Äpfel und Dirnen - Julia Bruns - E-Book

Äpfel und Dirnen E-Book

Julia Bruns

4,6

Beschreibung

Die Kleinstadt Kindelbrück erlebt die schlimmste Mordserie ihrer Geschichte – gleich drei Leichen werden in dem sonst so ruhigen Städtchen im Thüringer Becken entdeckt. Das Kuriose: Die Toten stammen allesamt aus dem Nachbarort Bilzingsleben, sind splitternackt – und ihre Mägen mit Apfelsaft gefüllt. Die Kommissare Bernsen und Kohlschuetter glauben zunächst an einen verrückten Serientäter mit Vorliebe für Fruchtsäfte. Doch die Wahrheit erweist sich als weitaus pikanter …

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Julia Bruns wurde in einem kleinen Dorf mitten in Thüringen geboren. Die promovierte Politikwissenschaftlerin arbeitete viele Jahre als Redenschreiberin und in der Öffentlichkeitsarbeit. Heute schreibt sie als freie Autorin, am liebsten Krimis aus ihrer Heimat Thüringen.www.thueringen-kommissare.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind bis auf einige Ausnahmen frei erfunden. Darüber hinausgehende Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.Michael Wenzel (www.editio-dialog.com

©2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Helgi/photocase.de Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-192-5 Thüringen Krimi Originalausgabe

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Für »Ö«

Prolog

»Spring! Ich habe gesagt, spring! Wird’s bald, du feige Sau?«

»Aber das ist doch verboten.«

Sie lachte kreischend auf. »Du wolltest es so, also spring!«

»Edelgard, bitte. Das war doch nicht so gemeint.«

»Wie heiße ich?« Durch eine Drehung ihres schmalen Handgelenks versetzte sie ihm mit der Ledergerte schwungvoll einen heftigen Schlag auf das nackte Fleisch seines Rückens.

»Herrin«, murmelte er.

»Wie bitte?« Ein noch derberer Hieb folgte.

Er jaulte auf.

»Ja, das gefällt dir. So willst du es haben.« Ihre Stimme war fest und kompromisslos.

»Herrin«, wiederholte er nun lauter. Wieder zwirbelte die Gerte auf ihn herab. Das Brennen seiner Haut ließ ihn kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass Peitschenhiebe derartige Qualen verursachen konnten. Und schon gar nicht hier draußen, nachdem die im Fernsehen doch erst neulich darüber berichtet hatten, dass Kälte das Schmerzempfinden der Haut dämpfen würde. Er fragte sich, wie tief die Temperaturen wohl sinken müssten, damit Sadomaso-Sex ihm Freude bereitete. Im Thüringer Becken hatte seit einigen Tagen der Winter Einzug gehalten. Minus zehn Grad hatte das kleine digitale Thermometer heute Morgen angezeigt, das in seinem Wohnzimmer auf der Fensterbank stand und dessen Sensorkabel er geschickt durch das Gummi im Rahmen des Fensterflügels hindurchgefädelt hatte, um die Dichtung nicht zu gefährden. Kein Mensch ging freiwillig bei dieser Kälte vor die Tür, erst recht nicht, wenn das ZDF einen James-Bond-Film zeigte. Und ganz besonders dann nicht, wenn man kaum etwas anhatte.

Er bibberte. Seit fast zwei Jahren traf er sich nun heimlich mit Edelgard. Als sie ihm diesen besonderen Weihnachtsservice anbot, hatte er an die Handschellen gedacht, die sie in ihrer Handtasche bei sich trug und deren Schloss er vor Kurzem hatte ölen dürfen. Das Spiel damit empfand er als durchaus reizvoll. Auch ihren neuen Spleen, demzufolge er sie als »Herrin« titulieren musste, akzeptierte er klaglos. Aus seiner Sicht genügte das jedoch vollkommen. Er war nicht pervers. Bestimmt nicht. Eigentlich stand er nur auf ihre prallen Brüste in der Lederkorsage und ihre dicken Oberschenkel in den hochhackigen Stiefeln. Solange sie ihm damit bloß den Rücken kratzte, fand er auch die Spielchen mit der Gerte nicht so schlecht. Aber die Nummer hier überstieg alles für ihn Vorstellbare. Abgesehen davon, dass es ihn nicht die Bohne geil machte.

Den nächsten Schlag mit der Gerte platzierte Edelgard an seiner Lendenwirbelsäule, dass er vor Schmerz den Rücken durchbog. »Und jetzt spring endlich! Schließlich ist das deine Weihnachtsüberraschung, Sklave.«

Sklave. Das fehlte ihm gerade noch. Wenn er ihr Sklave sein sollte, konnte ihm dieser neumodische Sexkram, von dem alle sprachen, gestohlen bleiben. Sklave nannte ihn niemand, nicht einmal seine Frau. Und die konnte ihn schon mächtig schikanieren. Heute Morgen erst hatte sie ihn in aller Herrgottsfrühe nach draußen geschickt, damit er den Gehweg fegte, dabei hatte es in der Nacht nur ein bisschen Schneegeriesel gegeben. Davon war ja nicht mal etwas liegen geblieben. Aber nein, er musste immer der Erste sein, nur damit keiner der Nachbarn etwas zu reden hatte.

»Spring!« Edelgards Stimme überschlug sich, so ungeduldig war sie.

Er starrte in das tiefdunkle Wasser des Gründelsloches. Der Vollmond spiegelte sich in der Oberfläche, nur gebrochen durch die dunklen Schatten der hohen alten Bäume, die die Quelle säumten. Wie schwarze knochige Gestalten lagen ihre Konturen auf dem Wasser. Regungslos. Nur ab und zu bewegte sich etwas dazwischen. Es war Edelgards Umriss, der sich wie ein Riese über seinen gelegt hatte. In der Nähe plätscherte monoton der Gründelsbach. So aggressiv hatte er das Geräusch überhaupt nicht in Erinnerung. Ansonsten war kein Laut zu hören. Er wagte es nicht, sich zu bewegen. Edelgard noch mehr in Rage zu bringen könnte böse enden. Sie kannte kein Erbarmen, das wusste er. Doch wie er aus der Nummer hier rauskommen sollte, ohne sein Gesicht zu verlieren, war ihm schleierhaft. Zehn Grad sollte das Wasser haben, sommers wie winters. Das hatte er schon in der Schule gelernt. Damit wäre es immerhin deutlich wärmer als die Minusgrade, bei denen er gerade nur mit seiner Unterhose bekleidet am Ufer der Quelle kniete. Dabei könnte er jetzt gemütlich zu Hause auf seiner Couch liegen. Das tat er an Weihnachten doch immer. Mit einem anständigen Bierchen und einer Packung Mon Chéri. Seit fünfundzwanzig Jahren lag die für ihn unter dem Weihnachtsbaum. Auf seine Frau konnte man sich eben verlassen. Auf ihre vehemente sexuelle Verweigerung leider auch.

Neben ihm knatschte das Leder. Edelgard hob ihren rechten Fuß und stellte ihn ihm auf seine linke Schulter. Der Pfennigabsatz ihrer schwarzen Stiefel grub sich schmerzhaft in sein Schlüsselbein. »Los jetzt!«

»Herrin, Gnade«, winselte er. Etwas Besseres fiel ihm im Moment nicht ein. Außerdem hatte er doch keine Ahnung, was man im SM-Milieu sagen musste, um nicht mitten in der Nacht in den Untiefen einer Karstquelle versenkt zu werden.

Jetzt wusste er, was sie mit der Vorbereitung auf das eigens für ihn kreierte Weihnachtsangebot gemeint hatte. Und er hatte die ganze Zeit an einen Quickie im Auto gedacht. Warum war ihm auch eine ehrliche Antwort herausgerutscht, als sie ihn nach seinem schlimmsten Alptraum gefragt hatte? Der Frieden des zweiten Advents, drei Gläser Apfelglühwein und Edelgards roter Spitzenbüstenhalter in seinem Gesicht hatten dafür gesorgt, dass bei ihm kein Misstrauen aufgekommen war. Wie ein junges Kätzchen hatte er geschnurrt und ihr alles erzählt. Nun kannte sie seine Ängste. Und nutzte sie schamlos aus. Hätte er doch nur auf Siegfried, einen seiner Skatbrüder, gehört. Niemals den Weibern vertrauen, bringt bloß Ärger, pflegte der immer zu sagen. Recht hatte er. Doch nun war es zu spät.

Fast schon steif gefroren dachte er an den schrecklichen Traum, den er Edelgard ausgemalt hatte. Es war immer das gleiche Bild: In einer bitterkalten Winternacht steht er vollkommen nackt allein am Ufer des Gründelsloches. Wie von Geisterhand verliert er das Gleichgewicht und stürzt hinein. Das Wasser umfängt seinen Körper, und die Strömung zieht ihn hinab in die Tiefe. Er schreit um sein Leben, doch es ist niemand da, der ihm helfen kann. Er ist verloren.

Wieder und wieder hatte er diesen Traum. Er wusste sogar noch genau, wann es angefangen hatte. Am 3.Juli 1972. Da waren die Taucher der Gesellschaft für Sport und Technik zur Erkundung der Quelle ins Wasser hinabgestiegen. Die Männer waren kaum auf sieben Meter Tiefe gekommen, als sie abbrechen mussten. Die Strömung war einfach zu stark gewesen. Nichtsdestotrotz wollten sie am Grund mindestens drei Labyrinthöffnungen von dreißig Zentimeter Durchmesser gesehen haben, aus denen mit großer Wucht das Wasser schoss. Fünfzehntausend Liter in der Minute. Glasklares, eiskaltes Wasser. Niemand hatte bisher herausgefunden, wo es genau herkam. Und vor allem schien es nie zu versiegen, seit vierhundert Jahren nicht. Die Vorstellung gruselte ihn bis heute.

»Jetzt reicht es mir aber. Ich friere mir hier wegen dir nicht den Arsch ab.« Edelgard setzte ihren Fuß mit voller Wucht auf den gefrorenen Boden. »So was aber auch. Erst große Klappe und dann machst du dir in die Hose. Wer wollte denn die Domina-Nummer?«

Sie klang nun wie seine Frau, wenn sie mit ihm schimpfte, weil er zu spät zum Essen kam oder im Edeka mal wieder die viel zu teuren Toilettenpapierrollen gekauft hatte. Damit war die Abtörnung komplett. Er beschloss dennoch, sich nichts anmerken zu lassen. Schließlich wollte er Edelgard nicht verärgern. Wer wusste schon, wozu dieses Weib ansonsten fähig wäre? Am Ende landete er noch unfreiwillig in dieser schrecklichen Brühe. Abgesehen davon war er sich nicht sicher, ob er auf Edelgards Dienste in Zukunft wirklich verzichten wollte. Es konnte gut sein, dass er sie irgendwann wieder in Anspruch nehmen musste. Bestimmt sogar. Vielleicht an Silvester. Bei den normalen Geschichten war sie erste Sahne. Aus Kindelbrück kamen aber auch die drallsten Weiber. Mit denen durfte man es sich nicht verscherzen, wenn man auf seine alten Tage ab und zu noch ein bisschen Freude haben wollte. Aber dann sollten sie jetzt auch im Guten auseinandergehen.

»Du blöder Hund«, schnaufte sie, während sie die Gerte ein letztes Mal über sein Hinterteil zog. Dann stakste Edelgard wütend durch den kleinen Park davon. »Ich hole mir hier noch den Tod wegen dem. Dabei ist heute die lange Sissi-Nacht. Na, vielleicht sehe ich wenigstens noch was vom dritten Teil. Immerhin hat dieser Dussel schon bezahlt. Wäre ja noch schöner, wenn mir für so was auch noch das Geld durch die Lappen geht. Ausgerechnet an Weihnachten, wo sich das Geschäft wirklich lohnt«, schimpfte sie vor sich hin.

Er blieb auf den Knien und lauschte. Ihre Stimme wurde immer leiser, je näher sie der schmalen Straße kam, die oberhalb des kleinen Parks am Gründelsloch vorbeiführte und an der sie ihr Auto geparkt hatte. Er hörte das Klappen einer Autotür. Dann brummte ein Motor.

Edelgard war davongefahren. Und mit ihr seine Klamotten. Sie hatte ihn halb nackt und mutterseelenallein am Gründelsloch zurückgelassen. Zu allem Überfluss brannte nun auch noch sein Hintern. Der Feinripp hatte zwar einiges abgehalten, aber die Folgen von Edelgards Schlägen waren deutlich spürbar. Morgen früh würde er die Schlagershow des MDR unmöglich in seinem Fernsehsessel sitzend verfolgen können. Aber was machte das schon? Jetzt musste er erst einmal nach Hause kommen. Ungesehen, was in Kindelbrück zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Leistung war.

Mühevoll richtete er sich auf, die steifen Knie leicht gebeugt, damit die Schmerzen ihn nicht umhauten. Millimeter für Millimeter streckte er die Gelenke durch. Irgendwann wurde es erträglich. Er richtete frierend seine Feinrippunterhose, als in der Dunkelheit ein paar Äste knackten. Er zuckte zusammen. Dann hörte er es wieder und gleich darauf noch einmal.

Da war jemand.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Hektisch schaute er sich um. Ein Schatten. Noch einer. Er musste weg hier. Das Gründelsloch war der Eingang zur Hölle. Bloß weg.

Unsicheren Schrittes hastete er so schnell er konnte davon. Barfuß, auf gefrorenem Boden. Er rutschte aus, rappelte sich wieder hoch und versuchte zu rennen. Doch seine Beine wollten ihm nicht so recht gehorchen. Die Arthrose, die Kälte, und dann das lange Knien. Von der Atemnot bei all der Eile ganz zu schweigen. Keuchend setzte er ein Bein vor das andere. Dabei drehte er sich immer wieder um.

Im nächsten Augenblick wurde es schwarz um ihn.

EINS

»La Paloma ohe– einmal muss es vorbei sein! Nur Erinn’rung an Stunden der Liebe bleibt noch an Land zurück. Seemannsbraut ist die See, und nur ihr kann ich treu sein…« Bernsen schmetterte das alte Shanty aus voller Kehle und bewegte im Takt dazu seinen Oberkörper hin und her. Der Ärmel seines ausgewaschenen Seemannshemdes flatterte im Fahrtwind um seinen dünnen Arm, den er lässig im geöffneten Beifahrerfenster des Dienstwagens abgelegt hatte.

Kohlschuetter wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich will ja nicht stören, Hans Albers, aber wenn Sie das Fenster schließen würden, hätte die Klimaanlage auch eine Wirkung.«

»Ich brauche frische Luft und nicht diese beklemmende künstliche Kaltluft. Die gefährdet meine Singstimme.« Er räusperte sich. »Wenn der Sturmwind sein Lied singt, dann winkt mir der großen Freiheit Glück«, trällerte er den Refrain zu Ende.

»Gibt es einen Grund für diese überschwänglich gute Laune?« Kohlschuetter, der das Auto über den Erfurter Stadtring lenkte, warf einen amüsierten Seitenblick auf seinen Kollegen.

»Noch vier Tage bis zum Urlaub«, antwortete der und hob erneut zu singen an. »What shall we do with the drunken sailor, what shall we do with the drunken sailor, what shall we do with the drunken sailor, early in the morning?«

Kohlschuetter grinste in sich hinein. Dass ein erwachsener Mann jenseits der sechzig eine so kindliche Urlaubsvorfreude empfinden konnte, war ihm neu. Aber irgendwie war diese Heiterkeit ansteckend. Und momentan konnte er ein bisschen Ablenkung wirklich gut gebrauchen. Nicht wegen des Jobs. Der lief gut. Wobei zurzeit nicht viel los war. Thüringen erlebte den heißesten Sommer seit Jahren, was sogar die Energie der Kriminellen im Freistaat lahmzulegen schien. Auch mit Bernsen kam er zurecht. Man gewöhnte sich schließlich an alles. Der Typ war schräg, jedoch, wenn man die defizitäre soziale Intelligenz, seine zelebrierte Ignoranz jedwedem Andersdenken gegenüber und den fragwürdigen Humor ausklammerte, auf seine Art durchaus sympathisch. Und was das Wichtigste war, er machte seine Sache als Ermittler gut. Manchmal agierte er vielleicht ein wenig zu unkonventionell, doch er hatte kriminalistischen Spürsinn. Kohlschuetter würde es niemals zugeben, aber er konnte von dem anstrengenden Nordlicht tatsächlich noch etwas lernen. Hin und wieder. Nein, was ihn in den letzten Wochen so mitgenommen hatte, war sein sich zunehmend als nervig erweisendes Privatleben.

Seit fünf Wochen traf er sich nun schon mit Manuela, der Trainerin und Ernährungsberaterin aus seinem Fitnessstudio. Die Kleine war ja wirklich niedlich. Auch hatte er mit ihrer Hilfe seinen BMI noch einmal um null Komma eins nach unten drücken können. Aber die fünfunddreißig Tage mit ihr fühlten sich verdammt lang an. Es kam ihm vor, als stünde er kurz vor der Silberhochzeit. Und schlimmer noch: Die Schlinge der »festen Bindung« zog sich immer enger um seinen Hals; die Vorzeichen waren unverkennbar. Denn was sollte sonst das Gerede von seinem Wohnungsschlüssel? Immer wieder kam sie auf dieses Thema zu sprechen. Von wegen, dann könnte sie ab und zu schon mal etwas gekocht haben, wenn er vom Dienst kam. Erstens aß er abends so gut wie nie warm, zweitens kam er meistens zu einer Zeit vom Dienst, zu der man generell nicht mehr essen sollte, und drittens, das war für ihn das Schwerwiegendste, rückte er für nichts und niemanden die Eintrittskarte zu seinem Heiligtum heraus. Das ging weit über seine Vorstellung von einer gesunden Beziehung zwischen Mann und Frau hinaus. Ein Zusammenspiel, mehr sollte es nicht sein, zeitlich begrenzt, lose und erwartungsfrei. Doch was die Frauen wollten, war Verlobung, Hochzeit, Tod. Auf diesen vorgeschriebenen Weg ließ er sich nicht setzen. Von niemandem. Erst recht nicht von Manuela mit ihrem zuckersüßen Schmollmund. Wie sollte er ihr das beibringen, ohne sich ein neues Fitnessstudio suchen zu müssen? Die Zickerei war vorprogrammiert.

Warum musste das andere Geschlecht aber auch immer so kompliziert sein? Schwitzend steuerte er auf das Parkhaus am Anger1 zu. Die Hitze war kaum auszuhalten, und warum Bernsen sogar bei diesen Temperaturen darauf bestand, das Mittagessen im Nordsee-Restaurant einzunehmen, war ihm schleierhaft. Noch dazu in seiner Stammfiliale am Anger, sodass sie durch die überfüllte Innenstadt kurven mussten. Nur weil die hier angeblich mehr Zwiebeln auf die Bismarck-Baguettes packten. Doch der Kollege war in den letzten Tagen so handzahm gewesen, dass er ihm die Bitte nicht hatte abschlagen können. Dabei war die Stadt voller Touristen. Massenweise schlenderten sie über den Anger und durch die engen Gassen der Altstadt, bevölkerten zu Kohlschuetters Leidwesen die unzähligen Straßencafés rund um die Krämerbrücke, wo er abends gern den Tag bei einem stillen Wasser oder einem alkoholfreien Cocktail Revue passieren ließ.

Obwohl Kohlschuetter gern in Erfurt lebte, empfand er die Sommermonate in dieser schönen Stadt immer als besonders nervig. Vor allem die verstopften Parkhäuser. Wenigstens war die Zeit der Domstufenfestspiele für dieses Jahr bereits überstanden, ohne dass es Manuela gelungen war, ihn in »Tosca« zu schleppen. Beim Mexikaner gegenüber hatte er ohnehin mehr als nötig davon mitbekommen.

Im Schritttempo rollten sie hinter vier weiteren Autos auf die Schranke zur Einfahrt des Parkhauses zu, als Kohlschuetters Handy klingelte. Er drückte auf den Knopf der Freisprechanlage und meldete sich.

Am anderen Ende der Leitung blies jemand deutlich hörbar den Rauch einer Zigarette aus. »Ich störe Sie nur ungern in Ihrer Mittagspause«, sagte eine kratzige Stimme, die dem Leiter der Erfurter Polizeiinspektion gehörte. Er war ein kleiner, zurückhaltender Mann mit penibel getrimmtem Vollbart, der den größten Teil des Tages hinter der Vielzahl von Fotos und gerahmten Autogrammkarten seines geliebten Fußballvereins FCRot-Weiß Erfurt saß, die fast die Hälfte seines Schreibtisches einnahmen, und der gefühlt fünf Telefone gleichzeitig bedienen konnte. Der Chef erhob sich, so munkelte man, nur für zwei wesentliche Dinge von seinem Arbeitsplatz: den Gang zur Toilette und diverse Abstecher ins Raucherzimmer. Letzteres betrat er seit Inkrafttreten des Nichtraucherschutzgesetzes nur widerwillig und zähneknirschend, aber, seinem Nikotinkonsum angemessen, gut zwei Dutzend Mal am Tag, weshalb die Haustechniker dort extra ein Telefon für ihn installiert hatten.

»Was gibt es so Dringendes?«, fragte Kohlschuetter, ohne auf die Floskel mit der Mittagspause einzugehen. Warum auch? Er war bei der Kriminalpolizei, dort pochte niemand auf die Einhaltung der für andere Arbeitnehmer normalen Arbeits- und Pausenzeiten. Außer der Kollege Bernsen natürlich. Abgesehen davon mochte er den Chef, denn der hatte ihm, als er frisch von der Polizeischule in Meiningen gekommen war, die Stelle bei der Erfurter Kriminalpolizei angeboten. Niemals hätte er sich vorstellen können, in einem kleinen Provinznest Polizeidienst zu schieben. Er hatte schon immer in der Landeshauptstadt arbeiten wollen, und das in einem richtigen Team. Wobei alle wirklich harten Geschichten, in denen sie bisher ermittelt hatten, irgendwo in der Thüringer Pampa und nicht in der Landeshauptstadt passiert waren. Und was das Arbeiten im Team anging, na ja, irgendwo hatte der Chef Bernsen nun mal unterbringen müssen. Ganz so teamunfähig, wie es auf den ersten Blick schien, war der gute Friedhelm ja auch gar nicht.

Wieder konnte man den Chef inhalieren und ausatmen hören. Kohlschuetter, der sich als militanter Nichtraucher und Gesundheitsfanatiker einbildete, besonders empfindlich gegenüber Nikotinschwaden zu sein, konnte den widerwärtigen Gestank, der jetzt in der Polizeiinspektion durch das Raucherzimmer waberte, förmlich durch das Telefon riechen. Die Widerwärtigkeit war auch der Grund, weshalb der Chef die meiste Zeit allein im Raucherraum zubrachte, während alle anderen Kollegen sogar bei Wind und Wetter den Innenhof vorzogen. Nur ahnungslose Besucher gerieten gelegentlich dort hinein, um vor einer Besprechung noch schnell eine durchzuziehen. Das passierte aber nur denjenigen Gästen, die noch nie zuvor in der Dienststelle gewesen waren. Alle anderen behielten die Tabakvorlieben des Chefs in so einprägsamer Erinnerung, dass sie sich ihnen niemals wieder in einem zwölf Quadratmeter großen Raum mit geschlossenen Fenstern aussetzen wollten. Indonesische Djarum-Super-Nelken-Zigaretten hinterließen nun mal einen bleibenden Eindruck.

»Wir haben eine männliche Leiche in Kindelbrück im Landkreis Sömmerda. Parkweg lautet die Adresse. Eine Hausnummer gibt es nicht. Der Tote schwimmt im Gründelsloch. Das ist wohl eine Art See oder so etwas. Sie sollten sich beeilen.«

Der letzte Satz gehörte immer dann zum obligatorischen Repertoire des Chefs, wenn er ein Gespräch, ob persönlich oder telefonisch, zügig beenden wollte. Die Worte waren so dahingesagt, gleich einer gewöhnlichen Grußformel, aber deutlich charmanter als eine abgewürgte Unterhaltung. Eher wie ein gut gemeinter Ratschlag. Kohlschuetter und die anderen Kollegen hatten eine Weile gebraucht, um das zu begreifen. Denn zunächst hatte es für alle so geklungen, als würde der Chef damit Druck aufbauen wollen, um die Ermittlungsarbeit zu beschleunigen. Doch das war ganz und gar nicht seine Art. Nur Bernsen hatte das noch immer nicht mitbekommen. Bei ihm lösten diese Worte regelmäßig Wutattacken aus. Heute blieb er allerdings erstaunlich still.

»Noch etwas?«, fragte Kohlschuetter nach, während er bereits den Namen der Stadt in das Navigationsgerät eingab. Angestrengt überlegte er, woher er den Ort kannte.

»Nein, nur…« Das Klicken eines Feuerzeuges war zu hören. Es folgten ein tiefer Lungenzug und das erneute langsame Ausatmen des Qualms. »Bei diesem Wetter würde ich sowieso keinen Fisch essen. Und Sie sollten sich beeilen.« Dann hatte der Chef aufgelegt.

»Beeilen, beeilen«, maulte Bernsen. »Alter Sklaventreiber. Ich habe Mittagspause. Abgesehen davon frage ich mich, was das Wetter mit einer anständigen Fischmahlzeit zu tun haben soll? Ich brauche meine Omega-3-Fettsäuren, egal, was Petrus sagt. Wir Norddeutschen sterben ohne diese essenziellen Stoffe in unserem Blut. Das ist genetisch so festgeschrieben.« Mit herunterhängenden Mundwinkeln starrte er geradeaus. Vergessen waren die fröhlichen Seemannsmelodien der letzten Minuten. »Was esse ich jetzt zu Mittag? Und wer ersetzt mir die Nordsee-Gutscheine, die nur noch bis heute gültig sind? Wenn Claudi das erfährt, bekomme ich zur Strafe drei Tage keinen Kaffee mehr bei ihr. Sie hat sie doch extra aus der Zeitung ausgeschnitten und für mich aufbewahrt.«

Claudi, wie nur Bernsen sie nennen durfte, hieß mit vollem Namen Claudia Kowalski. Sie war die neue Sekretärin des Chefs und gewissermaßen der Kettenhund der Behörde, da bei ihr jeder automatisch auf Distanz ging. Der impertinente Patschuli-Duft, in den sich die pummelige junge Frau mit der spitzen Nase und den eng stehenden Augen tagtäglich hüllte, wog dabei längst nicht so schwer wie ihre ruppige und schonungslos offene Art, mit der sie die Wünsche des Chefs exekutierte. Nur für einen galt das nicht. Bernsen. An dem hatte sie einen Narren gefressen– und er an ihr.

Kohlschuetter sah in den Rückspiegel, setzte den Blinker und scherte ohne Umschweife aus der wartenden Autoschlange aus, um zu wenden. Ein soeben aus dem Parkhaus kommender Volvo konnte gerade noch bremsen. Der Fahrer hupte wütend. Bernsen streckte provokativ seine zur Faust geballte Rechte aus dem Beifahrerfenster. Das Hupen verstummte, und der Volvofahrer gab den beiden mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er sie vorlassen würde. Kohlschuetter setzte noch einmal kurz zurück, dann fuhren sie Richtung Autobahn davon.

»Wenn Sie damit mal an den Falschen geraten, schieße ich Ihnen nicht den Weg frei. Hat man Ihnen da oben nicht beigebracht, dass wir als Polizisten den unbescholtenen Bürgern keine Gewalt androhen dürfen beziehungsweise wir so etwas wie eine Vorbildfunktion haben? Wo kämen wir denn hin, wenn im Straßenverkehr das Faustrecht gelten würde?«

»Was meinen Sie denn mit ›da oben‹? Die Dachterrasse des Radisson? Den lieben Gott? Oder die Raumkapsel von Ulf Merbold?« Bernsen lehnte sich entspannt zurück. In seiner Stimme schwang wieder diese leichte Arroganz, die Kohlschuetter in fast schon gesetzmäßiger Regelmäßigkeit auf die Palme brachte.

»Ulf Merbold. Freilich«, ätzte er und verdrehte genervt die Augen. »Das ist so etwas wie ein Reflex bei Ihnen, oder?«

»Was denn?«, erkundigte sich Bernsen unbedarft.

»Nichts. Schon gut. Vergessen Sie es.«

»Na, was denn nun? Ich habe Sie etwas gefragt. Da kann ich ja wohl eine Antwort erwarten. Welchen Reflex wollen Sie mir jetzt schon wieder andichten?«, blaffte Bernsen.

Kohlschuetter holte tief Luft. »Den, dass Ihnen niemals, aber auch wirklich niemals ein ostdeutsches Beispiel einfallen würde. Nicht einmal dann, wenn dieser Mensch der unbestritten Schönste, Beste, Schnellste– ach, weiß der Fuchs was wäre.« Er winkte ab.

»Wollen Sie mir etwa regionalbezogene Ahnungslosigkeit unterstellen?«

»Wenn es um den Osten Deutschlands geht, ja, dann attestiere ich Ihnen die sogar. Sei es aus Unwissenheit oder Ignoranz– wobei ich nicht weiß, was fünfundzwanzig Jahre nach der Wende schlimmer wäre.« Er hielt an einer roten Ampel und schaute provozierend zu Bernsen hinüber, der sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließ.

»Also bitte«, sagte er mit übertriebener Betonung und altbekannter Überheblichkeit, »noch mal: Was meinen Sie mit ›da oben‹? Die Raumkapsel eines ostdeutschen Astronauten?«

Kohlschuetter musste an sich halten, um den Kollegen vor Unmut nicht anzuknurren. »Sehen Sie? Da haben wir es wieder. Ihnen fällt nicht einmal der Name eines ostdeutschen Kosmonauten ein. Sigmund Jähn«, presste er hervor. »Siegmund Jähn aus Morgenröthe-Rautenkranz war der erste Deutsche im All. Der erste Mensch ›da oben‹ hieß Juri Gagarin. Der war Russe oder, wie man damals noch sagte, Sowjetbürger.«

Kohlschuetter, der immer noch auf Bernsen guckte, hatte nicht bemerkt, dass die Ampel mittlerweile Grün zeigte. Hinter ihnen hupte jemand. Hastig legte er den Gang ein und fuhr weiter.

»Ach, daher weht der Wind. Ihr sozialistischen Brüder wollt den westlichen Demokraten mal wieder mit Gewalt beweisen, dass ihr die Besseren seid.« Bernsen wackelte mit dem Kopf hin und her. »Aber ich war Erster! Erster, Erster«, nörgelte er mit Kinderstimme. »Hauptsache, höher, schneller, weiter als der Klassenfeind. Was das gebracht hat, konnten wir ja sehen. Mannomann, irgendwann müsst ihr doch einmal einsehen, dass ihr verloren habt.«

»Verloren?« Kohlschuetter biss sich wütend auf die Zunge und schwieg. Verloren haben wir nur unsere friedliche Idylle, dachte er, die von euch westdeutschen Schlaubergern und Dummschwätzern zunichtegemacht wurde. Im nächsten Moment war er froh, dies nicht laut gesagt zu haben. Ostalgie war nämlich überhaupt nicht sein Ding. Ungerechtigkeit auch nicht. Wieso hatte er sich nur zu einer derartigen Diskussion hinreißen lassen? Das musste am neuen Fall liegen. Er hasste es, zu einer Leiche gerufen zu werden, da man nie wissen konnte, was für ein Anblick einen dort erwartete. Oder war es der Frust über sein Liebesleben? In jedem Fall hatte er Bernsen provoziert und sich dann auch noch von dessen Äußerungen anstacheln lassen. Kohlschuetter schwor sich, diese Art Gespräch künftig schlichtweg zu vermeiden. »Dabei hatte ich mich ausnahmsweise wirklich einmal auf den Backfisch mit Kartoffelsalat gefreut«, sagte er verdrossen. »Ich habe einen Wahnsinnshunger.« Er hatte gestern Abend ein paar Extrarunden im Fitnessstudio gedreht und war von dem Milchshake, den ihm Manuela zum Frühstück gemixt hatte, nicht satt geworden.

»Und ich habe mich auf meinen Urlaub gefreut.« Bernsen blickte teilnahmslos aus dem Fenster. Die Ost-West-Diskussionen, die er sonst voller Inbrunst führte, schienen ihn heute nicht weiter zu interessieren. »Egal, wie wir das machen, am Freitag Punkt neunzehn Uhr muss ich in Bongsiel sein. Zum Abendessen.«

»Sie könnten auch mal eine neue Platte auflegen.« Bernsens immer wieder geäußerte, wenig dezente Hinweise auf seinen pünktlichen Feierabend gingen Kohlschuetter tierisch auf die Nerven. »Wer oder was ist eigentlich Bongsiel?«

Kohlschuetter wusste nicht, warum er die Frage stellte. Ob aus Höflichkeit oder um die unterkühlte Stimmung, die seit dem Anruf des Chefs im Wagen herrschte, etwas aufzulockern. Er spürte, wie die Anspannung, die ihn stets überkam, wenn sie auf dem Weg zu einem Leichenfundort waren, in ihm wuchs. Nervös presste er die Zähne aufeinander, was ein laut knackendes Geräusch seiner Kiefergelenke verursachte. Bald würde sein Zahnarzt die Zahl der in Thüringen begangenen Morde an Kohlschuetters heruntergekauten Zähnen ablesen können. Die Zähneknirscherei brachte ihm regelmäßig Schelte ein. Aber was sollte er machen? Bei aller Liebe zu seinem Job konnte er sich einfach nicht daran gewöhnen, dass sich Menschen gegenseitig umbrachten. Er drehte den Regler für das Gebläse auf die höchste Stufe und richtete die Lüftung auf seinen Oberkörper. Das brachte ihm zumindest eine leichte Abkühlung.

»Bongsiel ist eine Streusiedlung am Ockholmer Koog«, entgegnete Bernsen.

Kohlschuetter hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was eine Streusiedlung war. Beim Koog hingegen musste er passen. Trotzdem verspürte er nicht die geringste Lust nachzufragen. Musste er auch nicht, denn Bernsen redete bereits weiter.

»Bevor Sie fragen, ein Koog ist aus der See gewonnenes Marschland. Und dort steht seit 1902 der Gasthof Thamsen, ›Dat swarte Peerd‹. Am Freitag um neunzehn Uhr werden meine Rotfeder und ich uns dort die Bongsieler Platte mit Räucheraal, Brataal und Aal in Gelee bestellen, dazu gibt es hausgemachte Bratkartoffeln und danach einen Schimmelreiter-Aquavit.« Er richtete seinen schmalen Oberkörper im Autositz auf und formulierte die Worte wie eine Kampfansage. »So wie an jedem ersten Urlaubstag seit achtunddreißig Jahren.«

»Ach, doch schon«, sagte Kohlschuetter mit spöttisch verzogener Miene. »Sommerurlaub an der Nordsee. Seit achtunddreißig Jahren. Mit Aalvariationen.«

»In Bongsiel, genau. Und ich bin nicht gewillt, auch nur die kleinste Abweichung von diesem Ritual zuzulassen. Da kann ganz Thüringen tot in irgendeinem See schwimmen, um fünf nach sieben steht mein Flensburger vor mir auf dem Tisch, und der Koch macht sich an dem Aal zu schaffen.« Als müsste er das unterstreichen, nickte er bei diesen Worten energisch. »Das lasse ich mir ganz bestimmt nicht von irgendeinem zerschießen, der seinen Kopf nicht über Wasser halten kann. Es ist doch immer das Gleiche: Bei der Affenhitze hüpft jeder ungeachtet aller Gefahren in irgendeine Wasserpfütze. Scheißegal, wenn er dabei draufgeht, Hauptsache, er hat sich vorher abgekühlt.« Seine Stimme hatte einen leicht hysterischen Ton angenommen.

»Immer mit der Ruhe, Bernsen. Wir fahren jetzt nach Kindelbrück. Alles Weitere werden wir sehen. Wenn es sich um einen Badeunfall handelt, sind wir doch im Nu fertig.« Kohlschuetter holte tief Luft. »Dann lade ich Sie in die Nordsee ein. Mit Ihren Gutscheinen.«

»Das ist mal ein Wort!« Wieder zufrieden mit sich und der Welt, lehnte sich Bernsen in seinem Sitz zurück. »What shall we do with the drunken sailor…«, hob er schwungvoll an, und Kohlschuetter seufzte verhalten.

* * *

Bernsen unterbrach seinen Gesang, um einen Schluck aus der Thüringer-Waldquell-Flasche zu nehmen, die im Ablagefach der Beifahrertür steckte. Während der letzten dreißig Minuten hatte Kohlschuetter sich auf den Verkehr konzentriert und seine Gedanken schweifen lassen. Woher er die Stadt Kindelbrück kannte, war ihm immer noch nicht eingefallen. Doch er hoffte, dass es wirklich nur ein Badeunfall war. Alles andere würde den Kollegen Bernsen für die nächsten Tage unausstehlich machen. Und für ihn den Stress verdoppeln. Das konnte er beim besten Willen nicht auch noch gebrauchen. Manuela reichte vollkommen aus.

»Das kenne ich doch hier.« Bernsen hätte sich fast an seinem Wasser verschluckt. »Wird das eine Revival-Tour, oder was?« Lachend schraubte er die Plastikflasche zu und schob sie wieder in das Fach in der Tür. »Was machen wir hier?«

»Durchfahren. Sehen Sie«, Kohlschuetter zeigte auf das Navi. »Der Weg nach Kindelbrück führt über Weißensee.«

»Na, solange das kein Omen ist, soll es mir recht sein. Damals waren es sogar zwei Leichen.« Bernsen wischte sich den Schweiß von der Stirn, drehte den Oberkörper nach rechts und hielt den Kopf so weit es ging aus dem Fenster, um einen ausgiebigen Blick auf den Marktplatz zu erhaschen. »Das Rathaus steht zumindest noch. Wie es wohl unserem Freund, dem durchgeknallten Bürgermeister, ergangen ist?«

»Offensichtlich nicht so gut«, antwortete Kohlschuetter mit Blick auf die Wahlplakate, die an jedem zweiten Laternenmast hingen.

»Wie kommen Sie darauf?« Bernsens Kopf ruckte nach links, er schaute Kohlschuetter fragend an.

»Mensch, Bernsen, unterzuckert oder was? Die Stadt hängt voller Kandidatenplakate zur Bürgermeisterwahl, nur einer ist nicht drauf.«

»Adler?« Bernsen sah in alle Richtungen, ob er das fehlende Adler-Plakat nicht doch noch irgendwo erspähen könnte.

»Genau.« Kohlschuetter knallte das Wort heraus, als stünden sie auf dem Exerzierplatz. Bernsens Urlaubsmodus fing wirklich langsam an zu nerven. Außerdem hatte das Handy in seiner Hosentasche schon mindestens drei Kurznachrichten gemeldet, seit sie in Erfurt losgefahren waren. Manuela wollte bestimmt wissen, was sie heute Abend kochen sollte. Als ob ihn das interessierte. Er atmete tief aus. »Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass er beim nächsten Mal nicht mehr antritt, hätte ich es nicht glauben können. Adler war doch faktisch Weißensee.«

Bernsen wedelte sich mit der Parkscheibe Luft zu. »Der hat sein Reinheitsgebot samt Braumeister an die Bayern verkauft und hält nun gemeinsam mit seiner Ordnungsamtschefin den Chinesischen Garten besetzt, um dort einen entspannten Lebensabend zu verbringen.« Er lachte schallend und hatte sich, bis sie das Dorf Günstedt passiert hatten, noch nicht wieder eingekriegt.

»Ist ja nun gut. So witzig war das auch nicht«, murrte Kohlschuetter ungehalten.

»Warum seid ihr Ossis eigentlich so verkniffen? Mal richtig die Sau rauslassen, das könnt ihr gar nicht. Oder ist das eine thüringische Eigenart?« Bernsen grinste provozierend.

»Wie viele Ossis respektive Thüringer kennen Sie denn?« Eigentlich hatte sich Kohlschuetter ja gerade erst geschworen, wenigstens bis zu Bernsens Pensionierung nicht mehr auf diese Art Diskussionen einzusteigen. Doch wann immer Bernsen das kleine, harmlose Wörtchen »Ossi« nur in den Mund nahm, schnellte sein Blutdruck gefährlich in die Höhe. Bis heute konnte er nicht sagen, ob Bernsen wirklich so ignorant war, wie er immer tat, oder ob er sich bloß einen Spaß daraus machte, den schofeligen Toffel zu spielen. Fünfundzwanzig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung lebte er eine so geballte Sammlung an Vorurteilen, als wäre die Mauer noch da, mindestens zwanzig Meter hoch und als hätte er nie auch nur einen Fuß in den östlichen Teil Deutschlands gesetzt. Das wiederum tat er mit einer Vehemenz, die ihresgleichen suchte.

Bernsen warf die Parkscheibe in den Fußraum und zählte seine Ossi-Bekanntschaften an den Fingern ab. »Acht. Mit Ihnen sind es acht«, sagte er mit der naiven Überzeugung eines Kindes.

»Sie sind seit über zwanzig Jahren bei der Thüringer Polizei und kennen acht Einheimische«, antwortete Kohlschuetter fassungslos.

»Ja, wobei ich nicht jeden mitgezählt habe, der mir hier schon einmal begegnet ist. Aber das versteht sich ja von selbst. Acht, doch. Das sind die, die ich näher kenne.« Bernsen schaute sichtlich angetan aus dem Beifahrerfenster. Riesige Apfel- und Kirschplantagen säumten die Straße, und er sagte fast beiläufig: »Nette Bäumchen haben die hier. Ist wohl ein Obstanbaugebiet.«

Kohlschuetter rieb sich das Stoppelkinn und duckte sich ein wenig, um unter der Sonnenblende hindurch die lang gezogenen Apfelbaumreihen zu seiner Rechten besser sehen zu können. Da fiel ihm ein, woher er das kleine Städtchen kannte. 1988, Ferienlager Beichlingen. Mit siebenhundertachtundneunzig anderen Kindern hatte er damals zwei Wochen seiner Sommerferien mitten im Wald in Holzbungalows mit Metallbetten und seltsam riechendem Linoleum verbracht. Und mit Isabell aus Kindelbrück, die den Jungs mit ihrem süßen Silberblick die Köpfe verdreht und schier unendliche Westschokoladenvorräte unter ihrem Doppelstockbett versteckt hatte. Ihr Vater musste irgendein hohes Tier in der Kindelbrücker Kofferfabrik gewesen sein. Er erinnerte sich nicht mehr genau. Nur, dass er sie hinter den Duschräumen geküsst hatte, wusste er noch wie heute. Sein erster Kuss. Dabei war er erst dreizehn gewesen, und Isabell hatte schon Jugendweihe gehabt. Ein Jahr später war er wieder in Beichlingen gewesen. Nur hatte er Isabell dieses Mal nicht mehr getroffen. Dafür einige andere nette Mädels. Kohlschuetter schmunzelte über seinen quasi angeborenen Dreh bei den Frauen. Ob das alte Pionierlager noch stand? Nach der Wende waren viele dieser Einrichtungen zu Ferienanlagen umgebaut worden. Er beschloss, auf dem Rückweg einen Abstecher über Beichlingen zu machen, wenn die Sache in Kindelbrück nicht zu lange dauerte, und nachzuschauen.

Er verringerte das Tempo, um die Landschaft, mit der er sich jetzt irgendwie verbundener fühlte, intensiver betrachten zu können, mit dem Effekt, dass der abgeschwächte Fahrtwind die Innenraumtemperatur des Wagens in immer unangenehmere Höhen trieb. Auf der freien Strecke knallte die Sonne noch erbarmungsloser vom Himmel und ließ die Luft über dem Asphalt flimmern. Man konnte beinahe die trockene Erde der Obstplantagen auf der Zunge schmecken. Bis zur Ernte waren es noch gut und gern sechs Wochen, aber an den kleinen Bäumchen waren jetzt schon die dicht an dicht gewachsenen hellgrünen Früchte zu erkennen.

Hinter Weißensee hatte sich die Landschaft verändert. Sie war nun hügeliger, die Ackerflächen durchbrochener, kleinteiliger. Die Gegend hatte etwas Liebliches, fast schon Zauberhaftes, was nicht zuletzt an den Obsthainen lag. Sie hatten auf ihn dieselbe besondere Wirkung, die Weinberge mit ihren schier endlosen, an einer Richtschnur gezogenen Rebstockreihen auf die meisten Menschen ausübten. Erfasste einen dort die Vorfreude auf einen erlesenen Tropfen, war es in der Kindelbrücker Flur aber doch eher eine Art Obstgartenromantik, die einen an die eigenen Kindertage unter dem großväterlichen Apfelbaum erinnerte.

Sie hatten einen Großteil des Gehölzes passiert und erreichten nun den höchsten Punkt auf dem Weg von Günstedt nach Kindelbrück. Vor ihnen lag die verschlafene Kleinstadt, aus deren Mitte der Rathausturm und der Kirchturm von St.Ulrich ragten. Am Horizont erhob sich die Hainleite, ein Muschelkalk-Höhenzug, der das Thüringer Becken vom Nordwesten her begrenzte und vor allem für seine Buchenwälder, Orchideen und Burgruinen bekannt war.

Kohlschuetters Telefon klingelte. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Display, erkannte Manuelas Nummer und drückte sie weg. Was hatte der Kollege Bernsen eben gesagt? Nach zwei Jahrzehnten Exil in Thüringen hatte er es auf acht Bekannte gebracht?

»Mannomann, Sie haben wirklich eine aufgeschlossene soziale Ader«, sagte Kohlschuetter und nahm damit leichtfertig ein Gespräch wieder auf, das er so eigentlich nicht mehr führen wollte.

»Ich bin Norddeutscher. Wir verbrüdern uns nun mal nicht mit jedem. Kühle Zurückhaltung, schon mal gehört? Bei Helmut Schmidt stand eine ganze Nation darauf. Und mir wird deswegen ein Vorwurf gemacht«, blaffte Bernsen in schroffem Ton.

»Das war kein Vorwurf. Ich denke nur, etwas Offenheit für Neues kann nicht schaden.« Kohlschuetter hielt inne und überlegte, wie gut er eigentlich Bernsens norddeutsche Heimat kannte? Abgesehen von zwei Kurztrips nach Hamburg gab es bisher eher wenige echte Erfahrungen, auf die er sich berufen konnte. Aber wenn er dort leben würde, wäre das doch etwas ganz anderes. Als er vor ein paar Jahren von Nordhausen nach Erfurt gezogen war, hatte er sich auch mehrfach die Sehenswürdigkeiten der Stadt angesehen. Sicher, er hatte Thüringen nicht verlassen und kannte bereits alle regionalen Gepflogenheiten, aber trotzdem. Man musste doch wissen, wo man gelandet war.

In gemächlichem Tempo fuhr er in die Stadt Kindelbrück ein und folgte den Anweisungen des Navis, die erste links in Richtung Frömmstedt zu nehmen.

»Offenheit, Aufgeschlossenheit, damit meint ihr Ossis euren FKK, oder? Das ist ja wieder typisch. Schweinskram, das konntet ihr hinter eurer Mauer. Nee, nee. So etwas liegt uns Norddeutschen nicht«, ereiferte sich Bernsen.

»Was haben denn soziale Kontakte mit Schweinskram zu tun?« Verständnislos schüttelte Kohlschuetter den Kopf. »Darum geht es doch überhaupt nicht. Außerdem ist Ihr Klischee vom sündigen Ossi wohl mehr als affig.« In den Jahren seit der Wende hatte es Dutzende empirische Studien über die Unterschiede zwischen Ost und West gegeben. Sogar das angeblich unterschiedliche Sexualverhalten hatten die Wissenschaftler untersucht. Doch außer Vorurteilen und Missverständnissen war daran aus Kohlschuetters Sicht wirklich nichts zu finden.

»Na, na, na, damit würde ich mich an Ihrer Stelle nicht so weit aus dem Fenster lehnen.« Bernsen schob seine Unter- über die Oberlippe und schaute betont beiläufig auf die Straße.

»Was soll das denn heißen?«, schimpfte Kohlschuetter wütend.

»Ich meine ja nur.« Er streckte demonstrativ seine rechte Hand nach vorn, drehte sie langsam hin und her und betrachtete eingehend seinen Ehering.

»Verklemmter Spießer«, nuschelte Kohlschuetter. Er folgte der Straße nach rechts, passierte einige Kleingartenparzellen und parkte den Wagen schließlich hinter einem Rasentraktor, der zur Hälfte schräg auf einem Grünstreifen vor einem Gartenzaun stand. An dem Gefährt lehnte ein schwarzes, auffallend teures Rennrad. Ungesichert, wie er mit einem flüchtigen Blick feststellen konnte.

Kaum dass er den Motor ausgestellt hatte, sprang Kohlschuetter aus dem Auto. Die Hitze knallte ihm nun erbarmungslos auf die Haut. Was wusste Bernsen schon von den Frauen? Wenn ein Mann vierzig Jahre lang mit ein und derselben Frau seine Nächte verbrachte, dann hatte er entweder die Richtige gefunden, oder er war einfach nur bequem. Auf Kohlschuetter traf beides nicht zu. Mal ganz abgesehen davon, dass er es mit gerade einmal vierzig Jahren für absolut ausgeschlossen hielt, sich festzulegen. Allein der Gedanke daran schnürte ihm den Hals zu. Aber sollte er sein Liebesleben ausgerechnet mit Bernsen diskutieren? Das fiel ihm doch überhaupt nicht ein. Der rannte dann nur wieder schnurstracks zu Claudi in die Dienststelle und posaunte alles aus.

Bernsen stieg ebenfalls aus dem Wagen, beugte sich aber noch einmal hinein und griff nach einer kleinen Tube Sonnenschutzcreme, die in der Mittelkonsole steckte. Er drückte sich einen Klecks auf die linke Handfläche und verrieb die Creme bis zum hochgekrempelten Ärmel seines ausgeblichenen Fischerhemdes. Die Prozedur wiederholte er beim anderen Arm. Anschließend wischte er sich mit beiden Handflächen über sein wettergegerbtes Gesicht und seinen Nacken. Dann flog der Behälter zurück ins Auto, und die Tür knallte zu.

Kohlschuetter, der diese aus seiner Sicht schrullige Eigenart in den letzten Wochen so einige Male beobachtet hatte, verkniff sich wie bisher jeden Kommentar und steuerte mit einem intensiven Duft von Sonnencreme in seiner Nase auf einen kleinen Park zu, an dessen Eingang eine hölzerne Informationstafel aufgebaut war. »Das Gründelsloch«, stand in blassblauer Schrift darauf zu lesen. Alles Übrige war dem Wetter, dem Vandalismus oder beidem zum Opfer gefallen. Die Kommissare folgten dem leicht abschüssigen schmalen Pfad in Richtung des unüberhörbaren Stimmengemurmels. Zwischen zwei Birken flatterte das rot-weiße Absperrband der Polizei. Die Kollegen von der Sömmerdaer Polizeidienststelle waren als Erste vor Ort gewesen, um den Leichenfundort zu sichern. Einige Meter hinter der Absperrung tauchte ein fast kreisrunder See von etwa zwanzig Metern Durchmesser vor ihnen auf. Sein Wasser, das von einer beeindruckenden Klarheit war, schimmerte im Sonnenlicht türkisblau. An manchen Stellen ging die Farbe in ein sattes Mittelblau, mitunter aber auch in ein zartes Hellgrün über. Das Ufer des Sees wurde gesäumt von einem dicken Holzgeländer, dem Bernsen und Kohlschuetter um den halben See folgten, um zu einer kleinen, aufgeregt diskutierenden Gruppe von vier Leuten zu gelangen, die sich am gegenüberliegenden Ufer versammelt hatten. Ein Polizeibeamter versuchte seiner Körpersprache nach, die drei anderen zu beruhigen, was ihm aber augenscheinlich nicht gelang. Ein weiterer blau Uniformierter hantierte in ein paar Metern Entfernung mit dem Absperrband. Etwas abseits der Gruppe saß angestrengt hechelnd ein hünenhafter Dobermann. Er war an einen der Bäume angeleint und beobachtete wachsam das Treiben. Seine Zunge hing lang aus dem Maul, und sein Körper bebte vom schnellen Atmen. Ab und zu drehte sich die einzige Dame in der Runde zu ihm um und redete ihm gut zu, wobei sie unaufhörlich mit dem Kopf wippte. Der Dobermann quittierte diese Aufmerksamkeit mit dem sanften Wedeln seines kupierten Schwanzes.

»Moin.«

»Guten Tag.«

Der Dobermann knurrte.

Die Leute verstummten und schauten Bernsen und Kohlschuetter betreten an. Nur wenige Meter neben ihnen, an einem großzügig betonierten Uferstück, klemmte in dem darin eingelassenen Überlauf bäuchlings eine nackte männliche Leiche, unter der das Wasser leicht gebremst, aber in einer immer noch erheblichen Geschwindigkeit abfloss.

»Das ist also das FKK-Bad von Kindelbrückdorf«, kommentierte Bernsen die makabre Situation. Dabei konnte er sich ein Augenzwinkern in Richtung seines Kollegen offenbar nicht verkneifen. Der betrachtete den umzäunten See und die im klaren Wasser deutlich zu erkennenden steil hinabragenden Uferkanten. Für ihn sah das Gründelsloch nach allem, aber nicht nach einem Badesee aus.

»Stadt. Kindelbrück ist eine Stadt«, korrigierte ihn einer der Männer mit sanfter, jedoch leicht pikierter Stimme. »Bei dem im Barockstil gebauten imposanten Haus, dessen Turm Ihnen beim Einfahren in unsere Stadt aufgefallen sein dürfte, handelt es sich nicht um einen Wohnblock, sondern um unser Rathaus. Und das Schwimmbad ist dahinten.« Er wies vage in Richtung Osten. »Das hier ist das Gründelsloch, eine Quelle und ein Naturdenkmal.«

Der Mann war Anfang vierzig und trug eine weiße Baumwollhose und einen mittelblauen kurzärmeligen Kasack, auf dessen linke Brusttasche eine goldene Krone gepinnt war. Darunter stand in weiß gestickter Schreibschrift »Zahnarztpraxis Süß«. Unter seinem grau melierten Kinnbart hing ein mintgrüner Mundschutz, wie ihn Ärzte bei einerOP tragen. Mit wachen hellblauen, ein wenig stechenden Augen musterte er Bernsen, aber sein Gesicht ließ keinerlei Missmut erkennen. Im Gegenteil, er schien gelassen dem entgegenzusehen, was jetzt passieren würde. Der Beamte wollte etwas sagen, kam aber nicht dazu, da Kohlschuetter schneller war. Stattdessen nickte er den beiden Neuankömmlingen höflich zu.

»Timo Kohlschuetter und Friedhelm Bernsen, Kriminalpolizei Erfurt. Wer hat die Leiche gefunden?«

Kohlschuetter ging, wie so oft, einfach zur Tagesordnung über. Bernsens Humor, zumindest hoffte Kohlschuetter, dass es welcher sein sollte, war mitunter gewöhnungsbedürftig und für Außenstehende nur schwer einzuordnen.

»Ich«, nuschelte ein klein gewachsener, rundlicher Mann in einer grünen Latzhose. Er stand so nah neben seinem jüngeren Nachbarn mit dem Mundschutz, dass er ihn beinahe berührte. Fast konnte man den Eindruck bekommen, dass er hinter ihm Schutz suchte. Aufgeregt fuhr er sich mit beiden Händen durch das schüttere Haar und schaute mit leerem Blick an Kohlschuetter vorbei über die Leiche hinweg in das Wasser. »Ich habe es immer geahnt.«

»Was haben Sie immer geahnt?«, fragte Kohlschuetter neugierig.

Bernsen machte sich derweil daran, den leblosen Körper aus dem Wasser zu ziehen. Dazu setzte er einen Fuß auf die Betonwand, bückte sich und fasste nach der Schulter des Toten, um ihn an Land zu hieven. Der Leichnam entglitt seinen eingecremten Händen mehrfach, ehe er ihn endlich zu fassen kriegte. Der Streifenbeamte, der eben noch mit dem Absperrband hantiert hatte, kniete sich neben ihn ans betonierte Ufer und versuchte mit weit nach vorn gebeugtem Oberkörper, den Arm der Leiche zu erwischen. Sein Kollege war hinter ihn getreten und beobachtete das Unterfangen mit auf dem Rücken verschränkten Armen.

Angesichts dieser schwierigen Bergungsaktion riss der kleine Dicke die Augen weit auf und warnte die Polizisten mit zittriger Stimme: »Fallen Sie bloß nicht rein. Da kommen Sie nie wieder heraus, nie wieder. Das Gründelsloch verschluckt alles und jeden. Die Strudel ziehen Sie nach unten, und niemand kann Ihnen mehr helfen.«

»Na, den hier haben die Strudel ja offensichtlich wieder ausgespuckt«, japste Bernsen, der Mühe hatte, die Leiche in die Nähe des Beamten zu manövrieren.

»Ja, aber mausetot. Die Strudel sind heimtückisch«, entgegnete der Dicke mit gequälter Stimme.

»Herbert, bitte. Die Strudel befinden sich am Grund der Quelle, und der liegt in mindestens neun Meter Tiefe, vielleicht auch in zwölf. Wenn du da reinfällst, erwischen die dich nicht gleich«, wiegelte der Zahnarzt ab. »Wie oft sind wir als Kinder schon da hineingeplumpst? Jetzt übertreibst du aber wirklich.«

Die Dame in der Runde grinste spöttisch.

»Und was war am 3.Juli 1972? Die Taucher der GST waren bestens ausgerüstet und absolute Profis. Und? Und?« Herbert fing an, noch mehr zu schwitzen als ohnehin schon. »Sie mussten abbrechen, weil die Strömung zu stark war.« Er schnappte nach Luft.

»Ja, in sieben Meter Tiefe«, mischte sich nun auch die Frau ein. Ihre Stimme war laut, auf unangenehme Weise durchdringend und stand im krassen Gegensatz zu ihrer zierlichen, ein wenig drahtigen Gestalt. »So tief kann man auf Anhieb gar nicht sinken, wenn man hineinfällt. Ich war außerdem auch schon drin. Im Februar. Zehn Minuten Kältebad. Stärkt die Abwehrkräfte. Und heute wäre ich auch wieder reingesprungen. Wenn nicht…« Sie nickte in Richtung der Leiche und pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie trug einen dieser neumodischen kurzen Fransenhaarschnitte in einem dunkelroten Farbton, der ganz offensichtlich gefärbt war. Auf der linken Brustseite ihres gelben Funktionsshirts stand in rot gedruckten Buchstaben »Bergmann«. Die farblich darauf abgestimmte Radlerhose ließ ihre braun gebrannten, muskulösen Beine gut zur Geltung kommen. Ihr musste das Fahrrad gehören, das oben an der Straße stand. Während sie sprach, fiepte der Hund.

Kohlschuetter schätzte die Frau auf Mitte fünfzig, wandte seinen Blick jedoch schnell wieder von ihr ab, als er bemerkte, dass sie ihn mit einem Funkeln in ihren Augen von oben bis unten taxierte und dabei auf fast schon ekelhafte Weise mit der Zunge schnalzte. Irgendwie erinnerte ihn das an die sonntäglichen Kaninchenzuchtschauen, die immer im Frühjahr und Herbst in der Leimbacher Dorfkneipe stattfanden. Als Kind war es für ihn das Größte gewesen, wenn er seinen Vater dorthin begleiten durfte. Er hatte mit den Männern vor den Käfigen gestanden und ihnen beim Fachsimpeln zugehört. Dann war irgendwann einer der Preisrichter gekommen, hatte ein Kaninchen am Nackenfell aus dem Stall gehoben und es intensiv von allen Seiten begutachtet. »Der weiße Widder bekommt dreihundertachtzig Punkte für Körperform, Fellhaar, Kopf, Behang und Sauberkeit«, lautete ein mögliches Urteil. Und Kohlschuetter fühlte sich gerade genau wie der weiße Widder. Nur dass es bei dieser Preisschau auf seine Ohren vermutlich am wenigsten ankam.

»Das Schwimmen ist hier doch verboten«, widersprach Herbert entrüstet. Dabei legten sich feine Spuckebläschen auf seine Unterlippe, die, ausgelöst durch das Zittern seines Mundes, zu einem Rinnsal zusammenliefen und sich über seinen Mundwinkel den Weg zum Kinn suchten. Der Mann geiferte vor Aufregung, was alle Anwesenden taktvoll ignorierten. Bis auf die Dame. Sie stierte ihn auffällig an und wischte sich immer wieder wenig dezent mit ihrem rechten Handrücken über den Mund.

»Ja, weil man nicht weiß, was da unten passiert, und für nichts garantieren kann. Der Muschelkalk an den Seitenrändern könnte sich durch das Wasser aufgelöst haben und jederzeit nachrutschen. Du weißt doch selbst, dass es in Bilzingsleben beim Forellenteich erst vor Kurzem wieder einen solchen Erdrutsch gegeben hat. Abgesehen davon ist das Gründelsloch ein Naturdenkmal, da darf nicht jeder einfach so hineinhüpfen«, erläuterte der Zahnarzt mit schier grenzenloser Geduld.

Die Dame nickte zustimmend und konzentrierte sich nun wieder auf den von ihr sichtlich als attraktiv eingestuften Kohlschuetter.

Beim Stichwort »Forellenteich« unterbrach Bernsen kurz sein Tun und schaute neugierig zu ihnen hinüber. Als sich nichts dergleichen wiederholte, wandte er sich wieder der Leiche zu.

»Das ist es ja eben. Man weiß es nicht. Es besteht aber die Möglichkeit, dass sich auf einmal die Erde auftut und einen verschluckt«, beharrte Herbert. »Das Gründelsloch ist der Eingang zur Hölle, das sage ich euch. Wer weiß, was da unten alles ist?«

»Der Pferdewagen mit dem Quecksilber vielleicht«, sagte die Dame in Gelb lachend. »Seitdem der da reingerutscht ist, sprudelt doch das blaue Wasser.«

»Also, Hannelore, wirklich. Du weißt genau, dass das nur eine Sage ist«, wehrte der Zahnarzt ab. »Mach dich bitte nicht über Herberts Ängste lustig.«

»Herberts Ängste… lachhaft«, wetterte Hannelore. »Selbstkontrolle lautet das Zauberwort. Wer über ausreichend Selbstkontrolle verfügt, für den ist Angst ein Fremdwort.« Sie stemmte die Hände in ihre schmalen Hüften und nickte bekräftigend, um ihre Worte zu unterstreichen.

»Also, wenn ich Sie einmal unterbrechen dürfte«, hob Kohlschuetter an, dem dieses ganze Gequatsche langsam zu viel wurde. Er hatte sein rotes Buch und einen Stift gezückt, um sich Notizen zu machen. »Wir sollten erst einmal ein paar Fragen klären. Wie heißen Sie? Wer hat den Toten gefunden und wann? Und was haben Sie hier gemacht?«

Der Dicke verschränkte die Arme vor der Brust. »Herbert Klauning ist mein Name. Ich bin nach dem Mittagessen hergefahren, um die Papierkörbe zu leeren und den Rasen zu mähen. Ich arbeite für die Stadt, sozusagen im Außendienst. Als ich hier ankam, schwamm der da schon im Wasser.« Klauning schielte vorsichtig zum Gründelsloch hinüber. Die beiden Streifenpolizisten hatten den Mann auf den Rasen gezogen und waren gerade dabei, ihn auf den Rücken zu drehen. Bernsen stand daneben und telefonierte mit Susanne Summer, der Leiterin der Kriminaltechnischen Untersuchung des Landeskriminalamtes Erfurt. Daran ließ das »Beeilung, junge Frau«, das zu ihnen herübertönte, keinen Zweifel.

»Und Sie?« Er sah den Mann mit dem Mundschutz an.

»Roland Süß, Bürgermeister der Stadt Kindelbrück und einer der hiesigen Zahnärzte«, entgegnete dieser mit sanfter Stimme. »Herbert hatte–«