Spinnenherz - Jennifer Estep - E-Book
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Spinnenherz E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Es gibt nur wenige Personen in Gin Blancos Leben, denen sie vollkommen vertraut. Die Zwergin Sophia ist eine von ihnen – und das nicht nur deswegen, weil diese zuverlässig die Leichen entsorgt, die Gin in ihrer Karriere als Auftragskillerin produziert. Da versteht es sich von selbst, dass Gin keine Gnade kennt, als Sophia vor ihren Augen entführt wird. Besonders nicht, wenn der Kidnapper ein bekannter Sadist und Feuermagier ist. Um Sophia zu retten, kann Gin jede Hilfe gebrauchen, nur ist sie sich nicht sicher, ob Owen Grayson die richtige Unterstützung darstellt. Andererseits hat der einiges bei ihr gutzumachen ...

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

 

ISBN 978-3-492-97830-9

© Jennifer Estep 2013

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Heart of Venom« bei Pocket Books, New York 2013

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Mark Owen / trevillion images und FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Danksagung

1 – »Wie meinst du das? …

2 – Zwei Tage später, …

3 – »Sophia?«, fragte Jo-Jo …

4 – Die Kugel, die Jo-Jo traf, …

5 – Ich holte tief Luft …

6 – Während wir zu Cooper Stills’ Schmiede …

7 – Coopers Luftmagie breitete sich …

8 – Rosco blieb in der Küche …

9 – Ich fuhr zurück zu Jo-Jos Haus …

10 – Ich schaltete das Handy aus, …

11 – Mir … fehlten die Worte. …

12 – Wieder einmal fasste ich …

13 – Statt eine Klinge zu ziehen, …

14 – Wir waren vielleicht eine halbe Stunde …

15 – Ich blinzelte, weil ich nicht …

16 – Owen, Warren und ich lagen auf einem …

17 – Irgendwann wurde Hazel ihres …

18 – Warren trat zwischen den Bäumen hervor …

19 – Sobald ich mir sicher war, dass …

20 – Sonnenlicht weckte mich …

21 – Grimes wandte mir den Rücken zu …

22 – Hinter dem Gebäude gab es noch …

23 – Es fühlte sich an, als …

24 – Anscheinend hatte ich es geschafft, …

25 – Am nächsten Morgen weckte mich …

26 – Wir packten unsere Sachen und …

27 – Cooper beendete Owens Heilung, …

28 – Am nächsten Morgen fuhr ich …

29 – Peng! Peng! Peng! …

30 – Den Rest der Nacht verbrachten wir …

31 – Drei Tage später …

32 – Knapp eine Woche nachdem Harley Grimes …

Leseprobe zu »Spinnenzeit« von Jennifer Estep

Widmung

Für meine Mom, meine Grandma und Andre –

für eure Liebe, eure Geduld und alles andere,

was ihr mir über die Jahre geschenkt habt.

Für meinen Großvater – ich werde dich vermissen.

Danksagung

Wieder einmal möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mir dabei geholfen haben, meine Idee in ein Buch zu verwandeln:

Ich danke meiner Agentin Annelise Robey und meinen Lektoren Adam Wilson und Lauren McKenna für ihre hilfreichen Ratschläge, ihre Unterstützung und Aufmunterung. Außerdem danke ich Julia Fincher.

Ich danke Tony Mauro für den Entwurf eines weiteren tollen Buchcovers und Louise Burke, Lisa Litwack und allen anderen bei Pocket Books und Simon & Schuster für ihre Arbeit am Cover, am Buch und an der Serie.

Und schließlich möchte ich von Herzen meinen Lesern danken. Zu wissen, dass Leute meine Bücher lesen und lieben, erfüllt mich mit Demut und ich bin froh, dass ihr so viel Spaß an Gin und ihren Abenteuern habt. Ich weiß das mehr zu schätzen, als ihr euch vorstellen könnt.

Viel Spaß beim Lesen!

1

»Wie meinst du das? Ich kann nicht mitkommen?«

Ich nickte in Richtung des schweren Gewichtes, das zwischen uns hing. »Willst du wirklich jetzt darüber reden?«

»Ich kann mir keinen besseren Zeitpunkt vorstellen«, antwortete Finn, um dann das, was er trug, einfach zu Boden fallen zu lassen.

Ich ließ ebenfalls los, stemmte die Hände in die Hüften und verdrehte beim zickigen Tonfall in der Stimme meines Ziehbruders die Augen. »Du kannst nicht mitkommen, weil wir einen Mädels-Abend im Salon machen. Keine Männer. Das schließt auch dich ein.«

Finnegan Lane schnaubte, richtete sich zu voller Größe auf und rückte die teure Seidenkrawatte um seinen Hals wieder zurecht. »Sicher, aber ich bin nicht irgendein Mann.«

Wieder verdrehte ich die Augen, doch Finn ignorierte mich. Sein Ego war eine Klasse für sich und mein höhnischer Blick hatte keinerlei Einfluss auf seine Selbstüberschätzung.

»Außerdem«, fuhr er fort, »würde ich einen solchen Wellness-Tag mehr genießen als du.«

»Das ist wahr«, stimmte ich ihm zu. »Mir ist ziemlich egal, ob meine Nägel glänzen oder die Frisur sitzt.«

Finn hob die Hand, um kritisch die manikürten Nägel zu betrachten, bevor er die Finger über sein glänzendes, walnussbraunes Haar gleiten ließ. »Meine Nägel sind gepflegt, aber ich könnte einen neuen Haarschnitt gebrauchen. Ich will ja keinen Spliss bekommen.«

»O nein«, murmelte ich. »Das wäre wirklich grauenhaft.«

Mit seinem perfekt frisierten Haar, dem Designeranzug und den auf Hochglanz polierten Lederschuhen sah Finn aus, als wäre er gerade den Seiten eines teuren Hochglanzmagazins entstiegen. Wenn man seine leuchtend grünen Augen, das kantige Gesicht und den durchtrainierten Körper mit in die Gleichung aufnahm, war er so gut aussehend wie jeder x-beliebige Filmstar. Das Einzige, was seine adrette Erscheinung in diesem Moment etwas beeinträchtigte, war das Blut, das sein weißes Hemd und das graue Jackett besudelte – und die Leiche, die zwischen uns auf dem Boden lag.

»Komm schon«, sagte ich. »Der Kerl wird nicht leichter.«

Wir standen in der Gasse hinter dem Pork Pit, dem Barbecue-Restaurant, das ich in der Innenstadt von Ashland führte. Rechts und links neben der Hintertür des Restaurants befanden sich große Müllcontainer aus Metall, aus denen es nach Kumin, Cayennepfeffer und anderen Gewürzen roch, mit denen ich kochte, außerdem nach Essensresten und anderem Müll, der in der Julihitze vor sich hingammelte. Eine leise Brise wehte zwischen den Gebäuden hindurch. Sie brachte kurz Erleichterung von der Schwüle und ließ mehrere weiße Papiertüten mit dem Schweine-Logo des Pork Pit über den ölverschmierten Asphalt der Gasse tanzen.

Ich ignorierte das Rascheln der Tüten und konzentrierte mich auf das Murmeln der Steine um mich herum. Handlungen, Gedanken und Gefühle hatten mehr Einfluss, als den meisten Leuten bewusst war, da sie emotionale Schwingungen auslösten, die in den Stein um sie herum einsanken. Als Steinelementar war ich in der Lage, das Flüstern des Elements um mich herum wahrzunehmen, ob es nun um einen Presslufthammer ging, der vergangene Woche brutal auf ein Betonfundament eingeschlagen hatte, das Wetter, das langsam einen Grabstein verwittern ließ, oder die gesammelten Sorgen der gehetzten Pendler, die jeden Tag an einem Gebäude vorbeieilten, erfüllt von der Hoffnung, dass ihre Chefs sie nicht anschreien würden, weil sie zu spät kamen.

Hinter mir stieß das Fundament des Pork Pit ein leises, zufriedenes Seufzen aus, so wie viele Gäste es taten, nachdem sie ein heißes, fettiges Barbecue-Sandwich mit gebackenen Bohnen genossen hatten oder eine der anderen Südstaaten-Köstlichkeiten, die ich täglich servierte. Hier und dort gab es scharfe Anzeichen von Gewalt in den Mauersteinen, doch sie waren mir genauso vertraut wie das Seufzen und sie bereiteten mir keine Sorgen. Der Typ hier war nicht der Erste, den ich im Restaurant getötet hatte, und es würde auch nicht der Letzte sein.

»Komm schon«, wiederholte ich. »Wir hatten unsere Pause. Schnapp dir wieder die Schultern, ich nehme die Beine. Ich will diesen Kerl in den Container in der nächsten Gasse schaffen, bevor jemand uns sieht.«

»Container? Du meinst die riesige Tiefkühltruhe, die Sophia angeschafft hat, nur damit du Leichen in der Nähe des Restaurants verstecken und trotzdem noch halbwegs glaubhaft behaupten kannst, du hättest nichts damit zu tun«, korrigierte Finn mich.

Ich zuckte nur mit den Achseln. »Ihre Idee, nicht meine. Aber da sie die meisten Leichen verschwinden lässt, war es ihre Entscheidung.«

»Und wieso ist Sophia heute Abend nicht hier, um uns bei diesem Kerl zu helfen?«

Wieder hoben und senkten sich meine Schultern. »Weil irgendein James-Bond-Filmfestival läuft, das sie sich anschauen wollte, daher hat sie sich den Abend freigenommen. Und jetzt mach hinne! Genug getrödelt. Lass uns weitermachen.«

»Wieso muss ich seine Schultern nehmen?«, jammerte Finn weiter. »Da klebt das ganze Blut.«

Ich beäugte sein ruiniertes Jackett und das blutbesudelte Hemd. »Glaubst du, das spielt jetzt noch eine Rolle?«

Finn sah auf die Flecken herunter. »Nein, wahrscheinlich nicht.«

Er grummelte noch ein wenig und stieß ein paar genervte Seufzer aus. Bisher hatten wir den Kerl aus dem vorderen Teil des Restaurants durch die Hinterzimmer nach draußen geschleppt. Wir entfernten uns langsam von der Hintertür des Pork Pit und drangen tiefer in die Gasse hinein.

Vor einer halben Stunde hatte der Riese noch in einer der Tischnischen im Restaurant gesessen und sich zwei Cheeseburger und ein Stück Apfelkuchen schmecken lassen, während er sich mit einem Freund unterhalten hatte. Die beiden Riesen waren die letzten Gäste und ich wartete darauf, dass sie gingen, damit ich das Restaurant schließen konnte. Der erste Kerl zahlte und verschwand, ohne ein Problem zu verursachen, doch der zweite stiefelte zur Registrierkasse und drückte mir eine Handvoll Ein-Dollar-Scheine in die Hand. Ich machte mich daran, die Scheine zu zählen, doch kaum senkte ich den Blick, wollte der Riese mit seiner riesigen Faust nach mir schlagen.

Bitte. Als hätte es noch niemand zuvor mit diesem billigen Trick versucht.

Na ja, das waren eben die Berufsrisiken einer Profikillerin. Jepp, ich war Gin Blanco. Restaurantbesitzerin am Tag und nachts die berüchtigte Auftragskillerin »die Spinne«. Zugegeben, inzwischen war ich eher die ganze Zeit über »die Spinne«. Seitdem ich Mab Monroe umgebracht hatte, die mächtige Feuermagierin, die einen großen Teil der Unterwelt von Ashland regiert hatte, hatte es quasi jeder Verbrecher auf mich abgesehen. Ich war eine unbekannte Größe in der Machtstruktur der Stadt und jede Menge Leute bildete sich ein, mit dem Mord an mir ihre Chuzpe unter Beweis stellen zu können. Der Riese heute war nur einer in einer langen Reihe von Trotteln, die in meinem Restaurant gegessen hatten, mit dem Vorsatz, mich zu ermorden, sobald sie den letzten Soßenrest mit einem Stück Brot von ihrem Teller gewischt hatten.

Da Finn auf einem Hocker in der Nähe der Registrierkasse gesessen hatte, hatte er eine Pistole unter dem Jackett herausgezogen und versucht, dem Riesen ein paar Kugeln in den Körper zu jagen. Doch der schlug Finns Pistole zur Seite. Die beiden kämpften miteinander, bis ich um den Tresen trat, mir eines meiner Steinsilber-Messer in die Hand gleiten ließ und dem Riesen die Klinge mehrmals in den Rücken rammte, so lange, bis er tot umgefallen war. Daher das Blut, das überall auf Finns Körper klebte – und an mir, auch wenn mein langärmliges, schwarzes Shirt und die dunkle Jeans einen Großteil der Flecken verbargen.

»In Ordnung«, meinte Finn. »Lass ihn uns den Rest des Weges schleppen. Ich muss dringend nach Hause und mich duschen, bevor ich zu meinem Date mit Bria gehe.«

Ich wollte mich gerade vorbeugen und die Knöchel der Leiche ergreifen, als ein unruhiges Murmeln den Stein vor mir durchfuhr – ein finsteres Flüstern voller bösartiger Absichten.

Ich hielt in der Bewegung inne und musterte die Gasse vor uns. Sophias verwitterte Kühltruhe stand am hinteren Ende der schmalen Straße. Davor befanden sich mehrere Container und Mülltonnen, an der Wand aufgereiht wie Zinnsoldaten. Wieder wehte eine Brise durch die Gasse und trieb den Duft von gekochtem Kohl, gegrilltem Hühnchen und würziger Erdnusssoße vor sich her, da in diesem Häuserblock unter anderem ein Thai-Restaurant beheimatet war.

Finn bemerkte mein Zögern. »Stimmt was nicht?«

Ich musterte weiter die Schatten. »Ich glaube, wir haben Besuch.«

Er rückte ein weiteres Mal seine Krawatte zurecht, doch seine Augen schossen genauso von rechts nach links wie meine. »Irgendein Hinweis darauf, wer es sein könnte?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich der Kerl, der mit unserem toten Freund hier gegessen hat.«

Finn schüttelte den Kopf. »Aber der ist gegangen, bevor der Riese dich angegriffen hat. Selbst wenn sie Partner waren, wäre er so schnell verschwunden, wie er nur konnte, nachdem er gesehen hat, was mit seinem Kumpel passiert ist. Zumindest wenn er auch nur einen Funken Verstand besitzt …«

Hinter einem Müllcontainer ein Stück rechts vor mir flackerte etwas Silbernes auf. Sofort hechtete ich nach vorn und warf mich auf Finn, um uns beide aus der Schusslinie zu bringen.

Peng! Peng! Peng!

Die Kugeln schossen über unsere Köpfe hinweg, doch ich rief trotzdem meine Steinmagie und setzte sie ein, um meine Haut zu einer undurchdringlichen Hülle zu verhärten. Außerdem bemühte ich mich, Finn so gut abzudecken, wie ich konnte. Ich mochte ja kugelsicher sein, wenn ich meine Magie einsetzte, aber für ihn galt das nicht.

Schritte erklangen in der Gasse hinter mir, was mir verriet, dass unser Angreifer selbstsicher genug war, um auf uns zuzukommen. Dann …

Peng! Peng! Peng!

Weitere Kugeln sausten durch die Gasse. Der Kerl hatte diesmal anscheinend besser gezielt, denn ich fühlte, wie alle drei Projektile meinen Rücken trafen, bevor sie von meiner Haut abprallten und ins Halbdunkel davonflogen. Eine der Kugeln hätte mich von hinten durch die Brust ins Herz getroffen und mich getötet – vielleicht sogar Finn gleich mit –, wenn ich meine Steinmagie nicht eingesetzt hätte, um uns zu schützen. Mein Körper erzitterte beim Aufprall der Kugeln. Dann ließ ich meine Gliedmaßen schlaff werden und mich auf Finn sinken, als wäre ich genauso tot wie der Riese, der neben uns lag.

Ich sah Finn an, der mir verschlagen zuzwinkerte, um mich wissen zu lassen, dass es ihm gut ging. Ich fühlte, wie er sanft die Hand hob und dann vorsichtig in meinen hinteren Hosenbund schob. Als er sie wieder herausholte, fehlte etwas, das vorher dort gewesen war. Mein Ziehbruder beförderte seine Hand langsam wieder nach oben und ich verschränkte meine Finger mit seinen. Als er mich losließ, hielt ich das Steinsilber-Messer in der Hand, das er aus dem Holster an meinem Rücken gezogen hatte. Ich schob die Klinge ein kleines Stück in meinen Ärmel, um sie zu verstecken, dann schloss ich die Augen und wartete – wartete einfach ab –, dass der Feind nah genug herankam.

Ich hörte seine Schritte, gefolgt von seinem keuchenden Atem, und öffnete die Augen einen winzigen Spalt. Ein paar schlammverschmierte Stiefel standen direkt vor meinem Gesicht. Noch während ich ihn beobachtete, hob sich ein Fuß und ich wusste, was als Nächstes folgen würde. Und tatsächlich, eine Sekunde später rammte mir der Riese seine Schuhspitze in die Rippen.

Der Tritt schmerzte, als wäre ich von einem Baseball in der Brust getroffen worden, trotz meiner Steinmagie. Die Wucht, mit welcher der Riese getreten hatte, warf mich halb von Finn herunter, der grunzte, als sich mein Ellbogen in seine Schulter bohrte.

Schweigen. Dann …

»Mach die Augen auf, Schönling, oder ich jage dir eine Kugel in den Schädel!«, drohte der Kerl.

Finn seufzte. Ich sah, wie seine Lider flatterten und er langsam die Hände hob. »Okay, okay, du hast mich ertappt. Ich lebe noch.«

»Du bist mir egal«, blaffte der Riese. »Ist sie tot? Oder tut sie nur so?«

»Natürlich ist sie tot«, blaffte Finn zurück und breitete die Arme aus, damit der Riese die Blutflecke auf seiner Kleidung sehen konnte. »Siehst du das ganze Blut nicht? Ich habe Glück gehabt, dass die Kugeln in ihr stecken geblieben sind, statt mich auch noch zu treffen.« Er schüttelte sich. »Ich glaube, ich muss kotzen. Könntest du sie also bitte von mir runterziehen oder irgendwas? Ich ertrage den Anblick von Blut einfach nicht.«

Hätte ich mich damit nicht verraten, hätte ich amüsiert geschnaubt. Finn hatte genauso wenig Probleme mit Blut wie ich. Er mochte es nur nicht, wenn es überall auf seinem teuren Fiona-Fine-Designeranzug klebte.

»Aber du bist ihr Partner«, sagte der Riese. »Das wissen alle. Solltest du nicht, ich weiß nicht … mitgenommener sein, weil sie tot ist?«

»Tatsächlich bin ich eher ihr Handlanger«, stellte Finn richtig. »Und was meine Empfindungen in Bezug auf ihren Tod angeht, nun, sie ist nicht gerade eine Frau, der man etwas abschlägt, wenn du verstehst, was ich damit sagen will. Vertrau mir. Ich bin froh, dass sie tot ist. Begeistert. Beinahe ekstatisch.«

Schweigen. Dann …

Der Riese trat mich ein weiteres Mal in die Rippen. Erneut gab ich vor, ich hätte den scharfen, brutalen Schmerz nicht gespürt. Doch er hörte nicht auf zu treten, rammte seinen Stiefel gegen meinen Brustkorb, mein Schienbein, sogar meine Schulter. Ich rechnete halb damit, dass er sich vorbeugte, mir den Pistolenlauf an den Hinterkopf drückte und ein paar Kugeln in den Kopf jagte, nur um sicherzugehen, dass ich wirklich tot war. Doch zur Abwechslung hatte ich Glück. Vielleicht war ihm die Munition ausgegangen. Oder er war einfach nicht besonders klug. Auf jeden Fall schien mir der Riese meine Totspielerei nach drei Minuten Treten abzunehmen. Vielleicht war er auch einfach nur genervt von Finns Gebettel, endlich meine Leiche von ihm herunterzuziehen.

»Ich habe es geschafft«, sagte der Kerl schließlich. »Ich habe es geschafft! Ich habe die Spinne getötet! Woo-hooo!«

Okay, ich fand, das Woo-hoo am Ende ging ein wenig zu weit, trotzdem ließ ich den Riesen seinen Moment des Triumphes auskosten. Schließlich würde es das Letzte sein, was er empfand.

»Okay, okay«, grummelte Finn wieder. »Könntest du sie jetzt bitte von mir runterholen? Ehrlich, ich kotze gleich. Du willst sicher nicht, dass ich mein Abendessen auf deinen Stiefeln verteile.« Er begann, würgende Geräusche von sich zu geben.

»Ist ja schon gut«, murmelte der Riese. »Hör endlich auf zu jammern!«

Er beugte sich vor, ergriff meine Schultern und rollte mich auf den Rücken. Für diese rücksichtsvolle Geste revanchierte ich mich, indem ich auf die Beine sprang und ihm mein Messer in die Brust rammte.

Mein vermeintlicher Mörder schrie vor Überraschung auf und zuckte zusammen, sodass meine Klinge über seine Rippen schrappte, statt sein Herz zu durchbohren. Er stolperte rückwärts und mein Messer löste sich aus seiner Brust. Blut spritzte in alle Richtungen. Mit schmerzverzerrter Fratze hob er die Pistole und drückte den Abzug. Unbändige Wut stand ihm im Gesicht geschrieben.

Klick.

Leer. Genau, wie ich vermutet hatte. Dumm für ihn. Tödlich dumm, um genau zu sein.

Ich hob mein Messer und stürzte mich erneut auf ihn, doch der Riese ahnte den Angriff voraus und wehrte meinen Arm ab. Angesichts seiner immensen Stärke fiel es ihm leicht, mich davon abzuhalten, mein Messer ein zweites Mal in seinen Körper zu rammen. Also hob ich meine freie Hand und zog ihm meine Fingernägel über das Gesicht. Mit einem gellenden Aufschrei legte er den Kopf in den Nacken, in dem Versuch, seine Augen vor meinen Fingern in Sicherheit zu bringen.

»Gin! Runter!«, hörte ich Finn hinter mir rufen.

Sofort ließ ich mich zu Boden fallen.

Peng! Peng! Peng! Peng!

Kugeln sausten an der Stelle durch die Luft, wo ich gerade noch gestanden hatte. Der vertraute Geruch von Schießpulver vermischte sich mit dem Gestank des Mülls in der Gasse. Eine Sekunde später fiel der Körper des Riesen mit einem dumpfen Knall zu Boden.

Das Messer immer noch in der Hand, stand ich auf und eilte zur Leiche, um notfalls nachzuhelfen, doch das war gar nicht nötig. Finn hatte dem Riesen eine Kugel direkt durch das rechte Auge ins Hirn gejagt und ihn so erledigt. Er war mausetot, ohne auch nur noch einmal zu zucken.

Ich drehte mich zu meinem Ziehbruder um, der mit einer Hand die Pistole festhielt. Mit der anderen zupfte er sich Kohlreste vom Ärmel. Er warf das faulige Gemüse mit angewidertem Gesicht zur Seite und kam auf mich zu.

»Geht es dir gut?«, fragte ich.

Finn nickte. »Und dir?«

Ich nickte ebenfalls, betastete aber gleichzeitig vorsichtig meinen Rippenbogen. »Ich werde ein paar blaue Flecken bekommen, da er meinen Oberkörper als Fußball verwendet hat. Aber ich schaue einfach auf dem Heimweg bei Jo-Jo vorbei und lasse mich von ihr zusammenflicken. Kein Problem.«

»Wo wir gerade von Jo-Jo sprechen, ich finde immer noch, dass ich Teil eurer kleinen Soiree sein sollte.« Er grinste schief. »Besonders, da ich heute Abend so hilfreich war.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Wenn du noch mal damit anfängst, muss ich mich gleich um eine Leiche mehr kümmern.«

Finn schenkte mir einen gespielt verletzten Blick, doch eine Sekunde später seufzte er und steckte die Pistole weg. »Nun, zumindest liegt der hier schon auf halbem Weg zur Kühltruhe.«

Ich lächelte ihn an. »Siehst du? Wir sind sehr effizient.«

Finn murmelte ein paar Schimpfwörter vor sich hin, doch dann beugte er sich vor und schnappte sich die Schultern des ersten toten Riesen, während ich erneut nach seinen Knöcheln griff. Dann schleppten wir die zwei Leichen nacheinander zu der Tiefkühltruhe, damit sie dort auf Sophia und ihre Leichenbeseitigungskünste warten konnten.

Es waren nicht die ersten toten Körper, die wir verschwinden ließen – und es würden definitiv nicht die letzten sein.

2

Zwei Tage später, am Samstag, lagen die toten Riesen immer noch auf Eis, während ich mich in einer sehr viel wärmeren, angenehmeren Umgebung wiederfand: einem Schönheitssalon.

Der Salon nahm die hintere Hälfte der alten Villa im Südstaaten-Stil ein und vermittelte eine heimelige und einladende, wenn auch etwas chaotische Atmosphäre. Nagellack-Fläschchen und Lippenstifte standen aufgereiht auf Arbeitsflächen neben Flaschen mit verschiedenen Haarfarben, Shampoo und Spülungen. Zwischen Döschen und Tiegeln lagen Bürsten, Kämme, Lockenwickler, Scheren und jedes andere Instrument, mit dem man Haare entwirren, glätten, locken, schneiden oder toupieren konnte. Stapel mit Schönheitsmagazinen ragten überall im Raum auf. Die Models auf den Umschlägen strahlten glückselig, als würden sie die Schönheitsanwendungen gutheißen, die hier vollzogen wurden.

Ich entspannte mich gerade in einem kirschroten Friseurstuhl, als etwas Warmes, Feuchtes und leicht Raues über meinen Fuß glitt. Ich lehnte mich zur Seite. Rosco, Jo-Jos Basset, leckte ein weiteres Mal über meine Zehen und kläffte hoffnungsfroh. Ich streckte mein Bein aus und streichelte ihn mit dem Fuß. Rosco stieß ein zufriedenes Seufzen aus und brach in einem faltigen Haufen aus schwarzem und braunem Fell zusammen, vollkommen zufrieden damit, sich von mir den Bauch kraulen zu lassen.

»Halt still, Liebes«, sagte Jo-Jo, als sie eine weitere Schicht Lack auf meine Fingernägel auftrug. »Ich bin fast fertig.«

Rosco und der Salon waren der ganze Stolz von Jolene »Jo-Jo« Deveraux, der Luftmagier-Zwergin, die mich heilte, wann immer ich zusammengeschlagen oder fast erschossen, mit dem Messer verletzt oder mit Elementarmagie getötet wurde. Angesichts meiner momentanen Berühmtheit in der Unterwelt von Ashland und der unzähligen Möchtegern-Mörder, die mich ins Visier nahmen, hielt ich mich hier mittlerweile öfter auf als zu Hause. Doch ich hätte Jo-Jo ohnehin besucht, da sie für mich wie eine Mutter und Teil meiner selbstgewählten Familie war.

Da wir einen Tag nur für Mädchen im Salon zelebrierten, hatte ich meine übliche Kleidung aus langärmligem Shirt, Jeans und Stiefeln gegen ein rotes Tanktop, eine kurze weiße Hose und schwarze Sandalen getauscht, die ich nach meinem Eintreffen vor einer Stunde gleich in eine Ecke gepfeffert hatte.

Jo-Jo allerdings liebte es, sich schick zu machen, also trug sie eines ihrer pinkfarbenen Kleider und die übliche Perlenkette. Ihr weißblondes Haar wogte in perfekten Locken um ihren Kopf, ihr Make-up hätte jede Schönheitskönigin beschämt und ihre nackten Füße waren perfekt manikürt mit himbeerfarbenem Nagellack.

»Hey, du musst mir heute wirklich keine Fußnägel lackieren«, sagte ich. »Du sollst dich doch heute auch entspannen.«

Jo-Jo hob den Kopf und warf mir einen amüsierten Blick zu. Lachfalten bildeten sich um ihre hellen, fast farblosen Augen. »Du hast gekocht, Liebes. Damit hast du mehr getan als ich. Außerdem mag ich es, dich zu verwöhnen, Gin. Du nimmst dir viel zu selten eine Auszeit. Besonders in den vergangenen Monaten.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich. »Aber irgendwie ist es eine Verschwendung, wenn du mir die Nägel so schön machst, bloß damit sie morgen um diese Zeit wahrscheinlich schon wieder ruiniert sind. Oder wahrscheinlich sogar noch eher, bevor ich heute von hier verschwinde. Ich schaffe es einfach nie, den Nagellack ordentlich trocknen zu lassen.«

Ich hob die Hand. Jo-Jo hatte meine kurzen Fingernägel in einem dunklen Rotton lackiert, der mir definitiv stand. Das war genau meine Farbe. Zudem konnte er das Blut verbergen, mit dem ich mir die Hände besudeln würde, sobald der nächste Idiot versuchte, mich umzubringen.

»Nun, ich muss Jo-Jo zustimmen«, schaltete sich eine helle Stimme ein. »In der Küche bist du wirklich unschlagbar. Dieser dunkle Schokomousse-Kuchen ist unwiderstehlich, Gin.«

Ich sah nach rechts, wo meine kleine Schwester einem Stück des besagten Kuchens mit der Gabel den Garaus machte. Wie ich selbst war auch Detective Bria Coolidge heute lässig gekleidet, in einem fahlblauen T-Shirt, grauen Cargo-Shorts und braunen Sandalen. Trotzdem war sie mit ihrem blonden Haar, der rosigen Haut und den kornblumenblauen Augen eine echte Schönheit. Doch die Tatsache, dass Bria gerade keinen Dienst hatte, hieß nicht, dass sie nicht bewaffnet war. Ich wusste, dass ihre Pistole und ihre goldene Dienstmarke in der riesigen Strohtasche steckten, die sie mitgeschleppt hatte – genauso wie meine Messer in greifbarer Nähe auf dem Tisch aufgereiht lagen.

Bria schob sich einen weiteren Bissen Kuchen in den Mund und seufzte genauso zufrieden wie Rosco vorhin. »Was hast du außer dem Kuchen noch alles gemacht?« Ihr Blick wanderte von einem abgedeckten Teller auf dem Tisch zum nächsten.

»Na ja, da wir Mädels heute unter uns sind, habe ich beschlossen, aufs Ganze zu gehen«, antwortete ich. »Es gibt den dunklen Schokomousse-Kuchen, den du gerade verputzt, außerdem ein paar Schokotrüffel, Double-Chocolate-Chips-Cookies und Erdbeeren, Kiwis, Ananas- und Mangostücke in Schokohülle.«

Bria grinste trocken. »Ich bemerke eine gewisse Schokoladenlastigkeit.«

Ich erwiderte das Grinsen. »Könnte man so ausdrücken. Aber es gibt auch deftiges Essen, falls wir keine Lust mehr auf Nachspeisen haben. Außerdem bringt Roslyn frisches Gemüse aus ihrem Garten mit.«

Jo-Jo warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, die die Form einer Wolke hatte – ihre Rune und das Symbol für ihre Luftmagie. »Wo ist Roslyn?«

Roslyn Phillips, eine weitere meiner Freundinnen, sollte heute auch zum Salon kommen, zusammen mit Sophia Deveraux, Jo-Jos jüngerer Schwester.

Bria wedelte mit der Gabel durch die Luft. »Sie hat mich heute Morgen angerufen und gesagt, sie käme ein bisschen später und wir sollten ruhig schon ohne sie anfangen.«

»Und du hast dich trotzdem sofort aufs Essen gestürzt, anstatt zu warten, bis sie da ist. Langsam färben ein paar von Finns schlechten Angewohnheiten auf dich ab«, zog ich sie auf. »Wie war euer Date neulich?«

Brias heftiges Erröten verriet mir alles, was ich wissen musste. »Ich möchte von meinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen«, murmelte sie und schob sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund.

»Nun, wenn du damit fertig bist, komm rüber, Liebes, und sag mir, welche Farbe du für deine Nägel haben willst.«

Meine Schwester nickte, doch als Jo-Jo meinen Nagellack zuschraubte, blieb ihr Blick unverwandt auf die gläserne Kuchenplatte gerichtet, auf der sich die Früchte in Schokohülle stapelten. Jo-Jo hatte sich gerade vorgelehnt, um das Fläschchen wieder zu den anderen zu stellen, als sie stirnrunzelnd innehielt. Sie starrte das Nagellack-Fläschchen an, doch ihr Blick war leer, als sähe sie gar nicht, was vor ihren Augen lag.

»Jo-Jo?«, fragte ich. »Stimmt etwas nicht?«

Jo-Jo setzte ihre Magie größtenteils ein, um Wunden zu heilen. Doch ihre Macht verlieh ihr auch ein gewisses Maß an Hellsicht, wie es bei den meisten Luftelementaren der Fall war. Wie die Steine mir davon erzählten, was Leute an einer bestimmten Stelle getan hatten, verrieten die Winde Jo-Jo, was in der Zukunft geschehen könnte.

Die Zwergin schüttelte den Kopf, sodass ihre weichen Locken um ihren Kopf sprangen. Der leere Ausdruck verschwand aus ihren Augen, doch gleichzeitig hob sie eine Hand an den Kopf und rieb sich die rechte Schläfe, als hätte sie plötzlich Kopfweh bekommen.

»Ich kann es nicht genau benennen«, sagte sie. »Ich habe nur … ich habe schon seit ein paar Tagen ein schlechtes Gefühl. Tatsächlich seit mehr als nur ein paar Tagen. Eher schon seit diesem Durcheinander in Briartop vor ein paar Wochen.«

Ich zog eine Grimasse. Jo-Jo drückte sich nett aus. »Durcheinander« beschrieb nicht einmal ansatzweise, was im Briartop-Kunstmuseum geschehen war, als eine Riesin namens Clementine Baker entschieden hatte, ihre Armee von Lakaien einzusetzen, um die Ausstellung von Mab Monroes Beutegut zu plündern – und gleichzeitig den Versuch zu starten, mich zu ermorden.

Natürlich hatte ich die gute Clem und ihre Gangsterfamilie umgebracht, doch mein Sieg war bittersüß, denn er hatte ein unschuldiges Leben gefordert: Jillian Delanceys. Sie hatte sterben müssen, weil sie aus einem dummen, unglücklichen Zufall heraus dasselbe Kleid wie ich getragen hatte – was dafür gesorgt hatte, dass einer von Clems Männern sie mit mir verwechselt und erschossen hatte.

Jo-Jo bemerkte mein Stirnrunzeln, lehnte sich vor und tätschelte mir die Hand. »Keine Sorge, Liebes. Wahrscheinlich ist es nichts. Manchmal gibt es diese Phasen, in denen ich das Gefühl habe, dass jeden Moment etwas Schlimmes passiert. Meistens ist es nicht mehr als ordinäres Sodbrennen.«

Trotz ihrer Worte wirkte ihr Blick schon wieder verschleiert und besorgt. »Ich bin nur … ich werde froh sein, wenn Sophia da ist.«

Wie Roslyn war Sophia heute Morgen ein wenig zu spät dran, weil sie noch die zwei Riesen in der Kühltruhe entsorgen wollte. Ich hatte den Angestellten des Restaurants einen Tag bezahlten Urlaub spendiert, damit sowohl Sophia als auch ich es uns im Salon gut gehen lassen konnten. Ich hatte der Zwergin erklärt, dass die Leichen noch eine Weile warten konnten – zumindest bis nach unserem Tag im Salon –, aber sie hatte darauf bestanden, sie heute Morgen verschwinden zu lassen. Vielleicht sah sie die ganze Sache einfach pragmatisch. Es war nicht gerade unwahrscheinlich, dass mich in den nächsten Tagen erneut Leute im Pork Pit angreifen würden … und, na ja, diese Kühltruhe konnte auch nur eine gewisse Anzahl von Leichen aufnehmen. Schon jetzt hatten Finn und ich die Riesen geschickt stapeln müssen, um den Deckel zuzubekommen.

Sophia hatte schon Dutzende tote Körper für mich verschwinden lassen – und auch für meinen Mentor Fletcher Lane, bevor ich das Geschäft des alten Mannes übernommen hatte. Sie hätte sich mit verbundenen Augen und einer auf dem Rücken gefesselten Hand um die zwei Riesen kümmern können.

Jo-Jo wusste das und wirkte dennoch so besorgt, dass ich ihre Hand ergriff und sie sanft drückte, wobei ich sorgfältig darauf achtete, nicht den Nagellack zu verschmieren, den sie gerade aufgetragen hatte.

»Soll ich Sophia anrufen und rausfinden, wo sie gerade ist?«

Jo-Jo schüttelte den Kopf. »Nein, ist schon in Ordnung. Wie ich schon sagte, wahrscheinlich habe ich einfach Sodbrennen. Ich glaube, ich habe heute schon zu viele Tassen von Finns Malzkaffee getrunken. Dieses Zeug ist so stark, dass einem davon fast die Zähne ausfallen.«

Sie schenkte mir ein Lächeln, schnappte sich eine Plastikwanne, zog sie auf ihren Schoß und begann, die verschiedenen Nagellack-Fläschchen einzusortieren. Jo-Jo hob erst einen pinkfarbenen, dann einen andersfarbigen Nagellack hoch, um herauszufinden, welcher Ton Bria gefallen könnte, doch der Anblick der fröhlichen Farben besserte meine Laune kaum.

Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass Jo-Jo immer noch besorgt die Augenbrauen zusammenzog, oder damit, dass ihr Lächeln sofort verblasste, wenn sie glaubte, niemand würde sie beobachten. Ich konnte nicht in die Zukunft blicken wie sie, aber Jo-Jo hatte in der Vergangenheit schon zu oft recht behalten, als dass ich ihre Vorahnungen als einfache Koffein-Überdosis abgetan hätte. Wenn sie das Gefühl hatte, dass etwas Unheilvolles bevorstand, trieben zweifellos gerade Sturmwolken in unsere Richtung.

 

Trotz meiner Besorgnis verbrachten wir die nächste halbe Stunde mit ausgelassenen Gesprächen und gutem Essen. Jo-Jo öffnete eine der Türen im hinteren Teil des Salons und Rosco erhob sich pflichtbewusst, um langsam nach draußen zu wackeln und im Garten sein Geschäft zu verrichten. Bria hatte endlich zu Ende gegessen und nahm meinen Platz im Salonstuhl ein, damit Jo-Jo ihr die Nägel lackieren konnte, während wir auf Roslyn und Sophia warteten.

Ich schlenderte zum Büfett und belud mir ordentlich den Teller, wobei ich ein wenig von allem nahm. Von dem Hühnerfleisch-Salat mit winzigen Sauerteig-Brötchen. Den knusprigen, selbstgemachten Chips. Und natürlich von dem Schokomousse-Kuchen, der dekadent und köstlich auf der Zunge zerschmolz, als äße man eine lockere Wolke aus wunderbarer, dunkler Schokolade. Ich war heute Morgen ziemlich früh aufgestanden, um ihn zu backen, doch er war die Mühe wert gewesen. Kochen war eine meiner großen Leidenschaften. Es war meine Art, den Leuten in meinem Leben zu zeigen, wie viel sie mir bedeuteten – und auch eine Art, mit allem umzugehen, was mich belastete.

Wie Jillian Delanceys Tod.

Nicht zum ersten Mal tauchte Jillians Gesicht vor meinem inneren Auge auf. Braunes Haar, dunkle Augen und ein tolles Lächeln. Alles meinetwegen verschwunden – wegen der dämlichen Zufälle, die anscheinend so gern Einfluss auf das Leben von mir und meiner Familie nahmen.

»Worüber denkst du gerade nach, Gin?«, fragte Bria, als sie zu mir kam. Sie wedelte die Hände in der Luft, damit ihre erdbeerrot lackierten Nägel schneller trockneten.

Ich riss mich vom Anblick der leeren Wand los, die ich gedankenverloren angestarrt hatte, und sah stattdessen auf meinen Teller, den ich auf dem Tisch abgestellt hatte. »Ich denke darüber nach, ob die Chips nicht noch ein wenig mehr Salz hätten vertragen können.«

Bria schüttelte den Kopf, sodass ihr blondes Haar im durch die Fenster einfallenden Sonnenlicht wie Gold glänzte. »Nein, tust du nicht. Du denkst an etwas anderes, etwas Wichtiges. Daran, was in Briartop passiert ist? Oder an Owen?«

Ich verzog das Gesicht bei der Erwähnung von Owens Namen, meinem … na ja, ich wusste nicht genau, was Owen und ich im Moment waren. Wir waren nicht zusammen, verhielten uns aber auch nicht mehr so distanziert, wie es schon einmal der Fall gewesen war. Jillian hatte Owen auf die Gala begleitet. Sie war eine Freundin und Geschäftspartnerin gewesen und hatte sich mehr mit ihm vorstellen können, auch wenn Owen mir erklärt hatte, dass er sie nicht auf diese Art gemocht habe. Auf jeden Fall war Jillian meinetwegen gestorben – die zweite Frau, die mit Owen verbunden gewesen war und die ein schreckliches Schicksal ereilte.

Bria legte mir eine Hand auf den Arm. »Du weißt, dass du mit mir reden kannst, richtig? Über alles!«

Ich nickte. Das wusste ich tatsächlich, auch wenn es mich immer noch erstaunte. Nachdem ich jahrelang geglaubt hatte, Bria wäre tot, war sie vor ein paar Monaten wieder in meinem Leben aufgetaucht. Unsere Beziehung war nicht leicht, da sie Polizistin war und ich Auftragsmörderin, aber irgendwie funktionierte es und wir standen uns heute näher als jemals zuvor.

»Das weiß ich und ich weiß es auch zu schätzen. Was soll ich sagen? Ich grübele beim Essen gern.«

Bria lachte, doch dann wurde ihre Miene wieder ernst und nachdenklich, als wollte sie mich etwas fragen. Sie fing an, an dem Steinsilber-Anhänger herumzuspielen, der an einer Kette um ihren Hals hing. Eine Schlüsselblume. Das Symbol für Schönheit – und ihre Rune.

Zu beobachten, wie sie ihre Kette berührte, sorgte dafür, dass ich die Finger krümmte und die Spinnenrunen-Narbe auf meiner Handfläche betastete – ein kleiner Kreis auf meiner Hand, umgeben von acht dünnen Strahlen. Dasselbe Symbol war auch in den Steinsilber-Ring eingraviert, den ich an meinem rechten Zeigefinger trug. Meine Rune, eine Spinnenrune, das Symbol für Geduld – und für mich noch so viel mehr.

Früher einmal hatte ich die Rune auch als Kette getragen, bis Mab ihre Feuermagie eingesetzt hatte, um den Anhänger in meine Hände einzuschmelzen, mich so zu foltern und auf mehr als eine Art zu brandmarken.

»Gin?«, fragte Bria.

Sie riss mich aus meinen Erinnerungen. »Es tut mir leid. War für eine Sekunde in Gedanken. Wolltest du mich etwas fragen?«

Meine Schwester holte tief Luft, doch bevor sie mir sagen konnte, was sie beschäftigte, wurde lautstark die Eingangstür im vorderen Teil des Hauses aufgerissen. Einen Moment später hörte man jemanden durch den Flur stiefeln. Ich meinte, Sophias schwere Schritte zu erkennen, doch seltsamerweise schien sie sich nicht normal zu bewegen. Stattdessen vernahm ich ein Schlurfen auf dem Parkett, als zöge Sophia ein Bein nach, bewegte sich aber trotzdem eilig voran. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erschien sie in der Tür zum Salon.

Jo-Jo mochte mit ihren pinkfarbenen Kleidern, dem Nagellack und ihrer Perlenkette eine waschechte Südstaaten-Lady sein, doch ihre Schwester hatte sich für einen vollkommen anderen Stil entschieden: Grufti. Wie üblich war sie von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet – Stiefel, Jeans und ein T-Shirt mit einem scharlachroten Kussmund darauf. Um ihren Hals lag ein Lederhalsband mit Steinsilber-Akzenten und ihr Lippenstift war genauso mattschwarz wie ihr Haar.

Normalerweise fand ich Sophias Stil zwar düster, aber gleichzeitig cool, verschroben und flippig. Das Problem im Moment war nur, dass die schwarze Kleidung dafür sorgte, dass ich das Blut auf ihrem Arm und dem Bein im ersten Moment nicht bemerkte.

»Sophia?«, fragte ich.

Ihre Augen wanderten umher, dann erwiderte sie meinen Blick und ich erkannte in den tiefen schwarzen Pupillen etwas, was ich dort noch nie zuvor gesehen hatte: Angst.

»Flieht«, krächzte Sophia mit ihrer tiefen, zerstörten Stimme.

Dann brach sie ohne ein weiteres Wort zusammen.

3

»Sophia?«, fragte Jo-Jo. »Sophia!«

Sie ließ das Fläschchen Nagellack fallen, das sie in der Hand gehalten hatte. Das Glas zersprang auf dem Boden, sodass die erdbeerrote Flüssigkeit überallhin spritzte. Doch das bemerkte Jo-Jo gar nicht, als sie an uns vorbei auf Sophia zurannte.

Bria und ich setzten uns ebenfalls in Bewegung, doch wir waren noch keine zwei Schritte weit gekommen, als die Eingangstür ein weiteres Mal gegen die Wand knallte. Es musste jemand mit aller Kraft dagegengetreten haben, wenn sie so aufflog. Eine Sekunde später hörte man erneut Schritte, von mehreren Leuten, laut und entschieden.

Und sie kamen in unsere Richtung.

Bria und ich wechselten einen Blick, dann stürzten wir zum Tisch, auf dem das Büfett aufgebaut war. Meine Schwester wollte die Pistole in der Strohtasche unter dem Möbel erreichen, während ich nach meinen Steinsilber-Messern am äußersten Ende des Tisches griff. Doch bevor wir unsere Waffen erreichen konnten, stürmten schon sechs Männer in den Salon, alle mit Pistolen bewaffnet.

Zwei der Kerle schnappten sich Jo-Jo und zerrten sie von Sophia weg. Die Zwergin versuchte, sich zu wehren, doch die Männer waren stark. Es gelang ihnen mühelos, sie hochzuheben und gegen die nächstgelegene Wand zu drängen. Zwei weitere Kerle standen über Sophia und richteten ihre Waffen auf sie, während ein fünfter vortrat, seine Hand in Brias goldenem Haar vergrub und sie zu sich zerrte. Der sechste Mann ergriff meinen Arm und grinste mich anzüglich an. Aber er zog mich nicht vom Büfett-Tisch weg. Sein erster Fehler – und sein letzter.

Wäre es nur um mich gegangen, hätte ich sofort angegriffen. Ich hätte mir meine Messer gepackt und sie eingesetzt, um auf die Männer einzustechen, bis nichts als Hackfleisch übrig geblieben wäre. Doch das konnte ich nicht machen – nicht, wenn sie Bria, Jo-Jo und Sophia in ihrer Gewalt hatten. Meine Steinmagie würde dafür sorgen, dass ich einen Schuss in die Brust überlebte, aber Brias Eis- und die Luftmagie der Deveraux-Schwestern konnten das nicht. Nein, ich würde klug an die Sache herangehen und auf den richtigen Moment warten müssen, wenn ich angreifen wollte. Vielleicht könnte ich sogar gnädig sein und einen der Männer am Leben lassen, um ihn hinterher zu befragen. Ich wollte wissen, für wen diese Mistkerle arbeiteten und wer sie mir auf den Hals gehetzt hatte. Denn das war der einzige Grund, der mir einfiel, wieso sie Jo-Jos Salon stürmen sollten: weil sie wussten, dass »die Spinne« sich hier aufhielt und ihr Boss meinen Kopf auf einem Silbertablett serviert haben wollte.

Mit kaltem Blick musterte ich die Männer. Sie hatten verschiedene Haut- und Haarfarben und Figuren, aber sie waren durch die Bank fit, durchtrainiert und gebräunt, als verbrächten sie viel Zeit im Freien. Mein Blick fiel auf ihre Hände, die ebenfalls gebräunt, aber rau und schwielig waren. Wer auch immer sie waren, diese Kerle arbeiteten körperlich, was nicht zu ihrer fast förmlichen Kleidung passte. Alle trugen altmodische braune Anzüge und gestärkte weiße Hemden, schwere, braune Stiefel und dazu passende braune Hüte. Ihre Outfits erinnerten mich an eine Gang aus den Zwanzigerjahren, aus der Zeit der Prohibition, als Outlaws in den Bergen illegal Alkohol gebrannt hatten.

Ich musterte die Waffe, die mir der Mann an meiner Seite in die Rippen presste – es war ein altmodischer Revolver. Die Art von großer, stabiler Handfeuerwaffe, die ein ordentliches Loch in jeden reißen konnte – ob nun Zwerg, Riese, Vampir oder Elementar. In Bezug auf ihre Waffen machten sie keine halben Sachen. Schön für sie.

Dumm für uns, dass sie die Waffen eingesetzt hatten, um uns in Jo-Jos Salon zu überfallen. Es war eine Sache, mich im Pork Pit oder selbst in Fletchers Haus anzugreifen. Damit rechnete ich dieser Tage andauernd. Aber meine Freunde und meine Familie waren tabu – Punkt. Vielleicht würde ich einen der Männer tatsächlich lange genug leben lassen, damit er zu seinem Boss zurückkriechen und ihm das mitteilen konnte. Vielleicht würde ich die Botschaft auch persönlich überbringen – zusammen mit den Leichen.

Einer der Männer, die über Sophia standen, drehte sich um und rief über die Schulter: »Wir haben sie, Boss! Die Luft ist rein!«

Also war der Rädelsführer ebenfalls hier. Gut. Das würde mir ersparen, ihn aufzuspüren oder einen seiner Männer am Leben zu lassen.

Dieses Mal knallte die Tür nicht gegen die Wand, sondern öffnete sich so langsam, dass sie knarrte. Wieder erklangen Schritte – langsam und entschlossen –, dann erschien ein weiterer Mann im Türrahmen und betrat den Salon. Er war gut einen Meter achtzig groß und sein Körper war so kompakt, dass er aussah, als wäre er aus Granit gemeißelt. Seine Muskeln wölbten sich bei jedem seiner Atemzüge und seine Brust wirkte hart genug, dass eine geworfene Münze wahrscheinlich einfach davon abgeprallt wäre wie von einer Wand. Er war nicht groß genug, um als Riese zu gelten, sein Körper wies eher die robuste Physiognomie eines Zwerges auf. Wenn ich nicht ganz falschlag, vereinte sich in ihm das Blut beider Völker, sodass er vermutlich die besten Eigenschaften beider Seiten in sich trug: die beinahe undurchdringlichen Muskeln eines Zwerges kombiniert mit der Stärke eines Riesen.

Anders als die anderen Männer trug er einen schicken grauen Anzug, unter dessen Jackett rote Hosenträger zu erkennen waren. Auf seinem Kopf saß ein grauer Filzhut mit einer puscheligen roten Feder im Band. Die Krempe der Kopfbedeckung sorgte dafür, dass das Gesicht des Mannes in bedrohliche Schatten gehüllt war. In einer geschmeidigen Bewegung nahm er den Hut ab und gab damit den Blick auf sein bereits schütteres, schwarzes Haar frei, das in dem misslungenen Versuch, die kahle Stelle zu verdecken, nach hinten gekämmt worden war. Seine Augen waren dunkelbraun, die Haut olivenfarben. Falten zerfurchten seine Stirn und zierten seine Mundwinkel, doch ich konnte sein Alter schlecht schätzen. Er konnte fünfzig sein. Er konnte hundertfünfzig sein. Oder älter. Je nachdem, wie viel Zwergenblut in seinen Adern floss.

Doch das Verstörendste war, dass er Magie ausstrahlte.

Kaum hatte der Mann den Raum betreten, kam es mir so vor, als würden Dutzende kleine, heiße Bläschen auf meiner Haut zerplatzen, als würde jemand ständig direkt über meine nackten Arme Streichhölzer anzünden und wieder löschen. Dieses unangenehme, prickelnde Gefühl verriet mir, dass er offenbar ein ordentliches Maß an Feuermagie besaß … wenn man bedachte, wie heftig ich das heiße Kribbeln empfand. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu knurren.

Der Anführer musterte seine Männer und nickte einmal, offenbar zufrieden mit der Art, wie sie uns unter Kontrolle gebracht hatten. Dann trat er einen Schritt zur Seite und mir wurde klar, dass er nicht allein war. Eine Frau war ihm in den Salon gefolgt.

Sie trug ein altmodisches rotes Wickelkleid, das direkt aus einem Gangsterfilm hätte stammen können, dazu schwarze Pumps mit winzigen Pfennigabsätzen. Ihr schwarzes Haar war in engen Locken um ihren Kopf gelegt und in den Strähnen funkelten ein paar Diamantspangen. Sie hatte dieselben dunkelbraunen Augen und dieselbe olivenfarbene Haut wie der Mann, also waren die beiden offensichtlich verwandt, auch wenn sie ein wenig jünger wirkte. Außerdem war sie größer und viel schlanker als er, als hätte sie mehr vom Riesenblut abbekommen, während er eher Richtung Zwerg tendierte. Außerdem strahlte sie dieselbe Feuermagie aus wie der Anführer, wobei ihre Magie sich noch mächtiger anfühlte als seine.

Die Frau sah erst Sophia an, dann Jo-Jo. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, Bria oder mich auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Ihr Blick glitt wieder zu Sophia und blieb dort hängen. Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln, die Zähne strahlend weiß hinter den scharlachroten Lippen.

In der Zwischenzeit hatte sich der Anführer sein schwarzes Haar ordentlich nach hinten gestrichen und ein freundliches Grinsen ins Gesicht gekleistert, als wäre das hier ein Höflichkeitsbesuch. Er trat vor und da geschah etwas Seltsames. Statt zu mir zu kommen und große Sprüche darüber zu klopfen, dass er endlich »die Spinne« umbringen werde, ignorierte er mich vollkommen und ging auf Jo-Jo zu. Er hielt direkt vor ihr an und lächelte noch breiter, bis auch seine perfekt weißen Zähne strahlten.

»Miss Deveraux, es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen. Es ist lange her.« Seine Stimme klang kühl und kultiviert, aber ich bemerkte auch ein leichtes Näseln, als bemühte er sich, irgendeinen Hinterwäldler-Akzent zu unterdrücken.

»Nicht lange genug«, knurrte Jo-Jo. »Ich weiß, wieso du hier bist. Du, deine Männer und deine verdrehte Schwester können verdammt noch mal sofort wieder aus meinem Haus verschwinden.«

Seufzend schüttelte er den Kopf, als würde ihn ihre wütende Reaktion betrüben. »Ich dachte, in den letzten fünfzig Jahren wären Sie etwas vernünftiger geworden, aber ich muss feststellen, dass das nicht der Fall ist.«

Jo-Jo sparte sich eine Antwort. Stattdessen spuckte sie ihm ins Gesicht.

Alle erstarrten, außer Jo-Jo, die ihm gleich noch einmal ins Gesicht spuckte. Sie wollte es sogar ein drittes Mal tun, doch einer der Männer, der sie festhielt, rammte ihr seine Pistole in die Seite und entsicherte die Waffe. Jo-Jo hielt inne, trotzdem hob sie den Kopf und warf dem Anführer einen Blick zu, in dem der Hass förmlich kochte.

Jo-Jo war stolz auf ihre guten Manieren, daher schockierte es mich zu sehen, dass sie etwas so Barbarisches und für sie vollkommen Untypisches tat. Bria zog die Augenbrauen hoch, genauso überrascht wie ich. Als Antwort schüttelte ich leicht den Kopf. Ich wusste nicht, wer dieser Mann war oder wieso Jo-Jo ihn so feindselig musterte. Aber eines war klar: Hier ging es nicht um mich … auch wenn ich das Ganze beenden würde.

Die Frau im roten Kleid trat näher heran und hob die Hand, sodass sie direkt vor Jo-Jos Gesicht schwebte. Dann rieb sie Daumen und Zeigefinger aneinander. Sofort schossen rotglühende Funken aus ihren Fingerspitzen, als hielte sie eine Wunderkerze in der Hand. Das brennende Kribbeln auf meiner Haut verstärkte sich, als die Frau noch mehr von ihrer Feuermagie rief.

»Lass mich sie umbringen«, knurrte sie mit einer Stimme, die sogar noch näselnder klang als die des Anführers. »Oder lass mich ihr zumindest ein Auge ausbrennen. Das hat sie verdient, dafür, dass sie dich so beleidigt hat.«

»Nein, Hazel«, sagte der Boss, zog ein graues Seidentaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit die Spucke vom Gesicht. »Lass es gut sein – für den Moment.«

Hazel warf ihm einen missmutigen Blick zu, doch sie ließ die Hand sinken und trat zurück.

Der Mann verstaute das Tuch in der Hosentasche. Als er die Hand wieder herauszog, flatterte ein kleines Stück Papier auf den Boden. Er schien es allerdings nicht zu bemerken. Wahrscheinlich war es einfach nur irgendein Stück Abfall. Wie er.

»Sie müssen mir vergeben. Ich wäre früher gekommen, aber ich war in den letzten paar Monaten sehr beschäftigt. Das Geschäft boomt, seitdem Miss Monroe gestorben ist, wie Sie sich sicher vorstellen können.«

Geschäft? Was für eine Art von Geschäft führte er? Und was hatte er mit Mab zu tun?

Er hielt inne, als erwartete er eine Antwort von Jo-Jo, doch sie schwieg.

»Auf jeden Fall«, fuhr er fort, »habe ich es endlich geschafft, mich aufzuraffen und wieder mal nach Ashland zu kommen. Das habe ich jetzt schon seit einer Weile vor. Seitdem ich gehört habe, dass unser gemeinsamer Freund Mr Lane letztes Jahr gestorben ist. Eine Schande, dass er zu Tode gefoltert wurde.«

Ich runzelte die Stirn. Der Mord an Fletcher war kein Geheimnis, doch irgendetwas an der Art, wie der Anführer über ihn sprach, wirkte unheilvoll – als hätte er auf den Tod des alten Mannes schon lange Zeit gewartet, sich sogar darauf gefreut. Fletcher hatte mir einmal erzählt, dass er Jo-Jo seit ungefähr fünfzig Jahren kenne. Hatte mein Ziehvater diesen Kerl ebenfalls gekannt? Waren sie vielleicht Feinde gewesen?

Der Hass in Jo-Jos Augen brannte noch heißer, sodass es aussah, als hätten darin zwei weiße Kiesel Feuer gefangen. »Du bist kein Freund, Harley Grimes. Das warst du nie und du wirst es auch nie werden. Also verschwinde aus meinem Haus. Du warst damals nicht willkommen und bist es todsicher auch heute nicht.«

Ich hielt meine Miene ausdruckslos, aber meine Gedanken rasten, als ich hörte, mit wem wir es zu tun hatten. Harley Grimes. Ich hatte diesen Namen schon einmal gehört: als Jo-Jo mir erzählt hatte, wie Sophia vor Jahren entführt und gefoltert worden war. Grimes hatte Sophia sogar dazu gezwungen, elementares Feuer einzuatmen und ihr so die Stimmbänder zerstört.

Mein Blick schoss zu Sophia, die immer noch auf dem Boden lag. Sie erwiderte meinen Blick. Wieder erkannte ich Angst in ihren Augen – Angst nicht nur um sich selbst, sondern um uns alle. Sie wusste besser als jeder andere, wozu Harley Grimes fähig war.

Also richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Männer, die uns umgaben, auf der Suche nach Schwächen, die ich ausnutzen konnte. Wenige Sekunden der Unaufmerksamkeit, ein Zittern der Pistolenhand, irgendwas, das mir die Möglichkeit zum Angriff geben würde – oder zumindest die Chance, mich zwischen Grimes und die anderen zu stellen.

Grimes lächelte erneut, dann stieß er ein leises, bösartiges Lachen aus. »Natürlich werde ich Sie in Frieden lassen, Miss Deveraux. Ich bin schließlich kein Monster. Außerdem habe ich endlich, weswegen ich gekommen bin. Das, was Sie und Mr Lane mir vor Jahren gestohlen haben.«

Er wandte sich von Jo-Jo ab und nickte den beiden Männern zu, die Sophia bewachten. Sie streckten die Hände aus und zerrten die Grufti-Zwergin auf die Beine. Sophia verzog das Gesicht und drückte eine Hand auf ihren linken Oberschenkel, wo sich ein dunkler Fleck auf ihrer Jeans ausgebreitet hatte. Weiteres Blut sickerte aus der Schusswunde an ihrem linken Arm, gerade so zu erkennen unter dem Ärmel ihres T-Shirts. Grimes, Hazel und ihre Männer mussten ihr irgendwo aufgelauert haben – vielleicht in der Gasse hinter dem Pork Pit. Wahrscheinlich hatten sie ihr ein paar Kugeln in den Körper gejagt, um sie überwältigen und entführen zu können. Anscheinend war Sophia die Flucht gelungen und sie war hierhergeeilt, um Jo-Jo zu warnen. Aber Grimes hatte gewusst, wo sie hinwollte, und war ihr gefolgt, um zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte.

»Oh, Sophia«, flötete Grimes. »Wie sehr ich dich vermisst habe.«