Donnerstag ist Schnitzeltag - Julia Bruns - E-Book

Donnerstag ist Schnitzeltag E-Book

Julia Bruns

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Beschreibung

Cosy Crime im Altenheim Helmut Katuschek, Polizeikommissar a. D., kann sich noch immer nicht an sein Leben im Seniorenheim gewöhnen, die Tage sind eintönig und seine Frau Margot geht ihm laufend auf die Nerven. Das ändert sich schlagartig als eine neue Mitbewohnerin Margots Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und plötzlich zeigt sich auch für Helmut ein Lichtstreif am Horizont: Der beliebte Heimdoktor Schröter wird ermordet und Helmut ist plötzlich wieder in seinem Element …

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Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Helmut Katuschek (Kriminalhauptkommissar a. D.) ist begeistert: Endlich kommt wieder Leben in das Seniorenheim, in dem er seit einer gefühlten Ewigkeit sein Dasein fristet. Denn der beliebte Heimdoktor Schröter ist mausetot, obwohl sein jugendliches Alter diesen Zustand ganz und gar nicht hergibt.

Aber dass der Doktor nicht freiwillig aus dem Leben geschieden sein kann, ist sofort sonnenklar. Hat etwa sein laxer Umgang mit verschreibungspflichtigen Pillen damit zu tun? Vielleicht sogar Drogenhandel? Helmuts Spürnase ist gefragt und natürlich auch die Hilfe seiner ehemaligen Kollegin und Gerichtsmedizinerin Frau Dr. Böttcher – deren Gedächtnislücken allerdings von Tag zu Tag größer werden …

Von Julia Bruns sind bei dtv außerdem erschienen:

Die Rache der Weihnachtsgurke

Der Weihnachtsgurkenfluch

Die Langeweile stirbt zuletzt

Tote brauchen keinen Strandkorb

Julia Bruns

DONNERSTAGISTSCHNITZELTAG

Ein Seniorenkrimi

Mein Mann ist krank.«

»Oh nein! Frau Katuschek«, ruft Doktor Schröter, der Heimarzt, voller Entsetzen aus. »Wie konnte denn das passieren? Muss ich mir um Sie Sorgen machen?«

Margot zuckt mit den Schultern.

»Gut, dass Sie gleich gekommen sind«, redet Schröter weiter. »Einen Besuch beim Doktor schiebt man nicht auf. Wie ich immer sage, lieber zu früh als zu spät.« Er fasst nach ihrer Hand und tätschelt sie zärtlich.

»Ach, Herr Doktor.« Margot schmilzt angesichts der Schöntuerei förmlich dahin. »Sie würde ich jeden Tag besuchen.«

»Und ich würde Sie jeden Tag herzlich in Empfang nehmen«, erwidert Schröter selbstgefällig.

Ich räuspere mich.

»Jetzt nicht, Helmut!«, faucht mich Margot an.

Natürlich nicht. Margot will die Aufmerksamkeit des smarten Allgemeinmediziners in vollen Zügen auskosten. Der Mann ist die Reinkarnation eines jungen, etwas zu schmächtig geratenen Roy Black, nur mit fisteliger Stimme und einem ausgeprägten Sprachfehler bezüglich der Zischlaute. Margot findet ihn trotzdem superb, so wie den Streichkäse, den sie bei jeder Gelegenheit in sich hineinschlingt. Schröter dagegen kommt nur zweimal in der Woche für wenige Stunden zu uns. Dann herrscht immer ein Andrang wie bei einem Konzert der Rolling Stones. Alle lechzen nach einer persönlichen Ansprache nebst Unterbrechung des Einerleis. Margot ist ganz vorn mit dabei. Wenigstens gibt es heute mal einen richtigen Grund, seine Sprechstunde aufzusuchen. Auch wenn der nicht bei ihr liegt.

»Bitte setzen Sie sich. Sie sind ja schon ganz blass um die Nase«, fordert Schröter sie auf, während er sie behutsam am Ellenbogen fasst, sie zu einem Stuhl schiebt und wie ein rohes Ei darauf platziert. Als wäre das nicht genug, fasst er noch zweimal nach, um zu prüfen, ob sie auch wirklich richtig sitzt. Ich weiß ja nicht, was der Doktor schon alles erlebt hat, aber Margot sitzt grundsätzlich fest. Dann lässt er sich quasi in Tuchfühlung zu ihr auf der Ecke seines Schreibtisches nieder, legt die Hände in seinen Schoß und schaut Margot voller Besorgnis an. »Sie müssen mir alles erzählen, werte Frau Katuschek, aber erst atmen wir ein wenig gemeinsam. Das bringt Sie wieder ins Gleichgewicht.« Er greift nach ihrer Hand und schließt die Augen, wobei er noch einmal blinzelt, um sicherzugehen, dass Margot es ihm gleichtut. Dann atmen beide vor sich hin.

Ich bleibe derweil an der Tür stehen und überlege, ob ich einfach gehen sollte. Wenn Margot wegen meiner wunden Zehen bei Doktor Schröter vorstellig werden will, dann soll sie das tun. Sie weiß ohnehin immer alles besser. Das liegt daran, dass wir verheiratet sind, seit sechsundvierzig Jahren. Ich habe das mal ausgerechnet. Das sind dreiundsechzig Prozent meiner Lebenszeit. Ich weiß nicht, ob ich meine Unmündigkeit an Jahren je wettmachen kann. Wenn ich über neunzig werde, hätte ich gute Chancen. Aber Margot müsste sterben. Vorzugsweise in den nächsten Tagen. Ich schaue sie an. Ihre Wangen leuchten so rosig wie immer. Atmen tut sie auch noch, im Duett mit dem Doktor. Wenn ich die beiden jetzt allein lasse, kann ich mein Schachspiel noch in Ruhe vor dem Mittagessen zu Ende bringen. Unschlüssig trete ich von einem Bein auf das andere. Das hätte ich nicht tun sollen. Das Brennen meiner Füße ist sogar in den Sandalen kaum auszuhalten. Meine Bewegung stört Doktor Schröter offenbar in seiner Atmung. Er hebt die Lider und schaut mich zutiefst vorwurfsvoll an. Nur kurz, aber das scheint ihm zu genügen. Ganz eindeutig zählt er mich nicht zu seiner bevorzugten Patientenzielgruppe.

»Liebe Frau Katuschek, wenn Sie dann so weit wären?«, sagt er leise und beginnt damit, Margot zärtlich über die Hände zu streicheln.

Margot ist schlagartig wieder bei sich. »Aber natürlich, Herr Doktor«, säuselt sie. »Mir geht es auch wieder viel besser.« Sie schmachtet ihn an. »Sie haben goldene Hände.«

»Ich bin wund«, sage ich mit Nachdruck, aber niemand scheint sich zu interessieren.

»Sehen Sie, Frau Katuschek«, jauchzt Schröter. »Meine Liebe. Wenn alle meine Patienten so reizende Menschen wären wie Sie.«

Margot kichert wie das junge Mädchen, das sie einmal war.

»Dennoch kann ich Ihnen ansehen, dass irgendetwas nicht stimmt. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fährt Schröter fort. »Sie machen mir doch nicht etwa Kummer?«

Margot scheint überlegen zu müssen.

»Ich brauche eine Salbe für meine Füße«, sage ich entschieden. Da Schröter mich noch immer nicht beachtet, können ihm meine in den offenen Schuhen rot leuchtenden Gliedmaßen auch nicht auffallen. Eigentlich denke ich, ein Arzt müsste so etwas ganz automatisch sehen, zumindest sollte es ihm seltsam vorkommen, wenn ein alter Mann barfuß in Sandalen umherläuft, aus denen Fetzen von Toilettenpapier hängen. Den Zellstoff habe ich zwischen meine Zehen gesteckt, um den Schmerz abzumildern.

Aber Schröter hat nur Augen für Margot. Die fällt nämlich todsicher auf sein salbaderndes Gesäusel und sein Schönlingimage rein. Ich bin noch nicht dahintergekommen, ob es der Charme unseres Doktors ist, der Margot dazu bringt, die Pillen und Salben zu kaufen, die er ihr permanent angedeihen lässt, oder ob sie wirklich an deren Verjüngungseffekt glaubt. Doktor Schröter jedenfalls zieht zweimal in der Woche bei uns im Seniorenheim gegen das Alter ins Feld. Er wird jede einzelne Schlacht gnadenlos verlieren, darauf wette ich.

»Was hat Ihr Mann denn mit seinen Füßen gemacht?«, fragt Schröter an Margot gewandt.

Meine Frau will augenscheinlich nicht über mich reden und schaut nur betreten zur Seite. Irgendwann sagt sie: »Helmut ist etwas empfindlich zurzeit. Ich denke, er bildet sich da etwas ein. Wenn er nicht regelmäßig seine Leichen hat, ist das immer so. Er wird komisch. Schneller reizbar ist er dann übrigens auch. Und desinteressiert. Nichts, worüber man beunruhigt sein müsste. Das kenne ich seit unserer Eheschließung.«

»Fußpflege«, sage ich mürrisch. »Eine militante Form. Weiter nichts.« Margot muss sich immer wichtigmachen.

Sie rümpft abfällig die Nase.

Schröter hört nicht zu. Die Leichen treiben ihn um. Das kann ich sehen. »Sagten Sie Leichen?«, fragt er mit hoher Stimme.

Margot nickt und sieht dabei nicht im Geringsten irritiert aus.

»Ihr Mann war Bestatter und er vermisst seine Arbeit?«, sagt Schröter und angesichts der Schlussfolgerung entspannen sich seine Gesichtszüge wieder. »In das dunkle Loch fallen viele Menschen, wenn sie in den Ruhestand gehen. Da hilft nur Beschäftigung. Sie ist das Allheilmittel. Der Mensch muss etwas zu tun haben. Zu meinen Patienten gehört ein Gärtner. Mit dem ersten Tag seiner Rente kam er morgens nicht mehr aus dem Bett. Jetzt pflegt er den Vorgarten meiner Praxis und ist glücklicher denn je.« Schröter scheint zu überlegen, was ein vermeintlicher ehemaliger Bestatter in einer Seniorenresidenz für Aufgaben übernehmen könnte. Damit ist das Thema für ihn beendet.

Desgleichen für Margot. Das ist mal wieder typisch. Mit einem Totengräber hat sie keine Probleme, aber für einen Polizeibeamten schämt sie sich. Ich war bei der Kripo. Neunundvierzig Jahre. Das sind 17.885 Tage. Und vierundzwanzig Mordfälle. Meine Aufklärungsquote lag bei hundert Prozent. Als Dank habe ich dafür ein Namensanhängsel bekommen. A.D., außer Dienst. Auf den ersten Blick sind das nur zwei Buchstaben. Für mich ist es der Abschied von meiner Würde, zumindest davon, was nach all den Jahren mit Margot noch übrig ist. Aussortiert und abgeschoben. Aber verflucht, alte Leute sind auch Menschen. Nur frage ich mich, warum man ohne sinnvolle Aufgabe sein muss. Heutzutage definiert sich doch fast alles über den Beruf. Nur wir Rentner stehen dumm da. Und Schröter. Der hat sogar im aktiven Dienst keine Ahnung.

»Schön, schön, liebe Frau Katuschek, wo waren wir stehen geblieben?«, sagt er nun wieder mit übertrieben fröhlicher Stimme.

»Eine Salbe. Mehr nicht«, antworte ich höflich. »Ich möchte niemandes Zeit vergeuden.«

»Sehen Sie, ich sage es ja, Helmut Katuschek ist aggressiv«, bemerkt Margot spitz. »Noch dazu lässt er sich gehen, Herr Doktor. Schauen Sie ihn doch an. Die hängenden Mundwinkel gehen überhaupt nicht wieder weg. Und die schlaffen Schultern. Alles ist irgendwie nach unten gerutscht. Ich beobachte das schon eine geraume Zeit. Wir beobachten das.«

Nach unten gerutscht? Meine Körperteile? Das Einzige, was sich im Keller befindet, ist ja wohl meine Lebensfreude. Das passiert nun einmal mit Menschen, die man gegen ihren Willen in eine sogenannte Altenresidenz sperrt und sie damit auch noch einem fragwürdigen Umfeld aussetzt. Rund um die Uhr wildfremden Leuten ausgeliefert sein zu müssen, deren Horizont bei den eigenen Gebrechen und der Konsistenz, Farbe und Häufigkeit des Stuhlgangs, vornehmlich dem der anderen, endet und die aus Wortkreationen wie Schnitzeldonnerstag nicht nur einen Höhepunkt ihres Daseins, sondern auch noch ein Dogma ableiten, das sie mit ihren Gehhilfen und den dritten Zähnen zu verteidigen bereit sind, ist nichts, was man einfach so abschütteln kann. Das prägt. Mal ganz abgesehen von diesen ganzen Vorschriften. Nicht einmal vor abgezählten Wurstscheiben machen die halt. Die Freiheit des Ruhestandes jedenfalls sieht anders aus, erst recht, wenn man über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt. Nicht für Helmut Katuschek. Der lässt sich eine horrende Summe für einen Altenarrest abnehmen. Dafür quetscht er sich mit seiner Frau in ein winziges Zwei-Zimmer-Appartement, das nun nicht mehr nur von der eigenen Gattin, sondern auch noch von dreiundzwanzig selbsternannten Sozialkontrolleuren bewacht wird.

Schröter kommt nicht umhin, mich wahrzunehmen. Immerhin hat er einen Eid geschworen. Dabei scheint er meinen maladen Zustand festzustellen, zumindest würde ich seinen betroffenen Blick so deuten. »Das tut mir sehr leid, Frau Katuschek. Aber es ist gut, dass Sie die depressive Verstimmung Ihres Mannes so zeitig bemerkt haben. Dass die Psyche etwas aus dem Gleichgewicht gerät, kommt in den späteren Jahren nicht selten vor. Die Endlichkeit des Lebens ist in unserem Alter ja förmlich greifbar. Sie steht, wenn man so will, vor der Tür und klopft an.« Nun lacht er schallend.

Schröter ist höchstens Mitte vierzig. Ich weiß nicht, was bei dem klopft, aber die Endlichkeit hört er garantiert noch nicht.

Margot scheint das Bild zu gefallen, sie fällt in sein Lachen ein. Sie lacht sogar noch, als sie weiter meine Malesten schildert. »Seit sechs oder sieben Jahren lässt mein Mann sich gehen«, fährt sie fort. »Man kann es nicht mitansehen.«

Das kann nicht sein. Wir sind erst seit fünfhundertsiebenundzwanzig Tagen hier. Vorher hatte ich halbwegs noch ein Leben, auch wenn es nur das eines Pensionärs war.

»Schauen Sie ihn sich doch an. Den ganzen Tag hockt er nur irgendwo rum und starrt vor sich hin. Neuerdings zählt er alles. Sogar die Fliesen auf unserer Toilette. Ein richtiger Tick ist das«, fährt Margot fort. »Und er spielt andauernd Schach. Manchmal denke ich, er ist schon süchtig danach.« Margot ist eine verdammt schlechte Schauspielerin und so klingt auch die Besorgnis, die sie heuchelt.

Momentan hocke ich nicht, sondern stehe auf meinen brennenden Füßen und warte auf meine Behandlung. Und was soll das mit den Fliesen? Wenn ich etwas zähle, dann die Zeit, und das auch erst, seit ich hier bin, also fünfhundertsiebenundzwanzig Tage, zehn Stunden und siebenundzwanzig Minuten. Irgendetwas muss der Mensch ja tun, auch der alte.

»Aber Schach ist doch ein ganz hervorragendes Spiel, um den Kopf zu trainieren. Und es fördert die Gemeinschaft«, bemerkt Schröter und klatscht erfreut in die Hände. »Das sollte Herr Katuschek unbedingt beibehalten.«

Das wird er.

Schröter beugt sich weit nach vorn und schaut Margot aus treuen Augen an. »Wenn er die Mahlzeiten und die Körperhygiene darüber nicht vergisst sowie hin und wieder auch mal ein paar Worte spricht, besteht keine Gefahr. Ist er darüber hinaus sozial auffällig?«

Wie bitte?

Margot schaut etwas bedröppelt drein. »Er spielt nur gegen Herbert Grusche«, entgegnet sie kleinlaut.

Schröter lächelt jovial. »Der Gegner ist egal, liebe Frau Katuschek. Allein die Beschäftigung zählt. Vertrauen Sie mir.«

»Hm. Aber Herbert ist tot«, sagt sie gequält.

Leider. Herbert kam auf den Friedhof und ich ins Heim. Ich bin mir manchmal nicht sicher, wer es besser getroffen hat.

Nun scheint selbst dem ansonsten so eloquenten Heimarzt nichts Beruhigendes mehr einzufallen. »Er spielt gegen einen Toten, sagen Sie?«, fragt er und schafft es doch tatsächlich, mir dabei ins Gesicht zu sehen. Erstaunlicherweise lässt er es dabei nicht bewenden, sondern betrachtet mich eingehend vom Scheitel bis zu den Sohlen. Bei Letzteren bleibt sein Blick dann hängen. Na endlich. Wir kommen dem Problem ein ganzes Stück näher.

Schröter lacht wider Erwarten nicht. »Das bedarf wohl einer eingehenden Untersuchung«, sagt er nachdenklich und wendet seinen Blick von mir ab. »Eine leichte Depression ist gut zu händeln, aber mit Wahnvorstellungen ist nicht zu spaßen.« Er steht auf, umrundet seinen Schreibtisch und notiert sich Helmut Katuscheks bedenklichen Geisteszustand.

»Das sage ich ja«, schluchzt Margot.

»Aber liebe Frau Katuschek, ich bitte Sie.« Schröter klingt nun wie ein Erbschleicher. »Sie wissen doch, dass wir Götter in Weiß alles in unserer Macht Stehende tun, um zu helfen.«

»Wenn ich Sie nicht hätte, Doktor Schröter«, erwidert Margot ergriffen. »Schon allein Ihre Gegenwart lässt mich meine Gebrechen vergessen.«

Wenn ich meine Salbe hätte, ginge mir das vielleicht auch so.

»Jeder Besuch bei mir macht Sie jünger, Verehrteste. Das wissen Sie doch.« Schröter lacht wie einer dieser Verkäufer auf den Shopping-Kanälen, die Margot andauernd guckt.

Margot nickt so oft, dass man Angst haben muss, es löst sich etwas. »Ich bin so froh, dass ich Sie habe«, sagt sie butterweich. »Seit ich hier in unserer reizenden Residenz wohne, fühle ich um so viel fitter und gesünder.«

Davon hat sie mir nichts erzählt. Der Pflegekasse wird das nicht gefallen.

»Ich hätte da auch noch etwas ganz Neues für Sie«, sagt Schröter mit gedämpfter Stimme und dicht an Margot herantretend. »Es soll wahre Wunder gegen das altersbedingte Wachsen der Ohren bewirken.« Er hüstelt verlegen. »Nicht dass in dieser Hinsicht schon etwas bei Ihnen zu erkennen wäre, aber…«

»…man muss vorbeugen«, ergänzt Margot eilig seinen Satz und beginnt damit, an ihrem Ohrläppchen zu zupfen.

»Wir verstehen uns«, bestätigt Schröter und tritt an seinen Medikamentenschrank, um die Ohren meiner Frau zu retten.

Nun ist es genug. »Ich möchte eine Salbe für meine Füße«, fordere ich so laut, dass es die vor der Tür Wartenden zweifelsohne mitbekommen müssen. »Und Herbert ist keine Wahnvorstellung!« Natürlich weiß ich, dass er tot ist, aber ich habe in den letzten dreißig Jahren gegen niemand anderen Schach gespielt. So eine Umgewöhnung würde ewig dauern und wäre in meinem Alter vielleicht gar nicht mehr möglich. Außerdem bin ich ihm das schuldig.

Unser letztes richtiges Schachduell, also mit einem lebenden Herbert, verlief alles andere als fair. Nach einer langen Pechsträhne stand er kurz davor, mich matt zu setzen. Aber dann wollte Margot lieber die Vorhänge für die Gästetoilette aussuchen und hat ihn gebeten zu gehen. Eine Woche später war Herbert tot. Schlaganfall. Jedenfalls ist Herbert auf der Verliererstraße unter die Erde gekommen. Dafür fühle ich mich gegenüber meinem einzigen und ältesten Freund heute noch schlecht, zumal er der eindeutig bessere Spieler von uns beiden ist. Die Ausgabe für die Gardinen war dann auch umsonst. So etwas ist im Heim nicht erwünscht. Wir haben abwaschbare Lamellenvorhänge vor den Fenstern. Das macht weniger Aufwand. Und es senkt die Suizidgefahr. Zumindest handhabt man das in den Justizvollzugsanstalten so. Die greisensicheren Kunststoffteile schlingt sich niemand um den Hals. Ich muss es wissen. Ich war bei der Kripo. Hatte ich das schon erwähnt?

»Aber verehrter Herr Katuschek«, ruft der Doktor, während er mir entgegenkommt. Offenbar hat er Sorge, dass meine Wahnvorstellungen in Aggression ausarten könnten. Man hört allenthalben von Senioren, die Hausarztpraxen zerlegen oder Pflegebetten anzünden. »Wie geht es Ihnen denn heute?«

»Meine Füße brennen wie Feuer«, sage ich.

»Hm.« Doktor Schröter fällt offenkundig nichts Klügeres ein. »Sie sind schon eine Weile unser Gast und haben doch bestimmt Freunde gefunden, nicht wahr?«, plaudert er. Da er dabei wenigstens vor mir auf die Knie gegangen ist, um meine Wunden zu betrachten, nicke ich höflich. »Sie unternehmen auch genug?«, fragt er. »In unserem Heim gibt es viele Freizeitbeschäftigungen. Die sollten Sie nutzen.«

»Alles. Wir machen alles mit«, beeilt sich Margot eilig zu sagen, um ein leises »Ich zumindest« nachzuschieben. »Und wir gehen dreimal in der Woche zur Fußpflege.« Sie nickt gewichtig. »Für die Gesundheit.«

»Aha«, sagt Schröter gedehnt, während er mir die Schuhe auszieht und das Klopapier entfernt. »Die Haut ist ganz dünn und gereizt. An manchen Stellen nässt sie sogar«, diagnostiziert er. »Das war etwas zu viel Pflege.« Er richtet sich auf und schaut Margot streng an. »Sie gehen die nächsten zwei Wochen ohne Ihren Mann zur Pediküre.« Er hält kurz inne. »Nein, vier wären sogar noch besser.«

»Was?« Margot lässt ihre Hand zum Herz fahren und reißt die Augen weit auf. »Das ist unmöglich!«, insistiert sie. »Ich brauche meine Behandlung. Ich war Postzustellerin und was meine Füße da erleben mussten…« Sie winkt ab. »Wenn ich in den nächsten Jahren noch sicher auf meinen Beinen stehen will, muss ich auf mich achten.«

Margots Postzustellerkarriere beschränkte sich auf halbe Tage und dauerte nicht länger als ein paar Jahre. Was in der Zeit mit ihren Füßen passiert sein soll, ist mir schleierhaft. Danach war sie lediglich eine Kriminalhauptkommissarsehefrau mit Dünkel.

»Außerdem«, entfährt es ihr. »Wie soll ich denn herumlaufen? Nächste Woche wird das Haus voller Gäste sein. Die Heimleitung hat zum Tag der offenen Tür eingeladen. Die halbe Stadt wird bei uns sein. Das ist der Höhepunkt des Jahres. Noch dazu obliegt mir eine wichtige Aufgabe. Wie Lennox Bergmann mir versichert hat, bin ich, also sind die Bewohner die Werbeträger. Stellen Sie sich mal vor, da guckt jemand auf meine Füße.«

»Ich rede von Ihrem Mann, meine Liebe. Er wird mindestens zwei Wochen aussetzen«, antwortet der Doktor nun mit der Strenge eines Kindergartenonkels. »Und Sie werden am Tag der offenen Tür ganz reizend aussehen, wie an allen anderen auch.«

Wenn sie das mal schluckt.

Margot bekommt leicht rote Wangen. Das bedeutet, Schröter hätte dicker auftragen müssen. »Das ist unsere Paarzeit, die brauchen wir«, kreischt sie im nächsten Moment, als hätte man ihr die Handtasche entrissen. »Gemeinsame Aktivitäten stärken eine Beziehung. Man gerät ja so schnell in die Mühlen des Alltags und irgendwann verliert man sich darin. Das kann ich nicht zulassen, Herr Doktor. Die Eheleute Katuschek brauchen ihre Fußpflege.«

Margot braucht ihre Fußpflege. Ich bin erst dazugekommen, nachdem sich meine Frau mit ihrer Busenfreundin Hannelore überworfen hatte und es ihr zu peinlich war, allein im Kosmetikraum zu sitzen. Ich bin lediglich ihr podologischer Lückenbüßer, dafür habe ich mir meine wöchentliche Fußballauszeit im Fernsehzimmer ausbedungen. Wenn ich meine Füße so ansehe, bin ich sicher, dass ich schlecht verhandelt habe, aber Margot war schon immer der skrupellosere Geschäftemacher von uns beiden.

»Es spricht nichts dagegen, dass Ihr Mann Sie begleitet, aber eine Behandlung scheidet aus«, erklärt Schröter mit ruhiger Stimme. »Da die Haut Ihres Mannes sehr empfindlich zu sein scheint, sollten Sie vielleicht erwägen, sich ein gänzlich neues gemeinsames Hobby zu suchen.«

»Siehst du, Helmut Katuschek, der Herr Doktor Schröter hält dich auch für empfindlich«, schlussfolgert Margot trotzig, ohne sich mir zuzuwenden. »Ganz wie ich es immer sage.«

Schröter lächelt wissend und für einen kurzen Moment scheint er die Tube aus seinem Medikamentenschrank doch tatsächlich Margot geben zu wollen. Dann besinnt er sich und übergibt sie mir. »Zweimal täglich und achten Sie darauf, dass Luft an Ihre Füße kommt. Das hilft.«

Ich nicke.

»Wegen der anderen Sache«, fährt er mit nach vorn geneigtem Kopf fort, wobei er mir tief in die Augen schaut, »kommen Sie bitte nächste Woche in meine Sprechstunde. Ich möchte ein paar Tests vornehmen.« Als ich nicht auf ihn reagiere, ergänzt er noch: »Alles ganz harmlos. Ich möchte nur Schlimmeres ausschließen können. Und Ihre Frau muss doch auch sicher sein, dass es Ihnen gut geht.«

»Kann ich Herbert mitbringen?«

***

Mit dem Geschlechtsverkehr ist es kompliziert. Ganz besonders in einem Seniorenheim. Dabei denke ich nicht an die sich im fortgeschrittenen Alter einstellenden körperlichen Ausfallerscheinungen. Das sind nur Gerüchte. Es sind die Chancen, die die Sache erschweren. Das Angebot für einen Mann ist schlichtweg zu groß, als dass man damit zurechtkommen könnte. Nicht für mich. Ich bin verheiratet. Noch dazu mit Margot. Das bedeutet, ich bin doppelt aus dem Rennen. Wenigstens bleibt mir der Stress damit erspart.

»Woran denkst du?« Margots scharfe Stimme unterbricht meine Überlegungen.

»An nichts«, antworte ich und frage mich, ob ich mich nach Margots Ableben auch noch mal ins Getümmel stürzen würde. Immerhin ist eine zweite Chance keine Frage der Lebensjahre. Möglicherweise kann eine glückliche Partnerschaft sogar ein Lebensinhalt sein.

»Doch! Du denkst etwas«, widerspricht sie mir und schiebt ihren runden Hintern unruhig über die Sitzfläche ihres Stuhls. Ich habe nichts gegen pummelige Frauen, aber die körperliche Entwicklung, die Margot seit unserer Ankunft im Greisen-Sing-Sing nimmt, gibt mir zu denken. Da hätte Doktor Schröter mal hinschauen sollen. Jünger und fitter. Ich würde es eher Streichkäseadipositas nennen. Stattdessen kümmert er sich um ihre hängenden Ohrläppchen. Heutzutage lässt sich offenkundig mit allem Geld verdienen.

»Tue ich nicht«, widerspreche ich.

»Das glaubst du doch selbst nicht«, entgegnet Margot zunehmend gereizt.

Margot weiß immer alles. Aber anstatt ihr recht zu geben und zu offenbaren, dass ich über mein Dasein sinniere, was so viel Charme hätte, wie gegen den Fahrtwind zu spucken, behelfe ich mich lieber mit einer Notlüge. Margot würde ohnehin nichts von Sexualität hören wollen, und selbst wenn, würde sie mir nur wieder mit meinen Wahnvorstellungen kommen.

Wie bin ich überhaupt auf alle diese Gedanken gekommen? Ach so. Das muss an Rolf Jürgen gelegen haben. Der mit weit über neunzig Jahren älteste unserer Mitbewohner sitzt in der Reihe direkt vor mir und es bleibt mir leider nicht verborgen, wie er unentwegt seine Zunge in das Ohr der links neben ihm sitzenden Gertrude aus Appartement zwölf schiebt, während seine Hand nach dem Verschluss des Büstenhalters von Auguste zu seiner Rechten sucht. Ich sage es ja, das mit dem Geschlechtsverkehr ist kompliziert. Für Rolf Jürgen zumindest. Obwohl er verheiratet ist, nimmt er es mit dem Eheversprechen nicht so genau. Seine Frau Uschi vermutlich auch nicht. Sonst hätte sie ihn kaum hier abgegeben, vor allem ohne ihm wenigstens an den Feiertagen einmal einen Besuch abzustatten. »Ich konzentriere mich auf den Vortrag«, flüstere ich und tue so, als säße ich einfach nur da.

»Tust du nicht«, entgegnet Margot. »Du grübelst und ich vermute, es geht um nichts Nettes. Ich sehe es an den Falten zwischen deinen Augen.«

Ich unterdrücke den Reflex, an die Stelle zu fassen, und schweige. Wir sitzen inmitten eines Auditoriums von dreiundzwanzig neugierigen alten Leuten und ich werde einen Teufel tun, mich zu erklären. Noch dazu, da es nichts zu erklären gibt. Ich schweife in letzter Zeit immer mal wieder in Grübeleien ab, nichts Wichtiges. Meistens passiert mir das, wenn die Heimleitung zu irgendeiner Gemeinschaftszusammenkunft ruft, wir beim Essen sitzen, Ausflüge machen… Das ist reine Vorsorge, denn wenn ich nachdenke, schlafe ich nicht ein. Nichts ist peinlicher als ein älterer Herr, der in der Öffentlichkeit mit herunterhängendem Kopf schnarchend auf sein Revers sabbert.

»Gib es wenigstens zu!« Margot wird lauter. Offenkundig langweilt sie sich auch bei dem, was unsere Heimleitung da vorn zu verkünden hat. »Deine Falten verraten dich.«

»Herrje!«, seufze ich ungehalten. Ich bin dreiundsiebzig Jahre alt. Wo an meinem Körper befindet sich noch eine glatte Stelle? Aber Margot kann das nicht wissen. Und ich schaue einfach nicht mehr so genau hin.

»Helmut Katuschek! Du bist unhöflich«, insistiert Margot erneut. »Wir merken das genau.«

Ich weiß nicht, was während eines Vortrags unfreundlicher ist, ein still dasitzender älterer Herr in offenen Latschen und mit klopapierumwickelten Zehen oder eine dicke, permanent dazwischenkeifende Frau? Aber wir werden das jetzt nicht klären. Wir? Jetzt fange ich auch schon damit an. Margot nutzt dieses Fürwort neuerdings nur noch. Alle im Heim reden so.

»Das muss mit deinem letzten Fall zu tun haben. Der Mord in diesem Armenviertel.« Ihre Nasenlöcher weiten sich wie immer, wenn sie sich über andere erhebt. Ich muss sie dafür nicht einmal ansehen. Ich weiß es auch so. »Erinnerst du dich?«, redet sie in einer Lautstärke weiter, als säßen wir noch in unserem Eigenheim beim Sonntagsfrühstück. »Das war der Mann mit dem eingeschlagenen Schädel. Der war noch so jung. Ich glaube, das hat dich mitgenommen.«

Ich glaube, Margot verwechselt mein Berufsleben mal wieder mit einer der Krimiserien, die sie im Fernsehen sieht. Ich jedenfalls kenne kein Armenviertel und den letzten eingeschlagenen Schädel, mit dem ich zu tun hatte, gab es an einer Tankstelle. Das muss nun gute zwanzig Jahre her sein oder sind es fünfundzwanzig? Jetzt bin ich a.D. und hier eingemottet. Seither fühle ich mich wie im Sarg, nur dass der Deckel noch offen ist. Und dass meine Füße brennen. Womöglich hat Schröter etwas verwechselt und ich schmiere mir Schlappohrenfaltencreme zwischen die Zehen. Er verjüngt mich quasi von unten her. »Hm.« Mein lang gezogenes Seufzen bringt Margot wieder auf den Plan.

»Aha, wusste ich es doch. Einer Ehefrau kann man eben nichts vormachen«, jubiliert sie. »Es sind die unaufgearbeiteten Berufserlebnisse, die dir zu schaffen machen.« Sie nickt wissend. »Das rächt sich irgendwann, vor allem wenn man in einem Stadium angekommen ist, in dem das Leben nur noch aus wunderbar saumseligen Tagen ohne Stress und Verpflichtungen besteht. Der Ruhestand ist eben eine Phase der Aufarbeitung. Doktor Schröter sagt das auch. Ich habe vorhin noch lange mit ihm über dich gesprochen.«

Ich weiß nicht, von wessen Tagen sie spricht. Meine jedenfalls sind es nicht. Und Margots Tage haben noch nie großartig anders ausgesehen. Ihre Stippvisite bei der Post zählt wohl kaum. Daran kann sie sich selbst nur vage erinnern. Es sei denn, sie braucht einen Grund, um mir die unverschämten Summen für ihre Fußpflege aus dem Kreuz zu leiern. Im Ruhestand wird nun mal alles aufgearbeitet, auch die Füße. Und die Ohrläppchen. Welchen Sinn sollte das haben, mit einem Fuß schon im Hades? Wenn der Deckel zugeht, fragt kein Schwein mehr danach. Was für ein heilloser Blödsinn! Ich verkneife mir eine Reaktion und sage stattdessen, was einem erfahrenen Ehemann zum Frieden gereicht. »Hm.«

»Ach, das ist also deine Meinung dazu!«, wettert Margot.

»Hm.«

»Psst. Psst.« Hannelore, Margots Ex-Freundin, sitzt zwei Reihen vor uns und scheint sich an Margots Gequatsche zu stören. Damit das auch alle mitbekommen, begnügt sie sich nicht nur mit diesen Zischlauten, sondern dreht sich auch noch zu uns um und macht seltsame Drohgebärden mit ihren Händen. Ich für meinen Teil habe noch nie gesehen, dass Hannelore derart gelenkig ist, geschweige denn, dass sie sich überhaupt bewegt, aber auch in einem Seniorenheim wird man noch überrascht.

»Die muss sich wieder wichtig haben«, kommentiert Margot naserümpfend. Dabei schlägt sie vornehm ein Bein über das andere, beugt sich, vermutlich um Aufmerksamkeit zu demonstrieren, leicht nach vorn und hebt das Kinn. Das scheinbare Interesse hält nicht lange an. »Sie trägt schon wieder diese abgeranzte alte Strickjacke«, sagt sie, wenig bemüht, ihre Lautstärke zu drosseln. Dann brechen alle Dämme und sie sorgt dafür, auch in einer Welt aus Greisen von jedem hervorragend verstanden zu werden. »Die Mottenlöcher in dem Lumpen sehe ich von hier. Ich würde mich schämen, so herumzulaufen.«

Hannelores Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Sie dreht sich erneut um, aber anstatt etwas zu sagen, bläht sie nur die Wangen auf und wackelt behäbig mit dem Kopf. Wie ich immer sage, Alter und erwachsenes Benehmen gehen nicht zwangsläufig zusammen. Gegen die benimmtechnischen Auswüchse der Bejahrtheit ist die Pubertät ein Scheißdreck. Dass Hannelores Mimik eine Anspielung auf Margots Sucht nach Streichkäse und dessen Folgen ist, versteht sogar Rolf Jürgen. Er lässt kurzzeitig von seinen Gespielinnen ab, schnalzt lüstern mit der Zunge und macht aufdringliche Greifarme in die Luft. »Die Fetten liegen am besten unten. Dann geht es richtig ab.«

Ich verstehe, was er meint, wünsche mir aber, er hätte diese Weisheit für sich behalten. Margot, deren Selbst- und Fremdwahrnehmung in diesem und auch in so einigen anderen Punkten ganz und gar nicht zusammengehen, ist kurz vor dem Platzen. Dass eine solche beleidigende Anspielung ausgerechnet noch von ihrer einstigen Busenfreundin Hannelore kommt, trifft sie besonders.

»Ich glaube, Frau Hannelore kränkelt etwas. Ihr Gesicht ist ganz entstellt. Ist das die hässliche Fratze der Boshaftigkeit?«, säuselt Margot bittersüß.

Hannelore ergeht sich, ohne Margot weiter zu beachten, in einem hochnäsigen kratzigen Lachen. Sie wirkt damit deutlich souveräner als die gekränkte Margot.

Mir entfährt ein tiefer Seufzer, wohl ein wenig zu laut, wie ich umgehend feststellen muss.

»Herr Helmut, gibt es ein Problem?« Lennox Bergmann, der aalglatte und überengagierte Assistent der Heimleitung, fühlt sich hörbar in seinen Ausführungen zu den neuen Brandschutzregeln gestört.

Von mir. Natürlich. Von wem sonst? Wenn ich dem Bürschchen meine Probleme aufzählen würde, müsste er zum psychologischen Dienst. Ich zucke nur mit den Schultern. Selbst für diese unschuldige Geste ernte ich mitleidige Blicke. Sie kommen von Jutta, die zwei Stühle neben mir sitzt. Die Plätze zwischen uns mussten frei bleiben. Margot hat darauf bestanden. Sie denkt, Jutta hat es auf mich abgesehen, und hat Vorsorge getroffen. Dass Jutta eine ganze Latte Ex-Ehemänner vorweisen kann, ist ihr wohl unheimlich. Ich schätze, Margot hält Jutta für nicht besonders wählerisch.

»Unser Helmut ist nicht auf dem Posten«, höre ich Jutta zu ihrer Sitznachbarin, Frau Doktor Böttcher, hinüberraunen. »Und wie blass er schon wieder ist.« Ihre Sorge gipfelt in einem schweren Ausatmen, das mich trotz Entfernung daran erinnert, dass wir heute Soljanka hatten. Es ist Suppenmittwoch, natürlich. Jutta hätte sich jedoch die Paprikastückchen heraussortieren sollen.

»Wer?«, fragt die Frau Doktor arglos und schaut mich an, als hätte ich ihr Schmierseife auf die Türklinke geschmiert. Dabei fällt mir auf, dass sie heute irgendwie größer als sonst wirkt. Das dicke Telefonbuch, auf dem sie sitzt, ist die Erklärung dafür. Das Teil bildet so etwas wie eine Signalleuchte für die geistige Verfasstheit der Frau Doktor, ist es am Start, sind ihre Lichter aus.

»Na, unser Helmut da drüben«, wiederholt Jutta geduldig, obwohl ihr klar ist, dass dies in der Phase, in der sich die Frau Doktor gerade befindet, absolut sinnlos ist. Ihr Gehirn gönnt sich hin und wieder einmal eine kleine Pause. Ich denke, das kann passieren, vor allem da es nun fast achtzig Jahre in Dauerbetrieb ist. Ihr Sohn hatte nicht so viel Verständnis für den Lauf der Natur. Deswegen wurde Frau Doktor ebenfalls hier kaserniert.

»Ach, Karl Heinz«, entgegnet Doktor Böttcher, widmet sich dann aber schleunigst wieder dem vorn redenden Lennox. »Der war noch nie besonders ansehnlich.«

Karl Heinz, ihr lange verstorbener Mann, ist so etwas wie das andauernde Faktum im zeitweise verschwommenen Hirn der Frau Doktor. Seltsamerweise verwechselt sie mich häufiger mit ihm. Ich weiß nicht, ob mir das schmeicheln sollte, immerhin zeigt es doch eine gewisse Nähe zwischen uns. Allerdings war Karl Heinz zeit seines Lebens ein notorischer Fremdgänger, eine Charakterschwäche, die einem Mann ganz und gar nicht zum Vorteil gereicht. Wenn die Frau Doktor mich in eine solche Schublade stecken würde, wäre mir das äußerst unangenehm. Ich habe Margot nicht ein einziges Mal betrogen. Obwohl ich sicherlich Chancen gehabt hätte. Ein gestandener Kriminalbeamter kommt an bei den Frauen. Wenn ich es mir recht überlege, richtig gefragt hat mich allerdings keine. Erst recht nicht die Frau Doktor. Ausgeschlossen. Sie ist als Koryphäe der Rechtsmedizin nicht nur eine langjährige, äußerst geschätzte Kollegin, sondern aktuell auch so etwas wie mein einziger Lichtblick in diesem Ghetto des Verfalls. Jedenfalls hätte ich ohne ihr überraschendes Auftauchen längst einen Ausbruchsversuch gewagt. Dass ihr Kopf sie hin und wieder im Stich lässt, kann ich verschmerzen. Doktor Olga Böttcher bildet auch noch mit halber Kraft die intellektuelle Speerspitze unseres Siechenhauses.

»Vielleicht möchten Sie nach vorn kommen, Herr Helmut, und die Präsentation übernehmen«, sagt Lennox Bergmann in seinem typisch schmierigen Ton und mit schulmeisterhafter Pose. »Das wäre bestimmt informativer als meine Ausführungen.«

»Ach, wie süß unser Lenni aussieht, wenn er sich ärgert«, freut sich Jutta kindisch. »Das lässt ihn gleich viel erwachsener wirken. Ich glaube, ich sollte ihm das mal sagen. Das hilft ihm bei seiner Entwicklung.« Hatte ich erwähnt, dass Jutta bei uns im Heim so etwas wie die Übermutter ist, noch dazu eine esoterisch angehauchte? Ich für meinen Teil führe ihre ganzen Scheidungen darauf zurück. Die Frau ist schlichtweg anstrengend, egal in welcher Mondphase wir uns befinden. Aber man muss mit den Kräften arbeiten, die man zur Verfügung hat. Jutta jedenfalls ist im Großen und Ganzen passabel. Zumindest ist sie hilfsbereit und sie kümmert sich ganz reizend um die Frau Doktor. Ich hätte mich diesbezüglich auch stärker eingebracht, schon aus alter Verbundenheit, aber Margot sieht das nicht gern. Sie meint, das ginge dann von unserer Zeit ab. Und die ist, seit Hannelore verbannt ist, eigentlich immer.

»Genau! Helmut muss ran!«, schreit Rolf Jürgen. »Dann hören wir wenigstens mal etwas Interessantes, über Nutten oder so. Helmut kennt sich doch in diesem Milieu aus und kann sicherlich so einige Schweinereien berichten.« Er kichert wollüstig.

Hannelores fieses Krächzen erfüllt den Raum.

Mein Schienbein schmerzt von dem Tritt, den Margot mir versetzt. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Jeder hier weiß, dass ich von Amts wegen gefragt bin. Nur Margot muss immer ein Drama aus meinem Beruf machen. Er ist ihr peinlich. Wegen der Leute. Die denken nämlich, dass die Kriminellen auf den Katuschek abgefärbt haben. Das Umfeld formt den Menschen, das waren Margots Worte. Zwangsläufig. Nach ihrer zementierten Logik müssten alle Ärzte über einen miesen Gesundheitszustand verfügen, alle Seniorenbetreuer alt sein. Da haben wir es wieder. Das Erste, was mir einfällt, sind Kranke und Alte. Das Umfeld…

»Also ich frage mich wirklich, wie man bei einem so hochkarätigen Wissenschaftskongress den Zeitplan derartig aus den Augen verlieren kann«, meldet sich die Frau Doktor mit durchdringender Stimme. »Ich warte seit einer geschlagenen Stunde auf meinen Vortrag über die Langzeitfolgen von Antiepileptika und Alkohol auf die männliche Libido. Unter diesen Umständen bin ich nicht bereit, Sie meine Erkenntnisse wissen zu lassen.«

Ich frage mich, ob Karl Heinz an Epilepsie erkrankt war.

»Jetzt ist Ruhe, verdammt! Wie oft soll ich es denn noch sagen? Zeit ist Geld!« Der niedliche Lenni, wie ihn die Frauen hier alle nennen, hat sich mal wieder nicht unter Kontrolle. Schon allein unsere reine Anwesenheit macht ihn wahnsinnig. »Herr Helmut, von Ihnen hätte ich durchaus mehr Disziplin erwartet. Sie als Beamter. A.D.« Bei den letzten beiden Buchstaben grinst er dreist.

»Ich auch!«, stimmt Margot ihm wichtig nickend zu.

Da stehe ich drüber. Und überhaupt, was soll das heißen, Zeit ist Geld? In einem Seniorenheim? Lachhaft. Selbst wenn ich heute das Zeitliche segne, muss ich den ganzen Monat voll bezahlen. Und wir haben erst den Vierten. Dann kann ich auch warten und die Verdammnis auskosten. Wenn es nach Bergmann ginge, müsste der Laden hier deutlich effizienter laufen. Und mit mehr Disziplin. Ich glaube, in der Armee wäre er gut aufgehoben gewesen. Stattdessen sieht er tagtäglich uns, einen unmotivierten und tatenlos herumhängenden Haufen, dessen Interessen sich auf die Mahlzeiten und das TV-Programm konzentrieren. Ich glaube, er hält uns alle für Sozialschmarotzer. Sollte er jemals hier den Hut aufhaben, worauf er meines Erachtens sehnlichst wartet, schickt er uns alle zum Betteln in die Stadt. Ob das funktioniert, wage ich allerdings zu bezweifeln. Heutzutage hat man mit jedem verlausten, tollwütigen Waschbären mehr Mitleid als mit dem Alter. Mein Blick fällt erneut auf Rolf Jürgen. Immerhin ist er noch etwas breiter als der Rest aufgestellt. Und er hat das mit dem Verschluss des Büstenhalters nun gedeichselt. Anerkennenswert bei der Arthrose. Aber so etwas zählt ja bei Lennox Bergmann nicht.

»Wir wollen erst einmal unsere neuen Mitbewohner begrüßen«, mischt sich Frau Mehltau, unsere Heimleiterin, sichtbar peinlich berührt ein. Sie schämt sich, wenn Bergmann über das Ziel hinausschießt, aber sie verfügt nicht über die Traute, ihn in die Schranken zu weisen. »Dann können wir gern über alles reden, Herr Rolf Jürgen. Versprochen.« Während sie spricht, hält sie die Hände gefaltet, wie jemand, der inständig hofft, dass die ihr Anvertrauten alles im ersten Durchgang mitschneiden und niemand aufmuckt. Das macht sie immer. Konflikte kann sie nämlich nur schwer aushalten. Renitenz auch nicht. Das jedoch liegt nicht, wie bei ihrem jungenhaften Stellvertreter, an Überheblichkeit oder Desinteresse. Frau Mehltau möchte schlichtweg, dass wir alle rundherum glücklich und zufrieden sind. Ganz so wie die Leute auf den Fotos ihres Werbeprospektes. Eine schöne, heile Welt der Grauköpfe zwischen Volksmusik, Stützstrümpfen und Streichkäse mit Tomatengarnitur.

»Aber nur, wenn meine Interessen auch noch bedient werden«, erklärt Rolf Jürgen mit Vehemenz. »Permanent müssen wir unsere Zeit mit eurem Gelaber verschwenden. Wen interessiert denn die neue europäische Brandschutzordnung? Wenn die Hütte hier in Flammen steht, müsst ihr uns rausholen. Das ist mal Fakt. Warum soll ich dann ewig darüber reden? Ich will jetzt was zu dem Tag der offenen Tür nächste Woche hören! Stellen sich da auch neue Frauen vor? Haben wir bei der Auswahl ein Mitspracherecht? So was muss man doch vorher klären.«

»Lieber Herr Rolf Jürgen«, antwortet Lennox Bergmann überheblich. »Das war unser erster Tagesordnungspunkt. Dazu wurde bereits alles gesagt. Vierzehn Uhr geht es los, alle haben sich im Park oder den Gemeinschaftsräumen bereitzuhalten und auf Nachfrage den positiven Grundgedanken unserer Einrichtung zu verbreiten.«

Frau Mehltau schaut betreten zur Seite.

Ich glaube, jede Sekte lässt die Zügel lockerer als ein deutsches Seniorenheim.

»Und was ist nun mit der Beschau?«, hakt Rolf Jürgen nach.

»Nichts«, entgegnet Bergmann kurz. »Zwei Sätze noch zu den neuen Brandschutzbestimmungen…«

»So eine Zeitverschwendung«, schimpft Rolf Jürgen. »Habt ihr mal daran gedacht, dass wir alle morgen früh einen Zettel am Zeh haben könnten? Eine verdammte Rücksichtslosigkeit ist das. Vorhin habe ich zehn Minuten auf dem Klo gesessen, bevor mir jemand wieder meine Hose angezogen hat. Geschlagene zehn Minuten! Was hätte ich in der Zeit alles bewegen können?« Er schaut lüstern erst zu der einen und dann zu der anderen Dame, die er im Arm hält, was beide mit einem sehnsüchtigen Lächeln quittieren.

Ich weiß, wie lange Rolf Jürgen mit seinem Rollator von seinem Zimmer bis in den Speiseraum braucht, und bin optimistisch, dass er in den paar Minuten nicht allzu viel verpasst hat.

Frau Mehltau läuft angesichts von Rolf Jürgens Vorwürfen knallrot an, dennoch nickt sie. »Sie sind gleich dran, Herr Rolf Jürgen«, verspricht sie mit einem unsicheren Blick in Richtung ihres Assistenten.

»Einwandfrei!«, jubiliert der Greis und macht sich wieder an den Ohren der Damen zu schaffen.

Ich sehe im Augenwinkel, wie Peter Bause, unser dümmlicher Auszubildender, angewidert das Gesicht verzieht. Für ihn, der eine ausgeprägte Altenphobie hat, muss der Anblick der reine Ekelporno sein.

»Nachdem der liebe Herr Helmut sich nicht äußern möchte, werde ich fortfahren«, meldet sich Lennox wieder zu Wort. Er lässt es sich dabei nicht nehmen, mir einen hochnäsigen Blick zuzuwerfen.

Ich mache mir nichts aus der Provokation. Das Bürschchen soll erst einmal eine Frau finden. Dann wird er schon am eigenen Leib erfahren, dass man diesen Teil der Menschheit nicht unter Kontrolle halten kann. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen, vor allem bevor er andere verurteilt. Ich lächle ihm wissend zu und mache eine gönnerhafte Geste.

»Nun, meine lieben Bewohnerinnen und Bewohner unserer reizenden Residenz«, hebt Bergmann schwulstig an. Er hat sich wieder heruntergeregelt. Mal sehen, wie lange das anhält. »Nach den Formalitäten, die zweifelsohne wichtig sind, komme ich nun zum letzten Tagesordnungspunkt unserer heutigen Heimversammlung– den Neuzugängen. Darf ich Ihnen vorstellen: Frau Elwira und Herr Bert Bo!« Er lächelt angestrengt und breitet die Arme aus wie Dieter Thomas Heck, wenn er einen Star angesagt hat. Dabei springen einen die Eurozeichen in seinen Augen förmlich an. Optimale Auslastung bei gleichem Einsatz würde er es wohl nennen. Ich sage, zwei weitere bedauernswerte Gestalten, die es nicht besser wissen und dafür auch noch löhnen müssen.

Applaus tost durch die Reihen. Dass die beiden Plätze nur frei geworden sind, weil zwei andere gegangen sind, bleibt selbstverständlich unerwähnt. Die Realität will keiner hören, nicht einmal im Alter.

»Da sind sie endlich!«, schreit Jutta, als hätte sie händeringend auf die Ankunft der zwei Neuen gewartet. In ihrem besonderen Fall möchte ich das gern glauben. Wie gesagt, Jutta liebt die Abwechslung. Das unterstreicht sie mit einem wilden Klatschen und dem Trampeln ihrer Füße.

Das ist laut genug, um Rolf Jürgen auf den Plan zu rufen. Er erhebt seinen dürren Hintern vom Stuhl und macht einen langen Hals. Zweifelsohne hat er den Frauennamen aufgeschnappt und hofft auf eine Frischfleischparade.

Ehe Lennox Bergmann noch einmal Luft holen kann, springt in der ersten Reihe jemand auf und wendet sich mit zur Decke gestreckten Armen an das Publikum. Die Person, die ihren Auftritt sichtbar genießt, hat einen auffallend knabenhaften kleinen Körper und streng zu einem Dutt zusammengebundene blonde Haare. Sie trägt einen pinkfarbenen Markenjogginganzug und dazu Gesundheitsschuhe. Mit ihrem Gesicht macht sie jedem chinesischen Faltenhund Konkurrenz, wenn man sich dessen angeborenen gutmütigen Gesichtsausdruck wegdenkt. Das Wesen, das uns da gerade aufgeschlossen und überaus selbstbewusst mustert, vernichtet seine Gegner durch das Zusammenkneifen seiner Pobacken, im übertragenen Sinne. Ich vermute, dass es sich dabei um Frau Elwira handelt. Der pinke Aufzug spricht dafür, auch wenn das heute kein sicheres Kriterium zur Geschlechtserkennung mehr ist. Rolf Jürgen ist da schon ein besserer Gradmesser. Er hat bei ihrem Auftauchen so intensiv durch die Zähne gepfiffen, dass seine Haftcreme kapitulierte. Das Testosteron hat also quasi seine Gebissprothese zu Boden befördert, worauf Gertrude und Auguste sich förmlich darum schlagen, sie ihm aufheben zu dürfen, was beiden nicht so recht zu gelingen vermag.

Ich muss feststellen, dass das Buhlen zweier Frauen um einen Mann im Alter interessante Formen annimmt. Dass es einmal entscheidend sein könnte, wer dem Angebeteten am schnellsten die Zähne reicht, gehört wohl zur Absurdität des Lebensabends. Frau Elwira allerdings scheint über eine bemerkenswerte Auffassungsgabe zu verfügen. Sie eilt herbei, drängt Rolf Jürgens Verehrerinnen durch eine zackige Bewegung mit dem Ellenbogen unsanft zur Seite und bückt sich so schnell und beweglich unter seinen Stuhl, dass einem schon vom Zuschauen schwindelig werden kann. Die Facetten des Alters sind vielfältig, muss ich zu meinem Erstaunen feststellen. Womöglich könnte es interessant sein, was der liebe Gott dieser Elwira im Austausch für ihre Fitness abgenommen hat. Nichts im Leben ist nun mal umsonst, aber eigentlich muss ich es auch nicht wissen. Mein Interesse an meinen Mitmenschen ist mittlerweile ohnehin am Nullpunkt angekommen. Rolf Jürgen jedenfalls ist schwer beeindruckt. Während er brünstig sein Gebiss einschmatzt, hat er längst von seinen beiden Nachbarinnen abgelassen. Elwira braucht nun seine komplette Aufmerksamkeit.

Die ist wie ein Pfeil wieder nach vorn verschwunden und weist Bergmann mit scharfen Ansagen in die Bedienung seines Notebooks ein. Kurz darauf verschwindet die mir hinlänglich bekannte Startseite der Präsentation »Wir freuen uns auf eine harmonische Zukunft«, der Verhaltenskodex unseres Heimes, die wir jedes Mal geboten bekommen, wenn es Neuzugänge gibt. Schließlich müssen die Fremden wissen, wie sie sich in der Einlaufkurve zum Hades zu benehmen haben. Dass man ihnen diese Regeln nicht einfach in einem Schnellhefter überreicht, sondern immer und immer wieder alle Bewohner in die Lehrstunde einbezieht, hat für mich nur den einen Zweck: Man will unseren Willen brechen. Denn steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein. Aber da haben sie die Rechnung nicht mit dem Senium gemacht. Ein lückenhaftes Kurzzeitgedächtnis kann auch ein Segen sein. Für alle anderen ist die Schwerhörigkeit noch immer ihre schärfste Waffe. Was mich angeht, ich höre einfach nicht zu. Eine Verhöhnung dieses Ausmaßes verlangt förmlich nach Widerstand. In einer Verwahranstalt mit dem Markenzeichen Ü70 von Zukunft zu sprechen, lässt sich an Häme kaum überbieten. Aber da sieht man es mal wieder. Wir Alten taugen in dieser Gesellschaft nur noch für Spott. Dass man den in diesem Fall auch noch mit dem Bild eines Trockenblumenstraußes garniert, setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Trockenblumen für das Friedhofsgemüse. Das allein genügt, um diesen Aufenthalt hier abzubrechen, käme diese Option infrage. Selbstverständlich habe ich das erwogen. Aber da Margot auf ihr luxuriöses Leben besteht, würde meine Pension lediglich für ein Männerheim in der Bahnhofsgegend reichen. Wenn es hart auf hart kommt, werde ich diesen Schritt wohl gehen. Komfortabler wäre es natürlich, wenn Margot stirbt, also rein pragmatisch gedacht. Statistisch gesehen ist das unwahrscheinlich, aber die können sich auch mal irren. In letzter Zeit komme ich auf Ideen. Also wirklich! Wenigstens bleibt uns nach alledem, was da vorn jetzt gerade geschieht, Bergmanns langweiliger Vortrag erspart.

Ein quietschbuntes Bild taucht an der Wand auf, das wie ein Feuerwerk anmutet. Die Neue hat tatsächlich auch etwas vorbereitet. Unschlüssig, wie ich diese Art des Engagements finden soll, lese ich den Titel: »Elwira Kowalski. Leben. Arbeit. BMI.« Ich habe noch nie eine Biografie präsentiert bekommen, die den Body-Mass-Index einbezieht, aber ich bin auch schon lange über die Zeit und womöglich ist das Gewicht heute so etwas wie früher der IQ. Dann schaue ich in das schwarz-weiße Gesicht eines kleinen Mädchens, das auf einem Jungen kniet und ihn mit einem Expander zu erwürgen scheint.

»Was soll das denn werden?«, kommentiert Margot, die bekanntermaßen mit jedem ein Problem hat, der ihre Aufmerksamkeit einfordert. »Wieso bekommen wir nicht den anderen Vortrag zu sehen? Und seit wann dürfen sich Neuankömmlinge so hervortun? Und das auch noch mit so komischen Sachen?«

»Ruhe! Die Mausi hat etwas zu berichten«, kontert Rolf Jürgen mit durchgedrücktem Kreuz und nach vorn gestrecktem Kinn. »Vielleicht hat sie auch Nacktfotos dabei.«

Das würde mir entschieden zu weit gehen.

Margot auch. Sie schnaubt auf, lässt es aber glücklicherweise dabei bewenden.

»Ich möchte Ihnen zunächst Frau Elwira vorstellen«, hebt Lennox Bergmann nun an. »Sie…«

Durch den schmächtigen Körper der Frau geht ein Zucken. »Das macht eine Elwira Kowalski noch immer selbst«, fällt sie ihm mit knarziger Stimme zackig ins Wort. Dann schweift ihr Blick zu dem Herrn, der etwas abseits von ihr stehen geblieben ist. Bei ihm muss es sich um Bert Bo handeln, wie ich annehme. Seinem Blick zufolge bereut er jetzt schon, nur einen Fuß in unser Altenghetto gesetzt zu haben. »Und du bist nach mir dran. Immer schön der Reihe nach, ja!«

Elwiras Stimme nach zu urteilen, ist die Riege der Raucher um eine Person angewachsen. Das wird denen nichts nützen. Rauchen ist bei uns verpönt, egal wie groß die Lobby ist. Um uns das beizubringen, hat Bergmann sogar das Vordach des Gartenausgangs abmontieren lassen. Wer sich keinen Balkon leisten kann und seine Sucht nicht im Griff hat, wird nass. Pädagogik im Altenheim. Was er nicht bedacht hat, ist, dass seine Erziehungsmethoden auf die geballte Renitenz prallen, die wiederum schnurstracks in einen grippalen Infekt oder, noch schlimmer, eine Lungenentzündung münden kann. Und wer hat dann den Pflegeaufwand? Tja, die Jugend denkt einfach nicht weiter.

Lennox Bergmann wirkt angesichts der forschen Ansprache verdutzt, tritt aber trotzdem beiseite.

»Kowalski, Elwira, 5. Mai 1955, Oberstudienrätin im Ruhestand, Fächerkombination Sport und Geografie.« Ihr Stakkato wird von ein paar zackigen Kniebeugen begleitet. »Immer vollzeitbeschäftigt gewesen und damit eine hervorragende Pension. Fünfzig Liegestütze in einer Minute. Zweiundvierzig Kilogramm bei eins sechsundfünfzig. Ich arbeite daran.« Sie macht ein paar Streckübungen mit den Beinen.

Mit der Nennung des Gewichtes verfällt Margot in Schnappatmung. »Wir sollten uns zurückziehen, zumal du etwas schwächelst, Helmut«, sagt sie. »Du solltest deine Beine hochlegen.«

Seit wann ist das denn ein Thema?

»Ledig, aber nicht hoffnungslos«, fügt Elwira noch an. Das nun folgende Lachen hat etwas männlich Herbes, was mich für meinen Teil abschrecken würde. Bei Rolf Jürgen passiert das Gegenteil. Nichts anderes habe ich erwartet.

»Ich bin zu allem bereit, Mausi«, schreit er mit der brüchigen Stimme eines Greises, fest entschlossen, das Interesse der Neuen zu wecken.

Elwira horcht auf, entschließt sich dann aber augenschein