Vermächtnis - Heribert Schwan - E-Book

Vermächtnis E-Book

Heribert Schwan

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Beschreibung

Innenansichten der Macht

Es geht um nichts weniger als ein historisches Vermächtnis: In 630 Stunden hat Helmut Kohl seine Lebenserinnerungen zu Protokoll gegeben. Sein Gesprächspartner: der Historiker, Journalist und Autor Heribert Schwan, den Helmut Kohl als Ghostwriter seiner Memoiren ausgewählt hatte. Drei Bände der Erinnerungen des Kanzlers sind erschienen, dann endete die Zusammenarbeit jäh. Zuletzt ist auf öffentlicher Bühne ein Kampf um die »Deutungshoheit über ein politisches Leben« (Berliner Zeitung) entbrannt: Wie ist Helmut Kohls Wirken zu verstehen? Was ist wahr, was ist verzerrt am Bild dieses Jahrhundertpolitikers? Durch wen erfahren wir, wie er dachte, taktierte, handelte?

Am besten durch den Altkanzler selbst, ungefiltert, in seinen eigenen Worten – anhand der »Kohl-Protokolle«. Erstmals werden sie hier der Öffentlichkeit vorgelegt. – Nach dem Verbotsurteil des Kölner Landgerichts dokumentiert diese Neuausgabe, exklusiv als eBook, den Streit um die »Kohl-Protokolle«: inklusive aller gerichtlich erlaubten Passagen. (Einstweilen sind knapp ein Viertel der Zitate aus den »Kohl-Protokollen« gerichtlich verboten. Rund drei Viertel der Zitate haben Bestand.)

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HERIBERT SCHWAN

TILMAN JENS

VERMÄCHTNIS

DIE KOHL-PROTOKOLLE

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Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,Zürich, Dominic WilhelmSatz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, GermeringISBN 978-3-641-16797-4V005
www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

Innenansichten der Macht

Es geht um nichts weniger als ein historisches Vermächtnis: In 630 Stunden hat Helmut Kohl seine Lebenserinnerungen zu Protokoll gegeben. Sein Gesprächspartner: der Historiker, Journalist und Autor Heribert Schwan, den Helmut Kohl als Ghostwriter seiner Memoiren ausgewählt hatte. Drei Bände der Erinnerungen des Kanzlers sind erschienen, dann endete die Zusammenarbeit jäh. Zuletzt ist auf öffentlicher Bühne ein Kampf um die »Deutungshoheit über ein politisches Leben« (Berliner Zeitung) entbrannt: Wie ist Helmut Kohls Wirken zu verstehen? Was ist wahr, was ist verzerrt am Bild dieses Jahrhundertpolitikers? Durch wen erfahren wir, wie er dachte, taktierte, handelte?

Am besten durch den Altkanzler selbst, ungefiltert, in seinen eigenen Worten – anhand der »Kohl-Protokolle«. Erstmals werden sie hier der Öffentlichkeit vorgelegt. Diese Neuausgabe dokumentiert, exklusiv als eBook, den Streit um die »Kohl-Protokolle« – inklusive aller nach dem Verbotsurteil gerichtlich erlaubter Passagen.

*

Chronik eines angekündigten Buchverbots

Nach dem Verbotsurteil:

Vorwort zur Neuausgabe der »Kohl-Protokolle«

Am Freitag, den 3. Oktober 2014, lief der Druck für die Ausgabe Nr. 41 des Spiegel mit der zehn Seiten umfassenden Titelgeschichte »Die Abrechnung« als Aufmacher. In dieser Story wurden neben einer Hintergrundgeschichte ca. 25 Zitate aus den »Kohl-Protokollen« vorab veröffentlicht. Offenbar bereits am Sonntag, 5. Oktober, gelangte das Heft in die Hände der Kohl-Anwälte. Noch am selben Tag nämlich verfassten sie einen Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung gegen den Heyne Verlag, der das Buch nicht veröffentlichen beziehungsweise gegebenenfalls bereits veröffentlichte Bücher zurückrufen sollte. Zur Begründung führten die Juristen der im Ruhrgebiet politisch bestens vernetzten Kanzlei Holthoff-Pförtner an, es wäre Heribert Schwan aus seiner Zeit als Ghostwriter für Altkanzler Kohl vertraglich untersagt, die damals entstandenen Tonbänder mit Kohls Aussagen zu publizieren. Daneben seien durch das Buch bei Heyne auch Kohls Persönlichkeits- und Urheberrechte verletzt.

Einen Tag später, am Montag, wurde ein ähnlicher Antrag auch gegen Heribert Schwan gestellt. Beide Anträge wurden beim bundesweit als besonders »angreiferfreundlich« bekannten Landgericht Köln eingereicht, obwohl der Verlag in München sitzt, die Kanzlei in Essen und Helmut Kohl in Oggersheim/Ludwigshafen. Bei ebenjenem Landgericht also, das in Gestalt seiner 14. Zivilkammer, der sogenannten Urheberkammer, wenige Monate zuvor im Streit um die Originaltonbänder, auf denen die Gespräche zwischen Heribert Schwan und Helmut Kohl festgehalten sind, Kohl das Eigentum an den Tonbändern zugesprochen hatte – mit einer für viele Juristen eher abenteuerlichen, vom Berufungsgericht deshalb auch nicht übernommenen Begründung.

Am Dienstag, den 7. Oktober, lehnte die 28. Zivilkammer des Landgerichts Köln, die aus Experten für Fragen des Persönlichkeitsrechts bestehende sogenannte Pressekammer, das beantragte Buchverbot rundherum ab. Die von den Kohl-Anwälten behauptete Vertraulichkeitspflicht Schwans, so das Gericht, sei den Verträgen mit dem Droemer Verlag, in dem Kohls autobiographische Erinnerungen erschienen waren, nicht zu entnehmen. Und einen direkten Vertrag Kohl-Schwan habe es nie gegeben. Damit folgte das Gericht in weiten Teilen der rechtlichen Argumentation von Autoren und Verlag, die in Form einer anwaltlichen Schutzschrift vorsorglich bereits am 2. Oktober bei Gericht eingereicht worden war.

Anwälte aber sind hart im Nehmen: Umgehend legte die Kohl-Kanzlei Beschwerde gegen den ablehnenden Bescheid des Landgerichts ein. Das darüber entscheidende Oberlandesgericht Köln jedoch empfahl den Kohl-Anwälten noch am Donnerstag lapidar, den Verbotsantrag zurückzunehmen. Diesem Hinweis folgten sie, wohl um eine für sie negative Entscheidung des Senats zu vermeiden. Der Heyne Verlag erfuhr davon nur aus der Presse, und zwar erst am Freitag, 10. Oktober.

Am selben Tag hatten die Kohl-Anwälte einen erneuten Antrag auf Buchverbot gestellt, diesmal zielten sie jedoch nicht auf ein Komplettverbot, sondern »nur« auf ein Verbot von 115 auf den ersten Blick scheinbar wahllos zusammengestellten Passagen, die zum Teil nur aus wenigen Worten oder sogar aus Formulierungen der Autoren Heribert Schwan und Tilman Jens bestanden.

Doch statt der Pressekammer reklamierte die Urheberkammer den Fall für sich. Begründung: Am selben Tag, als sie den 115 Passagen betreffenden Verbotsantrag stellte, hatte die Kohl-Kanzlei die bei dieser Kammer bereits eingereichte Klage gegen Heribert Schwan, die darauf zielt, dass er auch die Kopien der Tonbänder herausgeben solle, um einen Antrag erweitert, wonach ihm außerdem die Nutzung dieser Kopien untersagt werden soll. Wegen des »Sachzusammenhangs« beider Verfahren erklärte sich die Urheberkammer für zuständig.

Statt nun aber, wie von den Kohl-Anwälten vielleicht erhofft, ein umgehendes Verbot einzelner oder mehrerer der 115 monierten Passagen zu verhängen, beraumte das Gericht einen Verhandlungstermin für den 30. Oktober an. Dieser hatte es in sich: In der öffentlichen Anhörung hegten die Richter von der 14. Kammer keinen Zweifel daran, dass ihrer Ansicht nach den Verträgen über die damalige Kohl-Autobiographie, die zwischen Heribert Schwan und dem Droemer Verlag einerseits und Droemer und Helmut Kohl andererseits geschlossen worden waren, irgendwie entnommen werden könne, dass Kohl und nicht Schwan über die Verwendung des Tonmaterials frei verfügen könne. Eine Erörterung der 115 monierten Buchpassagen im Detail wollte sich die Kammer ersparen. Der Vorsitzende ließ erkennen, die aus drei Richtern bestehende Kammer werde die einzelnen Aussagen allenfalls in richterlicher Beratung – also quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit und auch der Verfahrensbeteiligten – daraufhin prüfen, ob Kohl sie im Vertrauen auf die angeblich existierende Verschwiegenheitsvereinbarung geäußert habe.

Der anwaltliche Vertreter von Autoren und Verlag, Professor Roger Mann, äußerte sich »entsetzt« über dieses Verständnis von Pressefreiheit und gab seiner Befürchtung Ausdruck, dass bei dieser Vorgehensweise wohl vor allem jene Aussagen verboten würden, die aufgrund von Kohls mitunter drastischer Ausdrucksweise von besonderem öffentlichen Interesse seien. Vom massiven »Gegenwind« des Anwalts und der Präsenz der zahlreichen anwesenden Journalisten wohl nicht unbeeindruckt, verzichtete das Gericht zumindest auf ein Sofortverbot noch am 30. Oktober und setzte stattdessen einen »Verkündungstermin« für den 13. November an.

Saal 139 des Landgerichts Köln, kurz nach zehn Uhr am Donnerstag, 13. November. Obwohl Urteilsverkündungen üblicherweise ohne die Prozessparteien stattfinden, waren die Kohl-Anwälte erschienen. Offenbar wollten sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, endlich ein siegreiches Urteil persönlich in Empfang zu nehmen.

In seiner laut Presseberichten knapp neunzigminütigen Urteilsbegründung – ungewöhnlich lang für einen bloßen Verkündungstermin – sagte Richter Martin Koepsel, Schwan habe gegen eine angeblich vertraglich vereinbarte Vertraulichkeit verstoßen, indem er die Kohl-Zitate eigenmächtig für das Buch verwendete. Zuvor hatte Koepsel den erschienenen Journalisten und den Kohl-Anwälten in aller Ausführlichkeit sämtliche Passagen vorgelesen, die nun den Autoren und dem Verlag verboten sind. Dabei unterstellte das Landgericht, Kohl und Schwan hätten eine vertragliche Regelung in Form eines »Auftrags« geschlossen, und konstruierte eine im – nach Ansicht von Autoren und Verlag – nicht-existenten Vertrag logischerweise auch nicht geregelte »stillschweigende« Vertraulichkeitspflicht gleich mit dazu. Auf einem ganzen Bündel von Hypothesen und Unterstellungen basiert also das Urteil gegen Heribert Schwan.

Gegenüber dem Co-Autor Tilman Jens und dem Heyne Verlag, denen beim besten Willen kein Vertrag mit Kohl zu unterstellen war, musste eine andere Konstruktion herhalten: Das Gericht behauptete, Helmut Kohl habe sich aufgrund der äußeren Umstände keinesfalls in seiner Funktion als Politiker mit Heribert Schwan unterhalten, sondern als Privatperson, und deshalb sei seine Privatsphäre höher zu gewichten als das öffentliche Interesse an den Äußerungen des langjährigen Bundeskanzlers und CDU-Parteivorsitzenden.

Bleibt abzuwarten, was das Oberlandesgericht davon hält – beide Parteien, sowohl Autoren und Verlag als auch die Kohl-Anwälte, haben gegen diese Entscheidung des Landgerichts Köln noch am Tag der Verkündung Berufung eingelegt.

Einstweilen sind, wie in der vorliegenden Fassung des Buches dokumentiert, knapp ein Viertel der Zitate aus den »Kohl-Protokollen« gerichtlich verboten. Das bedeutet aber auch: Rund Dreiviertel der Zitate haben Bestand. Wer sich mit eigenen Augen und im Detail ein Bild davon machen möchte, mit welcher Begründung das Landgericht Köln die einzelnen Zitate verboten hat, kann dies in der frei zugänglichen Rechtsprechungsdatenbank des Landes Nordrein-Westfalen tun: Unter dem Aktenzeichen des Landgerichts 14 O 315/14 ist das Urteil vom 13. November 2014 in Kürze auf www.nrwe.denachzulesen.

Rainer Dresen, Leiter der Rechtsabteilung der Verlagsgruppe Random House

18. November 2014

Zu den Autoren

Foto: © Karl-Heinz Moll

Heribert Schwan, Dr. phil., geboren 1944, war Redakteur beim Deutschlandfunk und beim WDR-Fernsehen, u.a. verantwortlich für die Kulturfeatures im ARD-Programm. Für seine Dokumentationen erhielt er zahlreiche nationale und internationale Preise; für seinen Film Die verdrängte Gefahr – Neonazismus wurde er mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter einige Bestseller; zuletzt erschien von ihm Die Frau an seiner Seite. Leben und Leiden der Hannelore Kohl.

Foto: © Thomas Liehr

Tilman Jens, geboren 1954, lebt als Journalist in Frankfurt am Main. Buchveröffentlichungen über Uwe Johnson und Mark Twain. Autor u.a. von Goethe und seine Opfer, Demenz, Freiwild und Axel Cäsar Springer. Ein deutsches Feindbild. Zahlreiche Fernsehdokumentationen zu Themen von Kultur, Theologie und Wissenschaft für die ARD und arte. Regelmäßige Mitarbeit bei den Kulturmagazinen der ARD, bei 3sat/Kulturzeit und im arte Wissenschaftsmagazin X:enius.

Fotos: Copyright © Daniel Biskup, Berlin

Entspannt, wie man ihn in der Öffentlichkeit kaum kennt: Helmut Kohl im Gespräch mit seinem Ghostwriter Heribert Schwan. Ganz offenkundig ein vertrautes Verhältnis, in dem beide Seiten aussprechen, was sie bewegt, sichtlich ohne Scheu vor deutlichen Worten oder einer abweichenden Meinung – Mimik und Körpersprache lassen sich hier lesen wie ein offenes Buch. Dies ist die Atmosphäre, in der die Kohl-Protokolle entstanden sind.

Inhalt

Vorwort

I. Heribert Schwan: »Das hast du fein gemacht, Volksschriftsteller!« – Meine 600 Stunden mit Helmut Kohl

II. Tilman Jens: Komm, wir heben einen Schatz!

1. Vom Geben und Nehmen

2. Die Minusfigur: Ein Selbstbild

3. »Er ist natürlich einer der Dreckigsten« – Helmut Kohl und seine Parteifreunde

4. »Kalt wie ein Fisch …« – Helmut Kohls politische Gegner

5. Die doppelte Hannelore

6. Fünf Freunde

7. Das ungeliebte Amt – Helmut Kohl und die Bundespräsidenten

8. Der Vater der Einheit – ein Zwischenruf

9. »Ich bin Bundeskanzler, ich bin Nassrasierer!« – Helmut Kohl und seine Werte

10. »Hauptverderber in Schrift und Ton« – Helmut Kohl, die Schriftsteller und die Journalisten

III. Heribert Schwan: Das Vermächtnis des Alten – Eine kleine Verneigung zum Schluss

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Vorwort

Angetrieben von der zweiten Frau des Kanzlers der Einheit, versuchen Anwälte der Familie Kohl ein Dokument von hoher Brisanz unter Verschluss zu bekommen: die Tonbandaufzeichnungen eines monumentalen biographischen Gesprächs. Mehr als sechshundert Stunden, zusammengerechnet über fünfundzwanzig Tage Helmut Kohl nonstop. Am Ende des unfassbar langen Dialogs steht die Eigenbilanz eines einmaligen Politikerlebens: von den Anfängen in Rheinland-Pfalz über den Triumph der Einheit bis zum bitteren Parteispenden-Ende.

Ausführlicher, meinungsstärker, persönlicher hat sich Kohl niemals über Erfolge und Niederlagen, über Weggefährten, Freunde und Feinde, über seine Familie und die Fundamente seiner Politik geäußert. Zunächst als Arbeitsgrundlage der mehrbändigen Autobiographie gedacht, haben die langen Gespräche bald einen ganz eigenständigen Charakter gewonnen. Nur etwa 10 Prozent der oft sehr direkten Rede finden sich in den veröffentlichten Memoiren wieder, in denen notgedrungen so manches mit staatsmännischem Gestus zu glätten war. In den biographischen Erkundungen aber spricht der sechste Kanzler der Republik frei heraus Klartext. Das Ergebnis ist ein »Who is Who« der Zeitgeschichte, das Politiker wie Strauß oder Schäuble, wie Genscher, Geißler oder Gorbatschow auf ganz neue Weise porträtiert. Und das nicht selten überraschend, mitunter auch bitterböse.

Da werden der eigenen Partei gründlich die Leviten gelesen. Da offenbart sich – für manchen hartnäckigen Kohl-Gegner kaum fassbar – ein sinnenfroher, im Glauben rundum liberaler Katholik, ein gebildeter Mann, der unter dem ewigen Stigma der »Birne« litt wie ein getretener Hund. Da wird der Mauerfall vor fünfundzwanzig Jahren, das Ringen um die deutsche Einheit mit pointierten Worten als ökonomische Zwangsläufigkeit charakterisiert. Karl Marx hätte seine Freude an diesem Mann gehabt.

Doch den ebenso erhellenden wie über weite Strecken unterhaltsamen Protokollen, deren Qualität nicht zuletzt in ihrer direkten Wörtlichkeit liegt, droht Ungemach: Die Kanzlerfamilie lässt nichts unversucht, den bisherigen Hüter des Schatzes zur Herausgabe der Tonbänder zu zwingen, dieses kolossalen Dokuments, das sich kein zweites Mal erstellen lässt, denn Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, ist ein schwerkranker Mann.

Seine Frau, Maike Kohl-Richter, will sich augenscheinlich die alleinige Deutungshoheit sichern und die Gesprächsprotokolle möglicherweise für Jahrzehnte wegschließen. Diesem Ansinnen gilt es sich zu widersetzen. Auf juristischem, aber eben auch auf publizistischem Wege. Deshalb die hier vorgelegte Dokumentation, die im Teamwork entstanden ist. Wir – Heribert Schwan, der Hüter des Schatzes, der Ghostwriter der Kanzlermemoiren, der Kohl 2001 und 2002 in schier endlosen Sitzungen befragte, und der Journalist und Buchautor Tilman Jens – haben uns noch einmal durch sein monumentales Vermächtnis gekämpft: die Kohl-Protokolle. Schon während unserer langen Zusammenarbeit im WDR haben wir manche gemeinsame Schlacht geschlagen. Und der unterschiedliche Blick auf das Vermächtnis schien uns reizvoll. Der eine hat den Staatsmann, den Menschen Helmut Kohl, wie kein zweiter Journalist aus nächster Nähe erlebt. Der andere schaute von außen auf das Dokument, war fasziniert – und wunderte sich.

Auch wenn wir aus juristischen Gründen, die wir selbstverständlich akzeptieren, fürs Erste aus den Dokumenten nur recht knapp zitieren dürfen,* entsteht doch ein facettenreiches Bild dieser Jahrhundertgestalt der deutschen Politik: Helmut Kohl, ein Staatsmann in erfrischend streitbaren Selbstzeugnissen, Helmut Kohl unplugged!

Heribert Schwan Tilman Jens im August 2014

* Der Übersichtlichkeit wegen sind die Originalzitate aus den Kohl-Protokollen im Text graphisch hervorgehoben.

I. Heribert Schwan: »Das hast du fein gemacht, Volksschriftsteller!«

Meine 600 Stunden mit Helmut Kohl

Der unerbetene Besucher, der sein Kommen vor einigen Wochen angekündigt hatte, klingelte pünktlich um acht Uhr in der Früh des 12. März 2014. Und er klingelte im Namen des Volkes. Aktenzeichen DR II 109/14, Zwangsvollstreckungssache Herr Dr. Helmut Kohl gegen Herrn Dr. Heribert Schwan. »In obiger Sache bin ich aufgrund des Urteils des Landgerichts Köln vom 12.12.2013 beauftragt, Ihnen sämtliche Tonbandaufnahmen, auf denen die Stimme des Klägers zu hören ist und die in den Jahren 2001 und 2002 vom Beklagten aufgenommen wurden, wegzunehmen.« Vermutlich eben deshalb, um die Gewichtigkeit seiner Mission zu unterstreichen, wurde der Obergerichtsvollzieher, eine kräftige Gestalt mit hoher Stirn, das silbergraue Haupthaar zu einem längeren Zopf gebunden, von drei dezent gekleideten Herren begleitet. Sie gaben sich als Mitarbeiter der Essener Anwaltskanzlei Holthoff-Pförtner zu erkennen, die Kohl schon seit den Tagen des Spendenskandals vertritt. Zugegen waren des Altkanzlers Advokat Thomas Hermes nebst Assistent und ein von den beiden mitgebrachter Tontechniker. Der Aufmarsch konnte sich sehen lassen. Offenkundig schien Gefahr im Verzug.

Die Nacht zuvor hatte ich kaum geschlafen. Und mich immer wieder selber verflucht. Warum habe ich die 200 streitgegenständlichen Tonbandkassetten nicht einfach, etwa bei meinen alten Kollegen vom WDR, in die Löschtrommel gegeben? Das hatte mir das Gericht schließlich nicht untersagt. Der endlosen Auseinandersetzungen müde, hätte ich durchaus Lust dazu gehabt. Welch wundervoll tröstliche Vorstellung war das: Frau Maike, die Gattin des Altkanzlers, die in Oggersheim lang schon die Geschäfte des Schwerkranken führt, beim Abhören von Bändern mit gesammeltem Schweigen! Aber die Vernichtung von unwiederbringlichen Dokumenten der Zeitgeschichte, das Abhalten von Bundeslöschtagen, ist meine Sache nicht. Eine Zerstörung von Quellenmaterial widerspricht meinem Berufsethos als Historiker und Journalist.

Also habe ich, gewiss nicht aus freien Stücken, dem Quartett, das mich unten bei den Briefkästen meines Kölner Wohnhauses mit kalter Routine erwartete, vierzig kleine Päckchen mit jeweils fünf Audiokassetten übergeben. Die Kohl-Gesandtschaft begann nachzuzählen, dann verschwand die eingetriebene Beute in einem mitgebrachten Umzugskarton. Mein Anwalt, den ich, um meinerseits einen verlässlichen Zeugen zu haben, zum tristen Termin hinzugebeten hatte, hat die unwürdige Inbesitznahme fotografisch dokumentiert. Schließlich verlangte der Obergerichtsvollzieher nach Barem. 625 Euro Vollstreckungsgebühren! Ein stolzer Betrag. So viel kostet nicht einmal meine Saisonkarte für die Heimspiele des 1. FC Köln. Doch Widerstand schien zwecklos. Notgedrungen überreichte ich dem Gerichtsvollzieher 650 Euro. 24,97 Euro gab er mir zurück. Mehr Wechselgeld hatte er nicht dabei. Ich habe ihm die fehlenden drei Cent geschenkt. Nach zwanzig Minuten war der Spuk vorbei. Die ohnmächtige Wut aber hält an.

Im Sommer 2014 ging die Causa in die nächste Instanz. Zu meinem Entsetzen hat im Revisionsverfahren auch der 6. Zivilsenat des Kölner Oberlandesgerichts (OLG) dem Altkanzler die Bänder zugesprochen. Und damit letztlich ihm und den Seinen auch das Recht, diese Dokumente nach eigenem Gutdünken auszuwerten oder gar zu vernichten. Das Urteil vom 1. August 2014 und erst recht seine Begründung sind für mich schwer erträglich. Ich hatte die Gespräche mit dem Altkanzler sorgsam vorbereitet und immer wieder neu strukturiert. Doch die Richter Hubertus Nolte, Dorothea Hammer und Dr. Martin Hohlweck befanden, diese aufwendig geplanten und im Gespräch laufend nachjustierten Tiefeninterviews, mit denen nicht nur Helmut Kohls biographische Daten, seine Rolle als Politiker und seine Sicht auf zeitgeschichtliche Ereignisse, Mitstreiter und Gegner, sondern seine ganze Persönlichkeit erforscht und nachgezeichnet wurden, seien nicht einmal »mit einem Interview vergleichbar, das ein Journalist mit einem beliebigen Passanten auf der Straße oder mit einem Politiker im Zusammenhang mit der Berichterstattung zu einem tagesaktuellen Geschehen führt«. Mit dieser Urteilsbegründung wurden die Begleitumstände der Befragungen auf den Kopf gestellt.

»Von einer gleichberechtigten Zusammenarbeit der Parteien«, so das Gericht, könne »nicht die Rede sein«. Diese richterliche Behauptung widerspricht schlicht den Tatsachen – wie jedem, der die Kohl-Protokolle auswertet, leicht ersichtlich sein wird. Der sarkastische Kommentar im Handelsblatt sprach mir aus dem Herzen: »Offenbar ist Schwan kein Journalist, denn als solcher hätte er die Bänder behalten dürfen. Sondern er ist eine Art lebender Mikrofonhalter, wie sich eine empörte Kollegin des WDR ausdrückt. Anders kann sie sich die Entscheidung der Richter nicht erklären.« Immerhin hat das OLG den Gang zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe für zulässig erklärt. Und diesen Weg werde ich auch beschreiten.

Denn dieses Verfahren, das auch grundsätzliche Fragen journalistischer Freiheit berührt, geht weit über den Einzelfall hinaus. Das ist mehr als nur eine Justizposse um 200 angestaubte Bänder. Dieser durch Anwalts- und Gerichtskosten in beängstigende Höhen getriebene Rechtsstreit, der über Jahre von der Gegenseite so erbittert geführte Kampf um die Kohl-Protokolle, zielt, das sei ohne Übertreibung gesagt, auf die Existenz eines unwiederbringlichen Dokuments der Zeitgeschichte. Gewiss, noch lebt der Kanzler der Einheit. Aber er lebt als Schatten seiner selbst. Er ist an den Rollstuhl gefesselt und kann sich seit einem schweren Unfall im Jahr 2008 kaum noch äußern. Nie wieder wird sich dieser Mann, der über Jahrzehnte die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland prägte, in gebotener Ausführlichkeit seines politischen Lebens erinnern können.

Die Bänder sind von einmaligem Wert. Eben darum darf dieser Schatz nicht für alle Zeit in der Versenkung eines Umzugskartons verschwinden. Weit über 600 Stunden – das Ausmaß unseres monumentalen Gesprächs ließ sich anhand meines Terminkalenders recht genau rekonstruieren – hat Helmut Kohl mir Rede und Antwort gestanden. Und das hatte seinen Grund: Ich bin der Autor seiner Lebenserinnerungen. Die rund 2300 Seiten der dreibändigen (und doch leider unvollendeten) Autobiographie sind zum allergrößten Teil von mir geschrieben. Um dies bewerkstelligen zu können, war ein Interview von mindestens 200 Stunden vertraglich vereinbart. Am Ende sollte es mehr als das Dreifache sein. Zusammengerechnet haben wir uns also beinahe einen Monat lang rund um die Uhr unterhalten. Der Großteil des monumentalen Gesprächs ist auf den nun konfiszierten Kassetten festgehalten. Wohl kein anderer deutscher Politiker hat so umfassend, so genau, so schonungslos mit Freund und Feind, so nachtragend im wahrsten Sinne des Worts, Bilanz seiner Vita gemacht.

Bisweilen sehr bitter und nicht selten unerhört sprachgewaltig – ganz anders, als in den vielen Klischees über den vermeintlich heillos Dumpfen behauptet – kommentiert er rund ein halbes Jahrhundert deutscher Nachkriegsgeschichte: Niemals zuvor und niemals danach hat er das System des eigenen Machterhalts freimütiger beschrieben, das vielbeschworene System Kohl, das die Strukturen des lokalen Parteiklüngels scheinbar nahtlos auf die große Politik übertrug: »Wenn ich einen Kreisverband habe, nehmen wir einmal an: mit fünfzig Leuten, die die Macher sind: Da gibt es menschliche Strukturen. Die wissen sehr viel voneinander. Die wissen, der hat eine Freundin. Die wissen, der hat Schulden. Die wissen, da hat dem die Kreissparkasse geholfen. Das ist ein ganz normales System.« Und eben nach diesem System hat er regiert, erst das Bundesland Rheinland-Pfalz, dann die Bonner Republik. Die Fraktion, die Partei ohnehin.

Dank eines perfekt organisierten Informationssystems war er stets genauestens im Bilde über die Stärken, Nöte und Abgründe der Menschen, mit denen er zu tun hatte. Ob Strauß, Geißler, Genscher oder Gorbatschow: Der geniale Stratege, der nicht ohne Kalkül die Pose des Biedermanns mit der Strickjacke einnahm, wusste genau, wo sie verwundbar waren, wo er sie packen, wie er sie in Abhängigkeit bringen konnte. Letztlich hat er sie alle zu Figuren seines persönlichen Schachspiels gemacht, dessen oberste Regel war, dass kein anderer als Kohl die Partie gewinnen durfte. Dies wird die hier nun, nach reiflicher Überlegung, vorgelegte Dokumentation unserer Gespräche facettenreich zeigen.

Für die Erklärung der geradezu atemberaubenden Offenheit des in den Ruhestand geschickten Staatsmanns scheint die Zeitspanne unserer ausgedehnten Sitzungen im Hause Kohl von entscheidender Bedeutung. Am 12. März 2001, einem Montag, haben wir die Arbeit in Oggersheim aufgenommen. Da hat er sich an den bodenständigen Bauern Josef Schnur aus dem Hunsrück erinnert, »den Vater meiner Mutter, der 1930 kurz vor meiner Geburt starb«. Gut eineinhalb Jahre später, am 27. Oktober 2002, war die biographische Erkundung mit einer finalen Bewertung der bisherigen Bundespräsidenten zu Ende gebracht. Eine kleine, für manchen gewiss überraschende Verneigung vor dem Sozialdemokraten Gustav Heinemann (»wir hatten ein ganz ungewöhnlich gutes Verhältnis«), dann sprach er den erlösenden Satz: »Gut, wir machen an dieser Stelle Schluss!« Für mich ging es jetzt an den Schreibtisch, an die ergänzende Lektüre von Akten und Protokollen, derweil sich meine Schwester ans Abschreiben der 200 Tonbänder machte, das beklemmende Konvolut für die Auswertung erschloss – und vor allem für alle Zeit sicherte. Kein Gerichtsvollzieher wird sich der Dateien jemals bemächtigen. Sie sind bei Freunden, Notaren, auch im nichteuropäischen Ausland hinterlegt. Und das ist gut so. Denn Helmut Kohl hatte mir sein Leben just in jenen Monaten erzählt, die für ihn zu den bittersten in seiner steilen, seit Schülertagen zielstrebig vorangetriebenen Karriere zählten.

Während wir zu Beginn des dritten Jahrtausends im Souterrain seines Bungalows sein Leben zu Protokoll nehmen, steht Helmut Kohl in der Öffentlichkeit da wie ein rundum beschädigtes Denkmal. Sein gesellschaftliches Ansehen strebt gegen null. Die rechtsbeugende »Ehrenwort«-Erklärung in der CDU-Spendenaffäre hat ihn auch im Kreise der Seinen erledigt: »Ein Wort zu halten und dies über Recht und Gesetz zu stellen, mag vielleicht bei einem rechtmäßigen Vorgang noch verstanden werden, nicht aber bei einem rechtswidrigen Vorgang.« Angela Merkels legendäre Abrechnung in der FAZ hatte den Niedergang im Dezember 1999 eingeläutet. Die Bataillone, die er als Parteivorsitzender über Jahrzehnte um sich zu scharen vermochte, hatten genug und kündigten dem einstigen Übervater die Gefolgschaft. War der am Ende gar käuflich? Das wurde oft gefragt, aber nie bewiesen. Von Kohl, befand Ziehtochter Angela schmucklos, werde jedenfalls fortan nur noch »in der Vergangenheit gesprochen«. Das System Kohl ist ein Auslaufmodell.

Nicht einmal Ehrenvorsitzender der Union darf er noch bleiben. Der unbelehrbare Wiederholungstäter, der aus dem Desaster der Flick-Affäre offenkundig nicht lernen wollte, scheint seiner Partei untragbar. Als wir unsere Gespräche im März 2001 beginnen, hat die Bonner Staatsanwaltschaft zwar gerade ihr Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue eingestellt – aber nur gegen Zahlung einer wahrlich stattlichen Geldauflage in Höhe von 300 000 DM, wobei des Altkanzlers Verdienste ums Vaterland von den Richtern noch als strafmildernd in die Waagschale geworfen werden. Der reulose Gesetzesbrecher gilt somit zumindest als nicht vorbestraft, aber die akzeptierte Verfahrenseinstellung gegen Geldzahlung ist, wie es Max Stadler, der FDP-Obmann im Parteispenden-Untersuchungsausschuss formuliert, kaum mehr als ein Pyrrhussieg. Kohl selber sagt, dass er sich wie ein Aussätziger fühle.

Und der nächste Schicksalsschlag nahte: In der Nacht vom 4. auf den 5. Juli 2001 nimmt sich Hannelore Kohl, nach gut vierzig Ehejahren, das Leben. Krank, depressiv und einsam. Als sie Schlaftabletten und eine Überdosis Morphiumsulfat schluckte, weilte ihr Mann in Berlin. Bis dass der Tod euch scheide? Sie hat ihre letzte Entscheidung allein getroffen. Und allein, in einem menschenleeren Haus, ist sie auch gestorben.

Helmut Kohl, der darauf brennt, unser Gespräch bereits neun Tage nach dem Tod seiner Frau wieder aufzunehmen, macht vor allem eine vermeintliche »Verfolgungsjagd« durch Journalisten, die im Spendensumpf wühlen, für die todbringende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes verantwortlich. Aber auch die Absetzbewegung nahezu der gesamten CDU-Prominenz, sagt er, habe ein Gutteil zu Hannelores Tragödie beigetragen. x xxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxWas er freilich unter den Teppich kehrt, das sind die Verletzungen, die er der Kranken vermutlich selbst zugefügt hat, mit seiner Weigerung, die Millionenspender zu nennen, vor allem aber mit der Parallelbeziehung zu einer gewissen Maike in Berlin, die – wie Sohn Peter 2013 öffentlich machte – schon Ende der neunziger Jahre mit dem Vater verbandelt gewesen sein soll.

Er hat nahezu alles verloren: die Macht, die bürgerliche Reputation, seine Frau, die er seit den Tagen der Tanzstunde kannte. Er ist isoliert. Selbst sein Arbeitgeber aus den fünfziger und sechziger Jahren, die BASF, meidet nun seine Gegenwart und lädt ihn bei einer Festveranstaltung aus. In dieser scheinbar ausweglosen Situation entschließt er sich, sein Leben zu Protokoll zu geben, sein politisches Vermächtnis zu formulieren. »Das Buch ist ja noch nicht geschrieben«, klagte er am 2. April 2001, »wo etwas über Helmut Kohl und die Medien und die Verzerrung meines Bildes steht.« Er muss keine Rücksicht mehr nehmen. Er schlägt um sich wie ein angezählter Boxer. Aber ohne jede Benommenheit: Seine Schläge sind so direkt, so treffsicher wie niemals zuvor. Vor allem seine früheren Weggefährten, von denen er sich seit der Spendenaffäre verraten fühlt, bekommen es ab.

King Lear aus der Pfalz hält Gerichtstag über seine missratene Brut. Angela Merkel? x xxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxx xxxxxxxxxxx, knurrt der Kanzler außer Diensten bei unserem Termin sechzehn Tage nach Hannelores Selbstmord, xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx1 Das Mädchen aus der Uckermark und ihr Vertrauter Friedrich Merz? x xxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxx xxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxx Lothar Späth? Nicht mehr als ein x xxxxxxxxxxxxxxx Und Norbert Blüm, der alte Haudegen, der seinem einstigen Dienstherrn über Jahre treu diente, bis er, schon lange vor dem CDU-Spendenskandal, in Ungnade fiel? Er hat Kohl, so wie es der Anstand gebietet, zum Tod seiner Frau kondoliert. In der ihm eigenen Schlichtheit. Aber vermutlich von Herzen ehrlich: »Ich bin unendlich traurig. Norbert.« Der Witwer hat für die versöhnliche Geste nur beißenden Spott: x xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx«

Auch der Chemiegigant aus Ludwigshafen hielt es für angezeigt, öffentlich seine Anteilnahme kundzutun. x xxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxx xxxxxxx xxxxxxxx xxxxxxxxx xxxxx xxx xxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Kohl ist tief verwundet. In einer letzten, verzweifelten Brandrede – und eben so klingen weite Teile seiner Lebensbilanz – will der so oft schon Totgesagte um seine Ehre kämpfen, vielleicht auch um seinen Platz in der Geschichte. Gerade jetzt pocht er auf die Anerkennung seiner Verdienste. Er fühlt sich rundum verkannt. Das uralte Trauma! Es nagt schon sehr lange. »Der Heuss hat Schwäbisch gesprochen, dass man ihn fast nicht verstand«, räsoniert er schon in einem der ersten Gespräche, »aber wer Pfälzisch sprach, musste intellektuell eine Null sein.«

Nach außen hat er sich über Jahrzehnte als Koloss im Amt, als unverwundbarer Riese stilisiert. Nun auf einmal spricht er von den Verletzungen, die schon früh ihren Anfang nahmen, 1973, als er Parteivorsitzender wurde, spätestens aber 1976, als er sich, wenn auch äußerst knapp, als Kanzlerkandidat geschlagen geben musste: »Lange vor der Bundestagswahl begann man das Bild vom Trottel aus Oggersheim aufzubauen.« Und wer ist schuld? Die Roten natürlich, mit denen er sich schon als Mitglied der Jungen Union beim Plakatekleben im Wahlkampf zu prügeln beliebte. »Die SPD hat das gemacht. Die hatte eigene Arbeitsgruppen: Wie kann man dem Kohl das Wasser abgraben? ›Der Bauer aus der Pfalz.‹ Es hing an mir: Der ist Provinzler! Und dagegen der Weltbürger Schmidt mit den großen Perspektiven, der ein glänzendes Englisch spricht. Das ist immer weiter kultiviert worden, mit Modifikationen. ›Birne‹ zum Beispiel! All die Beschimpfungen. Das müssen wir meines Erachtens noch ein bisschen herausarbeiten.«

Er redet sich die Komplexe vom Leib. Er will – endlich – kontern, aufräumen mit dem, wie er sagt, Zerrbild des Trampeltiers und Idioten. Der Lehrsatz »Ich weiß, dass ich nichts weiß« galt bei Sokrates als der Inbegriff der Weisheit. Eben da möchte er, denke ich manchmal, nun anknüpfen. »Ich bin sprachlich nicht sehr begabt und gab mir auch keine Mühe. Ich wurde zum Bundeskanzler gewählt und nicht zum Dolmetscher.« Da ist er wieder, der scheinbar Unerschütterliche, dickbramsig, von keinem Selbstzweifel gepeinigt. Mit seinen Lebenserinnerungen hofft er sein ramponiertes Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit grundlegend zu korrigieren. Und ich soll ihm dabei helfen.

Ausgerechnet ich! Mit der Union verbindet mich wenig. Ich bin sozialliberal bis auf die Knochen. Brandt und Scheel waren und sind mir näher als Strauß, Barzel oder Kiesinger. Als Kohl 1982 den sozialdemokratischen Bundeskanzler Schmidt stürzte, habe ich, damals Hörfunkredakteur beim Deutschlandfunk, im Studio mit den Tränen gekämpft und dachte, das darf doch nicht wahr sein, dass dieser Mann jetzt an die Macht kommt. Schon als Studenten in Mainz haben wir gegen ihn demonstriert, den nach einem Festakt vorbeimarschierenden Ministerpräsidenten vom Balkon der Mensa mit Tellern beworfen, weil der Mittagsfraß so unerträglich war. Sonderlich beeindrucken konnte ihn das nicht. Meine kritische Distanz allerdings blieb.

Einer Partei angehört habe ich freilich nie. Ein Journalist, der sich – mit den Worten des legendären Tagesthemen-Moderators Hanns-Joachim Friedrichs – niemals gemein machen sollte, hat nach meinem Verständnis dort auch nichts zu suchen. Aber das Phänomen Helmut Kohl faszinierte mich doch, umso mehr, je länger er regierte. Der Mann hat so vieles ein- und weggesteckt, in der ganzen Bandbreite des Wortes. Es gibt den Kohl der Flick-Affäre, den Spenden-Kohl, den Kohl mit der engen Beziehung zu Leo Kirch, kurz: den Kohl mit dunklen Nehmerqualitäten. Aber nicht weniger geschickt konnte er auch Prügel und Niederlagen einstecken, die scheinbar ohne die geringste Wirkung blieben. Wie virtuos hat er sich all der Fallstricke entwunden, die ihm seine Parteifreunde spannten, mit wieviel demonstrativer Gleichmut hat er die Schmähreden seiner Gegner ertragen: der tumbe Tor aus der Pfalz! Nicht einmal das Wort Geschichte hat er phonetisch korrekt aussprechen können – und war dennoch im Begriff, ebendiese zu schreiben. Diesen so gern, so erbarmungslos Unterschätzten wollte ich einmal aus der Nähe erleben, den scheinbar ungehobelten, aber mit allen Wassern gewaschenen Strategen, den kaum schlagbaren Strippenzieher, der über das Innenleben noch des entlegensten CDU-Kreisverbandes minutiös informiert zu sein schien. Der Hochmut seiner Gegner, gerade unter den Intellektuellen des Landes, ärgerte mich. Ihr Spott erschien oft gar zu billig. Als politischer Publizist interessierte mich, wie diese Kämpfernatur, der als ewiger Sitzriese Verpönte die ihm unverhohlen entgegengebrachte Verachtung aushielt und unbeeindruckt von all den Störfeuern blieb.

1984 habe ich ihn das erste Mal getroffen. Da war er gerade einmal zwei Jahre lang Kanzler. Mein einstiger WDR-Kollege Werner Filmer und ich hatten damals ein überraschend erfolgreiches Buch über den künftigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker veröffentlicht, das den zu Porträtierenden, nach dem bewährten Strickmuster einer öffentlich-rechtlichen Fernsehdokumentation, mit montierten Selbstaussagen, aber auch anhand von Zeitzeugen-Interviews beschrieb. Alte Mitschüler, Studienkollegen kamen dabei ebenso zu Wort wie spätere Weggefährten, Freunde, Kritiker.

Nun sei es ratsam, ließ mein damaliger Verlag bald wissen, nach dem ersten Mann im Staat auch umgehend den mächtigsten Mann im Staat in ähnlicher Weise zu würdigen. Ich hielt dies, nach allem, was ich über den Kanzler wusste, für ein aussichtloses Unterfangen. Der misstraute doch jedem Journalisten außerhalb des eigenen Dunstkreises. Der umgab sich doch allenfalls mit dienstbaren Kohl-Konformisten, Kragenweite Peter Boenisch, ehemaliger Bild-Chefredakteur und damals Kohls Regierungssprecher, oder Heinz Klaus Mertes, dem unverbrüchlichen Getreuen vom Bayerischen Rundfunk. Jedenfalls nicht mit einem unabhängigen Geist ohne Stallgeruch. Ich sollte mich gründlich irren.

Gerade einmal vierzehn Tage, nachdem ich 1984 Kohls Kommunikationschef Eduard Ackermann, den ich aus meiner Arbeit als Redakteur und Moderator beim Deutschlandfunk kannte, darum gebeten hatte, die Möglichkeiten eines Vorgesprächs mit dem Bonner Regierungschef auszuloten, bekamen Filmer und ich einen Termin. Kohl zeigte sich aufgeschlossen, sagte gleich mehrere Interviews zu und öffnete die Türen zu Begleitern seiner Vita. Karl Cunz, der einstige Nebensitzer in der Schule. Günther Schmich, der alte Religionslehrer. Studienkollegen. Frühe Parteifreunde aus der Pfalz wie Johann Wilhelm Gaddum oder Bernhard Vogel, mit dem zusammen er im Oberseminar saß. Auch Kurt Biedenkopf stand zur Einvernahme bereit. So ließ sich das Psychogramm eines Zeitgenossen erstellen, der schon in Kindertagen die Horden um sich scharte – und einen kleinen Hauszoo mit Stallhasen, einem Pfau, einem gezähmten Fuchs und einem Raben mit gebrochenem Flügel unterhielt.

Unsere biographische Annäherung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, vorurteilsfrei das Bild eines Politikers zu überprüfen, der zum Lieblingsfraß der Satiriker geworden war. Unser Verzicht auf ideologische Scheuklappen missfiel allerdings einem jungen, sehr ehrgeizigen SPD-Abgeordneten aus Hannover, der sich dreizehn Jahre später anschicken sollte, Kohl zu beerben. »Ich hatte häufig das Gefühl, das Konrad-Adenauer-Haus in Bonn, die CDU-Zentrale könne mit dem Buch zufrieden sein«, stichelte Gerhard Schröder 1985 im Spiegel, entnahm unserem Werk dann aber doch Signale der Hoffnung: »Durchaus denkbar, dass der lange Aufstieg des Helmut Kohl Anfang 1987 ein jähes Ende findet. Erste Anzeichen deuten bereits darauf hin.« Er sollte sich ein wenig verschätzen.

Die Zeitzeugen-Biographie landete, Schröders Bedenken zum Trotz, auf der Sellerliste des Hamburger Nachrichtenmagazins, das dem Kanzler zeit seines Amts so verhasst war. Der Porträtierte hätte die eine oder andere Stelle gern etwas wohlwollender formuliert gesehen, aber ein gewisses Bemühen um Fairness und Redlichkeit mochte der Kanzler den Autoren nicht absprechen. »Nein, er ist keiner, der Begeisterungsstürme hervorruft«, hatten wir geschrieben, »sondern einer, der verblüfft.« Auf alle Fälle gelang es mir, den bekennend Fernsehscheuen gleich noch zur Mitwirkung an einer ARD-Dokumentation – und das ausgerechnet für den von ihm als Rotfunk unter Pauschalverdacht gestellten WDR – zu überreden: »Der Wendekanzler – Gesichter eines Mannes«.

Der Film gehört, im Nachhinein betrachtet, nicht zu meinen Meisterwerken, aber die Tonlage, denke ich, stimmte. Keine Häme, keine schäumende Abrechnung, kein dem Zeitgeist geschuldetes »Birnen«-Bashing, aber eben auch keine Lobhudelei. Kurzum, die Dokumentation hinterließ weder beim WDR noch in Oggersheim verbrannte Erde. Hannelore Kohl lud mich sogar ein, mein rumänisches Lieblingsrezept zu einem Kochbuch beizusteuern, dessen Verkaufserlöse ihrem Kuratorium für Unfallopfer mit Schädigungen des zentralen Nervensystems zugutekommen sollten: Was Journalisten anrichten. 1987 konnte ich sie im Gegenzug zu einem fünfundvierzigminütigen TV-Porträt überreden, in dem sie sich im Gespräch mit mir zum ersten Mal ausführlich und ungemein gewinnend über das nicht immer einfache Leben an der Seite ihres Mannes äußerte.

Dann flachte der Kontakt ab. Der gewichtige Vater der Einheit hatte anderes zu tun, als für ein Kamerateam Modell zu sitzen. Nur dann und wann wurde ich komplikationslos vorgelassen, wenn es galt, unser Buch auf den neuesten Stand zu bringen. Anfang 1999 – seit seiner Abwahl im September 1998, der schmerzhaft-klaren Niederlage gegen Gerhard Schröder, war eine gewisse Schonfrist vergangen – schien die Zeit für eine letzte, bilanzierende Aktualisierung gekommen. Bei einem Treffen in Bonn habe ich ihn dann – eher beiläufig – gefragt, ob er sich nicht vorstellen könne, an seine Memoiren zu gehen, sich in persönlicher Rückschau der Einheit, des Euros, aber auch der oft schwierigen Mitstreiter zu erinnern. Nach kurzem Abwinken, nicht frei von Koketterie (»Bin ich denn wirklich so interessant?«), schlug er vor, doch einmal Ausschau nach einem geeigneten und solventen Verlag zu halten.

Als ich ihm wenig später gleich mehrere Offerten unterbreitete, bat er mich, ihm als Schreiber zur Seite zu stehen. Selbstverständlich werde mein Name auf dem Buchcover genannt. Die Annahme dieses ehrenvollen Angebots aber hätte möglicherweise zu Schwierigkeiten mit meinem Arbeitgeber, dem Westdeutschen Rundfunk, geführt, bei dem der Name Kohl nicht eben hoch im Kurs stand. Wir verständigten uns also darauf, dass ich die Autobiographie zunächst als Koordinator und wissenschaftlicher Berater begleiten und auch die Interviews führen würde. Die Nebentätigkeit wurde mir vom WDR ohne größere Probleme genehmigt. Aber das Projekt nicht an die große Glocke hängen, das möge ich bitte doch.