimnisse waren, von denen Chance erfuhr, umso größer das Druckmittel gegen potenzielle Rekruten. Kicker war ihr erster Erfolg gewesen. Der erste von vielen weiteren, wie sie hoffte. So wie viele andere junge Frauen beim MI5 hatte sich Chance eine Belagerungsmentalität gegenüber ihren männlichen Kollegen angeeignet. Sie besaß das zwanghafte Verlangen, besser als sie zu sein. Der Sieg, den die alten Männer errungen hatten, machte nur ihren Untergang deutlich. Auf lange Sicht konnten sie die Durchstarter nicht aufhalten. Sie machten sie nur wütender.

Zwei Minuten und dreißig Sekunden, nachdem sie an dem Treffpunkt angekommen war, huschte eine Gestalt aus den Schatten und hielt zielstrebig auf den Cavalier zu. Der Mann trug einen hellen Anorak, einen dunklen Pullover und eine graue Hose. Er sah wie jeder andere Otto Normalbürger aus, der auf dem Weg war, sich zu besaufen. Sein Gesicht war schmal und kantig, als hätte jemand seine Züge mit der Spitze eines Messers geschnitzt. Seine Haut spannte sich über abgemagerte Wangenknochen, und ein sein Haar fiel ihm sauber gekämmt bis auf die Schultern hinab. Alles in allem sah John-Joe Kicker so aus, als hätte man zu viel Scheiße in einen zu kleinen Sack gestopft.

Kicker blieb neben dem Wagen stehen und klopfte mit seinen knochigen Knöcheln ungeduldig gegen das vordere Beifahrerfenster. Chance beugte sich hinüber und öffnete die Tür. Ein Schwall kalter Luft biss in ihre Nase und schlug gegen ihre Wangen. Kicker stieg ein und rieb sich die Hände so schnell aneinander, als versuchte er, ein Feuer zu entfachen.

»Sie müssen echt Eier aus Stahl haben, hier runter zu kommen«, sagte er mit seinem abgehackten Belfaster Akzent. »Die einzigen Bullen, die man hier zu Gesicht bekommt, sitzen am Steuer eines Panzerwagens.« Er warf einen stirnrunzelnden Blick auf die Rückbank. »Wo ist Ihr Partner, dieser aufgeblasene Wichser?«

»Beschäftigt«, antwortete Chance leise.

Es gehörte zur Standardvorgehensweise aller Agenten, sich als Paar mit Informanten zu treffen. Aber Charles Grealish, Chances üblicher Partner, war befördert worden – sehr zu ihrer Verärgerung, hatte er in Belfast doch so gut wie gar nichts bewirkt. Aber Grealish gehörte zur alten Garde, war einer von den guten alten Jungs. Solange er niemandem auf den Schlips trat, war sein Weg nach oben geebnet. Und Chance wartete noch immer auf einen neuen Partner.

»Ist Ihnen jemand gefolgt?«, fragte sie.

Kicker lachte kehlig. »Wohl kaum.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich hab ein Taxi bis zum Friedhof genommen und bin den Rest gelaufen. Hab mich an Nebenstraßen gehalten, genau, wie Sie es mir geraten haben. Ich treffe mehr Vorsichtsmaßnahmen als 'ne Nutte.« Kickers Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Sie sollten nicht vergessen, dass ich mehr zu verlieren habe als ihr Briten. Wenn die Jungs rausfinden, dass ich geredet habe, bin ich im Arsch.«

Chance wechselte das Thema. »Erzählen Sie mir, was los ist, Joe.«

Kicker schüttelte energisch den Kopf. »Alles der Reihe nach. Nach diesem Abend will ich aussteigen. Ich bin fertig mit Ihnen. Bevor ich Sie also auf den Stand der Dinge bringe, müssen wir einiges klären.«

Chance hob eine Augenbraue. »Was denn?«

»Ich rede von meiner Abfindung. Zum Beispiel …« Kicker leckte sich die Finger und arbeite eine Liste ab. »Ich will ein Haus. Groß, mit einem verdammt riesigen Garten. Irgendwo, wo es schön und langweilig ist, wo nie etwas passiert. Wie in Surrey. Eine neue Identität, die zu dem Haus passt. Und ich will noch etwas Zaster. Einen kleinen Hedgefonds, um erst einmal versorgt zu sein. Und das Ganze schriftlich.«

»Sie haben einen Vorschuss bekommen. Dafür ist das Geld gedacht.«

»Blödsinn!«, grollte Kicker und hieb mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Ihr habt mir ein paar Tausender für die Informationen bezahlt, mit denen ich euch normalerweise füttere. Aber das hier ist etwas anderes. Das ist Top-Level-Kram, und dafür möchte ich entsprechend kompensiert werden.«

Chance schwieg. Sie wartete, dass Kicker mit seiner Tirade fertig wurde. Sah zu, wie er sich wieder in den Sitz fallen ließ, die Muskeln vor Wut zuckend, um mit dem Kopf gegen die Kopfstütze zu knallen. Geduldig wartete sie, bis seine Wut verflog, wie Luft aus einem angestochenen Reifen wich. Nachdem Kicker sich wieder beruhigt hatte, sah ihm Chance fest in die Augen.

»Sie steigen dann aus, wenn ich Ihnen sage, dass Sie aussteigen können«, sagte sie tonlos.

Kicker öffnete den Mund, aber Chance schnitt ihm das Wort ab, bevor er etwas entgegnen konnte. »Der einzige Grund, wieso Sie überhaupt hier sind und sich mit einem Agenten der britischen Regierung treffen«, erklärte sie ihm, »ist, weil Sie dumm genug waren, etwas mit Victor Costellos Frau anzufangen.«

Kicker zuckte bei der Erwähnung von Costello zusammen. Aus gutem Grund, dachte Chance. Costello war der Leiter der Nutting Squad. Und außerdem ein berühmt-berüchtigter Sadist. Er folterte nicht einfach nur Menschen. Er gab ihnen eine persönliche Führung durch die sieben Kreise der Hölle. Er nähte den Informanten ihre abgetrennten Testikel in den Mund. Er schnitt ihnen die Augenlider mit einer Kinderschere ab. Es ging das Gerücht, dass Costello als Kind zwei Katzen an ihren Schwänzen zusammengebunden hatte, sie dann über eine Wäscheleine hängte und dabei zusah, wie sie sich gegenseitig zu Tode kratzten.

»Sie sollten besser mit mir kooperieren«, fuhr Chance fort, »oder Costello öffnet morgen seine Post und findet darin einen Umschlag voller Fotos, auf denen Sie es sich mit Caitlin hübsch gemütlich gemacht haben.« Sie sprach mit zarter, aber gleichzeitig scharfer Stimme. Wie eine Klinge, die durch Seide fuhr. Kicker schien sich zunehmend unwohl zu fühlen. Chance wartete, ließ ihn zappeln. Dann drehte sie das Messer herum. »Sie sind ein großer Junge, Joe. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was Costello tun wird, wenn er herausfindet, dass sie seine Frau gevögelt haben.«

Kicker verzog das Gesicht. »Sie sind ein verdammtes Miststück.«

»Vielleicht.« Chances hellblaue Augen lächelten ihn an. »Aber ich bin gleichzeitig das Miststück, das Sie bei den Eiern hat.«

Kicker mahlte mit den Zähnen. Er presste die Lippen und Augenlider aufeinander und kochte innerlich. Chance ließ ihn brodeln und spähte unterdessen die Sozialsiedlung aus. An der nächsten Ecke befand sich der Devlin Social Club. Dessen Fenster waren vernagelt, und ein Graffiti, das über ein Poster neben der Tür gesprüht war, verkündete: BRITS FUCK OFF. Ein paar alte Männer mit zu viel Zeit und zu wenig Geld schlurften, die Hände in die Taschen gestopft und mit elenden Gesichtern wie aufgekratzte Wunden, in den Laden hinein und wieder hinaus und waren eifrig damit beschäftigt, ihre Sozialhilfe auf den Kopf zu hauen.

Kicker riss die Augen auf. Chance sah wieder zu ihm.

»Ich werde tun, was ich kann, um Ihnen zu helfen«, sagte sie. »Aber Sie werden mir vertrauen müssen.«

Kicker seufzte. »Morgen wird eine Lieferung eintreffen. Um acht Uhr morgens. An der Galway-Küste. Den genauen Ort weiß ich nicht, weil Costello ihn nicht erwähnte.«

Chance nahm die Neuigkeiten ungerührt zur Kenntnis. »Wann haben Sie davon erfahren?«

»Vor sechs oder sieben Stunden?« Kicker zuckte mit den Achseln. »Ich hatte keine Ahnung davon, bis Costello uns alle zu einem Treffen einberief. Seitdem habe ich versucht, Sie zu erreichen. Meine Güte, glauben Sie wirklich, ich würde Ihnen etwas verschweigen?«

»Sagen wir einfach, dass Ihre Leute bekannt dafür sind, etwas wählerisch mit der Wahrheit umzugehen.«

»Sie können mich mal, Avery. Ich habe mich sofort bei Ihnen gemeldet, nachdem ich davon erfahren habe. Ist mittlerweile nicht mehr so einfach, an Informationen zu kommen. Costello weiht niemanden mehr ein. Nach den ganzen Verhaftungen in der letzten Zeit scheint er paranoid geworden zu sein. Jeder erfährt nur noch das Nötigste.«

»Was für eine Lieferung wird das sein?«

Chance rechnete damit, dass Kicker die übliche Einkaufsliste aufzählen würde, von Semtex, Mörsergranaten, ausrangierten Gewehren und Pistolen aus dem Zweiten Weltkrieg bis zu Ausrüstung, die aus Ostdeutschland und den ehemaligen Sowjetstaaten durchsickerte. Aber das tat er nicht. Stattdessen sog der Lieutenant der Nutting Squad scharf die Luft ein und sagte. »Stinger.«

Chance spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. In dem Wagen schien es plötzlich eiskalt geworden zu sein.

»Stinger-Raketen?«

»Aye, und jede Menge davon. Wir sprechen hier von genug Raketen, um damit jeden britischen Hubschrauber in der Gegend vom Himmel zu holen.«

Chance bekam eine Gänsehaut. Die Provos hatten seit Jahren versucht, an Luftabwehrraketen zu kommen. Sie wussten, dass sich die Briten besonders stark auf ihre Chinook-Hubschrauber verließen, mit denen sie viele ihrer Basen in Nordirland versorgten, besonders die abgelegeneren, die nicht über Straßen zugänglich waren. Mit einem FIM-92-Infrarot-Raketenwerfer bewaffnet, konnte ein einziger PIRA-Schütze die britischen Hubschrauber mit nur einem Tastendruck abschießen. Jeder einzelne Chinook stellte für das Militär eine kritische Versorgungslinie dar. Holte man sie vom Himmel, würde sich die Lage nördlich der Grenze deutlich verschärfen.

Aber ein anderer Gedanke riss Chance aus ihrer Blase. »Das ist unmöglich«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Das FBI hat die üblichen Schmugglerrouten über Florida dicht gemacht. Natürlich liefern auch die Libyer Waffen, aber um die ist es in der letzten Zeit ruhiger geworden. Und außerdem überwachen wir alle wichtigen Lieferkanäle. Es ist ausgeschlossen, dass jemand Raketen ins Land schmuggelt, ohne dass wir etwas davon wissen.«

Kicker hob die Hände. »Ich sage Ihnen nur, was ich weiß, Schätzchen. Machen Sie damit, was Sie wollen.« Er rutschte auf seinem Sitz herum. Als er wieder bequem saß, fuhr er fort. »Ich bin zu diesem Treffen mit den anderen Jungs gegangen. Costello fing damit an, dass die Zeiten hart wären. Dass die Briten uns die Hölle heiß machen, unsere Ränge unterwandern und sich die Lieferungen aus Florida und Libyen in Luft aufgelöst haben.«

»Und weiter?«

»Aber dann strahlt Costello plötzlich wie ein Tannenbaum und sagt, dass wir den Spieß umdrehen werden. Dass morgen eine Lieferung eintreffen wird, um 0800, und wir sie an der Grenze abholen sollen. Einer der Jungs fragte, was für eine Lieferung das sei, und Costello rückte sofort mit der Sprache raus und sagte: Stinger. Als hätte er ein Date mit einer der Schnitten aus Baywatch klargemacht.«

Chance starrte aus dem Fenster und dachte nach. Eine neue Schmugglerroute für Waffen. Das war möglich, überlegte sie. Die Führer der PIRA hatten ihre Netze auf der Jagd nach neuen Waffen weit ausgelegt. Bisher nur mit mäßigem Erfolg. Der PLO oder der kolumbianischen FARC ging ebenfalls der Nachschub aus. Diese Terrororganisationen waren also nicht in der Lage, eine Ladung Stinger-Raketen zu liefern. Und keine ernstzunehmende Nation würde es wagen, die internationalen Sanktionen zu unterwandern und Waffen an die Provos zu liefern.

Wer steckte also hinter diesem Verkauf? Chance dachte nach. »Wo wird die Lieferung landen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber Sie sagten, sie wären bei dem Treffen gewesen. Lügen Sie mich nicht an, Joe.«

»Ich lüge nicht. Wir wissen, was es ist und wann es eintrifft. Aber den genauen Ort hat Costello für sich behalten. Acht Uhr in der Frühe, hieß es. Wir treffen uns mit Costello an seinem Haus. Dann fährt eine größere Abordnung von uns Nutting-Squad-Jungs runter nach Galway und lädt die Lieferungen in mehrere Lastwagen. Wir sollen Landkarten mit den Koordinaten der Waffenlager bekommen. Neue Waffenlager wohlgemerkt – die Ihr noch nicht kennt.«

Chance blickte durch die Windschutzscheibe und ließ die Information sacken. Sie sah einen spindeldürren Mann mittleren Alters aus dem Devlin Social Club kommen. Er trug eine Baseballkappe der Boston Red Sox und eine graugrüne Bomberjacke. Die Krempe der Kappe verschattete sein Gesicht, sodass Chance seine Gesichtszüge nicht erkennen konnte. Er trat aus der Tür, griff in seine Jackentasche und pflückte eine Zigarette aus einem Päckchen. Dann legte er seine schaufelartigen Pranken um die zitternde Flamme. Chance bemerkte, dass seine Finger mit farbenfrohen Tätowierungen verziert waren. Der Mann blieb im Schatten des Clubs stehen und zog an seiner Zigarette.

Die MI5-Agentin wandte sich wieder Kicker zu und blickte ihm todernst in die Augen. »Sie müssen mir hier helfen, Joe. Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, dann steht die IRA kurz davor, Waffen in die Hände zu bekommen, die den Friedensprozess für Jahrzehnte verhindern werden. Und das will niemand von uns, oder?«

»Ich schätze nicht.« Kickers Stimme klang leise und nachdenklich.

Chance wusste, dass er ein sechs Monate altes Baby namens Mary hatte. Die Männer der PIRA wurden immer ein wenig weich, wenn ihre Frauen begannen, Babys in die Welt zu setzen. Darauf zählte Chance und griff Kickers Hand. Eine persönliche Note. »Sie müssen mir mehr geben. Etwas, das ich meinen Bossen erzählen kann.« Sanft zog sie ihre Hand zurück. »Wenn sie das Gefühl bekommen, dass Sie nicht kooperieren, werden sie Ihren Schutzstatus aufheben. Dann wird sich herumsprechen, dass Joe eine Ratte geworden ist. Die vielen Jungs, die Sie an uns verpfiffen haben, werden darüber nicht glücklich sein. Und Sie wollen doch sicherlich nicht, dass die kleine Mary ohne ihren Vater aufwachsen muss, oder? Natürlich nicht. Sie sind ein guter Mann, Joe, und kein Monster, so wie die anderen.«

Chance konnte sehen, dass ihre Worte Wunder bewirkten. Aus dem Augenwinkel verfolgte sie, wie sich der Mann mit der Red-Sox-Kappe von dem Devlin entfernte, die Hände in die Taschen seiner Bomberjacke gestopft, das Kinn gegen die beißende Kälte an die Brust gezogen. Es war dunkel, und sie konnte sein Gesicht nicht erkennen.

Kicker zog seine Hand zurück. Er knackte mit den Knöcheln und starrte auf einen Punkt in seinem Fußraum. Ein kleiner Mann, der mit einem großen Problem haderte. Belfast durch und durch. »Das darf niemals zu mir zurückverfolgt werden«, sagte er schließlich. »Wenn die Bosse bei der IRA herausfinden, dass ich sie verpfiffen habe, bin ich geliefert.«

»Sie haben mein Wort.«

Kicker sog scharf die Luft ein, und dann sagte er: »Da ist dieser Kerl.«

»Welcher Kerl?« Ein seltsamer kalter Schauer lief Chance bei der Erwähnung dieses neuen Waffenschmugglers den Rücken hinunter. Sie stand kurz vor einer Enthüllung, die so groß war, um damit ihre männlichen Kollegen umzuhauen. In Gedanken sah sich bereits dabei, Rimington bis ganz nach oben zu folgen.

Kicker senkte die Stimme so weit, dass sie unter den Bauch einer Schlange hätte kriechen können. »Alles, was ich weiß, ist, dass der Schmuggler den Namen Colonel Jim trägt. Er ist wie so eine Art Weihnachtsmann unter den Waffenhändlern. Costello ist der Ansicht, dass er auf genug Ware sitzt, um damit den dritten, vierten und fünften Weltkrieg anzuzetteln und dann immer noch etwas übrig zu haben.«

»Wo kann ich ihn finden?«

Aber Kicker beachtete sie nicht. Er starrte geradeaus. Chance folgte seinem Blick, und dann bemerkte sie etwas Ungewöhnliches. Der Mann mit der Baseballkappe war an der Ecke der Andersonstown Road und der Suffolk Road kurz stehengeblieben. Er winkte einem Paar Scheinwerfer etwa dreißig Meter südlich auf der Andersonstown Road zu. Dann zog er die Schultern hoch, sah auf den Boden und lief weiter.

Einen Augenblick später sah Chance einen weißen Ford Transit auftauchen. Er schoss direkt auf der Andersonstown Road entlang auf den Cavalier zu, und sein Dröhnen durchschnitt die gläserne Stille. Zehn Meter vor dem Cavalier kam er quietschend zum Stehen und blockierte die Straße.

Dann flogen die Seitentüren auf und vier Gestalten mit Sturmhauben strömten heraus.

Und hielten auf den Cavalier zu.

Kapitel 3

21:12 Uhr

Chance geriet nicht in Panik. Nicht sofort.

Die Straße hinter dem Cavalier war komplett frei. Schnell legte sie den Rückwärtsgang ein. Sie dachte sich, dass sie der Andersonstown Road nach Norden und in Richtung der Falls Road und der Westlink folgen könnte, in die Zuflucht des protestantischen Ostens von Belfast.

Die vier mit Sturmhauben bekleideten Männer hielten auf den Cavalier zu. Ohne Frage Provos, dachte sie, von ihren Denison-Armeekutten und den formlosen, säuregebleichten Jeans bis zu den fingerlosen Lederhandschuhen.

»Oh gütiger Gott, sie kommen direkt auf uns zu«, sagte Kicker mit zitternder Stimme. Jedes seiner Worte hörte sich wie Keuchen an.

Dann sah Chance die Waffen. Alle vier PIRA-Männer waren bewaffnet. Die ersten beiden trugen AK-47-Sturmgewehre. Ihre Kameraden ein paar Schritte hinter ihnen hielten tschechische CZ-75-Maschinenpistolen in den Händen. Sie meinten es offenbar ernst.

»Sie werden es nicht wagen, auf uns zu schießen«, sagte Chance. »Wir sind hier in einem dicht bewohnten Gebiet …«

»Das irischer als eine Flasche Bushmills ist«, unterbrach sie Kicker. »Die Leute hier sind es gewohnt, dass die Polizei auf sie schießt. Jeder, der hier lebt, weiß, wie das hier läuft. Sehen Sie sich doch um.«

Chance sah auf. Kicker hatte recht, wie ihr klar wurde. Die Straße hatte sich plötzlich geleert. Ein panisches Zittern kitzelte in ihrer Brust, als sie mit ihrem Fuß fest auf das Gaspedal trat. Der Motor des Cavaliers heulte auf, als er zurücksetzte und Fahrt aufnahm. In wenigen Sekunden kletterte der Tacho auf dreißig Kilometer in der Stunde. Das Lenkrad bäumte sich in Chances Händen auf und ihre Handgelenke brannten, während sie versuchte, den Wagen auf einer geraden Linie zu halten. Ihr Blick wirkte, als hätte sie gerade jemanden dabei beobachtet, wie er ihre Mutter vergewaltigte.

Chance hatte fünfundzwanzig Meter im Rückwärtsgang zurückgelegt, als sie im Rückspiegel Scheinwerfer aufflackern sah. Ihr drehte sich der Magen um. Sie waren vierzig Meter hinter ihr. Zwei Wagen, erkannte sie. Nun konnte sie auch sehen, dass sie zu zwei schwarzen Taxis gehörten, deren ›For Hire‹-Schilder auf den Dächern apricotfarben leuchteten.

»Bremsen Sie doch, um Himmels willen!«, schrie Kicker.

Aber Chance starrte nur benommen in den Rückspiegel, den Fuß immer noch auf dem Gas, während die Scheinwerfer immer größer wurden. Es gab kein Entkommen. Die Angst senkte ihre Fänge in ihren Hals. Die Taxis rasten auf den Cavalier zu.

»Halten Sie an!«, schrie Kicker.

Da löste sich Chance aus ihrer Starre und trat auf die Bremse. Der Cavalier geriet ins Schwanken, und der hintere Stoßdämpfer schwang hart nach rechts. Die Reifen quietschten. Dann blieb der Wagen in der Mitte der Straße stehen, dreißig Meter von dem Transit und zwanzig vor den Taxen. Die Taxen hielten immer noch auf sie zu.

Fieberhaft legte Chance den Vorwärtsgang ein. Die Taxen waren jetzt nur noch zehn Meter hinter ihr, und ihre Scheinwerfer füllten beinahe die Heckscheibe aus. Beide bremsten erst im letzten Moment ab. Und im selben Moment riss Chance das Lenkrad hart nach links und schoss nach vorn, steuerte den Wagen von der Straße herunter und auf einen Grasstreifen gegenüber einer Reihe schmuddeliger Geschäfte. Weg von den vier Schützen, die nun nur noch zehn Meter entfernt waren und auf den Cavalier zustürmten. Der Tacho kratzte nun an der fünfzig. Der Motor ächzte. Chance glaubte noch immer, davonkommen zu können.

Dann sah sie, wie die beiden ersten Schützen ihre AK-47 an die Schultern rissen. Sie hörte das Donnern, als zwei der Waffen das Feuer eröffneten und Flammenzungen aus den Mündungen schnellten. Die Schützen gaben ihre Kugeln in gleichzeitigen Drei-Schuss-Salven ab. Die Straße flackerte hell auf, und dann zog Rauch vor Chances Blickfeld auf. Für eine atemlose Sekunde gestattete sie sich den Gedanken, dass die Schützen sie vielleicht verfehlt hatten. Dann sackte der Cavalier ein, als ein Hagelschauer aus heißem Blei beide Vorderreifen durchlöcherte. Ein lautes Zischen erfüllte die Luft, welches schnell von dem Fffump-Fffump von Gummi ersetzt wurde, der über den Straßenbelag holperte. Mit einem Ruck kam der Wagen zum Stehen. Chances Sicherheitsgurt spannte sich um ihre Brust und quetschte ihre Lungen. Ein heißes Druckgefühl explodierte in ihrem Schädel. Ihre Nackenmuskeln verkrampften sich schmerzlich. Neben ihr wurde Kicker nach vorn geworfen und schlug mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett, bevor er zurückschnellte.

Die Schützen feuerten ein zweites Mal. Sechs Kugeln durchschlugen den Kühlergrill und prallten von der Motorhaube ab. Rauch quoll aus dem Kühler. Die Alarmanlage des Wagens kreischte immer wieder die gleiche schrille Note. Eine Kugel schlug in die Windschutzscheibe ein und ließ das Glas zersplittern wie eine Axt, die in einen Eisblock schlägt. Chance und Kicker duckten sich unter das Armaturenbrett, als eine dritte Salve aus drei kurz hintereinander abgegebenen Schüssen aus den Sturmgewehren zischte. Sechs weitere Schüsse bohrten sich in den Wagen. Chance schloss die Augen. Sie war sicher, dass sie sterben würde.

Aber dann verebbten die Schüsse, einfach so. Der Alarm ebenfalls. Stattdessen füllte das Zischen des Kühlers und das erratische Stottern des Motors die Luft. Chance legte sich die Finger an die Schläfen. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand Löcher in den Schädel gebohrt.

Sie hörte das Knirschen von zersplittertem Glas unter sich nähernden Schritten. Stimmen riefen etwas. Auf drei Uhr. Sie kamen näher. Neben ihr betastete Kicker benommen sein zertrümmertes Nasenbein.

Chance räusperte sich. »Joe«, sagte sie. »Kommen Sie zu sich. Wir müssen verschwinden. Sofort!«

»Gah…«

»Holt die Schweine da raus!«, rief eine Stimme mit lupenreinem irischem Akzent vor dem Wagen.

Bevor Chance reagieren konnte, wurde ihre Tür aufgerissen. Eine Hand schoss ins Wageninnere und schloss sich um ihr rechtes Handgelenk. Unterdessen hatte der zweite Schütze Joes Tür geöffnet, packte seinen Hals und zerrte seinen Kopf hin und her, als versuchte er, eine Spinne aus seinen Haaren zu schütteln.

»Oh gütiger Gott, nein!«, stöhnte Joe mit näselnder Stimme. »Ich will nicht sterben. Nicht hier!«

Er riss sich los und warf sich aus dem Wagen. Der Schütze griff nach ihm, aber Kicker duckte sich weg und rann schreiend auf den Grasstreifen zu. Chance wollte ihm helfen, aber die Hand, die ihr Handgelenk gepackt hielt, zerrte sie mit solcher Gewalt aus dem Cavalier, dass sie fürchtete, ihr Arm würde aus dem Gelenk gerissen werden. Hilflos musste sie mitansehen, wie Kicker versuchte zu entkommen. Er taumelte, so als wäre die linke Seite seines Körpers betäubt worden. Er würde es niemals schaffen, so viel war ihr klar. Es gelang ihm, vier oder fünf Meter zwischen sich und den Wagen zu bringen, bevor ihn die anderen beiden Schützen einholten. Einer von ihnen rammte ihm den Schaft seiner Kalaschnikow in den Rücken. Sein Kumpel trat ihn zu Boden. Ein kurzer, gellender Schmerzensschrei hallte durch die Luft. Dann war eine Reihe von Grunzlauten zu hören, als sich die beiden Männer auf Kicker stürzten, sowie das Geräusch von hartem Holz, das Knochen zerbrechen ließ, während beide ihre Gewehrkolben wie Holzfäller schwangen. Kicker hob in einem verzweifelten Versuch, seinen Kopf von den Schlägen abzuschirmen, die Hände.

Chance drehte sich zu dem Schützen um, der sie aus dem Wagen gezogen hatte.

»Du Bastard!«, schrie sie und versuchte seinen furchterregenden Griff abzuschütteln.

Keine Reaktion. Der Mann war wie ein Paar Hoden auf Stelzen gebaut, und seine mit einem Reißverschluss zugezogene Jacke schien beinahe von den Muskeln an seinem Brustkorb aufzuplatzen. Seine Schultern erinnerten an ein paar Rugby-Bälle, die man in einen Sack gestopft hatte. Seine Beine hingegen waren dünn, schienen so gar nicht zu seinem Oberkörper passen zu wollen, und waren zudem an den Knien gebeugt, als hätten sie unter dem unglaublichen Gewicht zu leiden. Er blickte mit finsterem Blick auf sie herab. Seine Augen waren dumpf, so schwarz wie Billardkugeln und lagen tief in ihren Höhlen.

Stelzenbein nahm eine CZ-75 in seine rechte Hand. Sein Zeigefinger legte sich auf den Abzug. Chance konnte den Blick nicht von der Waffe nehmen. Sie hörte auf, sich zu wehren, als die Mündung nur noch fünfzehn Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war. Ein seltsames Gefühl, dem Tod so nahe zu sein. Stelzenbein ließ das Gefühl noch etwas realer werden und rammte ihr die CZ-75 in die Wange. Sie zitterte, als sich das kreisrunde Metall in ihre Haut bohrte.

»Halt den Mund«, sagte er mit absolut ausdrucksloser Stimme. »Wenn du schreist, lege ich dich auf der Stelle um.« Er drehte sich zu dem Schützen neben ihm um. »Bring die Schlampe in den Transporter.«

»Was ist mit den Bullen, Bill? Wir werden die ganze Nachbarschaft aufgeweckt haben. Sie werden jede Minute hier sein.« Die Stimme des zweiten Schützen hörte sich angespannt an. Er besaß das unbeholfene Verhalten eines Jungen, der den Teenagerjahren noch nicht ganz entwachsen war, und seine schmächtige Statur passte dazu. Stelzenbein fuhr zu Skinny herum und warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Mach dir wegen der Cops keine Sorgen. Und jetzt beweg dich.«

Skinny, der ganz offensichtlich verängstigt war, nickte hastig. Er packte Chance und zerrte sie zu dem Transit. Unterwegs warf sie einen Blick über ihre Schulter und sah, wie zwei der Schützen Kicker vom Boden auflasen. Sein Kopf hing herunter, und soweit sie es erkennen konnte, war sein Gesicht zu Mus verarbeitet worden. Es sah wie ein Taschentuch aus, mit dem jemand versucht hatte, eine blutende Nase zu stoppen. Seine Augen waren geschlossen. Speichel lief ihm an seinem Kinn hinunter. Er schien bewusstlos zu sein. Die beiden Schützen schleppten ihn auf die Seite des Transits zu. Chance schwang ihren Kopf zu Stelzenbein und Skinny zurück. Ihr Verstand raste und war immer noch damit beschäftigt, die letzten Minuten zu verarbeiten. Das alles geschah nicht wirklich. Das konnte nicht passiert sein. Nicht ihr. Nicht jetzt.

»Ihr macht einen großen Fehler«, sagte sie und ihre Stimme klang dabei ungewollt schrill, als versuchte sie, die Panik zurückzuhalten, die in ihre Kehle stieg. »Ich bin eine Zivilistin. Eine Regierungsbeamtin, kein Soldat. Lasst mich gehen.«

Stelzenbein sah sie an. Da lag ein kaltes und unpersönliches Funkeln in seinen Augen, und dann spürte sie ihn – den Hass, der ihr gegenüber in ihm loderte, gegenüber jedem Briten. »Steig in den Wagen, Schlampe.«

Chance öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Aber Stelzenbein presste ihr eine Hand darauf und drückte mit seinen dreckigen Fingernägeln fest zu, damit sie verstummte. Stelzenbein zog die Seitentür des Transits auf und stieß sie hinein. Sie stieß einen leisen Aufschrei aus, als die auf den Wagenboden prallte. Das Innere des Transporters bestand aus einer kalten Leere, angefüllt mit dem Geruch von frischer Farbe und Sägespänen. Kurz darauf wurde Kicker neben ihr abgeladen. Er gab keinen Laut von sich. Seine Augen waren geschlossen, und sein Mund stand offen. Dann stiegen Stelzenbein und Skinny zu ihren Opfern ein.

»Wir haben es geschafft«, sagte Skinny und schüttelte ungläubig den Kopf. »Jesus Christus, wir haben es wirklich geschafft.«

»Wir sind noch nicht außer Gefahr«, sagte Stelzenbein und zog die Tür zu. »Wir müssen die Schlampe erst noch über die Grenze bringen. Also bleib wachsam, Sohn.«

»Aye, Bill.«

»Und hör verdammt noch mal damit auf, mich ständig beim Namen zu nennen.«

Chance lag in der von kleinen Tupfern durchbrochenen Dunkelheit, wo das Licht durch das Metallgitter fiel, welches die Fahrerkabine von dem hinteren Teil des Transporters trennte. Kicker lag ausgestreckt auf dem Bauch, das Gesicht zu Brei verarbeitet, und Blut quoll ihm aus den Nasenlöchern. Der Agentin kam all das seltsam unwirklich vor. Stelzenbein hämmerte mit einer Faust gegen das Gitter. Einen Moment später ließ der Fahrer den Motor an, und als der Transporter anfuhr und nach links schwenkte, spürte Chance, wie ihr der Mageninhalt in die Kehle stieg.

Stelzenbein drehte sich zu ihr und trat ihr in den Bauch. Sie lag würgend am Boden, krümmte sich vor Schmerzen zusammen. Skinny sah zu, wie sein Kumpel einen rechten Haken in Chances Gesicht folgen ließ. Der Schlag ließ ihren Kopf nach hinten schnellen und schickte einen brennend heißen Schmerz ihr Rückgrat hinunter. Ihre Welt löste sich in trübe Formen und verschwommene Schatten auf. Der Transit ruckelte, als er an Fahrt aufnahm. Chance versuchte, ihren Kopf freizubekommen. Etwas von der Benommenheit verschwand. Sie war sich bewusst, dass Stelzenbein über ihr aufragte. Obwohl er eine Sturmhaube trug, hätte sie schwören können, dass er sie darunter angrinste.

»Lächle, Schätzchen«, sagte er. »Dein Wunsch wird sich erfüllen.«

»Welcher Wunsch?«, fragte Chance ängstlich. »Wer seid ihr?«

»Wir gehören zur Nutting Squad, Schätzchen. Wir bringen dich zu Costello. Er würde sich gern mit dir unterhalten.«

Chance verfiel in Schweigen. Beruhigte ihre Atmung. Füllte ihre Lungen mit kostbarem Sauerstoff. Sie hoffte, dass sie ausreichend verängstigt aussah. Sie verfolgte, wie Stelzenbein den Kopf drehte, um durch das Gitter auf die Straße vor ihnen zu blicken. Dann holte sie tief Luft und ließ ihre Rechte an ihrer Hüfte hinabgleiten. Ihre Bewegungen waren unauffällig und kontrolliert. Vorsichtig. Mit einem Auge auf Stelzenbein und dem anderen auf Skinny ließ sie ihre Hand unter ihre Bluse gleiten, so sie nach dem glänzenden, schwarzen, streichholzschachtelgroßen Gerät tastete, welches an ihrem Körper befestigt war. Jeder MI5-Agent im Einsatz trug ein solches. Das schwarze Kästchen war der einzige Grund, wieso sich Chance nicht völlig in die Hosen machte, von der Nutting Squad entführt worden zu sein. Es war ihr Sicherheitsnetz.

Nun drückte Chance auf den Panikknopf an dem Sender. Sofort übermittelte das Gerät ein Notfallsignal im Ultrahochfrequenzbereich zurück an die Thiepval-Kaserne. Dieses sprang dabei auf das REBRO-Funknetzwerk auf, welches in Nordirland errichtet worden war und auf verschiedenen Frequenzen und Netzen sendete, bis es sein Ziel erreichte. Binnen weniger Sekunden würden ihre Vorgesetzten das Signal empfangen und einen Rettungsplan umsetzen. Erleichterung schwappte über sie, und sie zog ihre Hand aus ihrer Bluse, als Stelzenbein auch schon wieder zu ihr herumwirbelte.

Chance setzte ihr bestes, angsterfülltes Gesicht auf, lächelte aber innerlich.

Jetzt konnte sie nur noch warten.

Kapitel 4

21:44 Uhr

Der Transit schoss aus Andersonstown hinaus. Chance, die auf dem Wagenboden hockte, konnte nicht sehen, wohin sie gebracht wurde. Aber sie registrierte Stelzenbeins lüsterne Blicke. Während der Motorenlärm in ihrem Kopf ratterte, schloss sie die Augen und wiederholte für sich einige Worte, sprach sich insgeheim wie ein Gebet vor.

Es wird alles wieder gut.

Sie hatte das Notsignal ausgesendet. Der MI5 hatte sicher bereits eine Rettungseinheit ausgesandt. Sie würden sie rechtzeitig finden.

Es wird alles wieder gut.

Das Rütteln des Transporters hörte auf. Die Straße war ebener geworden. Um sie herum war Verkehrslärm zu hören. Chance vermutete, dass sie sich dem Verkehrsstrom angeschlossen hatten, der aus Belfast hinausführte. Eine begründete Vermutung. Die Nutting Squad würde nicht länger im Norden bleiben wollen, als sie unbedingt mussten. Nicht mit zwei Entführungsopfern hinten in ihrem Wagen. Zu riskant. Die nordirische Polizei hatte viele Verkehrskontrollen im Einsatz und machte gern und viel von ihnen Gebrauch. Chance richtete sich auf. Halte einfach noch ein paar Minuten durch, sagte sie sich. Es beruhigte sie das Wissen, dass man sofort, nachdem ihr Notsignal aus Lisburn abgegeben worden war, einen Westland-Lynx-Hubschrauber über Nordirland kreisen lassen würde. Der Helikopter war mit einem elektronischen Abhörgerät ausgestattet, welches darauf programmiert war, das Signal, welches von ihrem schwarzen Kästchen ausgesandt wurde, aufzufangen. Mit einer Flughöhe von über sechshundert Metern über der Wolkendecke, um zu verhindern, von der Nutting Squad aufgespürt zu werden, würde der Lynx den Radius ihres Signals rasch auf ein Gebiet etwa von der Größe einer Nebenstraße eingrenzen. Ein Signalgerät in Lisburn würde die Information über eine sichere Leitung an das Einsatzteam am Boden weitergeben. Dann musste sie nur noch darauf warten, dass die Einheit ihre Koordinaten ausfindig machte und ihr Ziel lokalisierten.

Chance beschloss, Stelzenbein in eine Unterhaltung zu verwickeln. Zum Teil, weil sie sich an ihre Ausbildung erinnerte und wie wichtig es war, in den Augen ihrer Entführer menschlich zu erscheinen. Aber auch deshalb, weil sie Details aus ihm herauskitzeln wollte.

»Wo bringt ihr mich hin?«, fragte sie.

»Mach dir keine Sorgen, Schätzchen.« Stelzenbeins Stimme vibrierte vor Aufregung. Der Kerl konnte es kaum erwarten, es ihr zu besorgen. »Dort, wo wir dich hinbringen, wird dich keiner deiner britischen Kameraden finden.«

Stelzenbein hockte sich neben die Agentin und ließ seine Hand zwischen ihre Beine gleiten. Dann drückte er zu. Chance zuckte vor Schmerz zusammen, während er in ihr Ohr flüsterte: »Costello wird dich schreien lassen. Wenn er mit dir fertig ist, wirst du um eine schnelle Kugel in den Kopf betteln.«

Er zog seine Hand zurück. »Aber das wird er dir nicht gewähren. Nein, Schätzchen. Auf dich wartet die Mutter aller Foltern.«

Chance rührte sich nicht. Schweiß sammelte sich an ihrem Anus. Stelzenbein sah an ihr vorbei und nickte Skinny zu.

»Pass gut auf, Sohn. Das ist eine wichtige Lektion. Wenn du es mit den Briten zu tun hast, darfst du nie vergessen, dass sie hinterlistige Arschlöcher sind. Man kann bei ihnen nicht vorsichtig genug sein. Hast du gehört?«

Skinny nickte energisch. »Klar, Bill.«

Stelzenbein warf ihm einen Blick zu. Dann wandte er sich wieder an Chance. Seine Augen waren weit aufgerissen, leuchtend und hungrig. »Nehmen wir diese Schlampe hier zum Beispiel. Ein echtes Miststück. Sie versucht, einen auf nett zu machen. Aber glaub ihr kein Wort. Das Erste, was man mit einer Schlampe wie ihr macht, ist, ihr die Würde zu nehmen.«

»Und wie?«

»Zieh ihr die Klamotten aus.«

Chance begann, in Panik zu geraten. Wenn Stelzenbein sie auszog, würde er den Transponder bemerken. »Du musst das nicht tun«, sagte sie. »Ich kann dir einen Deal rausschlagen.« Sie spähte zu Skinny. »Euch beiden.«

Stelzenbein ballte die Faust und schlug ihr in den Bauch. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Ihr Atem stach in ihrer Kehle und ihr Gehirn schien anzuschwellen, als wollte es ihren Schädel sprengen. Tränen traten ihr in die Augenwinkel. Sie versuchte, vor ihm zurückzuweichen, und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Stelzenbein schlug sie noch einmal.

»Es wird Zeit, dass du dir deine ersten Sporen verdienst, Kumpel«, bellte er Skinny an. »Zieh sie aus.«

Stelzenbein grunzte zustimmend, als der jüngere Mann Chance ihre hochhackigen Schuhe abnahm. Sie schlug und trat wild um sich, aber sie wusste, dass sie damit das Unausweichliche nur hinausschob. Für ihre Bemühungen erntete sie einen Fußtritt von Stelzenbein gegen die Brust und regte sich nicht mehr. Nun riss Skinny ihr die Hosen herunter und lachte dabei, von der Aufregung und dem Adrenalin aufgeputscht und von Stelzenbein angestachelt. Er warf sie beiseite. Stelzenbein verpasste Chance ein paar weitere Schläge gegen den Kopf und betäubte sie damit. Sie bekam nur noch am Rande mit, wie Skinny ihr das Jackett auszog. Dann riss er ihre Bluse auf, sodass die Knöpfe über den Boden tanzten. Plötzlich hatte sie nichts mehr an außer ihrem Slip und BH.

Dann hielt Skinny plötzlich inne.

Ein furchtbarer Moment der Stille entstand.

»Hey«, raunte Skinny schließlich nervös. »Da klebt etwas an ihrem Bauch.«

Stelzenbein ging in die Hocke und beugte sich über Chance. Sie sah ihn an. Er starrte auf ihren Transponder. Regte sich für ein paar Sekunden nicht. Skinny wich zurück. Dann griff Stelzenbein nach unten, riss ihr das Gerät ab und schnaubte hinter seiner Sturmhaube.

»Was ist das, Bill?«, fragte Skinny, immer noch flüsternd.

»Ein verdammtes Ortungsgerät. Die Schlampe ist verkabelt.«

»Vielleicht sollten wir es behalten, Bill? Es den Technikern geben?«

»Einen Scheiß werden wir«, zischte Stelzenbein. »Die Wichser sind uns wahrscheinlich schon auf den Fersen. Nein, ich habe eine bessere Idee. Hier, geh mir aus dem Weg.«

Er zog die Tür des Transporters auf. Und erst dann – als er den Transponder in die tiefschwarze Landschaft hinauswarf, die draußen vorüberflog, zusammen mit ihrer Hose und ihrem Jackett, ihrer Bluse in ihren Schuhen – wusste Chance, dass sie in echten Schwierigkeiten steckte.

Kapitel 5

22:01 Uhr

Vier Kilometer weiter nördlich fegte ein schnittiger schwarzer Audi Quattro durch die trübe Nacht und jagte hinter dem Transit her. Belfast lag hell erleuchtet im Rückspiegel, erhellte den Nachthimmel in Orange- und Violetttönen und versengte die Unterseiten der prall gefüllten Wolken. Voraus lag eine ruhige, perfekte Schwärze, in der kaum etwas zu erkennen war, außer den schwachen Umrissen der Bäume und ein paar einsamen Lichtern am Horizont. Die Scheinwerfer des Quattros fielen die schmale Straße entlang. Die drei SAS-Agenten in dem Wagen waren bislang an keinem anderen Auto vorbeigekommen, seit sie auf die New Road abgebogen waren. Sie befanden sich offiziell im Nirgendwo, umgeben von windgepeitschten Feldern, die an das Wogen einer unendlichen schwarzen See erinnerten.

»Shit«, entfuhr es dem Sergeant auf dem vorderen Beifahrersitz. »Das Signal ist weg.« Sergeant Benson Foulbrood sah zu dem Fahrer. »Tritt drauf, Mann, bevor wir sie verlieren.«

»Wo hat der Transporter angehalten?«, fragte der Fahrer mit einem schottischen Akzent so dick wie gefrorener Schlamm.

»Achthundert Meter westlich von Silverbridge, auf der Newry Road«, erwiderte Foulbrood grunzend. »Wenn wir das hier durchgezogen kriegen, werde ich den anderen Jungs vielleicht befehlen, damit aufzuhören, dich zu verarschen und einen verdammten Jock zu nennen.«

»Ein Jammer«, erwiderte Jock. »Ich hatte mich schon daran gewöhnt.«

Und das meinte er auch so. Er stammte aus dem schottischen Dundee, und wie jedes Kind, das in dieser Küstengemeinde im Schatten von Edinburgh und Glasgow aufgewachsen war, hatte er gelernt, sich nichts gefallen zu lassen und nie kampflos aufzugeben. Wenn es das war, was ihm diesen Spitznamen eingebracht hatte, dann war er stolz darauf. Jock trieb den Wagen auf beinahe hundertzwanzig an. Im Rückspiegel flackerte eine Gruppe aus Lichtern auf. Das Rettungsteam bestand aus sechs Fahrzeugen: Vier bis oben hin aufgemotzte und mit abhörsicherer Kommunikationstechnik ausgestattete Audi Quattros des Regiments und zwei Ford Sierras als Überwachungsfahrzeuge, mit Beamten der Special Branch bemannt. Die Fahrzeuge waren auf der einspurigen Straße nacheinander aufgereiht, mit Abständen zwischen fünfzehn und dreißig Metern zwischen ihnen.

Ein Ruck ging durch den Audi, als er den 2.1-Liter-Turboladermotor bis an seine Grenzen brachte. Der dritte Blade brütete im hinteren Teil des Wagens, wo er sich an einem der Haltegriffe festklammerte, während sie nach Süden schossen, dem Transporter hinterher.

Die drei Männer, die eingepfercht in dem Audi saßen, waren zivil gekleidet, im Standard-Dresscode für SAS-Soldaten in Nordirland: Jeans, T-Shirts und schwarze Fleecejacken mit geräumigen Taschen. In diesen Taschen steckten Baseballkappen mit dem Aufdruck ARMY, falls es einmal brenzliger werden sollte. Neben den Wagentüren waren Heckler&Koch-HK53-Sturmgewehre verstaut.

Mittlerweile hatten sie eine Geschwindigkeit von 130 km/h erreicht.

»Ich habe eine Peilung einhundert Meter nördlich von Silverbridge«, sagte Foulbrood. »Fünf Kilometer von der Grenze entfernt. Es ist nicht mehr weit.«

Jock grunzte und packte das Lenkrad fester, als würde er versuchen, es zu erwürgen. »Wir können die Mistkerle festnageln, bevor sie auch nur merken, was passiert.«

»Dass das Signal angehalten hat, ist ein schlechtes Zeichen«, warf der Blade auf dem Rücksitz ein. Seine Stimme hatte einen unverkennbar kehligen Manchester-Unterton. »Vielleicht haben sie die Agentin schon umgelegt.«

Jock funkelte ihn finster über den Rückspiegel an. »Wovon redest du da? Diese irischen Mistkerle sind einfach nur an den Straßenrand gefahren. Das ist unsere große Chance, sie zu schnappen.«

Foulbrood nickte zustimmend zu den Worten des Mannes aus Manchester und saugte an seinem Gaumen. »Ich fürchte, er hat recht«, sagte er. »Die Nutting Squad ist berüchtigt dafür, ihre Opfer hinzurichten und im Straßengraben zu entsorgen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie auch Chance einfach zwei Kugeln verpassen.«

Manchester schien das mentale Schulterklopfen von Foulbrood zu freuen und er lächelte. Seine Lippen waren unter seinem Bart kaum zu sehen. Er kam gut mit dem Sergeant aus, das wusste Jock. Aber andererseits hielt er Manchester für jemanden, der mit jedem gut auskam, der in der Hackordnung über ihm stand. Beide waren neue Rekruten im Regiment, aber nur einer von ihnen besaß einen Einser-Abschluss im Arschkriechen.

»Hoffen wir einfach, dass nichts faul ist«, sagte Jock.

»Hoffen ist genau das richtige Wort, Kumpel. Diese Typen von der Nutting Squad sind kranke Arschlöcher. Wenn du deine Hausaufgaben gemacht hast, wirst du wissen, dass die Chancen der Agentin ziemlich schlecht stehen.«

»Gut gesagt, Mann«, pflichtete ihm Foulbrood zu.

Jock hieb frustriert mit der Faust gegen das Lenkrad. Er war einundzwanzig, mit einem permanenten Stirnrunzeln im Gesicht und einem drahtigen Körperbau. Er besaß feste Muskeln und seine Venen führten an seinen Unterarmen bis zu seinem Hals hinauf wie dicke Seile. Seine Augen funkelten wie poliertes Silber, während er sie nicht von der Straße vor ihm nahm.

Jetzt durchquerten sie Silverbridge.

Jock spürte, wie sich seine Innereien zusammenschnürten. Er war der jüngste Blade in der Geschichte des Regiments, aber er war der Ansicht, dass er schon mehr über die Arbeit als Spezialsoldat wusste als die beiden Mistkerle, die bei ihm waren. Vor einer Stunde noch war er auf der Shankhill Road gewesen und hatte sein Orientierungstraining absolviert, bei dem man versuchte, sich jede Straße und jede Abkürzung einzuprägen, bis man die Stadt besser als seine Westentasche kannte. Dann war der Notruf eingegangen. Eine Minute später rasten die Blades bereits auf der B38 aus Belfast hinaus, durch Upper Springfield und Hannahstown, und rasten mit 130 Sachen auf dem Moira-Road-Teilstück der A26 nach Süden. An dem Kreisverkehr hatte sie die dritte Ausfahrt nach Süden genommen, auf der B3 nach Bleary, und hatten die aus Katholiken und Protestanten bestehenden Enklaven von Gilford und Scarva passiert, bevor sie in Richtung Newry gerast waren.

Dem Kurs folgend, der ihnen von dem Lynx übermittelt wurde, verfolgte das Rettungsteam das Nutting Squad Meter um Meter. Minute für Minute.

Aber die Aufholjagd dauerte schon an, seit sie Belfast hinter sich gelassen hatten, und der Transporter war ihnen immer einen Schritt voraus, die gefangene Agentin immer auf quälende Weise außer Reichweite. Als der Audi durch Poyntzpass und Goragh und dann westlich die Camlough Road entlangraste, welche auf den Newry-Road-Abschnitt der A25 führte, waren sie immer noch vier Kilometer hinter dem Signal.

Jock hasste, es zugeben zu müssen, aber Manchester hatte recht. Wahrscheinlich hatten sie die Agentin längst umgelegt.

Der Fahrer hasste so ziemlich alles an dem Typen auf dem Rücksitz. Er kannte ihn schon, seit sie gemeinsam das Auswahlverfahren absolviert hatten. Jock hatte den Berglauf als Erster hinter sich gebracht, aber Manchester hatte ihm dann auf dem fortgeschrittenen Fahrkurs die Show gestohlen. Die beiden Rekruten waren grundverschieden. Jock liebte es, sich eine Flasche Johnny Walker aufzumachen und mit einem billigen Flittchen zu flirten. Manchester zog ein helles Ale vor und quatschte ununterbrochenen Bullshit mit seinen Vorgesetzten. Er kam nie jemandem krumm oder zettelte nur zum Spaß eine Schlägerei an. Und nun war er dabei, dem Schotten verdammt auf die Nerven zu gehen.

»Fahr rechts ab«, sagte Foulbrood, der die Karte in seinem Schoß studiert hatte.

Die laminierte Karte im Maßstab 1:20.000 war beinahe identisch mit der Straßenkarte, die man an Tankstellen kaufen konnte, mit einem Unterschied. Die Karte war in farbkodierte Regionen aufgeteilt, mit nummerierten roten, gelben, grünen, blauen und schwarzen Aufklebern, die in den jeweiligen Sektionen angeordnet waren und bestimmte Merkmale wie Straßenkreuzungen oder Gegenden anzeigten, in denen bewaldete Gebiete auf eine Landstraße trafen. Der Funker leitete farbreferenzierte Koordinaten an Foulbrood weiter. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Provos sie abhörten, würden sie keine Ahnung haben, wohin die Blades gerade fuhren.

»Noch fünfhundert Meter und wir sind da«, meldete Foulbrood.

Sie befanden sich nun tief in der Grafschaft Armagh, Banditenland. Die Landschaft bestand aus einem Knäuel aus Bäumen, Gras und Büschen, hier und da wuchs ein Bauernhof aus dem Boden, und der Horizont schimmerte wie eine Messerklinge unter dem brodelnden Himmel. Die Straße wurde schmäler und führte den Audi tiefer in das knorrige Gelände. Es trennte sie nur noch ein Steinwurf von der Grenze.

Vierhundert Meter von dem Signal entfernt.

Dunkelheit lag über der Landschaft wie eine Aschewolke. Foulbrood und Manchester reckten gleichzeitig ihre Hälse, als sie sich der von dem Transponder übermittelten Stelle näherten. Sie suchten die Landschaft nach irgendeinem Anzeichen auf den weißen Transporter ab.

Nichts.

Jock spürte das Gewicht seiner Zweitwaffe, einer Browning-Hi-Power-Halbautomatik, in dem Holster an seinem Gürtel. Er hatte zwölf Schuss an 9x19mm-Parabellum-Munition in seinem Magazin, plus der bereits geladenen Kugel in der Kammer. Außerdem besaß er noch ein Reservemagazin mit dreizehn Schuss. Die Hauptwaffe der drei Männer waren HK53. Die Kurzform des längeren HK33-Sturmgewehrs verfügte über einen sechsundfünfzig Zentimeter langen Lauf bei eingeklapptem Schaft, dreißig Zentimeter weniger als die HK33. Obwohl die Gewehre mit 5.56-mm-Munition geladen waren, fühlten sie sich eher wie Maschinenpistolen an. Die HK53 war ideal für den Nahkampf, aber weniger effektiv, wenn es darum ging, Ziele aus größerer Entfernung umzulegen. Das Team hatte außerdem im Kofferraum Taschen mit Blendgranaten und Vorräten liegen: Essen, darunter Energieriegel, Wasser, Fallschirmleinen, einen Schweißbrenner, eine Streichholzschachtel, ein Schweizer Armeemesser und ein Erste-Hilfe-Kasten.

Noch einhundert Meter bis zu dem Signal. Ein paar Lichter aus dem nahegelegenen Dorf Creggan flackerten undeutlich am Horizont. Sie waren mitten im Nirgendwo, im Land der erzkonservativen Republikaner, und noch fünfzig Meter von ihrem Ziel entfernt. Jock biss die Zähne zusammen. Sein Blut kochte und seine Haut kribbelte von einer seltsamen Erregung. Es war seine erste richtige Mission mit dem Regiment seit dem Auswahltraining. Bitte, lieber Gott, lass mich nicht auf der Verliererseite enden.

»Halt den Wagen an«, befahl Foulbrood. »Wir haben das Signal erreicht.«

Sie fuhren in eine Haltebucht.

Jock schaltete den Motor aus und stieg aus dem Audi. Noch vor Manchester und Foulbrood stürmte er voraus und suchte sofort das Gebiet westlich der Haltebucht ab. Die Kälte biss in seine Wangen. Die Sicht war dürftig und es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatte. Von dem Transit fehlte jede Spur. Kein Hinweis auf die Nutting Squad oder die MI5-Agentin. Er spähte hinter eine Hecke, die hinter der Haltebucht verlief. Dahinter befand sich eine Senke, die parallel zur Straße verlief, und deren Wasser im Mondlicht schimmerte. Jenseits des Straßengrabens befand sich eine Baumgruppe und dichtes Unterholz.

Chance musste dort drin sein, dachte er.

Er stählte seine Muskeln. Die Grube war zu breit, um über sie hinwegzuspringen. Er würde hindurchwaten müssen. Die Kälte verwandelte seinen Atem in seiner Kehle zu Eis. Als er ein rotes Licht im Unterholz blinken sah, zog er seine Browning HP aus dem Holster und hielt sie fest umklammert, während er in den Graben hinuntersprang.

Das Wasser war nur knöcheltief. Jock spürte, wie die Kälte seine Sportschuhe durchdrang und ihm sofort bis auf die Knochen seiner Füße drang. Er hielt auf das sieben Meter entfernte rote Licht zu. Er hörte Bewegungen auf fünf Uhr, spähte zurück und sah Manchester über die Haltebucht stürmen, und dann Lichter hinter ihm, als die fünf anderen Verfolgerfahrzeuge quietschend neben dem Audi zum Stehen kamen. Ihre Scheinwerfer tauchten das Dickicht in ein fahles Licht.

Jock konnte nun die Quelle des blinkenden roten Lichts sehen. Ein kleines schwarzes Kästchen, mit Dreck verschmiert. Er hatte einen solchen Transponder schon einmal gesehen, während der Briefings. Sein Blut gefror, als er noch etwas anderes erblickte. Ein zweiteiliges Damenkostüm, schwarz und zerknittert, das neben zwei hochhackigen Schuhen auf dem Boden lag. Eine weiße Bluse hatte sich etwas weiter von der Grube in einem flachen Ast verfangen. Die Knöpfe an der Vorderseite waren abgerissen worden, und der Kragen und die Manschetten waren blutverschmiert.

Übelkeit stieg in ihm auf, als er sich den Transponder einsteckte, die Kleidungsstücke aufsammelte und durch den Graben zurückeilte. Foulbrood und Manchester warteten in der Haltebucht auf ihn. Manchester sah die blutige Bluse, und ein skeptischer Blick schlich sich in sein Gesicht.

»Sie müssen sie nach Süden gebracht haben«, sagte Jock zu Foulbrood. »Weit können sie nicht sein. Wir können sie immer noch einholen.«

Der Sergeant blickte mit zusammengekniffenen Augen die Straße entlang und kaute auf seiner Unterlippe.

»Ich fürchte, wir kommen zu spät«, sagte er verbittert. »Ich habe gerade mit den Vorgesetzten gesprochen. Die Jungs von der Green Army hätten eine Straßensperre in Cullaville errichten sollen. Aber laut den Berichten sind unsere Jungs dort nicht rechtzeitig eingetroffen. Sie haben einen ausgebrannten Transit am Straßenrand gefunden. Das Nummernschild passt zu dem Wagen, den wir verfolgten. Es sieht so aus, als wären sie bereits entkommen. Tut mir leid, Jungs, aber wir sind zu spät dran. Agent Chance ist tot.«

»Aber sie können noch nicht so weit gekommen sein«, erwiderte Jock. »Wir können die Straße nach Süden runterdonnern. Die Verfolgung aufnehmen. Wir hatten sie fast erreicht. Wir können jetzt nicht einfach das Handtuch werfen, so kurz davor.«

Foulbrood machte ein Gesicht, als würde man ihm einen Splitter aus dem Anus ziehen. »Das ist aussichtslos, Mann. In ein paar Stunden wird sie tot sein. Und das auch nur, wenn sie Glück hat. Wenn nicht, wird die Nutting Squad sie noch tagelang bearbeiten. Sie werden sie in ein Safehouse bringen und sie zu Tode foltern, sie dazu bringen, alles zu verraten, was sie weiß. Und dann werden sie sie umbringen. Aber so oder so, wir sind zu spät.«

Jock schüttelte mehrere Sekunden lang den Kopf. Er weigerte sich, die Niederlage zu akzeptieren. »Der MI5 muss eine Liste bekannter Safehouses haben, die von den Provos genutzt werden. Hier gibts hauptsächlich nur Gras, aber auch ein paar Bauernhäuser und Dörfer. Wir können das Gelände durchkämmen. Die Safehouses stürmen.«

Foulbrood schnaubte und warf ihm einen kalten Blick zu.

»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir sind auf der Newry Road. Es liegen nur noch vier Kilometer geraden Asphalts zwischen uns und Cullaville. Wenn du die Karte genau studiert hättest, wie du es während deines Orientierungskurses hättest tun sollen, wüsstest du, dass hinter Cullaville die Grenze verläuft. Das bedeutet, dass Chance sich nun in der Republik befindet. Es liegt nicht mehr in unserer Hand.«

Jock kochte vor Wut. Er konnte eine MI5-Agentin nicht einfach so zurücklassen. Dafür war er kein Spezialsoldat geworden. Wütend schob er sich an Foulbrood vorbei. »Und wieso können wir nicht einfach über die Grenze latschen?«

Foulbrood starrte ihn mit kaum verhohlener Wut an. »Weil wir nicht in einem souveränen Land einfallen dürfen!«, schrie er mit weit aufgerissenen Augen. Er schien jeden Moment zu platzen. Dann seufzte er, schluckte seinen Ärger hinunter und sagte: »Ich bin genauso wütend darüber, wie die Dinge abgelaufen sind, wie du. Aber was passiert ist, ist passiert. Wir können nur hoffen, dass Avery Chance ein schneller Tod vergönnt ist. Und jetzt wieder zurück in den Wagen. Das ist ein Befehl.«

Aber Jock gab sich noch nicht geschlagen. »Das Leben einer Agentin ist in Gefahr, und du willst, dass wir umkehren und uns in die Basis verpissen? Das ist doch scheiße, wenn du mich fragst.«

»Dich fragt aber niemand«, schoss Foulbrood zurück. »Deshalb bin ich auch ein Sergeant und du ganz unten in der Befehlskette. Also komm damit klar. Das hier ist das Regiment, verdammt noch mal. Wir müssen uns an die Regeln halten. Wenn du die Geschichte des Regiments studiert hättest, würdest du das Risiko kennen, das damit verbunden ist, wenn britische Agenten Irland betreten.«

Manchester sah Foulbrood bewundernd an. »Du meinst den Flagstaff-Hill-Zwischenfall?«, erkundigte er sich. »Warst du dabei, Benson?«

Da ist er wieder, dachte der Fahrer. Dieser Schleimer!

»Nicht persönlich«, sagte Foulbrood lächelnd. »Aber ich kannte die Kameraden, die dabei waren.«

»Was ist in Flagstaff-Hill passiert?«

Der Sergeant warf Jock einen vernichtenden Blick zu.