Sommersturm - Julia Bruns - E-Book

Sommersturm E-Book

Julia Bruns

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Beschreibung

Wenn Claretta Lépore sich nicht jeden Morgen vor dem Spiegel kneifen würde, könnte sie es selbst nicht glauben: Sie hat wirklich eine Arbeitsstelle gefunden. Seit einem halben Jahr ist sie die Sekretärin des Capitano der Carabinieri, und das obwohl die arme Fischerstochter nie richtig gelernt hat, zu schreiben, geschweige denn eine Schreibmaschine zu bedienen. Aber was blieb ihr übrig? Ihr Mann Emilio ist im Krieg gefallen, und die vier Jungs werden nicht von allein satt.Im September 1951 wird Amalfi Schauplatz eines Mords: In einer Suite des Grand Hotel di Cappuccini wird ein wohlhabendes Touristenpaar erschossen. Der Capitano der Carabinieri geht von Raubmord aus: Bei reichen Leuten, noch dazu bei Ausländern, komme so etwas öfter mal vor. Aber warum trägt die wunderschöne Signora noch ihren teuren Schmuck? Claretta hat ihre ganz eigene Theorie, und die wird dem Capitano ganz sicher nicht gefallen …

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Julia Bruns

Sommersturm

Ein Amalfi-Krimi

Oktopus

Eins

»Wo sind meine Stiefel, Signora Claretta?«

»An Ihren Füßen, Capitano«, entgegnete Claretta, ohne von ihrem Tun abzulassen. Nur der Himmel allein wusste, wie anstrengend es war, eingeriebene Zigarrenasche aus einem dunklen Uniformrock zu bürsten.

Der Capitano hielt inne, und Claretta konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie er unter verwundertem Reiben seines runden Kinns die eigenen Füße betrachtete. »Signora!«, rief er schließlich mit ungewohnt hoher Stimme, in der ein leichter Vorwurf mitschwang. »In diesen Exemplaren läuft ein Carabiniere Streife, aber er tritt nicht dem Volk von Amalfi gegenüber, schon ganz und gar nicht an einem so höchst bedeutsamen Tag wie dem heutigen.«

Ich möchte mal wissen, wann der Dicke das letzte Mal im Auftrag des italienischen Volkes die Rinnsteine platt getreten hat. Wenn du mich fragst, hat der seit letzter Woche wieder mindestens fünf Pfund zugenommen.

»Emilio, bitte«, mahnte Claretta gedankenversunken, die die Paradeuniform nun bereits schon zum dritten Mal wendete und noch immer mit dem Ergebnis nicht zufrieden war.

»Ach Mädchen. So ist das nun einmal mit den Männern und dem Krieg«, antwortete der Capitano und setzte seinen Lauf durch das Büro fort. Im nächsten Augenblick blieb er stehen und betrachtete den an der Wand hängenden Abreißkalender. »In drei Tagen ist es so weit. Sie sagten es einmal. Ich erinnere mich«, nuschelte er und begann seine Runde von vorn.

Sehr wohl. Dann bin ich auf den Tag genau acht Jahre tot. Ich erwarte einen angemessenen Blumenschmuck. Der vom letzten Jahr war viel zu mickrig. Hast du mal gesehen, was auf den Nachbargräbern so aufgefahren wird? Da kommt man sich ärmlich vor. Ein Mann wie ich hat etwas Besseres verdient, zumal meine Frau für die Carabinieri arbeitet. Hast du verstanden, Claretta?

Der Schreck durchfuhr sie: Hatte sie etwa laut gesprochen? Das passierte ihr immer wieder. So ein Übel aber auch, und alles nur, weil Emilio niemals den Mund halten konnte. Dabei war er zu seinen Lebzeiten so gesprächig gewesen wie die Fische, die er in seinen Netzen nach Hause brachte. Niemand sagte einem, dass ein Ehemann nach seinem Ableben nicht mehr er selbst war. Wenn sie nur wüsste, was sie besser finden sollte? Ach, du schöner Emilio. Sie seufzte.

Die Kugel war für mich bestimmt, gefallen für das Königreich Italien. Ehrenvoll, nur falls jemand das Gegenteil behaupten sollte.

»Die Republik Italien steht tief in seiner Schuld«, murmelte der Capitano, und Claretta kannte ihn mittlerweile schon gut genug, um zu bemerken, dass er nicht so recht bei der Sache war. »Wo sind denn nun meine guten Stiefel?«

Wieso Republik? Es lebe der König!

Claretta schüttelte ganz leicht ihren Kopf, als würde das Emilios Worte wieder aus ihren Ohren fliegen lassen. Eilig hing sie den Uniformrock zurück in den Schrank und nahm die Stiefel heraus. Bis auf etwas Staub, den sie hinwegpustete, waren sie in Ordnung. Sie folgte dem Capitano auf seiner Runde durch das Zimmer, wartete, bis er ihr gewahr wurde, und reichte ihm die Schuhe.

»So eine Ansprache vor den Bürgern, mhm, da würden so manche Männer kneifen, wissen Sie, Ragazzina«, sagte er, wobei er sie nicht einmal ansah, sondern nur auf den Zettel starrte, den er vor sich hertrug. »Das sind die Worte des Bürgermeisters«, seine Faust umklammerte das Papier, als wollte er es jeden Augenblick zerknüllen, »die aus meinem Mund kommen sollen.« Er fuhr sich unschlüssig über den bereits ergrauten Schnauzbart, der seit König Viktor Emanuel III, dem letzten italienischen König, nicht mehr in Mode war. »Dass ich diesem Einfaltspinsel Gregorino einmal meine Stimme leihen muss«, murmelte er vor sich hin, fuhr unwirsch herum und marschierte in Richtung seines Schreibtisches. »Der Allievo soll kommen«, brüllte er, während er sich auf den erstbesten Stuhl fallen ließ, »oder wie meint sie, geben meine Füße diese Stiefel frei?«

Fettbein.

Es klopfte, und der Allievo, ein kaum sechzehnjähriger hagerer Bursche von fast zwei Metern Körpergröße und dem Gesicht eines Zwölfjährigen, betrat mit ehrfurchtsvoll nach vorn gebeugtem Oberkörper den Raum. »Sie haben gerufen, Capitano«, sagte er mit zittriger Stimme. Der Lehrbursche verbrachte seine Tage, soweit der Capitano sich in der Stazione aufhielt, vor dessen Zimmertür, um sofort zur Stelle zu sein, wenn man etwas von ihm verlangte. Capitano Riccardo Spadaro war kein übermäßig strenger Vorgesetzter, zumindest nicht in dem Maße, wie er es womöglich gern gewesen wäre. Aber er achtete äußerst penibel darauf, dass die Privilegien, die einem Hauptmann der Carabinieri zustanden, auch eingehalten wurden. Dazu gehörte nun mal stets eilfertiges Personal in greifbarer Nähe.

Der Capitano schaute von seinem knittrigen Blatt auf, neigte den Kopf und musterte den Knaben. »Das nicht sachgemäße Tragen einer Uniform ist ein schweres Vergehen«, sagte er wie jemand, der nur darauf gewartet hatte, seine Autorität zur Schau zu stellen. »Männer sind im Krieg schon für weniger erschossen worden.«

Bei mir war es das kaputte Gewehr eines Kameraden. Querschläger. Direkt ins linke Ohr. Dabei war ich schon dabei, meiner Truppe den Rücken zu kehren, heimlich natürlich. Seltsam, wie die Dinge manchmal laufen.

Der Hals des Allievo färbte sich dunkelrot, und im Nu hatte die Farbe seinen Haaransatz erreicht. »Ja, Capitano«, hauchte er tonlos.

»Wieso sieht er dann so aus?«, fuhr der Capitano ihn an, zog sich eine Knoblauchknolle aus seiner Hosentasche und biss herzhaft hinein.

Der Allievo, der ganz offenkundig nicht wusste, wie ihm geschah, bemühte sich sichtbar angestrengt um Haltung. Trotzdem fiel er jede Sekunde, die verstrich, mehr und mehr in sich zusammen.

Der Capitano streckte den Kopf nach vorn, drehte ihn leicht zur Seite und legte die flache Hand an sein Ohr. »Ich höre?«, sagte er breit kauend.

»Es gibt keine Uniformen in seiner Größe, Capitano«, sagte Claretta zögerlich, wobei sie immer wieder zu der halb fertigen Jacke im Schrank schielte.

»Will die junge Signora mir etwa erzählen, dass die stolze Republik Italien über nicht genügend Stoff verfügt, ihre Polizisten anständig einzukleiden?«, fuhr der Capitano sie in der typisch altväterlichen Manier an, die er immer dann gegenüber Claretta gebrauchte, wenn er mit ihr nicht einer Meinung war. »Oh Mädchen!« Sein warnender Zeigefinger erhob sich hinter dem Wisch mit der Rede. »Er sieht aus, als hätte man ihn in einen Getreidesack gesteckt.« Dann wandte er sich wieder dem Jungen zu. »Bist du sicher, dass die Hose auch im Laufschritt dort bleibt, wo sie hingehört?«, fragte er angriffslustig. »Du kannst die Tagediebe wohl kaum mit deiner Leibwäsche beeindrucken, zumal ich vermute, dass die nicht einmal sauber ist.«

Das Kinn des Allievo lag so tief auf seiner Brust, dass man sein Gesicht kaum noch erkennen konnte. »Ja, Capitano«, flüsterte er.

»Das soll er mir zeigen«, forderte der Capitano. »Wir sind Carabinieri. Selbst ein bunter Hund stößt nicht auf mehr Neugier bei den Menschen. Dessen müssen wir uns in jeder Lebenslage bewusst sein. Die Augen gehören den Gesetzeshütern, die anständigen und die unanständigen, Letztere sind zweifelsohne noch strenger.« Er wedelte mit wachsweicher Hand, als könnte ihm gerade diese zweite Spezies nichts anhaben.

Der Allievo schien kaum noch zu atmen.

»Los! Los! Jemand so Bedeutsames wie der Capitano der Carabinieri von Amalfi schenkt dir seine gesamte Aufmerksamkeit«, sagte er und warf Claretta einen gönnerhaften Blick zu.

Kaum ist der Bürgermeister an Pocken erkrankt, fühlt sich der Capitano auch nicht mehr wohl, dachte Claretta bei sich.

Ich weiß, wie ein Mann aussieht, der Angst hat. Zieht er in den Krieg, oder liest er den Leuten von einem Zettel vor?

Vorsichtig begann der Allievo damit, sich durch das Zimmer zu bewegen.

Der Capitano beobachtete ihn dabei und schien nur darauf zu lauern, dass seine Vorhersage eintraf. Aber dank Clarettas Steppnähten, mit denen sie schon vor einigen Wochen den übrigen Stoff am hinteren Hosenbund des Jungen zusammengeheftet hatte, blieb alles an seinem Platz. Die Hosenbeine und auch die Ärmel durch angestrickte Bündchen auf die richtige Länge zu bringen, ganz so, wie sie es bei ihren vier Söhnen regelmäßig tat, hatte sie sich jedoch nicht gewagt.

Eine Uniform ist nun einmal eine Uniform, selbst wenn sie nur an einem Carabiniere hängt.

»Wenn er fertig ist mit dem Herumstolzieren, kann er mir aus den Stiefeln helfen«, maulte der Capitano sichtbar unzufrieden mit dem Ergebnis und streckte sein rechtes Bein nach vorn. Der Allievo, froh, dieser überaus unangenehmen Rolle entledigt zu sein, kam mit großen Schritten herbei und tat, was man ihm aufgetragen hatte.

»Kriegt dieser Mensch die Pocken«, echauffierte sich der Capitano, während der Junge sich abmühte. »Soll man es denn glauben? Nicht, dass er zu allem Übel noch die komplette Verwaltung angesteckt hat. Na ja, den Unterschied werden wir nicht mitbekommen. Die sitzen dort ohnehin nur auf ihren Stühlen und atmen die Luft weg.« Er lachte schallend. »Ich will mal für das wichtige Stadtoberhaupt hoffen, dass das keine schlechte Ausrede ist. Man kennt das ja bei den Männern aus der Politik. Wenn es darauf ankommt, kneifen sie. Dann muss unsereins ran.« Die Schweißperlen glitzerten auf seinem runden Gesicht. »Ausgerechnet am fünfundzwanzigsten Jahrestag unseres bedeutendsten Denkmals.« Er schnaufte, als müsste er gegen den Widerstand des Leders ankämpfen. »Welches ist das, na?«, fragte er den Allievo, der ihm nun die Ausgehstiefel reichte und dem er, als die Antwort ausblieb, eine Kopfnuss verpasste. »Das Standbild des berühmten Flavio Gioia«, redete er weiter. »Jeder Amalfitani sollte ihn kennen, den Erfinder des Kompasses.« Er beugte sich ein wenig nach vorn, um sich der Aufmerksamkeit des Allievo gewiss sein zu können. »Merke er sich! Auf See gibt es kaum eine wichtigere Gerätschaft. Ohne unsere Erfindung würde die ganze Welt heute noch im Kreis fahren.« Der Gedanke belustigte ihn sichtbar. »Gioia, der größte Mann, den unsere schöne Küste jemals hervorgebracht hat.« Nun drückte er die Schultern nach hinten und streckte den Hals. »Ein Seefahrer«, brummte er wohlig.

Ein Fischer.

»Sehr wohl, Capitano«, sagte der Allievo und entfernte sich in Richtung Tür.

»Aber was rede ich«, rief der Capitano und sprang auf. »Dann kann ich gleich einem Esel das Vaterunser beibringen.« Er stampfte erst mit dem einen und dann mit dem anderen Fuß auf, beugte ein wenig die Knie, als würden die Stiefel so an ihren rechten Platz rutschen, und verzog das Gesicht. »Der Monsignore wird sicher auch da sein«, murmelte er. »Das wäre die erste Festivität, die ihm entginge.«

Claretta bekreuzigte sich im Geiste für die lose Zunge des Capitano.

»Mädchen, meine Uniform«, bat der Capitano und bewegte sich wie jemand, der in nagelneuem Schuhwerk steckte, auf Claretta zu. Nebenbei richtete er seine Hose, fuhr sich mit den flachen Händen über die auf seinem weißen Unterhemd liegenden Hosenträger und schaute Claretta erwartungsvoll an.

Claretta holte die Jacke, half dem Capitano hinein und wischte hinter ihm stehend rasch noch einen Fussel von seiner Schulter.

»Wenn ein Carabiniere seine Paradeuniform trägt, ist entweder der König gestorben oder der Bürgermeister befindet sich im Krankenstand«, scherzte er, während er die Uniform zuknöpfte und sich schwungvoll zu Claretta umwandte, um sich mit weit nach oben gestrecktem Kinn und stolzer Haltung zu präsentieren.

Du lieber Himmel! Claretta blieb fast der Mund offen stehen. Der Capitano sah aus wie ein übervolles Fischernetz, bei dem der Fang erbarmungslos durch die Maschen quoll. Die Knöpfe seiner Jacke standen so dermaßen unter Druck, dass sie jeden Moment abzuplatzen drohten. Seine Arme klebten förmlich am Körper, denn der Stoff ließ absolut keinen Spielraum, sie auch nur ein wenig nach oben zu nehmen, ohne die Nähte auseinanderzureißen. Das Schlimmste jedoch war der steife, goldverzierte Kragen. Er schob das Fleisch des stämmigen Halses nach oben, wo es eine Einheit mit dem Doppelkinn und den Pausbacken des Capitano zu bilden schien. Dieses Gewürge war zweifelsohne auch der Grund dafür, wieso sich sein Gesicht von Sekunde zu Sekunde dunkelroter färbte.

»Wo ist meine Mütze?«, sagte der Capitano nach Luft ringend. »Und der Sergente soll das Automobil vorfahren. Ein Capitano, der zu Fuß kommt, ist wie ein Gaul ohne Eisen.« Sein Blick streifte erst seine linke Brust, an der seine Ordens- und Ehrenzeichen prangten, und fiel dann wie zufällig auf Claretta.

Aufschneider. Lächerlich. Sag mal, Claretta, sind es dreihundert Meter bis zum Hafen oder sogar dreihundertfünfzig, die Signore Hühnerauge nicht zu Fuß bewältigen kann?

»Das Automobil«, hauchte der Allievo mit weit aufgerissenen Augen, um den Satz sogleich noch einmal laut zu wiederholen. »Wir brauchen das Automobil.« Man konnte nicht sagen, ob der Umstand, dass der Fiat aus dem Jahr 1937 bewegt wurde, öfter eintrat als ein Capitano in einer Paradeuniform. Ohnegleichen versetzte Ersteres die Männer allesamt in helle Aufregung. Entsprechend hastig stob sich der Allievo davon.

»Signora Claretta, ich werde den italienischen Staat würdig vertreten. Dessen können Sie sich gewiss sein«, verkündete der Capitano und stolzierte hinaus. Im Gehen drehte er sich noch einmal um. »Das Bürgermeisteramt hat sicherlich im Nachgang einen kleinen Imbiss vorbereitet. Ich werde mich dort sehen lassen müssen, also rechnen Sie bitte nicht vor dem frühen Nachmittag mit meiner Rückkehr.«

Den siehst du nicht vor morgen früh wieder, und dann braucht er auch noch bis zum Mittag, um seinen Rausch auszuschlafen.

Claretta lächelte höflich und hoffte dabei inständig, dass die Paradeuniform den heutigen Tag überleben würde. Dann schloss sie die Tür. Sie würde jetzt erst einmal in aller Ruhe Großreinemachen, bevor die Hemden des Capitano drankamen. Um die Mittagsstunde war auf dem öffentlichen Waschplatz nie viel los, dann brauchte sie keine Sorge haben, einem Bekannten zu begegnen. Eigentlich ging es ihr dabei nur um Giovanni, ihren Bruder, dem sie keinesfalls erklären wollte, wieso sie mit einem Korb voll fremder Männerbekleidung durch die Stadt lief. Er würde es so oder so nicht gutheißen.

Ich auch nicht. Und ich bin dein Ehemann.

»Du bist tot«, konterte Claretta.

Claretta, der Zustand verbessert sich nicht, je öfter du ihn mir vorhältst. Jetzt zu den wirklich wichtigen Dingen. Was gedenkst du am Donnerstag, den 27. September, zu meinen Ehren zu unternehmen?

»Nichts.« Claretta öffnete die großen Flügelfenster, die hinunter zur Via Casamare führten, und leerte erst einmal den Aschenbecher, den der Capitano gewohnheitsmäßig übervoll zurückließ.

Ich verlange, meine Söhne zu sehen. Immerhin haben sie mich seit Monaten nicht besucht. Dein Bruder Giovanni könnte auch mal wieder ein wenig Zeit für seinen Schwager erübrigen. Wegen Michele, na ja, lass den ruhig zu Hause. Mit deinem Vater in der Nähe wird man trübsinnig … Was hast du gesagt?

»Nichts. Ich mache nur meine Arbeit«, erwiderte Claretta und biss sich auf die Zunge. Jeden Samstag stieg sie vom Hügel ihres Dorfes Pontone hinab zum Friedhof von Amalfi und besuchte das Grab ihres Emilios. Selbstverständlich würde sie das auch an seinem Todestag so handhaben, aber egal wie oft sie die wilden Vergissmeinnicht, die Emilios Grabstätte überwucherten, zurechtzupfte und wie viele bunte Sträuße sie auch ablegte, er würde niemals zufrieden mit ihr sein.

Du putzt. Das ist keine Arbeit. Dafür seid ihr Frauen auf der Welt. Außerdem steht dir eine Pause zu, also von Gesetzes wegen. Die Burschen da unten wissen das auch. Kaum dass der Alte außer Haus ist, verziehen sie sich in das hinterste Büro, füllen ihre Kaffeetassen mit Grappa auf und spielen Karten. Unsere anständigen Carabinieri. Tzzz.

»Wenn du meinst, Emilio«, erwiderte Claretta. Fast fünf Monate waren nun vergangen, seit sie das erste Mal die Comando Stazione betreten hatte. Der Capitano brauchte eine Sekretärin, und sie hatte zu ihrer eigenen Überraschung die Stelle bekommen. Emilio war natürlich damit nicht einverstanden gewesen, aber wenn es nach dem ginge, durfte sie nicht einmal allein in die Stadt gehen. Claretta jedoch sah es pragmatisch. Emilio existierte nur noch in ihrem Kopf, was hervorragend dazu taugte, ihn ignorieren zu können, auch wenn sie sich dazu regelmäßig ermahnen musste. Claretta war immer eine fügsame Ehefrau gewesen, aber ob das nach Emilios Ableben noch nottat, daran zweifelte sie hin und wieder schon. Was die beiden lebendigen Männer ihrer Familie anging, ihren Bruder Giovanni und ihren Vater Michele, sah die Sache schon anders aus. Für die beiden musste sie sich jeden kommenden Tag eine neue Ausrede einfallen lassen, wobei Papa Michele ohnehin meist am Strand saß und auf die Wellen starrte. Der Himmel wusste, was ihm dabei durch den Kopf ging. Aber wenn ein Mann fast sein ganzes Leben Fischer und Ehemann war und der liebe Gott ihm von jetzt auf gleich das alles nahm, konnte man den Halt verlieren. Giovanni hingegen stand wie eine Eiche, sofern er nicht besoffen war, was deutlich häufiger der Fall war als die Gelegenheitsarbeiten, die er am Hafen oder für die hiesigen Handwerker verrichtete. Eigentlich verdiente er als Badewärter sein Geld, aber wenn man sich stets und ständig mit den ausländischen Gästen anlegte, konnte man nicht erwarten, sehr gefragt zu sein. Immerhin hatte Claretta mit ihrer Nonna Nunzia eine hervorragende Komplizin. Ihre scharfsinnige und mit allen Wassern gewaschene Großmama unterstützte sie bei allem und wusste, wie man die achttausend Lire, die wöchentlich in Clarettas Lohntüte steckten, so oft herumdrehte, bis man gut und gern das Doppelte davon ausgeben konnte. Abgesehen davon nannte Nunzia das beste Knoblauch-Spaghetti-Rezept an der Amalfiküste ihr eigen. Der Capitano schwor darauf, was für eine Sekretärin überaus nützlich war, wenn man wie Claretta weder besonders flüssig lesen noch sicher schreiben konnte. Daran konnte auch die alte Schreibmaschine, die der Sergente ihr freundlicherweise aus dem Keller geholt hatte, nichts ändern.

Du könntest am Samstag zum Hafen gehen und Thunfisch kaufen. Nach allem, was man so hört, soll die Saison hervorragend sein. Die Jungs würden sich bestimmt über ein Festessen freuen. Die Nonna könnte ihn ja zubereiten, dann ist er auch genießbar. Wenn ihr zur Feier des Tages ein Glas Wein auf mich trinkt, habe ich auch nichts dagegen einzuwenden. Aber nur eins, Claretta. Wir wollen ja nicht, dass du übermütig wirst.

Claretta überlegte kurz. »Ich könnte Andrej einladen«, sagte sie. Beschwingt von der Nadel, die sie mit diesem Vorschlag in Emilios Fleisch gestoßen hatte, kehrten sich die zerkratzten Holzdielen noch mal so gut.

Russen mögen keinen Thunfisch, erst recht nicht, wenn sie Kommunisten sind. Und überhaupt, was soll das bringen? Es geschieht zu meiner Ehre und nicht zu seiner. Der kann sich bei anderen Totenfeiern satt essen, wer weiß denn schon, wie viele bei dem schon im Zahnarztstuhl verreckt sind. Wer bin ich denn, dass ich so jemanden durchfüttere?

»Doktor Solowjow ist Zahnarzt und sicherlich der Letzte, der Almosen von dir braucht, noch dazu würde ich den Thunfisch mit meinem Geld bezahlen«, erwiderte Claretta. Die zweite Nadel war auch nicht übel, auch wenn sie den Satz sogleich bereute. Es war nicht anständig, das Blut seines Mannes zu sehr zu reizen. Emilio schien das auch so zu sehen. Er schwieg.

In der Wachstube unter ihr klingelte das Telefon. Claretta vernahm es nur am Rande, denn auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich ein Streit entfacht. Zwei Männer, die in Pedros Taverne wohl schon zu tief ins Glas geschaut hatten, stritten lautstark darum, wer für die Zeche aufkommen sollte. Offenbar konnten ihnen die beiden wachhabenden Carabinieri, die normalerweise vor dem Eingang der Stazione positioniert waren, nicht dabei behilflich sein. Ihre Plätze waren nicht besetzt. Jedenfalls endete die Auseinandersetzung in einer handfesten Prügelei direkt unter dem Balkon des Capitano.

»Signora Claretta!« Ohne sich vorher angemessen bemerkbar zu machen, stand plötzlich der Allievo im Türrahmen. Er machte ein Gesicht, als hätte er den Leibhaftigen gesehen. »Signora Claretta!«, japste er erneut, wobei es kaum die paar Treppenstufen in das Obergeschoss gewesen sein konnten, die ihm das Atmen so schwer machten. »Sie müssen kommen. Wir … der Anruf … im alten Convento.« Er presste die Lippen zusammen, schloss die Augen und verharrte kurz in dieser Position. Ganz offenkundig musste er erst seine Gedanken sammeln. Da das anscheinend nicht den gewünschten Effekt hatte, schlug er sich zwei Mal mit der flachen Hand gegen die Stirn. Nun konnte er reden. »Im alten Convento, also, äh, ich meine, dem Grand Hotel dei Cappuccini, wurden zwei Touristen totgemacht«, sagte er, wiegelte aber gleich ab. »Äh, nein, nein. Gabriele, also der Sergente, sagt, ich sollte amtsangemessen sprechen. Die beiden wurden erschossen. So muss es heißen. Sie wurden erschossen.«

Claretta bekam kein Wort heraus, sondern starrte den Jungen an, wobei sie den Besenstil fest mit beiden Händen umklammerte.

»Der Capitano hat darauf bestanden, bei seiner wichtigen Aufgabe nicht gestört zu werden, und …« Er hielt die Luft an und stieß sie hörbar wieder aus. »Gabriele, äh, Sergente Gabriele, er ist doch der Einzige, der das Automobil fahren …«

»Was ist mit den anderen Carabinieri?«, fragte Claretta geistesgegenwärtig.

Der Allievo wagte sich nicht sie anzusehen. »Die sind, na ja, die können … momentan eher schlecht …«

Unter ihnen fiel geräuschvoll eine Tür ins Schloss, und jemand trällerte den Refrain eines beliebten italienischen Soldatenliedes, dessen letzte Zeile im schallenden Gelächter der anderen unterging.

Der Grappa, dachte Claretta.

»Waren Sie schon einmal im Grand Hotel?«, wollte der Allievo schüchtern wissen, wobei er nervös von einem Bein auf das andere trat.

Das war es nicht, was Claretta sorgte. Die beiden toten Touristen taugten schon eher dazu, ob totgemacht oder erschossen. Das Ergebnis blieb das Gleiche. Leider.

Zwei

»Signora, nichts für ungut …« Signore Salvo Fusco, der Hoteldirektor des Grand Hotels dei Cappuccini, ließ seine hinter dicken Brillengläsern verborgenen Augen zwischen Claretta und dem Allievo hin und her wandern. »Das ist keine Angelegenheit für eine Frau.« Der kahlköpfige Mann, der aufgrund seines fortgeschrittenen Alters von leicht gebückter Statur war, konnte seinen skeptischen Widerwillen kaum verbergen. »Und Sie sind ganz sicher nicht die Mutter des Carabiniere hier?«, fragte er zaudernd. »Dann könnte ich verstehen, denn er scheint mir noch ziemlich jung …«, er räusperte sich, »aber es ändert nichts daran, dass sie keinen Zugang erhalten.«

»Ich bin die Se… äh die Verbrechensprotokollantin des Capitano, und der Allievo ist der beste Tatortzeichner der Stadt«, erklärte Claretta, wobei sie sich zusammenreißen musste, dass ihre Stimme ihr vor Angst nicht wegbrach. »Der Capitano schickt uns, da er wegen einer anderen überaus heiklen Aufgabe verhindert ist, etwas Politisches, wenn Sie verstehen.« Bei dem letzten Satz, der nichts als eine schändliche Übertreibung war, drohte Claretta förmlich das Herz aus der Brust zu springen. Prete Desiderio oder gar Monsignore Marini würden so etwas niemals gutheißen, ganz zu schweigen von … Sie hörte in sich hinein, aber Emilio blieb still.

Der Allievo schaute Claretta entgeistert an, bestätigte die Aussage jedoch dann durch eine so übertriebene Kopfbewegung, dass jeder noch so unbedarfte Mensch den Schwindel förmlich riechen konnte.

»Eine Frau bei den Carabinieri?«, murmelte der Direktor und schien die Welt nicht mehr zu verstehen. »Von so etwas habe ich noch nie gehört.« Er stierte auf das vor ihm stehende Telefon, als erwartete er einen Anruf, der ihm diese Ungeheuerlichkeit bestätigen konnte. »Verbrechensprotokollantin, sagen Sie?« Dann drehte er sich dem Allievo zu. »Und ein Kind als Tatortzeichner?« Er schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte: »Seit dem Krieg steht dieses Land Kopf, und ich bin mir nicht sicher, ob es jemals wieder auf die Füße fällt.«

Claretta wagte nicht einmal zu nicken. Noch eine Lüge, auch wenn es sich nur um deren Wiederholung handelte, konnte sie nicht mit sich ausmachen. Wenn sie hier ungeschoren rauskam, würde sie zur Beichte gehen, auf direktem Weg. Es war besser, sich diese Sünde umgehend abnehmen zu lassen. Außerdem hatte Prete Desiderio schon viel zu lange auf sie verzichten müssen. Das machte keinen guten Eindruck. Manchmal dachte sie, der Prete führte Buch darüber, wie oft seine Schäfchen ihre Sünden bekannten, und wenn eines überfällig war, bekam er das Kribbeln in den Beinen. Prete Desiderio benahm sich jedenfalls so, wenn man ihm dann begegnete. Claretta würde ihn durchaus öfter besuchen gehen, wenn sie denn nur etwas Interessantes zu berichten hätte. Es war ihr schlichtweg peinlich, denn in ihrem Leben passierte nicht viel, also nichts, was der liebe Gott als Verfehlung auffassen könnte. Ja, als Emilio noch gelebt hatte … mhm.

Mein Mädchen, schnurrte Emilio lüstern.

»Und Capitano Spadaro weiß davon?«, fragte er weiter.

»Sie haben doch gerade in der Stazione angerufen und nach uns verlangt«, mischte sich der Allievo trotzig ein. Dabei konnte man ihm ansehen, dass dieser Satz ihm allen Mut abverlangte, er aber Claretta unbedingt zur Seite stehen wollte.

Direktor Fusco fuhr sich angestrengt mit dem Finger über die rechte Augenbraue. »Das ist korrekt. Aber …?« Nachdenkliches Schweigen. »Sie haben sicherlich nichts dagegen, wenn ich Sie begleite. Die Mussoli…«, er räusperte sich, »die Gioia-Suite.« Er bedeutete den beiden mit dem Wedeln seiner Hand, dass sie ihm folgen sollten.

»Gioia? Den Namen habe ich schon einmal gehört«, flüsterte der Allievo, während sie hinter dem Rücken des Direktors die breite Steintreppe in das Obergeschoss hinaufstiegen.

Einfaltspinsel.

Claretta zuckte unter Emilios unerwarteter Wortmeldung zusammen. Voller Spannung wartete sie, ob er noch etwas zu sagen hätte, aber es blieb dabei.

Der Allievo schien das zu bemerken und misszuverstehen. »Sie brauchen sich nicht fürchten, Signora Claretta«, sagte er leise. »Ich kümmere mich um alles, immerhin habe ich schon Erfahrung mit Verbrechen.« Er schaute sie schweigend von der Seite an. »Ich würde sie auch verteidigen, mit allem, was ich habe.«

Oberarme wie Capellini. Geliebtes Italien, du bist verloren!

»Meine Mama sagt, ein anständiger Mann gibt für eine Frau sein Leben«, fuhr der Allievo fort. »Außerdem sind Sie immer nett zu mir.«

Dem Hoteldirektor, der offenbar Ohrenzeuge war, entfuhr ein mitleidiger Seufzer. »Da wären wir!«, verkündete er und hielt vor einer der Zimmertüren.

»Gioia«, las der Allievo die goldene Schrift auf dem Holz laut und unter holprigem Zusammenziehen der Buchstaben, worauf der Direktor ihn abschätzig musterte.

»Er zeichnet sehr gut«, sagte Claretta wie zur Entschuldigung.

Der Allievo senkte beschämt den Kopf.

»Nun ja«, kommentierte der Direktor voller Skepsis, öffnete die Tür und ließ Claretta und den Allievo eintreten. Dann versicherte er sich mit zwei schnellen Kopfbewegungen, dass niemand weiter auf dem Flur zugegen war, und folgte den beiden, wobei er umgehend die Tür wieder hinter sich zudrückte und den Schlüssel im Schloss drehte. Dabei tat er so, als würde er Clarettas aufmerksamen Blick nicht bemerken. »Wenn ich sie in das Badezimmer führen dürfte«, sagte er und eilte durch den Salon.

Claretta ging ihm nach, wobei sie im Augenwinkel sah, wie der Allievo förmlich starr mit in den Nacken gelegtem Kopf und offenem Mund die Räumlichkeiten bestaunte. Der Salon, wie der Direktor das Zimmer genannt hatte, entsprach in etwa der unteren Etage von Großmama Nunzias Häuschen, das die Familie Lépore gemeinsam bewohnte. Durch die Scheiben der vier großen Fenster fiel die Sonne und ließ die eleganten Möbel aus Nussbaum, den Parkettboden, die flauschigen Teppiche und die beige Stofftapete noch heller und schöner erstrahlen, als sie ohnehin schon waren. Die mit goldenen Kordeln gebundenen Vorhänge trugen aufgestickte rosa Röschen, die so lieblich daherkamen, dass Claretta unweigerlich an ihr Hochzeitskleid denken musste. Ihre Mutter hatte zwei Nächte damit verbracht, das Kleid, das sie selbst bereits getragen hatte, für Claretta anzupassen. Und da jede Frau am wichtigsten Tag ihres Lebens etwas Besonderes sein sollte, hatte Clarettas Brautkleid zudem kleine, aus weißem Zwirn genähte Rosen bekommen. Ohne darüber nachzudenken, stoppte sie vor einem der Fenster und strich sanft mit dem Handrücken über den Stoff. Der Hoteldirektor, der bemerkt zu haben schien, dass niemand ihm folgte, blieb im Nachbarzimmer stehen und schaute sie durch die offen stehende Flügeltür an. Seine zusammengekniffenen Augenbrauen ließen keinen Zweifel daran, dass ihm die Verzögerung nicht behagte. Noch dazu schien es ihm äußerst unangebracht zu sein, wenn jemand auf unverhohlene Weise anderer Leute Luxus anstarrte, zumal wenn derjenige darüber sein eigentliches Geschäft vernachlässigte. »Alle unsere Suiten verfügen über Meerblick. Das ist das Mindeste, was wir für unsere Gäste tun können. Seit 1885«, ließ er sie dennoch wissen.

Claretta hob den Kopf und schaute hinaus. Da lag es, das tiefblaue Meer, das jeder Amalfitani wie einen Freund liebte und die Fremden anzog. Vor dem Krieg war Amalfi bereits ein Geheimtipp für vornehme Amerikaner, Engländer und zuweilen auch Deutsche gewesen. Sie kamen, flanierten mit ihren teuren Kleidern am Strand und gerieten in Verzückung, wenn sie die barfüßigen, schmutzbeschmierten Kinder entdeckten, die begleitet von der einzigen Ziege, die die Familie besaß, durch die engen Straßen liefen und für ein paar Centesimo Kunststücke aufführten. Im Krieg waren die illustren Gäste fast gänzlich ausgeblieben, was die Amalfitani, die ohnehin lieber unter ihresgleichen lebten, nicht sonderlich berührt hätte, wenn da nicht die fehlenden Einnahmen gewesen wären. Aber kaum hatten die letzten Uniformierten den Küstenstreifen verlassen, waren sie zurückgekommen, vermögender, verrückter und zu aller Erstaunen noch zahlreicher. Neben der Handvoll größerer Hotels versuchte sich mittlerweile der ein oder andere Einheimische, soweit er dazu in der Lage war, im Gastgewerbe. Das Land war so reizvoll wie arm, aber am Ende hatte das Meer sie alle immer ernährt. Wenn man auf die Fischerei, die sich seit dem Krieg nicht mehr erholt hatte, nicht mehr zählen konnte, dann musste es andere Mittel und Wege geben, selbst wenn es nur Feriengäste waren. Die See würde es richten, ganz so, wie sie es immer getan hatte.

»Wenn Sie bitte hier …«, hob der Hoteldirektor hörbar ungeduldig an.

Claretta ließ von den Gardinen ab und betrat das Schlafzimmer. Der Raum, der im Dämmerlicht der zugezogenen Fensterstores lag, war gänzlich in Blau gehalten. Er wurde von einem riesigen, bis zur Decke reichenden Himmelbett dominiert, dessen Tagesdecke so glatt über das Bettzeug gespannt war, dass man meinen konnte, sie wäre daraufgebügelt worden. Obwohl das Zimmer etwas kleiner ausfiel als der Salon, wirkte es durch zwei rechts und links vom Bett aufgestellte mannshohe Spiegel noch geräumiger. In einer Ecke gab es einen großen Kleiderschrank, der weit geöffnet war. An der Innenseite der linken Tür hing ein Bügel mit einem eleganten dunkelgrünen Abendkleid, dessen Glitzern Claretta auch bei dem diffusen Licht nicht entging. Davor standen zwei große Reisekoffer, wobei nur einer von ihnen geöffnet war. Die Luft war schwül und von der salzigen Brise des Meeres geschwängert. Darüber lag aber noch etwas anderes, wesentlich Stärkeres, was Claretta vor lauter Wohlgefallen förmlich in der Nase kitzelte und dessen Intensität sich mit jedem Schritt noch verstärkte. Da sie es nicht wagte, den Direktor noch einmal warten zu lassen, sog sie den Geruch tief ein und ging weiter. Sollte es sich hierbei um ein Parfüm handeln, dann war das der bezauberndste Duft, der ihr jemals untergekommen war.

»Signora, ich möchte Sie ausdrücklich noch einmal warnen«, sagte der Direktor, der auf der Türschwelle stehen geblieben war und den Lichtschalter in dem offenkundig fensterlosen Raum bedient hatte. »Vielleicht sollte lieber erst der Tatortzeichner …« Er betonte das Wort, als wäre es soeben erst erfunden worden. »… also der junge Carabiniere kommen.« Mit gestrecktem Hals hielt er nach dem Allievo Ausschau, aber der hatte noch nicht einmal den Nebenraum erreicht, so überwältigt war er von all der Pracht.

Claretta trat schweigend neben den Direktor, der sie aufmerksam von der Seite musterte.

»Wer sind die Herrschaften?«, fragte sie, wobei ihr die Worte fast im Hals stecken geblieben wären. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie einen toten Menschen gesehen. Beim letzten Fall des Capitano, die toten Bauern am Fuße des Torre dello Ziro, hatte man die Leichen schon weggebracht, als sie sich heimlich in das Haus geschlichen hatte. Der Nonno, ihr Großvater, war irgendwann auf seinem Boot hinausgefahren und nie mehr zurückgekehrt. Ihre Mutter starb im Krankenhaus an einer Tuberkulose, worauf man der Familie aufgrund der Ansteckungsgefahr den offenen Sarg verweigert hatte. Und was Emilio anging, keine Armee der Welt brachte es fertig, den Angehörigen einen Kopfschuss zu präsentieren, selbst wenn der Bestatter ein Meister seines Fachs war. Claretta hätte ihren Mann ohnehin so tot nicht sehen wollen, denn man wusste ja nie, was sich in seinen eigenen Erinnerungen alles festsetzte. Emilio war zu Lebzeiten ein ausnehmend attraktiver Mann gewesen, etwas klein gewachsen, aber hübsch, und nicht anders wollte sie ihn in ihrer Erinnerung behalten.

Recht hast du. Und jetzt schließt du die Augen, drehst dich um und gehst nach Hause. Du hast lange genug deine Zeit mit dem dicken Capitano vergeudet. Polizeiarbeit ist nichts für eine Frau, wie eine Anstellung erst recht nichts für ein Weib ist.

Claretta ballte die Fäuste. Sie wollte die Sekretärin des Capitano sein, also würde sie das hier aushalten. Wieso wussten eigentlich ausgerechnet die Männer immer besser, zu was eine Frau fähig war?

»Geht es Ihnen gut, Signora?«, fragte der Hoteldirektor besorgt. »Sie sehen so bleich aus.«