Spione im Zentrum der Macht - Heribert Schwan - E-Book
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Spione im Zentrum der Macht E-Book

Heribert Schwan

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Beschreibung

Deutsch-deutsche Geschichte – spannend wie ein Krimi

Günter Guillaume kam Willy Brandt ganz nah. Als der DDR-Agent enttarnt wurde, trat der Kanzler zurück – es war die größte Spionageaffäre der deutschen Geschichte. Doch Guillaume war nur die Spitze des Eisbergs. Es gab Tausende Stasi-Spitzel, die aus dem »Operationsgebiet« BRD berichteten.
Heribert Schwan hat über 80.000 Blatt Stasi-Akten gesichtet, um die Ausmaße der DDR-Spionage im Westen nachzuvollziehen. Er zeigt, wie die Stasi das gesamte Bonner Spitzenpersonal ins Visier nahm, darunter auch die Kanzler, von Adenauer bis Kohl. Doch mehr noch, das MfS streute auch aktiv Fehlinformationen, um die BRD-Regierungen und führende Persönlichkeiten zu diffamieren. Schwan gibt Einblick in die Strategien, Pläne und Tricks der selbst ernannten »Kundschafter des Friedens« und erklärt, wie das Agentennetz funktionierte. »Spione im Zentrum der Macht« ist ein Aufklärungswerk, das die 40 Jahre, in den es zwei deutsche Staaten gab, beklemmend genau beleuchtet. Es führt dem Leser vor Augen, wie weit die Macht der Stasi im Westen reichte und wie durchtrieben die Methoden der DDR-Auslandsspionage waren.

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Seitenzahl: 478

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Ende 1989/Anfang 1990: Die Mauer war gefallen und in Berlin verhandelte man über die Zukunft der DDR. Währenddessen erledigten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit einen geheimen Auftrag: Sie sollten die über Jahrzehnte pedantisch angelegten Akten und Spitzelberichte vernichten. Insbesondere von den verdeckten Spionageangriffen aufs Bonner Kanzleramt, diesen Stichen ins Herz des Klassenfeindes, durfte es keine Spuren geben. Um ein Haar wäre das Verdunkelungsmanöver gelungen. Doch aller Gründlichkeit zum Trotz blieb so manches Dokument erhalten.

Heribert Schwan hat über 81.000 Blatt Aktenmaterial ausgewertet, um die systematische Unterwanderung der Bonner Regierungen von 1949 bis 1989 nachzuzeichnen. Wie konnte es der Stasi gelingen, ihre Spitzel selbst im Kanzleramt einzuschleusen? Wie wurden die Inoffiziellen Mitarbeiter angeworben und ausgebildet – und was hat sie zu ihrem Verrat bewogen? Auf welchen Wegen wurden die geheimen Berichte und Unterlagen übermittelt? An zahlreichen Beispielen zeigt Schwan, mit welchem gewaltigen Aufwand das Ministerium für Staatssicherheit die gesamte Führungsriege der BRD ins Visier nahm: von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, von Herbert Wehner bis Hans-Dietrich Genscher.

Heribert Schwan

Spione

im Zentrum

der Macht

Wie die Stasi alle Regierungen seit Adenauer bespitzelt hat

Wilhelm Heyne Verlag München

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Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Tilman Jens

Redaktion: Heike Wolter

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © picture-alliance / Sven Simon Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-22928-3V001

www.heyne.de

Inhalt

Vorbemerkung

1. Auf den Kanzler kommt es an

2. Feindbild Adenauer

3. Adenauers Kabinettsriege

4. Ludwig Erhards Kanzlerschaft

5. Kanzler Kiesinger und sein Minister Wehner

6. Willy Brandt im Visier

7. Die Guillaume-Affäre

8. Verschärfte Observation: Helmut Schmidt unter Beobachtung

9. Alte und neue Minister

10. Aktion »Dialog« – Das Treffen zwischen Honecker und Schmidt

11. Affären im Auswärtigen Amt: Die Akte Genscher

12. Das Spinnennetz der Bonner Diplomaten

13. Helmut Kohl – umzingelt von Verrätern

14. Kohl und seine Kabinette

15. Militärspionage in den Achtzigern

Nachbemerkung

Literaturhinweise

Personenregister

Sachregister

Vorbemerkung

Verdammt lang her! Im März 2005 stellte ich beim »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR« einen Antrag auf Herausgabe von Aktenkopien, die über die Ausspähung der Bundeskanzler und Kabinettsmitglieder von 1949 bis 1989 durch die Staatssicherheit der DDR Auskunft geben. In insgesamt 66 Fällen wurden ehemalige Kanzler, Bundesministerinnen und Bundesminister über mein Forschungsprojekt in Kenntnis gesetzt. Keiner hatte Einwände. Im September 2008 waren die Nachfragen der Behörde abgeschlossen. Mir wurde ein schwindelerregender Berg von über 81.000 Blatt Aktenmaterial übergegeben.

197 Inoffiziellen Mitarbeitern konnte eine »wissentliche und willentliche Zusammenarbeit« mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nachgewiesen werden. Sie waren auf die Bonner Kabinette von Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl angesetzt. Diese wahre Heerschar von Spitzeln versorgte Ost-Berlin mit Informationen über die Bonner Regierungen und die Politprominenz in der provisorischen Hauptstadt am Rhein. Die tatsächliche Zahl der Spitzel war vermutlich etwas höher, da mancher nicht entschlüsselt werden konnte. Bekanntlich wurden die meisten Dokumente der DDR-Auslandsspionage (HVA) in den Wendemonaten 1989/90 vernichtet. Bei den in diesem Buch geschilderten Fällen werden die Klarnamen in der Regel genannt; auch wo – aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen – nur ein Initial angeführt wird, sind die Namen dem Verfasser bekannt.

Dieses Buch handelt von den Mitteln und Methoden des Ministeriums für Staatssicherheit mit denen das Kanzleramt und die Bonner Ministerien ausspioniert wurden, und vor allem von den erstmalig erlangten Inhalten der erbeuteten Informationen.

Wo waren die Spitzel platziert? Wie gelangten sie an ihre Informationen, die dem SED-Staat so wichtig erschienen? Wie war der Transport der geheimen Berichte und Unterlagen organisiert? Wie wurden die IMs im »Operationsgebiet« – wie die Bundesrepublik hieß – rekrutiert, angeworben und ausgebildet? Aus welchen Milieus stammten sie, und was hat sie zu ihrem Verrat bewogen? Wie gelang es den MfS-Offizieren, zu den »Kundschaftern für den Frieden« – so wurden die Westspione im Stasijargon genannt – ein Vertrauensverhältnis aufzubauen? Fragen über Fragen!

»Spione im Zentrum der Macht« verknüpft die Erkenntnisse der spät entschlüsselten und ungemein aufschlussreichen Datenträger des DDR-Geheimdienstes mit den Ermittlungsergebnissen und Urteilen der bundesdeutschen Justiz. Diese Verflechtung ermöglicht es, die Geschichte der ersten 40 Jahre der Bundesrepublik aus gänzlich ungewohnter Perspektive, anhand der Spionagetätigkeit Ost-Berlins zu beschreiben – und zugleich einen zeitgeschichtlichen Einblick in die mit raffiniertesten Mitteln betriebene Arbeit des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit zu gewinnen. Dabei habe ich viel sachkundige Unterstützung erfahren.

Mein allererster Dank gilt Roberto Welzel, der als Sachgebietsleiter des Referats Forschung und Medien in der Stasiunterlagenbehörde, nicht nur für dieses Projekt, bei Recherche und fachlicher Beratung wahrlich Herausragendes geleistet hat. Vor allem in den letzten Monaten, als der Abgabetermin des Manuskripts näherrückte, war er unverzichtbarer Ansprechpartner, auf dessen fachliche Kompetenz ich immer wieder bauen konnte. Ohne seine himmlische Geduld, ohne Welzels Bereitschaft, sein über die Jahre erworbenes Wissen über den militärischen Apparat des MfS mit mir zu teilen, hätte dieses Buch so, wie es nun ist, kaum entstehen können.

Großer Dank auch an den ehemaligen Bundesanwalt Joachim Lampe. Ich hatte die Möglichkeit, bei der Karlsruher Bundesanwaltschaft, in rechtlich zulässigem Rahmen, Einsicht in Urteile, Urkunden und richtungsweisende Entscheidungen und Urkunden zu nehmen. Dabei stand mir der heutige Anwalt und langjährige Experte für die deutsch-deutsche Spionage im Kalten Krieg verlässlich und mit hoher juristischer Kompetenz zur Seite.

Heinz Fehlauer, Sachbearbeiter beim Bundesarchiv in der Abteilung Bereitstellung, überprüfte über 50 Bonner Minister und Ministerinnen nach einer möglichen Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen. Dank seiner großen Kenntnis konnten die Angaben der Stasi-Rechercheure über vermutete Verstrickungen Bonner Spitzenpolitiker in nationalsozialistische Verbrechen gegengeprüft werden.

Roswitha Schwan-Michels, seit meiner Dissertation vor fast einem halben Jahrhundert stets meine erste Lektorin, war mir – wie bei allen Publikationen zuvor – einmal mehr eine kritische und kluge Ratgeberin. Auch ihr gebührt besonderer Dank.

Last, but not least Tilman Jens – diesmal in der Rolle des Lektors. Meinem Freund und Kollegen verdanke ich so manchen hilfreichen und gelegentlich unumgänglichen Änderungsvorschlag. Ihm gelang es auch, die Sprache des Geheimdienstes auf ein möglichst erträgliches Maß zu reduzieren und Juristendeutsch, wo immer möglich, zu vermeiden. Großes Lob!

Während der langen Arbeit am Schreibtisch, die meinem Rücken zusetzte, verhalf mir der Physiotherapeut Alexander Finzel von der PhysioSport zu einem nahezu schmerzfreien Zehn-Stunden-Tag am heimischen Computer. Auch bei ihm möchte ich mich an dieser Stelle bedanken.

Köln, im Juli 2019

1. Auf den Kanzler kommt es an

Ende 1989/Anfang 1990: Die Mauer war gefallen und in Berlin verhandelte man über die Zukunft der DDR. Währenddessen hatten zahlreiche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit einen geheimen Auftrag zu erledigen: Sie sollten all die pedantisch angelegten Akten und Spitzelberichte vernichten. Keine Operation der HVA, der mit dem Auslandsnachrichtendienst befassten Hauptverwaltung Aufklärung, sollte ans Licht kommen. Die verdeckten Spionage-Angriffe aufs Bonner Kanzleramt, diese Stiche ins Herz des Klassenfeindes, sollten schon gar nicht publik werden.

Um ein Haar wäre das generalstabsmäßig durchgeführte Verdunklungsmanöver in Gänze gelungen und eine zentrale Hinterlassenschaft des Kalten Krieges für immer ausgelöscht worden. Doch aller Gründlichkeit und allen Vertuschungsversuchen im Zuge der Selbstauflösung zum Trotz: Der Versuch, Tabula rasa zu machen, hatte, wie wir heute wissen, Schwachstellen. In Parteiakten, in Rechenschaftsberichten an andere Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit blieb so manches Aktenstück erhalten.

Dann lieferte 2003 der amerikanische Geheimdienst CIA die sogenannten Rosenholz-Dateien an die Bundesrepublik aus: 381 CD-ROMs, auf denen vor allem mikroverfilmte Karteikarten der HVA festgehalten waren: persönliche Angaben zu den IMs, der Heerschar der Inoffiziellen Mitarbeiter, ihr Auftrag, das Datum der Anwerbung. Insgesamt 350.000 Dateien! Nur zu deutschen Staatsangehörigen. Die Originale hatten die Mitarbeiter auf Weisung vernichtet, eine Sicherungs-Kopie aber blieb unter bis heute mysteriösen Umständen erhalten. Noch mysteriöser ist, dass gerade die CIA diese mikroverfilmte Sicherungskopie erhalten hat.

Ein hochexplosiver Schatz, dokumentieren diese Karteikarten – obwohl aufgrund vernichteter Aktenvorgänge häufig keine konkrete Zuordnung zu einem Klarnamen möglich ist – doch das gewaltige Ausmaß der DDR-Auslandsspionage auf dem Gebiet der Bundesrepublik.

Schon zuvor war es dem Spezialisten Stephan Konopatzky von der Stasiunterlagenbehörde 1998 nach jahrelanger Kärrnerarbeit gelungen, das elektronische Datenbanksystem der HVA zu dechiffrieren: SIRA, das »System zur Informations-Recherche der HVA«. Hier fanden sich weitere wichtige Details zu Personen und verdeckten Operationen, die – nach dem Willen der Geheimdienstler der untergegangenen DDR – unter keinen Umständen öffentlich werden sollten. Ganz aufgegangen ist die Rechnung nicht.

Allein diesem Buch über die systematische Unterwanderung der Bonner Regierungen von 1949 bis 1989 liegen exakt 81.766 Blatt aus Akten sowie aus den Rosenholz- und SIRA-Dateien zugrunde. Lauter unfreiwillige, trotz des gewaltigen Umfangs nur rudimentäre Hinterlassenschaften der HVA zumeist, die in Erich Mielkes Ministerium für Staatssicherheit eingegliedert war und 34 Jahre vor allem einem einzigen Mann gehorchte: Markus Wolf. Lange – bis zu einem Foto, das 1979 endlich auftauchte – galt er als »Mann ohne Gesicht«, was die Arbeit seiner Hauptverwaltung umso mysteriöser machte. Seit 1952 war Wolf der Leiter des »Außenpolitischen Nachrichtendienstes« der DDR, zuletzt im Range eines Generalobersten. Er lenkte die Geschicke des riesigen Apparates von Hauptamtlichen und Inoffiziellen Mitarbeitern, deren einzige Aufgabe es war, Spionage – vor allem in der Bundesrepublik – zu betreiben.

Diese Spionage diente dem Klassenkampf. Ging es nach dem Willen von Wolf und anderen, sollte sie der DDR unmittelbare Einflussnahme beim Klassenfeind ermöglichen: in der Wirtschaft, beim Militär – und besonders in der Politik. Die Maßnahmen erwiesen sich als unterschiedlich erfolgreich. Die Abteilung A1 – »BRD-Staatsapparat« – zählte zu den »erfolgreicheren«. Immer wieder gelang es ihren Mitarbeitern, in das Machtzentrum der Bundesrepublik vorzudringen, dort brisante Informationen zu erlangen und hin und wieder gezielt Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen.

Eines der aufregendsten Dokumente über diese Abteilung, das der Zerstörung 1989/90 entging, ist eine vergilbte Dissertation aus dem Jahr 1974. Verfasser waren zwei Absolventen der einstigen Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam. Wolfs Getreue haben die Vernichtung der akademischen Schrift von Otto Wendel und Rudolf Genschow vermutlich schlichtweg vergessen. Der Titel ist so holzig wie das Papier des Typoskripts: »Probleme des Aufbaus operativer Vorgänge zum systemischen Eindringen in die exekutive Führungszentrale des westdeutschen Bundeskanzlers«. Doch die Studie, freigegeben »Nur für den Dienstgebrauch«, hat es in sich. Sie illustriert, ohne Scheu vor Details, die frühen Abenteuer der DDR-Auslandsspionage in der Ära Adenauer – und war damit die Blaupause für die Bespitzelung aller deutschen Bundeskanzler.

Markus Wolf persönlich hat die wissenschaftliche Untersuchung angeregt und befördert. Die Autoren, beide verstorben, hatten offenkundig weitreichende Einsicht in die Dokumente, die eigentlich Staatsgeheimnis waren. Geradezu detailversessen und stramm linientreu schildern sie, wie es der DDR-Auslandsspionage gelang, in die Administration des ersten Bundeskanzlers einzudringen. Garanten des Erfolges waren dabei die sogenannten Residenten – geschickt platzierte, ideologisch gestählte Undercover-Agenten auf dem Terrain des Klassenfeindes. Allesamt waren sie ausgestattet mit sorgsam gefälschten Identitäten. Spionage als Reißbrett-Arbeit, kaltes Kalkül vom ersten bis zum letzten Tag der Mission.

Einer dieser Residenten war Albert Weißbach, Oberleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Am 18. August 1961, fünf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer, wurde er mit dem »Ehrenzeichen der Deutschen Volkspartei«, der Medaille in Bronze für »Treue Dienste« ausgezeichnet. Über Jahre hatte er als Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter (HIM) des MfS »wertvolle Pionierarbeit« im Operationsgebiet, so hieß die Bundespolitik Deutschland im Stasijargon, geleistet. Seine Vorgesetzten in Ost-Berlin bescheinigten ihm »hohe Einsatzbereitschaft, Klassenbewusstsein, Mut und Disziplin«. Sogar als er in Bonn schließlich unter Verdacht geriet, professioneller Zuträger des MfS zu sein, habe Weißbach »Mut und Umsicht« bewiesen und sich dem »Zugriff des Feindes« – gemeint war der bundesdeutsche Verfassungsschutz – durch Flucht entzogen und »dadurch politisch-operativen Schaden verhindert«. Im Jahr 1962 war er in die DDR zurückgekehrt. Als lebende Wanze in der Kommandozentrale der Bonner Republik, als »Resident«, hatte er für alle Tage ausgedient.

Am Ende seines Einsatzes bescheinigten ihm die Vorgesetzten, »Voraussetzungen zum Eindringen in ein feindliches Spitzenobjekt geschaffen zu haben«, in Konrad Adenauers Bundeskanzleramt, ins Palais Schaumburg. Der Mann hatte Bahnbrechendes geleistet. Ein wahrer Pionier!

Kein Geringerer als Markus Wolf, der feingeistige, aber nicht eben zimperliche Befehlshaber über eine Armada von DDR-Auslandsagenten, hatte in einem »streng geheimen« Papier vom Oktober 1952 vorgeschlagen, Weißbach unter dem Decknamen »Franz Schwarz« zu führen und ihn in langjähriger Kleinarbeit auf seine Geheimmission beim Klassenfeind vorzubereiten. Nach Wolfs Angaben wurde Weißbach 1922 im Erzgebirge geboren, besuchte acht Jahre die Volksschule und drei Jahre die Berufsschule, war Mitglied bei der Hitlerjugend und wurde 1941 zur Wehrmacht eingezogen. Soldat, Kanonier an der Ostfront, Dienstgrad: Obergefreiter. Am Tag der Kapitulation 1945 geriet er in sowjetische Gefangenschaft, wo er die Antifa-Schule besuchte. Nach seiner Heimkehr 1949 trat er der SED bei und arbeitete bei der Nationalen Front sowie der FDJ. In einer Maschinenausgleichsstation (MAS) war er Kulturleiter. 1950 schickte ihn die Partei zum Zweijahreslehrgang der Deutschen Verwaltungsakademie »Walter Ulbricht«. Dort wurde er von einem Genossen angesprochen und fürs MfS angeworben.

Markus Wolf kümmerte sich persönlich um Weißbach. In einer abermals »streng geheimen« Notiz schrieb er: »Obwohl Schwarz (Albert Weißbach) von Beruf Bäcker ist und aus einem kleinen Dorf im Erzgebirge stammt, macht er jetzt den Eindruck eines gut gebildeten, intelligenten und redegewandten Menschen. Er hat ein solides politisches Grundwissen, neigt allerdings nach Besuch der Verwaltungsakademie ein wenig zum rein theoretischen Herangehen an die Fragen. Seine gesamte Familie befindet sich auf dem Gebiet der DDR, sodass er beim Einsatz in Westdeutschland unter anderem Namen gehen müsste, zumal die Tatsache seines Studiums an der Verwaltungsakademie dem Gegner bekannt sein kann. Schwarz erkennt die Bedeutung des Kampfes um die Einheit Deutschlands und ist bereit, seinen Beitrag zur Durchführung dieser Aufgabe auf besonderem Gebiet zu leisten.« Wolf schlug vor, »Schwarz« zum Residenten auszubilden und ihn systematisch auf seinen Einsatz vorzubereiten.

Der Stasiunterlagenbehörde zufolge verfügte die Ost-Berliner Auslandsspionage HVA noch 1988 über 32 Residenten in der Bundesrepublik. Genosse Albert Weißbach alias Franz Schwarz war einer der ersten. Anfang Oktober 1952 wurde mit seiner systematischen Schulung begonnen. Sie dauerte bis zum Januar 1953. Weißbach erhielt seinen Decknamen »Franz«. Bei der Polizei und beim Wohnungsamt hingegen wurde er unter dem Namen »Albert Nagel« geführt. Noch während der Ausbildung zum Agenten fiel die Entscheidung, ihn unter falschem Namen in die Bundesrepublik zu schleusen. Dabei galt es zunächst, einige Hürden zu überwinden: So hatte der künftige Resident keine Verwandten in Westdeutschland, die eine erste Möglichkeit zur Kontaktaufnahme geboten hätten. Mehrere Versuche, Verbindung zu Bekannten in der Bundesrepublik aufzunehmen, schlugen fehl. Und selbst an einem »gangbaren Beruf« fehlte es.

Schließlich entwickelten die Verantwortlichen einen Plan, der vielversprechend schien. Denn »Franz« konnte sich eines Stiefbruders entsinnen, der in der Fremdenlegion gefallen war. Auf Geheiß des Ministeriums für Staatssicherheit setzte sich »Franz« umgehend mit der französischen Militärbehörde West-Berlin in Verbindung, unter dem Vorwand, er wolle in der Bundesrepublik seinen gefallenen Bruder suchen. Er glaube nicht an dessen Tod. Über einen Bekannten aus sowjetischer Gefangenschaft bekam »Franz« eine Aufenthaltsgenehmigung in Solingen. Da er keinesfalls unter seinem richtigen Namen nach Westdeutschland einreisen konnte, wurde er von seinem Stiefvater pro forma adoptiert, nahm den Namen Gläser an und machte sich im April 1953, rundum getarnt, auf ins Bergische Land. Alles von langer Hand geplant!

Dank der Unterstützung eines Geschäftsmanns, den er zufällig kennengelernt hatte, fand »Franz« bald einen Posten im Interzonenhandel und bekam damit die für seine Mission so wichtige unbefristete Aufenthaltsgenehmigung im Westen. Den Einsatzbefehl aus Ost-Berlin befolgend, gelang es ihm binnen kürzester Frist, in Bonn eine Wohnung zu mieten, in der er fortan als Resident für den DDR-Geheimdienst tätig werden konnte. Das war die Grundvoraussetzung für seinen zentralen Auftrag: Adenauers Kanzleramt auszuspähen. Es sollte allerdings mehr als drei Jahre dauern, bis dem Inoffiziellen Mitarbeiter »Franz« ein erster Erfolg beschieden war: eine Angestellte im Bonner Bundeskanzleramt als Spionin für die DDR zu gewinnen. Die näheren Umstände sind wegen der großangelegten Dokumentenvernichtung weitestgehend unbekannt. Gesichert ist allerdings, dass es sich bei der Angeworbenen um die 1922 in Bonn geborene Erna K. handelte. Für sie wurden im Mai 1956, MfS-intern, Karteikarten angelegt. In den Rosenholz-Dateien sind unter dem Decknamen »Knorr« die Grunddaten zur Person, zum vorgangsführenden Mitarbeiter, das Datum, an dem die Kartei angelegt wurde sowie eine Archiv- und Registriernummer vermerkt. Der Karteikarte zu entnehmen ist auch, dass Frau »Knorr« mehr als zehn Jahre lang für den Ost-Berliner Geheimdienst tätig war. Aber über den tatsächlichen Umfang und den konkreten Inhalt des jahrelangen Verrats existieren keinerlei Dokumente mehr. Unklar bleibt auch, wie »Franz« die damalige Mitzwanzigerin erst für sich eingenommen, dann für das MfS angeworben und für eine Zusammenarbeit mit dem Ost-Berliner Geheimdienst gewonnen hat. Ebenso wenig wissen wir, wann und warum »Knorr« sich von ihrem Residenten »Franz« trennte, und doch weiterhin der DDR-Auslandsspionage zu Diensten stand.

Unzweifelhaft ist: Der zeitliche wie ökonomische Aufwand der Aktion war beträchtlich. Die Quelle »Knorr« muss in den Augen der DDR-Staatssicherheit von großer Bedeutung gewesen sein. Ob Aufwand und Ertrag in angemessenem Verhältnis standen, ist allerdings keineswegs sicher. In der Hysterie der deutsch-deutschen Eiszeit wurden auch ausgekundschaftete Banalitäten, insbesondere aus dem Zentrum der Macht, als wertvolle Beutestücke, als Pretiosen, gehandelt.

Der offenkundig abservierte »Franz«, damals Mitte 30, sah blendend aus, pflegte Umgang mit der besseren Gesellschaft der Hauptstadt und machte schon bald nach »Knorrs« Abgang erneut die Bekanntschaft einer Sekretärin, die im Palais Schaumburg, also direkt im Bundeskanzleramt, arbeitete. Wie ein Geschenk des Himmels muss er den abermaligen Kontakt zu einer Insiderin des Bonner Machtzentrums empfunden haben. Als empfindsamer Spion schätzte er die Bedeutung dieser Verbindung richtig ein. Nach Rücksprache mit der Ost-Berliner Zentrale legte ihm sein damaliger Führungsoffizier Helmut Reinhold dringlich nahe, am Ball zu bleiben. Auftragsgemäß organisierte IM »Franz« eine Wochenend-Sause mit mehreren Bekannten, zu der, versteht sich, auch die Sekretärin eingeladen wurde. »Aus Gründen der Konspiration«, so heißt es in der Dissertation aus dem Hause Wolf, ließ »Franz« zunächst kein besonderes Interesse an der attraktiven Frau erkennen. Dem Spionageprofi kam es zunächst lediglich darauf an, mehr zur Person der Adenauer-Bediensteten in Erfahrung zu bringen und erste »Bearbeitungsmöglichkeiten« zu erkunden.

Unterdessen wurde der Bonnerin stasi-intern der Deckname »Gudrun« verpasst. Der Resident hatte mittlerweile einiges herausbekommen und meldete der Zentrale in Ost-Berlin: »Gudrun ist Sekretärin beim Referenten des Bundeskanzlers Adenauer. Sie ist 34 Jahre alt, ledig, ohne festen Freund. Ihr Vater ist verstorben. Zu ihrer Mutter unterhält sie enge Verbindung. Näheres über ihre Geschwister wurde nicht bekannt. ›Gudrun‹ legt viel Wert auf gute Garderobe.« Sie zeige Interesse für politische Tagesfragen, ohne dass man daraus auf ihre politische Grundhaltung schließen könne. »Gudrun ist intelligent, besitzt eine gute Allgemeinbildung und ein sicheres Auftreten. Sie ist gesellig und tanzfreudig.« Allerdings habe sie während des Kontaktes zu IM »Franz« keinerlei Angaben über ihren Chef, einen Referenten des Bundeskanzlers, gemacht.

Im Ost-Berliner Hauptsitz des MfS wurden nun augenblicklich die Angaben zu Person und Arbeitsstelle überprüft. Hinter dieser »Gudrun« verbarg sich Grete B., 1922 in Boppard am Rhein geboren, wohnhaft in Bad Godesberg. Sie besaß aus Sicht der DDR-Auslandsspionage wiederum »einen hohen nachrichtendienstlichen Wert«. Die Einschätzung erwies sich als zutreffend.

Umgehend jedenfalls folgte die Weisung, mit der »operativen Bearbeitung« – also mit der Anwerbung – zu beginnen. Doch, leider, es gab Probleme: »Gudrun« ließ keinerlei Sympathien für den gleichaltrigen Mann aus dem Erzgebirge erkennen. Die HVA reagierte schnell, um den vermeintlich dicken Fisch nicht vom Haken zu lassen.

Also begab sich der für »Gudrun« zuständige Ost-Berliner Führungsoffizier Helmut Reinhold auf die Suche nach Ersatz. Beizuschaffen war ein verlässlicher Inoffizieller Mitarbeiter mit ausgeprägten Werberqualitäten und der Fähigkeit, einen stabilen Kontakt zu »Gudrun« herzustellen. So schlug die Stunde von IM »Astor«, dessen Klarname nicht mehr zu ermitteln ist. Wir wissen: Er war 56 Jahre alt und entstammte einer gutbürgerlichen Hamburger Familie. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg – so vermerkt es die von Markus Wolf geförderte Dissertation – war er leidenschaftlicher Flieger, während des Krieges dann Offizier im Generalstab. Bei Kampfhandlungen geriet er in sowjetische Gefangenschaft, wo er, so die akademische Erhebung, »politisch progressiv« beeinflusst werden konnte »und sich die marxistisch-leninistische Weltanschauung aneignete«. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft hielt er sich kurzfristig in der DDR auf und wurde auf politisch-ideologischer Basis als IM des MfS verpflichtet. Danach kehrte er in seine Heimatstadt Hamburg zurück.

»Astor« war geschieden, ungebunden, also auch willens und in der Lage, spezielle Dienste im Auftrag der DDR-Auslandsspionage zu leisten. Er schien für die kommende Aufgabe geradezu prädestiniert, »weil er über große Lebenserfahrungen und eine attraktive gesellschaftliche Position verfügte, um bei einer ledigen weiblichen Person Interesse für eine Bekanntschaft zu wecken«. Er hatte »Gudrun« etwas zu bieten. Und bei eventuellen Sicherheitsüberprüfungen waren keine Gefahren zu befürchten. Aber hatte »Astor« bei »Gudrun« eine Chance? Würde sich die Mitarbeiterin des Kanzlers tatsächlich in den Agenten verlieben?

Noch hatte sich »Franz« nicht ganz aus der Operation zurückgezogen und gab »Astor« den Hinweis, »Gudrun« werde bald zu einem Kuraufenthalt in die Nähe von Frankfurt am Main reisen. Die beiden IM entwickelten den Plan, »Gudruns« Kuraufenthalt zur direkten Kontaktaufnahme zu nutzen. Beide waren sie – nicht frei von männlichem Chauvinismus – der festen Überzeugung, dass ledige Frauen auf Kur besonders empfänglich für eine Anwerbung seien.

»Astor« ließ sich also eine Heilbehandlung just in jenem Ort verschreiben, an dem sich »Gudrun« aufhielt. Der gewiefte Spion bekam ihre Anschrift heraus und mietete sich im Kurhotel ein, in dem auch sie logierte. Damit waren alle Voraussetzungen geschaffen, um sich unauffällig der Zielperson zu nähern. Zwei Tage lang beobachtete der Agent ihr Verhalten, ihren Umgang. Schließlich sprach er sie in einem Tanzlokal an. Er wurde erhört. Zu fortgeschrittener Stunde vertraute sie »Astor« ein Geheimnis an und gab zu verstehen, dass sie Sekretärin eines Referenten des Bundeskanzlers sei. »Astor« gab vor, das nicht zu glauben und forderte so ihre Mitteilsamkeit heraus. Dabei erfuhr er Namen und Wohnort von »Gudrun« und ihrem Chef. In gelöster Stimmung plaudernd bis in die frühen Morgenstunden, nahm die nichts Böses ahnende Frau »Astors« Angebot an, sie am Ende des Kuraufenthalts mit seinem Pkw nach Mannheim zu fahren, wo sie mit ihrem Chef verabredet war.

Die Begegnung im Kurort war zwar nur kurz, dennoch hatte der neue Resident erste wichtige Erkenntnisse gewonnen. Die Sekretärin im Bonner Zentrum der Macht war unzufrieden und klagte über das Missverhältnis zwischen intensiver Arbeit und geringer Entlohnung. Außerdem ließ sie durchblicken, dass sie den Umgang mit seriösen, materiell gesicherten älteren Herren schätze. All das haben die Verfasser der Dissertation, dieser einzigartigen Quelle, minutiös dokumentiert.

»Astor« hatte in der Zwischenzeit für seine Geschäfte in Köln ein Büro eingerichtet und baute seinen repräsentativen Freundeskreis weiter aus. Er war im Kölner Luftwaffenring, einem Verein von Freunden der alten und der neuen Luftwaffe, aktiv und wurde Mitglied im Internationalen Aero-Club, ebenso im Godesberger Luftsportclub. Er erneuerte seine Flugscheine und verkehrte, besonders in Godesberg, mit der Prominenz – mit Ministern der Bonner Regierung, mit Diplomaten und Industriellen. Kurzum: Der Stasi-Resident war blendend vernetzt.

Von »Gudrun« aber kannte er zunächst nur Vor- und Zunamen. Und er wusste, dass sie in Bonn-Bad Godesberg wohnte. Ihre Adresse stand nicht im Telefonbuch. Ein älterer Herr, den »Astor« während des Kuraufenthalts kennengelernt hatte, half weiter. »Astor« zögerte keinen Moment und besuchte »Gudrun« überraschend in ihrer Wohnung. Er übermittelte artig Grüße ihres Bekannten. Vor allem aber wolle er sein Versprechen aus der Kur einlösen und sie zu einer Flugsportveranstaltung einladen. »Gudrun« zeigte sich erstaunt, aber keineswegs abweisend. Sie klagte über Einsamkeit. Außer ihren Verwandten habe sie niemanden und würde deshalb kaum ausgehen.

Scheinbar spontan, aber natürlich wohlüberlegt lud »Astor« die Frau aus dem Kanzleramt »zu einem vergnüglichen Spaß« nach Düsseldorf ein. Sie nahm dankend an und willigte auch ein, ihn zum Flugfest des Clubs zu begleiten. Während der Spion in »Gudruns« Wohnung war, brachte ein Godesberger CDU-Mitglied eine Einladung für eine Wahlversammlung vorbei, auf der Bundeskanzler Adenauer sprechen sollte. »Astor« bekundete größtes Interesse, den Kanzler einmal aus der Nähe zu erleben. »Gudrun« versprach, ihm eine Karte zu besorgen. Gleichzeitig gab sie ihm ihre Telefonnummer am Arbeitsplatz, um für ihn auch kurzfristig erreichbar zu sein. Das nennt man einen Volltreffer!

Schon am nächsten Tag erhielt »Astor« tatsächlich die gewünschte Eintrittskarte. Es war sogar ein Ehrenplatz. Nach der Veranstaltung trafen sie sich wieder; »Gudrun« stellte ihm ihren Chef aus dem Kanzleramt vor. In Ost-Berlin war man rundum zufrieden mit dem Beginn der Aktion.

»Astor« blieb am Ball, führte die neue Bekanntschaft beim Godesberger Luftsportclub ein und machte »Gudrun« mit seinen Freunden bekannt. Wie versprochen, unternahm er mit ihr einen Rundflug, was die heftig hofierte Sekretärin offensichtlich genoss. Sie äußerte den Wunsch, bald auch einmal den Wohnort ihrer Mutter zu überfliegen.

Die HVA des Markus Wolf hatte mit der Verpflichtung von IM »Astor« auf die goldrichtige Karte gesetzt. Der Hanseat erfüllte alle Anforderungen, um mit der Angestellten des Bundeskanzleramtes in näheren Kontakt zu treten. Hinzu kam, dass er als Bürger der Bundesrepublik eine gesicherte materielle Existenz nachweisen konnte und einen guten Leumund hatte. Seine Vorgesetzten in Ost-Berlin waren des Lobes voll. Er sei ihren Instruktionen exakt gefolgt, ohne auf einen voreilig schnellen Erfolg bedacht gewesen zu sein. »Astor« wurde bescheinigt, Psyche und Mentalität der zu kontaktierenden Person genau beobachtet und analysiert zu haben.

In den folgenden Wochen entwickelte sich ein zunehmend enges freundschaftliches Verhältnis zwischen »Astor« und »Gudrun«. Er konnte sie im Amt jederzeit anrufen oder von dort abholen. »Gudrun« wiederum besuchte »Astor« wiederholt in seinem Kölner Büro. Gemeinsam fuhren sie zu Gudruns Mutter. Der clevere »Astor«, augenscheinlich mit einem recht prallen Spesensäckel ausgestattet, beschenkte die Bonner Freundin mit mehreren Einrichtungsgegenständen für ihre Godesberger Wohnung. Großen Wert legte »Gudrun« auf ihren Ruf im Wohngebiet und achtete peinlich genau darauf, dass »Astor« nicht über Gebühr lange bei ihr blieb. Herrenbesuch nach 22 Uhr: undenkbar! – Diese Agentengeschichte ist nicht zuletzt ein bundesrepublikanisches Sittengemälde aus den 1950er-Jahren. Das Autorenduo der Dissertation notiert freilich in verstocktem Geheimdienst-Jargon: »Ungeachtet dessen kam es bald zu ersten intimen Handlungen«.

Gezielt arbeitete Astor daran, »Gudruns« Vertrauen in ihn zu vertiefen. Sie erhielt Kenntnis vom Briefwechsel mit seinem Sohn, der ein vermögender Finanzmakler in Hamburg war und mit Millionenbeträgen jonglierte. Die von der Stasi Erwählte zeigte zunehmend Interesse, den Freund bei seinen Handelsgeschäften zu unterstützen und langfristig mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Verbindung schien ihrerseits auf Dauer angelegt.

Als »Astor«, von der Genealogie seines Decknamens Spross einer der reichsten Familien der Welt, einen Dienstwagen benötigte, rief Gudrun einfach im »Auftrag des Bundeskanzleramtes« beim Generalvertreter der Mercedes-Werke in Köln an und wies darauf hin, dass das Bundeskanzleramt wünsche, dass »Astor« einen Mercedes mit allen Extras erhalte. Sie hatte im Amt augenscheinlich einen Posten mit Einfluss. Der Benz-Vertreter erschien jedenfalls prompt in »Astors« Kölner Büro, um die Details zu besprechen. Gleichfalls im »Namen des Bundeskanzleramtes« erwirkte »Gudrun« durch ein Telefonat mit dem zuständigen Beamten der Stadt Bonn für ihren Romeo eine Baugenehmigung, die den geltenden Richtlinien eigentlich widersprach.

Sie tat alles für ihn: »Gudrun« informierte »Astor«, dass seine Person von der Bonner Sicherungsgruppe überprüft werde. Aber es fand sich offenbar kein Hinweis auf seine geheime Tätigkeit als IM. Ost-Berlins Führungsagenten drängten den erfolgreichen Schnüffler auf feindlichem Territorium, nun mit der unmittelbaren Anwerbung von »Gudrun« zu beginnen. Die wachsenden finanziellen Wünsche der Bonnerin stießen bei der Stasi durchaus auf Gegenliebe. Wenn es ums Kanzleramt ging, flossen Devisen zuhauf. Der Kalte Krieg war nicht zuletzt eine Materialschlacht. Kopfzerbrechen allerdings bereiteten die intimen Beziehungen. Es schien, zumal in der sittenstrengen Adenauer-Zeit, nur eine Frage der Zeit, bis »Gudrun« die Heirat einfordern würde. In diesem Fall, so lautete die Order, solle sich »Astor« hinhaltend auf sein Alter berufen und sein Zögern mit einem Plädoyer für die freie Liebe verbinden. Offenkundig hat sich »Gudrun« damit arrangieren können. Für sie schien das, wenn auch nicht legitimierte, Verhältnis zu »Astor« gefestigt. Aus ihrer Liebe machte sie keinen Hehl. So nahm sie ihn auch zur Abschiedsfeier ihres früheren Chefs im Kanzleramt mit. Dabei lernte Markus Wolfs Kundschafter weitere Mitarbeiter der Adenauer-Administration, darunter den Sicherheitsbeauftragten, kennen.

Eines Tages erkrankte »Gudrun«. Es folgte ein längerer Klinik-Aufenthalt. »Astor« nutzte diese Situation, um das Verhältnis zu ihr noch enger zu knüpfen. Er bemühte sich um gute ärztliche Betreuung, verständigte ihre Verwandten und erledigte ihre Privatangelegenheiten: Miete und Banküberweisungen. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, holte er sie ab und brachte sie zu ihrer Mutter.

Wenige Tage später erhielt »Astor« von der Amoure überraschend einen die geheime Mission gefährdenden Brief, in dem sie ihm vorwarf, er habe zu viele Beziehungen. Das würde sie, die bekennend konservative Frau, befremden. Ihr Vertrauen sei geschwunden. Er möge sie nicht mehr besuchen. »Astor« schrieb zurück: Ihm sei ihr Verhalten unverständlich. Er wünsche ihr trotzdem alles Gute für die Zukunft. Und schloss seinen Brief mit herzlichen Grüßen. Bereits zwei Tage später rief sie wieder an und lud ihn für den nächsten Abend zu sich ein. Offenbar stand »Gudrun« zwischen dem Einfluss gewisser Kreise im Kanzleramt und ihren Gefühlen für »Astor«. Aus Sicht der Stasi musste »Gudrun« nun bald zu einer Entscheidung gezwungen werden. Erneut griff »Astor« zur Feder und fragte sie freiheraus, ob sie nun seine Partnerin sein wolle oder nicht. »Gudrun« reagierte erfreut und bat ihn, bald zu ihr zu kommen.

Doch dann durchkreuzte das Schicksal die so vielversprechend begonnene Unternehmung. Während eines Wochenendes, das der Agent mit »Gudrun« in der Schweiz verbrachte, erkältete sich »Astor« schwer. Die Sekretärin kehrte allein ins Rheinland zurück; Wolfs Spion musste zurückbleiben. Einige Tage später erfuhr er von seiner schweren Krankheit, die einen sofortigen und längeren Aufenthalt in einem Schweizer Spezialkrankenhaus erforderlich machte. Auch dies dokumentiert die akkurate Dissertation der beiden DDR-Geheimdienstler.

Der Kontakt zu »Gudrun« brach vorübergehend ab. Die schwere Erkrankung veranlasste die Zentrale, zu empfehlen, »Gudrun« unmittelbar anzuwerben, sobald der Liebhaber wieder reisefähig sei. Für die Ost-Berliner Hintermänner hatte »Astor« für diesen Schritt alle Voraussetzungen geschaffen, mit Geduld und Zielstrebigkeit den Kontakt zu »Gudrun« ausgebaut und seine wahren Beweggründe mit Perfektion verschleiert. Es war ihm gelungen, die persönliche Verbindung zu ihr offensiv zu nutzen. Nun sollte der Romeo »Gudrun« unter Offenlegung seiner geheimdienstlichen Tätigkeit anwerben. Als er sich ein wenig erholt hatte, lud »Astor« die Frau aus dem Kanzleramt ein, einen Teil ihres Urlaubs bei ihm in der Schweiz zu verbringen. Sie sagte zu. Umgehend mietete er ein Apartment an, das für diskrete Gespräche geeignet schien. Die ersten beiden gemeinsamen Tage verliefen rundum entspannt. Dann, am Abend des dritten Tages, kam es zur ersten entscheidenden Unterredung. »Astor« erklärte, taktisch geschickt, seine Krankheit hätte ihm mit Erschrecken vor Augen geführt, dass er noch gar nicht für ihre Zukunft gesorgt habe. Sie müsse mehr aus seinem Leben wissen.

»Astor« begann, über den 20. Juli 1944 zu sprechen, den Widerstand gegen Hitler, und deutete an, dass er damals am Rande beim gescheiterten Attentat mitgewirkt habe. Er erklärte ihr die unterschiedlichen Strömungen im Kreise der Verschwörer. Während die einen Hitler stürzen wollten, um selber an die Macht kommen und den Krieg fortzusetzen, hätten die anderen augenblicklich Frieden schließen wollen. Letzteres sei auch seine Auffassung gewesen. Er habe es nicht länger mitansehen können, wie die jungen Frontsoldaten als »Kanonenfutter« verheizt worden seien. »Gudrun« hörte ihm aufmerksam zu. Dann kam er zur Sache und offenbarte, scheinbar freimütig, seine Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst. Er bekannte, Offizier der Roten Armee zu sein. »Gudrun« erschrak, fing an zu weinen und beklagte die Lage, in die sie nun geraten sei. Dennoch ließ sie zu, dass »Astor« sie in den Arm nahm. Sie drückte ihn selbst noch fester an sich und wiederholte immer wieder, wie sehr sie ihn liebe. – Passagenweise liest sich die Dissertation wie ein Lore-Roman aus dem Kalten Krieg. – »Astor« nannte plausible Gründe für sein Geständnis: Sollte seine Krankheit böse enden, würde sie vermutlich unvorbereitet in eine prekäre Lage kommen. Auch sei nicht auszuschließen, dass dann seine nachrichtendienstliche Tätigkeit posthum auffliegen würde. Die Sicherheitsleute hätten dann einen Beweis, wo die undichte Stelle im Bonner Kanzleramt sitze, wer den Verrat begangen habe. Dann würde sie vermutlich im Gefängnis landen. Also müsse er sie jetzt warnen. Die Argumentation war rundum durchtrieben.

»Astor« erzählte der Freundin von seinen »großen Erfolgen« und davon, dass der sowjetische Geheimdienst außerordentlich stark sei. Sollte sie sich trotz allem für ihn entscheiden, würde sie in das Sicherheitssystem der Sowjetunion einbezogen. Eher beiläufig ließ »Astor« erkennen, dass er über »Gudrun« Dinge wusste, die sie ihm nicht gesagt hatte, die er also »dienstlich« erfahren haben musste. Nach zwei Tagen, in denen sich sein Gesundheitszustand erheblich verschlechterte, wollte er das weitere Vorgehen endgültig klären. Er schlug ihr vor, gegenüber Dritten in Bonn und Godesberg die Legende einer Trennung zu konstruieren: Seine schwere Krankheit lasse sich vermutlich nicht heilen, und außerdem habe sie festgestellt, dass er zu alt sei.

»Gudrun« protestierte. Daran dächte sie nicht, denn sie habe ihn viel zu gern. Sie wollte wissen, was geschähe, wenn die Geheimdienst-Geschichte herauskäme. »Astor« schlug ihr vor, in diesem Falle in die Schweiz zu gehen. Er würde dort für sie Geld deponieren. Im Gegenzug solle sie ihm ein Schriftstück mitgeben, aus dem sein Vorgesetzter ersehen könne, dass sie ihn nicht verraten und dass ihre Liebe zu ihm selbst die misslichste Lage überwinden werde. »Gudrun« zeigte Verständnis und erklärte sich bereit. Kurz vor der Abreise aus der Schweiz gingen sie zusammen zur Bank, um ein Konto zu eröffnen. »Astor« zeigte ihr im Bankgebäude seinen Safe und stellte in Aussicht, ihr eine Vollmacht zu erteilen. Am Tag ihrer Abreise verfasste »Gudrun« den gewünschten Brief. Auf Bitten »Astors« unterschrieb sie mit einem Decknamen. Die beiden vereinbarten, dass »Gudrun« nach schriftlicher Aufforderung in die Schweiz fahren und sich eventuell auch mit einem Vertreter von »Astor« treffen solle, falls ihn seine Krankheit daran hindere, selber zu reisen. Sie verabredeten ein Erkennungszeichen. Dann trat »Gudrun« den Heimweg nach Bonn an. Schon am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub meldete sich »Astor« aus der Schweiz telefonisch bei »Gudrun« im Kanzleramt an. Sie sei freundlich und ohne jede Verstimmung gewesen. Sie habe ihm gute Erholung gewünscht und ihn ermuntert, ihr bald zu schreiben.

In der Ost-Berliner Stasizentrale bestanden erhebliche Zweifel, ob »Astor« angesichts seiner schweren Krankheit noch die Kraft besitzen würde, seinen Auftrag zu Ende zu führen. Alle Möglichkeiten bedenkend, wie es nun einmal die Art der HVA war, hatte man schon eine neue Konzeption zur Weiterführung des Werbevorgangs erarbeitet. Sie sah vor, einen gewissen IM »Hansen« in die Operation einzubinden. So sollte weiterhin ein zügiger Verlauf der Aktion gewährleistet bleiben.

Während »Gudrun« und »Astor« fleißig korrespondierten und telefonierten, reiste »Hansen«, ein angeblicher Kunstmaler, mit zahlreichen Landschaftsbildern im Gepäck in Richtung Zürich. Beide MfS-Mitarbeiter verständigten sich und bereiteten ein gemeinsames Treffen mit »Gudrun« vor. Ihr Besuch in der Schweiz ließ nicht lange auf sich warten. Gleich zu Beginn des Wiedersehens machte »Astor« der Freundin ein interessantes Angebot, das »Gudrun« spontan annahm. Während seiner Abwesenheit wegen einer längeren Behandlung in der Sowjetunion solle sie seine Zürcher Wohnung mieten. Dabei lenkte »Astor« das Gespräch auf ein Bild, das neuerdings in seinem Zimmer hing. Er habe das Bild von einem Künstler geschenkt bekommen. Das sei der Mann, der ihn künftig vertreten werde. Nach kurzem Zögern war »Gudrun« bereit, ihn kennenzulernen. Um einen kleinen Einblick in dessen künstlerisches Schaffen zu bekommen, hatte »Astor« seinen Dienstkollegen »Hansen« gebeten, einige Aquarelle in der Wohnung zu deponieren. »Gudrun« muss von ihnen recht angetan gewesen sein. Auf »Astors« Frage, wo und wie sie seinen Vertreter kennenlernen wolle, entschied sie sich für einen gemeinsamen Restaurantbesuch.

Die Verabredung verlief ganz nach Plan. Die erste Unterhaltung war zwanglos. Ein gutes Zeichen. »Hansen« und »Gudrun« konnten einige Modalitäten für den Fall eines erforderlichen Zusammentreffens vereinbaren. »Gudrun« hatte von »Hansen« einen guten Eindruck und war überrascht, dass ein Künstler zugleich ein sowjetischer Aufklärer sein konnte. Der Gentleman schenkte ihr ein Bild. »Gudrun« nahm dankend an. Um sich eine Gelegenheit für eine weitere Zusammenkunft zu sichern, versprach er, das Bild noch rahmen zu lassen.

Beim Abschied auf dem Bahnhof in Zürich war »Gudrun« gefasst und ruhig. Sie sagte zu »Astor«, ihr Leben, ihre Zukunft lägen nun in seiner Hand. Selbst wenn sie seinetwegen eingesperrt werden sollte, würde niemand ein Wort von ihr erfahren. Es sollte die letzte persönliche Begegnung zwischen den beiden sein.

Beim nächsten Besuch in der Schweiz traf sie erstmals allein mit »Hansen« zusammen. Er überbrachte Grüße nebst einer Aufmerksamkeit von »Astor« und erklärte, dass sich dessen Gesundheitszustand leider noch nicht gebessert habe. Der kranke Freund bedauere außerordentlich, dass er die weite Reise derzeit nicht antreten könne. Er mache sich aber viele Gedanken über seine nachrichtendienstliche Tätigkeit, vor allem aber um »Gudruns« Sicherheit. Er bitte sie inständig, alle offenen Fragen und Probleme mit ihm, »Hansen«, vertrauensvoll zu beraten. Für den Fall, dass sie aus irgendeinem Grunde »Astor« direkt eine dringliche Nachricht zukommen lassen wolle, könne »Hansen« ihr eine Ost-Berliner Postadresse geben. Allerdings müsse der Brief so abgefasst sein, dass daraus keine Rückschlüsse auf beteiligte Personen oder auf Sachzusammenhänge gezogen werden könnten.

»Gudrun« war einverstanden und stellte die Frage, ob sie denn »Astor« auch einmal besuchen könne, wenn er in der Klinik sei. »Hansen« erklärte, »Astor« werde in einer Militärklinik behandelt und habe darum gebeten, von Besuchen Abstand zu nehmen, da das möglicherweise seine Sicherheit gefährde, und er dann vielleicht nie mehr in die BRD zurückkommen könnte.

»Hansen«, mit allen Wassern geheimdienstlicher Tricks gewaschen, schilderte »Gudrun« eindrucksvoll, wie stark die Beschaffung geheimer Nachrichten für die Sowjetunion durch Astors Erkrankung ins Stocken geraten sei. Jetzt leide ihr Freund darunter, dass sein Verantwortungsbereich nicht mehr effektiv arbeite. Sie, »Gudrun«, könne »Astor« eine große Hilfe sein, wenn sie sich bereit erkläre, ihm zu Insider-Informationen aus dem Kanzleramt zu verhelfen. Der malade Amigo würde auf diese Weise auch sehen, welch großes Vertrauen sie ihm entgegenbrächte. Dies wäre sicherlich für ihre Beziehung ebenso von Vorteil.

»Astor« hatte das Terrain gut vorbereitet. Die jahrelangen vertrauensbildenden Maßnahmen zahlten sich aus. »Gudrun« erklärte treuherzig, dass sie gern alles tun werde, um »Astor« zu helfen, damit er recht schnell wieder gesund werde und sein Ansehen als guter Nachrichtendienstmann behalte. Allerdings wandte sie ein, dass sie einen Vertrauensbruch zum Schaden der Bundesrepublik begehen würde. »Hansen« gelang es, »Gudrun« davon zu überzeugen, dass sie durch die Preisgabe von Dienstgeheimnissen letztlich edlen Prinzipien folge. Dann wurde »Hansen« grundsätzlich: Die Bonner Regierung würde, nach außen wie nach innen, schon lange auf der Basis des Vertrauensbruchs arbeiten. Adenauer verschleiere auf raffinierte Weise die imperialistischen, kriegstreibenden und revanchistischen Ziele seiner Politik.

»Gudrun« erklärte sich schließlich bereit, zu liefern. Nach anfänglichem Zögern übermittelte sie bald schon, so ist es jedenfalls in der Dissertation zu lesen, mündlich wie schriftlich wertvolle Berichte und Dokumente aus dem Kanzleramt. Doch einmal mehr sind aufgrund der umfänglichen Vernichtung der HVA-Akten keine inhaltlichen Details ihrer Spionagetätigkeit zu ermitteln. Bekannt aber ist: »Gudrun« machte ihre weitere Zusammenarbeit mit dem MfS stets abhängig von der Aussicht, mit »Astor« wieder zusammenzukommen, mit ihm eine gemeinsame Zukunft zu haben. Für die Ost-Berliner Stasileute war es zunehmend schwierig, diese Perspektive glaubhaft aufrechtzuerhalten. Doch die Schlapphüte mühten sich wacker, mit persönlichen Briefen und vermeintlichen Geschenken »Astors«, auch mithilfe eines vorgetäuschten Testaments, dem zu entnehmen war, dass sie im Falle seines plötzlichen Ablebens materiell abgesichert sein würde.

Nach dem Tod »Astors«, sein genaues Sterbedatum liegt im Dunkeln, beendete »Gudrun« jegliche Zusammenarbeit mit dem feindlichen Geheimdienst. Nur wenig später schied sie auf eigenen Wunsch – und ohne Mitteilung an die Stasileute zu machen – aus den Diensten des Bundeskanzleramtes aus und entzog sich jeder weiteren Kontaktaufnahme.

In der Dissertation finden sich keine Informationen über den weiteren Lebensweg von »Gudrun«, die im Westen Grete B. hieß. Allerdings gelang es Roberto Welzel von der Berliner Stasiunterlagenbehörde, Sachgebietsleiter des Referats Forschung und Medien, den Klarnamen des vermeintlichen Kunstmalers »Hansen« zu ermitteln. Es handelt sich um Kurt M. aus Berlin-Pankow, am 13. November 1909 geboren, Diplom-Ingenieur und zuletzt stellvertretender Direktor der Deutschen Bauakademie in Berlin. Unter der Registriernummer XV/8085/60 wurde seine Stasiakte 1958 angelegt und 1971 beendet. Seine Führungsoffiziere waren Helmut Reinhold und Rudolf Genschow. Letzterer war pikanterweise einer der Autoren der hier so oft herangezogenen akademischen Arbeit, die an diesem frühen Beispiel so plastisch beschreibt, wie es gelingen konnte, das Machtzentrum der Bundesrepublik zu infiltrieren.

Für das Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit hatte die Einschleusung von Inoffiziellen Mitarbeitern ins Bonner Machtzentrum höchste Priorität. Die Anlandung von »U-Booten« im Kanzleramt am Rhein war immerhin ein kleiner Sieg im Klassenkampf. Bei derartigen Manövern schien angesichts strenger Sicherheitsüberprüfungen die Anwerbung eher niederrangiger Bediensteter – von Sekretärinnen oder Schreibkräften – der bestmögliche Weg. Als besonders geglückte Operation wird in der Dissertation der Fall einer zwanzigjährigen Stenotypistin dokumentiert, die in den Stasiakten unter dem Decknamen »Schneider« geführt wurde. Bei ihr blieb es nicht bei einem auf privaten Gefühlen basierenden Willen zur Unterstützung der Spionage.

Den einschlägigen Dokumenten zufolge verbarg sich hinter der Tarnung Elvi C., 1936 in Danzig geboren, nach ihrer Flucht aus Polen zunächst in Schleswig-Holstein gelandet und später wohnhaft in der Bundeshauptstadt. Ein gewisser IM »Renner«, dessen Identität von der Stasiunterlagenbehörde nicht ermittelt werden konnte, lernte »Schneider« bei einer Ausflugsfahrt in die Eifel kennen. Daraus entspann sich eine Unterhaltung, die mit einer Verabredung zu einem gemeinsamen Kinobesuch endete. Sie begannen, einander Briefe zu schreiben. Schließlich kam der Agent zu Besuch nach Bonn. Dorthin hatte »Schneider« sich 1957 erfolgreich als Stenotypistin beim Bundesfinanzministerium beworben. »Renner« charakterisierte die Zielperson als »gute Erscheinung«, intelligent, aufgeschlossen, kontaktfreudig und redegewandt. Wohl auch darum erhielt er von der Ost-Berliner Zentrale den Auftrag, seine Verbindung mit »Schneider« zu intensivieren und die Möglichkeit einer Anwerbung auszuloten.

Für den MfS-Agenten war es offenkundig einfach, »ein Liebesverhältnis herzustellen«, wie das die Autoren der Dissertation nennen. »Unter Ausnutzung« desselben versuchte Renner dann, eine »Verpflichtung auf politisch-ideologischer Basis zu erreichen«. Doch »Schneider« wollte heiraten. Nun ließ »Renner« seine Maske fallen und erklärte unumwunden, er sei Bürger der DDR, politisch für die westdeutsche KPD und auch für den Nachrichtendienst in Ost-Berlin tätig. Ihm sei daran gelegen, Interna über die politische Klasse in Erfahrung zu bringen. Nach langen Diskussionen willigte »Schneider« ein und unterschrieb eine Verpflichtungserklärung. Fortan fertigte die Stenotypistin im Bonner Finanzministerium fleißig Kopien an und kaufte sogar Filme, um Dokumente abfotografieren zu können. Nach einigen Wochen äußerte sie den Wunsch, selbst Mitglied in der KPD zu werden. Ausschlaggebend für ihre Verratsbereitschaft waren vor allem die persönlichen Gefühle, die sie IM »Renner« entgegenbrachte.

Wegen interner Veränderungen musste er allerdings sein Operationsgebiet im Westen schon bald verlassen. Die HVA, die – das Frauenbild scheint bezeichnend – an die nahezu beliebige Austauschbarkeit ihrer Romeos glaubte – übertrug nun einem gewissen IM »Mirbach« die weitere Betreuung von »Schneider«. Der hauptamtliche Stasimann hieß mit Klarnamen Hans V., war 1928 in Jena geboren und hat sich vermutlich im Zeitraum von 1956 bis 1965 als Geheimdienst-Resident in der Bundesrepublik aufgehalten. Doch das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel der HVA missglückte. »Schneider« wollte nur »Renner«. In ihm – und in keinem anderen! – sah sie ihren künftigen Ehemann. Sie war davon überzeugt, die Trennung von ihm sei nur vorübergehend. Für »Mirbach« konnte sie sich nicht erwärmen. Zur Klärung der Situation fuhr »Schneider« auf eigene Initiative nach Berlin. Ihr wurde ein neuer Führungsoffizier, Deckname »Schade«, vorgestellt. Doch auch der hinterließ bei ihr zunächst keinen überzeugenden Eindruck. »Schade«, das war Klaus S., geboren 1935 in Berlin, von Beruf Ingenieur.

Während des konspirativen Treffens in Ost-Berlin stellte »Schneider« erneut den Antrag, Mitglied der SED zu werden. Dem wurde von höchster Stelle stattgegeben. Etwa zur selben Zeit bewarb sich »Schneider« um eine Anstellung im Bundeskanzleramt. Sie wurde genommen. Über Monate wurde sie sicherheitsmäßig überprüft. Dann erhielt sie einen Arbeitsvertrag, einen Dienstausweis, musste eine Erklärung abgeben, dass sie keine Schulden habe und loyal sei gegenüber dem Bonner Staat.

Jetzt müssen in Ost-Berlin die Korken geknallt haben. Ohne großes Zutun hatte das Ministerium für Staatssicherheit eine neue Quelle im Bundeskanzleramt erschlossen, die, so die beiden Obristen in ihrer Dissertation, verlässlich zu Diensten stand. »Schneider« erhielt vom MfS mehrere Auszeichnungen und wurde in die SED aufgenommen. Wiederum existieren keine präzisen Angaben über den Umfang und die Inhalte der von West nach Ost durchgestochenen Informationen. Auch in diesem Fall haben Markus Wolf und die Seinen dafür gesorgt, dass die Berichte nicht beim verhassten Klassenfeind im Westen landeten.

Nach wie vor sah »Schneider« in der Beziehung mit »Renner« die Erfüllung all ihrer Wünsche. Doch immerhin: Sie ließ sich (ver-)trösten. »Schade« gelang es – auftragsgemäß – ein persönliches Verhältnis aufzubauen, das alsbald auch intim wurde. Doch dann folgte das unerwartete Desaster: »Schades« MfS-Dienstausweis verschwand aus einem Erdversteck. In der Westpresse erschien ein Foto des Spions. Dem Enttarnten blieb nur der augenblickliche Abzug aus dem Operationsgebiet. »Schneider« schrieb ihm daraufhin, dass sie sich von ihm trenne, da sie keine gemeinsame Perspektive mehr sehe. Die Enttäuschung, das erneute Alleinsein und, mag sein, ein schlechtes Gewissen machten ihr zu schaffen. Romeo-Affären, das zeigt auch diese Zweckamoure, finden selten ein glückliches Ende. Der schlechte Gesundheitszustand der Zuträgerin, bei gleichzeitig hoher Arbeitsbelastung im Bonner Kanzleramt, machte die Sache nicht besser. Elvi C. alias »Schneider« entschloss sich, aus dem Staatsdienst auszuscheiden. Diesen Schritt unternahm sie ohne Absprache mit den Osterberliner Agenten.

Im Bundeskanzleramt war man ahnungslos und zunächst nicht bereit, ihre Kündigung anzunehmen. Schließlich aber wurde »Schneiders« jüngere Schwester als Ersatz akzeptiert. Adeltraud C., Jahrgang 1932, gelangte so ins Machtzentrum der Bonner Politik. Und wiederum hatte die DDR-Auslandsaufklärung allen Grund zur Freude. Denn in weiser Voraussicht war auch diese ledige Stenotypistin, zuvor im Bundesverkehrsministerium tätig, von »Schade« angeworben worden. Sie trug den Decknamen »Bauer«. Merke: Zwei Trojanische Pferde leisten mehr als nur eines. Auch diese in Adenauers direktem Umfeld erschlossene Quelle sprudelte – weit über seinen Rückzug hinaus – bis 1970, bis in die Ära Brandt. Es gab so manchen IM, der mehr als nur einen Kanzler ins Visier nahm. Wichtiger als die Person war das Amt.

Die Hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit – nach dem Vorbild des sowjetischen Geheimdienstes KGB auch »Tschekisten« genannt – verloren, wie wir sehen werden, das Palais Schaumburg niemals aus dem Blickfeld, wobei die Operationen gelegentlich kein gutes Ende nahmen. Auch dies verschweigen die zwei Doktoranden nicht. Sie rekonstruieren etwa den Fall des Hamburger Rechtsanwalts Dr. Heinrich Wiedemann, jenes langjährigen, 1889 geborenen SPD-Mitglieds, der 1955 als IM »Weide« in die Dienste der Stasi trat – und dafür stolze 3.000 D-Mark pro Monat aus Ost-Berlin kassierte. Geld spielte bekanntlich keine Rolle, wenn es um den Zutritt zum Kanzleramt ging.

»Weide« war ein Rekrutierungsspezialist vor dem Herrn: Es gelang ihm, die 29 Jahre jüngere Sekretärin Ilse S. – Deckname »Iris« – für die Stasi zu gewinnen – einmal mehr »auf der Basis intimer Beziehungen«. Auftragsgemäß bewarb sich »Iris« ins Bundeskanzleramt. Doch das Ansinnen scheiterte. Vergebliche Liebesmüh! Immerhin landete die von der Kanzler-Administration Verschmähte kurz darauf im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Auch dort habe die Stasifrau »Iris«, so formulieren es Genschow und Wendel beinah schon trotzig, »wertvolle Dienste« geleistet.

»Weide« versuchte nun – über einen gleichfalls als IM geführten Freund, den Ministerialrat im Kanzleramt Dr. Adolf K. alias »As« –, an brisante Informationen aus Adenauers unmittelbarer Nähe zu kommen.

Die Operation stand zunächst unter einem guten Stern, sollte aber nicht lange währen. Als Mitglied des Bundesverteidigungsrats war »As« befasst mit Vorgängen der höchsten Geheimhaltungsstufe. Er war für die Staatssicherheit ein idealer Kandidat und pflegte überdies engen Kontakt zu einer ungemein mitteilungsfreudigen Sekretärin im Palais Schaumburg, die »Weide« bei gemeinsamen Unternehmungen nach allen Regeln der Kunst abschöpfte. Stasi-intern wurde sie als IM »Rose« registriert. Die Irrungen und Wirrungen, auf deren Entfachung sich die Stasi wie wohl kein zweiter Geheimdienst verstand, nahmen ihren Lauf. IM »As« war kein Kind von Traurigkeit und begann eine Affäre mit der Sekretärin. Die uneheliche Verbindung wurde ruchbar und dürfte für einen veritablen Skandal im Palais Schaumburg gesorgt haben, wo der Hausherr auf Sitte und Anstand pochte. »Rose« kündigte. »As« wurde aus dem Zentrum der Macht in eine andere Dienststelle versetzt. Die Quelle versiegte.

Doch da Wolfs Spione über den Tag hinausdachten, arbeitete »Weide« weiterhin als Bonner Resident für die Behörde in Berlin-Lichtenberg. Was er alles verriet, wissen wir nicht. Aber Ilse S. alias IM »Iris«, die er einst als Romeo erobert hatte, wohnte in späteren Jahren bei ihm, als vermeintlich verwitwete Untermieterin. Erst spät, im Februar 1970, da war »Weide« schon über 80, kam der bundesdeutsche Verfassungsschutz dem rätselhaften Paar auf die Schliche. Bei ihrer Verhaftung wurden in der Wohnung allerlei Spionage-Utensilien – Mikrofilme, Kameras, ein Kurzwellenfunkgerät – sichergestellt. Die spektakuläre Enttarnung der beiden war der erste erfolgreiche Schlag gegen das weit verzweigte Netzwerk der DDR-Agenten in der Bundesrepublik.

Die Dissertation, der wir, gelegentlich im wahrsten Sinne des Wortes, intime Einblicke in die wenig skrupulösen und höchst aufwendigen Methoden des DDR-Geheimdienstes verdanken, wurde, auf Geheiß von Markus Wolf, bei ihrer Abgabe zugleich als Dissertation angenommen. Genschow und Wendel waren nun über Nacht Doktores der Rechtswissenschaften. Sie hatten, was 1974 noch niemand ahnte, mit ihrer Spurensicherung einen Dienst für die Ewigkeit geleistet. Die Benotung des akademischen Insiderberichts konnte sich sehen lassen: »magna cum laude«.

2. Feindbild Adenauer

Die Hartnäckigkeit, die immensen personellen wie finanziellen Anstrengungen, mit denen die HVA des Markus Wolf versuchte, in den Machtapparat des ersten deutschen Bundeskanzlers einzudringen, waren tief in der Ideologie des DDR-Staats verankert. Konrad Adenauer, von 1949 bis 1963 im Amt, galt als Inkarnation der hässlichen Bundesrepublik, des Klassenfeindes schlechthin. Noch im Lexikon »Biographien zur Weltgeschichte«, kurz vor der Wende von führenden DDR-Historikern herausgegeben, wird er mit Worten des Abscheus bedacht: »Seit 1945 und besonders 1948/49 als Präsident des Parlamentarischen Rates betrieb Adenauer die Restauration des deutschen Imperialismus, die Spaltung Deutschlands, und die Einbeziehung der Westzonen in das westliche Bündnissystem. Er betrieb die Remilitarisierung der BRD und deren Eintritt in die NATO sowie eine autoritäre antikommunistische Innenpolitik.«

Mit welch dumpf-agitatorischen Schlagworten haben ihn die führenden Köpfe des SED-Politbüros nicht alles bedacht: »Separatist«, »Spalter«, »Handlanger des Monopolkapitals« oder auch »Schutzherr der alten Nazis«! Albert Norden, KPD-Mitglied seit 1920, in den DDR-Gründerjahren Leiter der Hauptabteilung Presse im Amt für Information, hat Adenauer bereits 1949, im Vorfeld der Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag, im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« mit Agit-Prop-Getöse charakterisiert – als »Veteran des Landesverrats«, der als Befehlsempfänger der USA allein den imperialistischen Interessen des Westens folge.

Ein Jahr später legte Norden in der »Täglichen Rundschau«, dem Organ der sowjetischen Besatzungsmacht, nach und kommentierte den jüngsten Berlin-Besuch Adenauers, der in der Frontstadt lautstark die Wiedervereinigung gefordert hatte, auf drastische Weise: »Dieser Prototyp des nationalen Verrats, der Nachfolger Wilhelms II. und Hitlers, der Deutschland in den dritten Weltkrieg hetzen will, hat die Stirn, in Berlin als Advokat der Einheit aufzutreten.«

Für das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit war dieses Adenauer-Feindbild wegweisend und über Jahre prägend. Mein ehemaliger Deutschlandfunk-Kollege Karl Wilhelm Fricke, der Kölner Stasi-Experte, ist freilich der Überzeugung, »dass die Staatssicherheit auch ihrerseits auf das Adenauer-Bild der SED Einfluss genommen hat, indem sie Informationen und Erkenntnisse aus der Spionage zur politischen Meinungsbildung der Parteiführung zur Verfügung stellte. Das geschah etwa in den von ihr erarbeiteten Analysen und Lageberichten, und indem sie auch persönliche Daten und geheime Dokumente für Zwecke der Desinformation und Agitation in beiden deutschen Staaten zur Veröffentlichung freigab.«

Ende 1952 zählte die Geheimpolizei der DDR bereits 8.800 Mitarbeiter. Die meisten von ihnen glaubten der Staats-Propaganda, dass die Regierung Adenauer aktuelle Kriegsvorbereitungen unternähme und »begriffen daher ihren Dienst in der Staatssicherheit als Beitrag zur Friedenssicherung«, schreibt Fricke.

Anfang der Fünfzigerjahre hatte die DDR-Auslandsspionage mit dem Aufbau des »Außenpolitischen Nachrichtendienstes« (APN) begonnen. Er war als »Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung« getarnt. Markus Wolf wurde 1952 mit 29 Jahren zum Leiter des APN berufen. Er fand schon damals ein weltweites Agentennetz mit 4.600 Hauptamtlichen und über 10.000 Inoffiziellen Mitarbeitern vor. 1.500 dieser Kundschafter agierten in der Bundesrepublik. 1953 dann wurde der »Außenpolitische Nachrichtendienst« in das Ministerium für Staatssicherheit eingegliedert, mit ihm nach dem Volksaufstand in der DDR heruntergestuft und dem Innenministerium unterstellt und 1956 in die »Hauptverwaltung Aufklärung« umgewandelt.

An der Kanzlerschaft Adenauers haben sich die Dunkelmänner aus dem Ostteil Berlins 14 Jahre lang abgearbeitet. Das Aktenkonvolut zu seiner Person und seinen Amtsgeschäften, das mir die Stasiunterlagenbehörde in Kopie übergab, umfasst vier Aktenordner mit insgesamt rund 2.500 Blatt. Ob die auf den alten Herrn aus Rhöndorf angesetzten Agenten noch weitere Papiere lieferten, die in den Wochen nach dem Mauerfall 1989 vernichtet wurden, liegt im Dunkeln. Jedenfalls scheinen die Überlieferungen lückenhaft. Auf der »Rosenholz«-Karteikarte sind die üblichen Grunddaten zu Adenauers Person erfasst. Angaben über die für ihn zuständige Diensteinheit des MfS sind ebenfalls festgehalten. Die Kartei wurde am 24. März 1954 angelegt und trägt die Registriernummer XV/19793/60. Die erspitzelten Informationen enden – eher zufällig – am 29. Juni 1964 und wanderten dann ins Stasiarchiv.

Die Akten beginnen mit einem vierseitigen Dokument vom 17. Dezember 1953. Seit dem niedergeschlagenen Volksaufstand war genau ein halbes Jahr vergangen. Die DDR-Staatssicherheit plante »operative Maßnahmen«, den Einsatz von GM (Geheime Mitarbeiter) und GI (Geheime Informatoren) anlässlich einer bevorstehenden Viererkonferenz in Berlin. Vom 25. Januar bis zum 18. Februar 1954 sollten sich die Außenminister der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges nach fünf Jahren erstmals wiedertreffen. Auf der Tagesordnung der Beratungen in den Räumen des Alliierten Kontrollrates im Stadtteil Schöneberg stand nicht weniger als der kühne Versuch, die deutsche Frage zu lösen.

Angeblich lagen dem »Staatssekretariat für Staatssicherheit«, wie das MfS in der Phase der Abwertung zu einem Teil des Innenministeriums offiziell hieß, Informationen vor, wonach der amerikanische Geheimdienst mithilfe der ihn unterstützenden »deutschen Verbrecher-, Spionage- und Terrororganisationen« beabsichtige, sowohl vor der Konferenz als auch währenddessen Provokationen auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und im Osten Berlins zu organisieren und auch die Verteilung von Flugblättern zur Beunruhigung der Bevölkerung zu organisieren. Die Verfasser des Geheimdokuments echauffieren sich, in Westdeutschland und in West-Berlin werde »eine zügellose und gemeine Hetze gegen die Deutsche Demokratische Republik entfaltet, um eine feindliche Stimmung innerhalb der westdeutschen und Westberliner Bevölkerung gegen die DDR und besonders gegen die Sowjetunion zu erreichen«.

Zur Koordinierung aller operativen Maßnahmen und zur Auswertung der eingehenden Berichte, Meldungen und Hinweise wurde ein hochrangig besetzter Abteilungsstab gebildet. Augenfällig war der schon damals immense Personalaufwand, den Ost-Berlins Schlapphüte trieben: Einsatzbereit waren im Westsektor Berlins 43 GM und 41 GI. Im Ostteil der Stadt, »im demokratischen Sektor«, wie er im Jargon der DDR-Propaganda hieß, schoben 4 GM und 114 GI ihren Dienst. Zur Durchführung von Treffs standen 45 konspirative Zimmer und sechs Häuser zur Verfügung. Außerdem konnte – falls erforderlich – auf 17 Pkw zurückgegriffen werden, davon sechs mit Fahrern, die zugleich GM oder GI waren.

Schwerpunkte der »Aufklärung und Erkundung« waren die Bezirke Tempelhof und Schöneberg. In Tempelhof das Areal rund um den Flugplatz, in Schöneberg besonders die Elßholzstraße, wo der Alliierte Kontrollrat residierte. Spionage als konspiratives Geländespiel!

Erkundet werden sollte die Stimmung in der Bevölkerung. »Feindliche Personenkreise« waren zu orten. Vor allem aber, so der Auftrag, gelte es »die DDR schädigende Handlungen« zu verhindern: in der Wirtschaft, im Verkehr, in der Versorgung, dem Kulturleben, der Produktion. Die Gefahr von Streiks und Sabotage, von Attentaten, ja sogar von einem Staatsstreich wurde raunend beschworen. In den Augen der Stasi, der die Revolte des 17. Juni 1953 noch in den Knochen steckte, war der Arbeiter- und Bauernstaat von Feinden umzingelt in diesen Tagen der Viermächtekonferenz. Große Geheimdienst-Paranoia!

Alle geheimdienstlichen Operationen rund um die Berliner Außenministerkonferenz wurden vom Staatssekretariat für Staatssicherheit als Aktion »Frühling« deklariert. Der damalige Generalleutnant Erich Mielke leitete die Unternehmung persönlich und ließ sich Tag und Nacht telefonisch über die Geschehnisse informieren. Sonderlich viel ist nicht passiert. Weder im Osten noch im Westen gab es auch nur den Anflug eines Übergriffs zu vermelden. Als die Vertreter der Alliierten, ohne den kleinsten Konsens erzielt zu haben, wieder abgereist waren, wurde beim Geheimdienst im Osten der Stadt ungewohnt selbstkritisch, geradezu vernichtend Bilanz des grotesk monumentalen Maulwurf-Einsatzes gezogen. Ein siebenseitiges Geheimpapier der Staatssicherheit benennt eklatante Fehler. Vor allem die Abstimmung, die Koordination mit den ausgesandten GM und GI, habe in keiner Weise funktioniert. Einige der meist wenig substanziellen Berichte sind im Aktenkonvolut zu Adenauer dokumentiert.

Wenige Tage nach dem Scheitern der Viererrunde hielt der Bundeskanzler dann, am 23. Februar 1954, in der Ostpreußenhalle am Funkturm eine Rede, die sich, mit allerlei handschriftlichen Korrekturen, in Adenauers Stasiakten wiederfindet. Der Bonner Regierungschef sagte, die Lage sei ernst. Das habe ihn nach Berlin geführt. Die Deutschlandfrage: noch immer ungelöst, die Wiedervereinigung, wie sie der Bonner Bundestag Monate zuvor noch einmal offiziell gefordert hatte, in weiter Ferne. »Das ist für Sie in Berlin und für die Deutschen in der Sowjetzone eine bittere Enttäuschung«, sagte er den Berlinern.

Und dann fand der Kanzler, wenn der Bericht des Kundschafters zutrifft, offenbar recht pathetische Worte:

»Ich bin zu ihnen geeilt, um ihnen zu sagen, dass alle Deutschen, wo immer sie in der Welt sein mögen, mit ihnen fühlen. Und es sind nicht nur die Deutschen, die so denken, es sind die Angehörigen aller Völker der freien Welt, alle Menschen auf Gottes weiter Erde, die ein Gefühl haben für Freiheit und Menschenwürde, für Recht und Gerechtigkeit«.

In den Akten findet sich ein akkurater Stimmungsbericht:

»Die Kundgebung wurde in zwei Sälen durchgeführt. Vor dem Funkturm wurden Flugblätter in großen Mengen verteilt […] Während der Kundgebung sowie auch nachher kam es zu keinen Zwischenfällen. Die Polizei versuchte, die Menschen am Aufsammeln der Flugblätter zu hindern. Alle lasen aufmerksam die Flugblätter und diskutierten anschließend über den Text, jedoch war es dem GM nicht möglich, an Diskussionen teilzunehmen.«

Eine handschriftliche Seitennotiz des Vorgesetzten vermerkt: »Der GM ist zuverlässig, gezeichnet Gnatzy, Oberleutnant«

Im Anschluss an seinen umjubelten Auftritt gab Adenauer vor rund 150 in- und ausländischen Journalisten eine Pressekonferenz. Ein GM lieferte der Stasizentrale einen kompletten Mitschnitt des Frage- und Antwortspiels, das vom Bundespressechef Felix von Eckhardt geleitet wurde. Nur – worin mag da der geheimdienstliche Erkenntniswert gelegen haben?

Die systematische Observierung des Bundeskanzlers hielt an. Von besonderem Interesse für das SED-Politbüro und damit auch für das Staatssekretariatfür Staatssicherheit waren schon bald die Pariser Verträge. Die im Oktober 1954 unterzeichneten und im Mai 1955 in Kraft getretenen Abkommen beendeten für die Bundesrepublik Deutschland das Besatzungsstatut und vereinbarten vertraglich den Beitritt zur NATO und zur Westeuropäischen Union (WEU).