Splitterseelen - Sandra Busch - E-Book

Splitterseelen E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Kurzbeschreibung Jason glaubt nicht an Schutzengel. Er weiß schließlich genau, dass es sie gibt, denn er hat seinen persönlichen Engel namens Calael nicht bloß gesehen, sondern mit ihm auch gesprochen. Ansonsten führt er ein normales Leben. Bis zu dem Morgen vor seinem 21. Geburtstag, als ihm ein fremder Mann in seinem Schlafzimmer auflauert. Ehe sich Jason versieht, wird er durch den Spiegel geschleudert und anstelle des Glases zersplittert seine heile Welt in tausende Scherben. Doch bestimmt wird ihm auch in dieser Notlage Calael zu Hilfe eilen. Oder etwa nicht? Ca. 73.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 355 Seiten

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Für Brigitte

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Kurzbeschreibung

 

Jason glaubt nicht an Schutzengel. Er weiß schließlich genau, dass es sie gibt, denn er hat seinen persönlichen Engel namens Calael nicht bloß gesehen, sondern mit ihm auch gesprochen. Ansonsten führt er ein normales Leben.

Bis zu dem Morgen vor seinem 21. Geburtstag, als ihm ein fremder Mann in seinem Schlafzimmer auflauert. Ehe sich Jason versieht, wird er durch den Spiegel geschleudert und anstelle des Glases zersplittert seine heile Welt in tausende Scherben. Doch bestimmt wird ihm auch in dieser Notlage Calael zu Hilfe eilen. Oder etwa nicht?

 

Ca. 73.000 Wörter

Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 355 Seiten

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Glossar

Etwas hatte ihn geweckt. Ein Poltern.

Da, da war es wieder. Jason lag still in seinem Bett, die Decke bis an die Nasenspitze hochgezogen, und lauschte in die Dunkelheit. Sein Herz klopfte viel zu laut, und das Rauschen in seinen Ohren erschwerte es zu erkennen, ob da wirklich die lose Holzdiele im Hausflur geknarrt hatte oder nicht. Waren das tatsächlich verstohlene Schritte von jemandem, der die Treppe hoch schlich? Jason starrte auf den nachtdunklen Himmel über sich. Sein Zimmer lag unter dem Dach, sein Bett stand direkt unter dem Schrägfenster. Er konnte den abnehmenden Mond gerade noch sehen, es war also zwischen 2.00 und 2.30 Uhr morgens. Jason liebte es, die Sterne zu beobachten und die Uhrzeit am Stand von Mond und Sonne zu erraten. Da – eindeutig, jemand war auf der Treppe. Die dritte Stufe von oben knarzte so laut, dass es durch das ganze Haus hallte. Das Schnarchen im Nebenraum verstummte abrupt. Jasons Herzschlag legte noch einmal an Tempo zu.

„Bitte schlaf weiter, Dad“, flehte er innerlich. Es konnte nicht seine Mutter sein; die lief, wenn überhaupt, dann nicht verstohlen, sondern laut hörbar in Richtung Bad. Wer immer da draußen war, Jason wollte nicht, dass derjenige möglicherweise …

Doch da ertönte das charakteristische Quietschen von dem altersschwachen, stark überlasteten Bettgestell seines Vaters. Dad war aufgestanden. Jason hörte seine Mutter verschlafen murmeln. Dad hatte vermutlich das Licht angeschaltet, denn Jasons Mum trug stets Ohrenstöpsel, um von dem Schnarchen neben sich nicht geweckt zu werden.

Leg dich wieder hin, Dad!, dachte Jason so intensiv mit angehaltenem Atem, dass ihm schwindelig wurde.

Das sonst kaum hörbare Quietschen der Türklinke dröhnte in seinem Kopf.

Die Schlafzimmertür seiner Eltern öffnete sich.

Schritte.

Rufe.

Schreie.

Drei Schüsse.

Lautes Poltern eines schweren Körpers, der die Treppe hinabfiel.

Noch mehr Schreie.

Seine Mum, die kreischend um Hilfe rief.

Schüsse.

Abrupte Stille.

Jason lag bebend in seinem Bett. Er konnte nicht denken. Nicht handeln. Seine Brust schmerzte von dem harten Hämmern seines Herzens. Sein Atem ging zu rasch, seine Lungen brannten. Ein hohes Winseln rang in seiner Kehle. Er wollte so sehr aus diesem Alptraum erwachen. Er wollte seine Mum, die ihn zum Frühstück rief. An seinen Klamotten herumzupfte und ihn ermahnte, in der Schule gut aufzupassen. Er wollte seinen Dad, der ihm durch die Haare wuschelte und ihm viel Spaß wünschte, bevor er ins Büro fuhr.

Die Kinderzimmertür flog mit einem Knall gegen die Wand. Drei Silhouetten hoben sich vom Lichtschein im Flur ab. Jason wimmerte bloß.

Die Deckenlampe flammte auf.

Schwarz gekleidete Männer mit Skimasken. Sie hielten Schusswaffen in den Händen.

„Nur’n Bengel“, sagte einer und hob die Pistole. „Hier ist auch nichts zu holen, verdammt!“

Jason wollte die Augen zukneifen. Er wollte nicht mitansehen müssen, wenn der Einbrecher auf ihn schoss. Er wollte nicht sterben. Es war falsch, mit elf Jahren zu sterben. Schließlich war er morgen mit Paul zum Schwimmen verabredet. Und er musste den Geschichtstest nachschreiben. Wenn er den in den Sand setzte, würde Mrs. Wintershell ihm Ärger machen. Doch er konnte den Blick nicht abwenden und sah …

Die Luft flimmerte kurz. Wie aus dem Nichts erschien plötzlich ein Junge vor den Einbrechern. Sein schwarzes Haar stand wild in alle Richtungen, als wäre er gerade aus dem Bett gesprungen. Er trug einen weißen Schlafanzug, wodurch er seltsam unschuldig wirkte, trotz des Schwertes, das er fest in den Händen hielt.

Die Männer glotzten ihn an wie eine Offenbarung des Himmels. Die Schwertklinge glitzerte im Licht der Deckenlampe, als der Junge zuschlug.

Einmal. Zweimal. Dreimal.

Eiskalt, mit sparsamen, präzisen Bewegungen und einem lieblichen Lächeln auf den Lippen.

Jason blinzelte. Die Einbrecher lagen still am Boden. Überall war Blut. Der Junge wandte sich ihm zu. Auch sein schöner weißer Schlafanzug war blutbesudelt, was ihn nicht hinderte, ihm freundlich zuzulächeln. Jason betrachtete sein weiches Kindergesicht, er war sicherlich nicht älter als er selbst, wenn überhaupt.

Strahlend blaue Augen erwiderten seinen forschenden Blick. Der Junge trug eine Kette mit einem geschliffenen Saphir um den Hals. Jason hatte sich mit Mineralien und Edelsteinen beschäftigt, bevor er seine Leidenschaft für die Sterne entdeckte. Darum wusste er, dass dieser Stein ein Vermögen wert sein musste, falls er echt sein sollte. Der Saphir besaß exakt dieselbe Farbe wie die Augen des Fremden und schien von innen heraus zu glühen.

„Wer bist du?“, fragte Jason schließlich. Eine seltsame Ruhe senkte sich über ihn, jetzt, wo die Todesangst langsam nachließ. Er fühlte sich völlig erschöpft, noch stärker als nach zwei Stunden Schwimmtraining. Ihm war bewusst, dass er zu einem Mörder sprach. Dass drei Leichen neben seinem Teleskop und seinen Star Wars-Sammelfiguren lagen. Dass seine Eltern tot waren.

Er wusste bloß nicht recht, was das alles mit ihm zu tun hatte, also lächelte er den Jungen an, der gerade das Schwert mit seinem Lieblings-T-Shirt sauber wischte.

„Ich bin Jason Andrews“, murmelte er, als der Junge nicht reagierte. Dieser zog die Augenbrauen hoch, zögerte, gab sich endlich einen Ruck.

„Mein Name ist Calael. Ich kenne dich schon dein ganzes Leben.“

„Hi, Calael.“ Er war barfuß, stellte Jason zusammenhanglos fest. Draußen lag knöchelhoch der erste Novemberschnee, warum lief er barfuß? Obwohl – weiße Kleidung, barfuß, womöglich war er …

„Bist du mein Schutzengel?“, fragte Jason eifrig. Immerhin hatte er ihm das Leben gerettet!

Calaels Lächeln wurde finster, auf eine Art, wie kein Engel jemals lächeln würde.

„Nein, Jason. Ich bin dein Seelenzwilling.“

Er zwinkerte ihm zu, hob das Schwert wie zum Gruß – und verschwand.

Jason starrte wieder aus dem Fenster. Er konnte den Mond nicht mehr sehen. An der Scheibe glitzerten Bluttropfen. Sein betäubter Verstand rang eine Weile mit dieser Beobachtung. Dann begann er anhaltend zu schreien … Und zu schreien …

Und erwachte.

Jason schaltete den Wecker aus, dessen schrilles Piepsen ihn aus dem Alptraum gerettet hatte, und sank stöhnend zurück in das schweißgetränkte Kissen. Er träumte nicht mehr oft von dieser Nacht vor rund zehn Jahren, als seine heile Welt brutal vernichtet worden war, aber wenn, dann war der Schrecken nicht weniger präsent als damals.

Nachbarn hatten die Polizei gerufen, alarmiert von den Schüssen und den lauten Schreien. Jason würde nie den Gesichtsausdruck der Beamten vergessen, die ihn aus dem Haus geholt hatten. Derjenige, der ihn trug, hatte still geweint, der andere hatte sich im Vorgarten übergeben. Zumindest hatten sie es geschafft, ihm den Anblick seiner Eltern zu ersparen. Das Bild der zerstückelten Leichen der Einbrecher reichte, es hatte sich unauslöschlich eingebrannt. Manchmal, wenn seine Freunde von Filmen oder Büchern erzählten, in denen es um Schwertkämpfe ging, flammte es wieder auf. Es war besser geworden, seit er vor drei Jahren mit Aikido begonnen hatte, einer defensiven japanischen Kampfsportart. Das Gefühl, sich im Ernstfall verteidigen zu können, half gegen die nächtlichen Ängste.

Eine ganze Woche hatten die Ärzte ihn unter Beruhigungsmitteln dahindämmern lassen, bis er nicht mehr schrie, sobald die Wirkung nachließ. Über das, was in dieser Nacht geschehen war, hatte er zu niemandem gesprochen. Weder den Beamten noch den zahlreichen Psychologen und Therapeuten hatte er von Calael erzählt. Nicht nur, weil Jason bewusst war, dass niemand die Geschichte von einem kindlichen Todes- oder Schutzengels glauben würde – es war ihm vom Anfang klar gewesen, auch wenn er damals erst elf Jahre alt war. Nein, Calael gehörte ihm, ihm ganz allein. Er war womöglich eine Illusion, ein Produkt seines Verstandes, der unter dem Terror dieser Nacht zusammengebrochen war, obwohl er das tief in seinem Inneren nicht glaubte. Die Polizisten sprachen zumindest von einem vierten Einbrecher, der sich gegen die anderen gewandt und sie umgebracht hatte, bevor er floh. Dass Jason für die Toten verantwortlich sein könnte, hatte man zum Glück ausgeschlossen, da die Tatwaffe fehlte und er viel zu verstört gewesen war, um diese zu verstecken. Vom mangelnden Blut an ihm und seiner Kleidung ganz zu schweigen.

Man ging davon aus, dass die Männer von der geringfügigen Beute enttäuscht gewesen sein mussten – Geld, Schmuckstücke und sonstige Kostbarkeiten hatten seine Eltern in einem Banktresor aufbewahrt. Womöglich hatten sie aus Wut über den fehlgeschlagenen Raubzug beschlossen, die Bewohner des Hauses zu töten und waren darüber irgendwie in Streit geraten.

Jedenfalls, Jason war der erste, der zugeben würde, dass es keine Engel geben konnte. Und trotzdem … Wer sagte, dass Calael wirklich ein Engel war?

Da Jasons Großeltern gesundheitlich zu schwach waren, um ihn aufzunehmen, und die Geschwister seiner Eltern und sonstige Verwandte nicht dazu bereit waren, hatte man ihn in einer Pflegefamilie untergebracht. Die Berlingtons waren ein Glücksfall für Jason: Ein freundliches älteres Ehepaar, das gar nicht erst versuchte, seine Eltern zu ersetzen, aber alles gab, um ihm ein Zuhause zu schenken. Bei ihnen hatte er Ruhe gefunden und ein normales Leben führen können.

Mittlerweile studierte Jason Anglistik an einer kleinen Universität. In der Woche wohnte er in einer winzigen Studentenbude, an den Wochenenden fuhr er oft zu seinen Pflegeeltern.

Calael hatte er in den vergangenen Jahren mehrmals wiedergesehen, immer im Zusammenhang mit Todesangst und Lebensgefahr. Einmal stand er am Straßenrand, als Jasons Schulbus mit einem Transporter zusammenstieß. Es war nichts geschehen, abgesehen von zerbeultem Blech und großem Schrecken, doch es hätte schlimmer kommen können.

Als ihm in einer Notoperation der Blinddarm entfernt worden war, hatte er ihn im Aufwachraum bemerkt, einen winzigen Moment lang nur. Und vor zwei Jahren hatte ihn ein Hund auf offener Straße attackiert. Der Besitzer hatte das Tier sofort unter Kontrolle gehabt, Jason war mit einer leichten Bisswunde am Unterarm davon gekommen. Ob es wirklich Calael gewesen sein mochte, der am Fenster eines der Häuser gestanden hatte, wusste er nicht. Genauso wenig wie er wusste, ob er ihn beschützte oder darauf wartete, dass er endlich starb …

Er wollte fest an ersteres glauben.

Seufzend raffte sich Jason auf, er musste jetzt schleunigst duschen und zur Uni fahren. Morgen war sein einundzwanzigster Geburtstag. Seine Freunde wollten mit ihm reinfeiern, seine Pflegeeltern warteten darauf, dass er spätestens zum Mittagessen bei ihnen sein würde. Dementsprechend gab es heute noch viel zu erledigen.

Als Jason geduscht, rasiert und angezogen war, hatte er den Terror des nächtlichen Alptraumes abgeschüttelt. Pfeifend sammelte er seine Unterlagen für die Vorlesungen zusammen, während er Kaffee schlürfte.

„Wirst du jetzt mal langsam fertig, mein Hübscher?“

Jason fuhr beim Klang der fremden Stimme herum. Ein Mann lag lässig ausgestreckt auf Jasons Bett.

„Wer …?“ Jason fiel die Kaffeetasse aus den Händen, als er in Abwehrhaltung ging; er merkte es kaum.

Der Fremde erhob sich mit eleganten, kraftvollen Bewegungen. Er war ungefähr Mitte Zwanzig, ein athletischer, hochgewachsener Typ mit kurzem dunklen Haar und einem markant geschnittenem schmalen Gesicht. Seine schwarzen Augen musterten Jason mit arroganter Härte.

„Ein Jammer“, murmelte er. „Du bist gut trainiert, du hättest einen hervorragenden Dämon abgegeben.“

„Hä?“ Jason merkte selbst, dass er gerade nicht sonderlich geistreich war. Allerdings war es ihm auch schleierhaft, wie er ein Wortkünstler sein sollte, wenn ein fremder Mann in seinem Bett lag und irgendetwas von Dämonen faselte.

„Ich habe dir ein Kompliment zu deiner guten Figur gemacht. Du könntest dich einfach dafür bedanken.“

„Wer sind Sie und wie kommen Sie hier überhaupt herein?“ Jason gab seine Abwehrhaltung lieber nicht auf. Vielleicht war der Typ ein Junkie, der bei ihm eingebrochen war und ihn ausrauben wollte.

Wie damals, als die maskierten Männer meine Eltern umbrachten, fuhr es Jason durch den Kopf. Mit dem feinen Unterschied, dass dieser Kerl nicht maskiert war und auch keine Handschuhe trug. Dabei wusste doch jeder Depp, dass man Fingerabdrücke hinterließ.

„Namen …“ Der Einbrecher schaute theatralisch zur Decke empor. „Menschen brauchen immer Namen.“

„Was soll das heißen – Menschen?“, fragte Jason irritiert.

„Bist du etwa kein Mensch?“, erkundigte sich der Fremde im gelangweilten Ton und nahm ein Foto seiner Pflegeeltern von dem Sideboard, um es zu betrachten.

„Natürlich bin ich ein Mensch. Was soll die blöde Frage?“

Sein Gegenüber antwortete nicht, sondern stellte lediglich das Foto ordentlich zurück. Er trug eine schwarze Lederjacke mit etlichen Schnallen und Nieten, dazu eine ebenfalls lederne Hose mit seitlicher Schnürung und derbe Boots. Von der Optik her wirkte der Fremde weniger wie ein Junkie, als vielmehr wie ein Mitglied einer Motorradgang. Möglicherweise war er aber auch eine Kombi aus beidem.

„Es wäre wirklich nett, wenn Sie wenigstens eine meiner Fragen beantworten würden.“ Jason gab seinem Ton einen sarkastischen Beiklang.

„Mijo.“

„Was?“

Der Fremde lehnte sich lässig gegen das Sideboard und grinste ihn an. „Ich heiße Mijo. Du kannst mich auch gerne Sonny, Gilbert oder Jack nennen, wenn dir das besser gefällt.“

Sollte das etwa witzig sein? Jason atmete tief durch. „Mijo also. Sind Sie etwa hier, weil mir ein paar Freunde einen Streich zum Geburtstag spielen wollen?“

„Geburtstag ist ein wunderbares Stichwort. Du hast nicht etwa morgen Geburtstag?“

„Rein zufällig.“ Jason gab seine abwehrende Haltung auf. Inzwischen kam er sich etwas lächerlich vor, zumal der Typ keine Anstalten machte, ihn in irgendeiner Form anzugreifen. „Okay, welcher meiner Freunde hat sich diesen blöden Gag ausgedacht und …“

Plötzlich stand der Fremde ganz dicht vor ihm. Dabei hatte Jason nicht einmal gesehen, wie er sich bewegte.

„Kein Gag, Jason“, flüsterten schmale Lippen dicht vor seinem Gesicht. „Das Tribunal schickt mich. Ich soll verhindern, dass du morgen eine unschöne Begegnung mit einer scharfen Klinge hast.“

Die Abwehrhaltung war keineswegs lächerlich. Jason nahm sie sofort wieder ein.

„Wer will mich umbringen?“

„Wer redet denn von umbringen? Du hast die Hauptrolle in einer Opferung.“

Gleich würde er durchdrehen. Ganz bestimmt. Sprach dieser Fremde von einer Sekte, die sich ausgerechnet ihn ausgeguckt hatte? Oder war dieses merkwürdige Gespräch doch von seinen Freunden inszeniert worden und er würde sich morgen bei YouTube bewundern können?

„Ich merke schon, du glaubst mir nicht. Fangen wir es also anders an. Hm …“ Der Lederjackentyp tippte sich nachdenklich mit dem Finger gegen die Lippen. „Kennst du einen jungen Mann, schwarze Haare, weiße Kleidung? Er taucht auf, sobald du dich in einer brenzligen Situation befindest.“

„Calael“, murmelte Jason unwillkürlich.

Der Fremde lächelte und breitete die Arme aus. „Hurra! Wir haben eine gemeinsame Basis gefunden. Calael wird dir morgen noch einmal erscheinen. Und dann wird er dich mehr oder weniger freundlich überreden, mit ihm zu gehen und ehe du dich versiehst, steckt ein Opfermesser in deiner Kehle. Kurz darauf verwandelst du dich in einen Dämon, wenn auch nicht in einen so gut aussehenden, wie ich es bin. Diese Form der Existenz möchte das Tribunal dir gerne ersparen. Eine derartige Verwandlung wäre für uns außerdem ziemlich unangenehm, da wir anderweitige Pläne haben, in die deine Opferung nicht wirklich hineinpasst. Außerdem hast du für morgen bestimmt ganz andere Vorstellungen. Kuchen essen, Geschenke auspacken, ein Besäufnis mit deinen Kumpels … etwas in der Art? Daher bin ich hier und würde dich gerne mitnehmen, um Calael am besten aus dem Weg zu gehen.“

Jason stand da und starrte den Fremden entgeistert an. Schließlich trat er einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen sich und dem Junkie – das musste einer sein – zu bringen.

„Mann, was hast du denn geraucht?“ Da sein Gegenüber offenbar nichts vom Siezen hielt, wechselte Jason ebenfalls zum Du über.

„Ich rauche nicht.“

„Was ist es sonst? Pillen? Oder spritzt du?“

„Ich bin völlig clean.“

„Das kannst du deiner Großmutter erzählen.“

„Dämonen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie keine Großmütter haben.“

Vorsichtig vergrößerte Jason den Abstand zu dem unheimlichen Kerl. „Du hältst dich also für einen Dämon?“

Die ersten Spuren von Verärgerung tauchten in Mijos Gesicht auf. „Nuschel ich etwa?“, fragte er bissig. „Oder bist du für einen Studenten etwas rar im Oberstübchen geraten?“

Es war wohl besser seinen unerwünschten Besucher, der gerade die Arme vor der Brust verschränkte, nicht zu reizen.

„Ich fasse mal zusammen“, sagte Jason behutsam. „Calael ist stets erschienen, wenn ich in Gefahr war. Richtig?“

Mijo nickte knapp.

„Und du bist ein Dämon.“

Ein erneutes Nicken bestätigte seine Aussage.

„Wäre ich nicht bekloppt, wenn ich mit einem Dämonen anstatt mit meinem Schutzengel gehen würde?“

Mijo begann zu lachen. „Er ist alles andere als dein Schutzengel, Jason. Calael ist dein Seelenzwilling. Und er beschützt dich nur bis heute Schlag Mitternacht. An deinem einundzwanzigsten Geburtstag muss er dich opfern, um die begehrten magischen Kräfte zu erhalten.“

„So ein Unfug. Er hat immer über mich gewacht.“

Mijo raufte sich die Haare. „Wie kann ich dich bloß überzeugen?“, brummte er. Plötzlich merkte er auf. „Ist dir ein heller Saphir aufgefallen, den er um den Hals trägt?“

Jason nickte. An den wertvollen Stein konnte er sich gut erinnern, denn er hatte die aufregende Farbe von Calaels Augen. Und die fühlte er täglich behütend auf sich gerichtet. Schöne Augen in einem schönen Gesicht. Manchmal träumte Jason von seinem Engel. Und das waren ganz unengelhafte Träume …

„Über diesen Saphir erfährt Calael, wenn du in Gefahr gerätst. Daher wäre er längst hier, wenn ich für dich eine Bedrohung darstellen würde. Ist doch logisch, oder?“

„Solange du mir die Wahrheit erzählst. Allerdings sind Dämonen nicht gerade dafür bekannt, dass sie die Wahrheit erzählen, nicht wahr? Calael ist mein Schutzengel. Er wacht über mich und wird das auch weiterhin tun. Ich habe keine Ahnung, woher du Junkie das alles weißt, das ist mir auch ehrlich gesagt schnurz. Was willst du? Geld? Pillen habe ich keine im Haus.“

Mijo starrte ihn an.

„Ich möchte jetzt, dass du gehst. Ich muss nämlich dringend zu meiner Vorlesung.“

„Hast du mir nicht zugehört?“

„Das habe ich. Und offenbar viel zu lange.“ Jason fischte in seiner Tasche nach dem Handy. „Ich rufe jetzt die Polizei …“

Erneut lachte Mijo. „Bevor die mit ihrem Tatütata hier sind, sind wir beide längst fort.“

Das Handy wurde Jason aus der Hand gepflückt. Verflixt! Dieser Mijo hatte sich durch das halbe Zimmer bewegen müssen, um vom Sideboard zu ihm zu gelangen. Er hatte extra auf Abstand geachtet. Wie konnte sich dieser Mann so flink fortbewegen? Jason versuchte ihn mit einem Aikido-Griff abzuwehren, fand sich jedoch überraschend mit der Wange an der Wand und dem Arm auf den Rücken verdreht wieder.

„Es langt mir allmählich, Jason. Da du auf Erklärungen offenbar nicht hören willst, werde ich dich nun zu deinem Glück zwingen müssen.“ Mijos Stimme ertönte ganz dicht an seinem Ohr. Die Lippen streiften sogar seine Haut, was einen Schauer über Jasons Rücken schickte. Panik stieg in ihm auf. Was hatte der Irre mit ihm vor?

„Es ist alles gut“, sagte er keuchend. „Das mit der Polizei war ein Scherz. Lass mich los und wir reden ganz in Ruhe miteinander, ja?“

„Wir haben genug geredet. Ich möchte vermeiden, dass Calael in seiner Ungeduld womöglich vorzeitig hier auftaucht. Also verschwinden wir beide jetzt.“

Jason schrie auf, als er mit großer Wucht herumgeschleudert wurde. Im Reflex streckte er noch abwehrend die Arme aus, weil er befürchtete, gegen die Spiegelglastüren seines Kleiderschranks zu krachen. Stattdessen fiel er einfach hindurch …

 

 

Morgen also, dachte Calael. Morgen war sein einundzwanzigster Geburtstag. Der Tag des Rituals, das ihm endlich vollen Zugang zu seinen magischen Kräften gewähren würde. Der Tag, ab dem er ein vollwertiger Magier und Krieger sein würde, fähig, sein Erbe als zukünftiger Patriarch anzunehmen. Alles, was er dafür tun musste, war die Opferung seines Seelenzwillings. Über so viele Jahre hatte er Jason Andrews vor Unfällen, Krankheiten und Unglücken aller Art bewahrt. Wie man es von einem guten Jungmagier verlangte. Er war in beiden Welten aufgewachsen. Bei den Menschen, von denen sein Volk abstammte, und hier in Udeah, die Welt jenseits der Spiegel. Norris Grey stand in seinem Personalausweis, den er für sein langweiliges Dasein im Hinterland von Maine benutzte. Ein Jammer, dass Jason in dieser Einöde gelandet war, in New Jersey, wo er zuvor mit seinen Eltern gelebt hatte, konnte man wenigstens einigermaßen unauffällig kommen und gehen und sich in Menschenmengen verstecken. Wie viel spannender war da seine Ausbildung zum Krieger gewesen! An Treibjagden hatte er von seinem fünften Lebensjahr an teilnehmen dürfen, bei denen Verbrecher oder Todkranke von der Erde entführt wurden. An diesen Jagden durften auch die Dämonen teilnehmen, es hielt sie beschäftigt und zufrieden. Blieb genug von den Menschen übrig, brachte man ihre Leichen zurück zur Erde und arrangierte es so, dass es nach einem bedauerlichen Unfall oder brutalen Mord aussah. Es empfahl sich nicht, zu viele Leute spurlos verschwinden zu lassen.

Krieger und Zauberer zugleich zu sein war keine erwählte Aufgabe. Es war sein Schicksal, das mit dem Geburtsrecht, mittels Magie die Welt nach seinem Willen zu beugen, verbunden war. Wer sich als untauglich herausstellte oder sich weigerte, seinen Seelenzwilling zu opfern, wurde dieser Magie beraubt und ohne Erinnerungen in der Menschenwelt zurückgelassen. Ein Verlust für ihr Volk, das nicht allzu zahlreich war … Ein Segen für den ahnungslosen Seelenzwilling, der in diesem Fall sein Leben nicht verlor. Wobei es falsch wäre zu sagen, die jungen Leute wären zum Tod verurteilt. Sie starben nicht bei dem Ritual, sondern wurden zu Dämonen gewandelt. Zu Seelenlosen, deren Anwesenheit allein garantierte, dass die Magie in Udeah erhalten blieb.

Calael wollte Jason nicht opfern, doch er konnte sein Volk nicht im Stich lassen. Jeder Magier stand vor dieser Entscheidung, sobald sein einundzwanzigster Geburtstag gekommen war.

Traurig ließ Calael den Kopf hängen. Ihm blieb keine Wahl. Der junge Mann, der ihm sehr ans Herz gewachsen war, den er mit seinem eigenen Leben beschützt hatte, damit er nicht vor seiner Zeit starb, würde morgen zu den Dämonen übergehen.

„Quälst du dich?“

Calael lächelte, als Nirta sich zu ihm setzte. Seine ältere Schwester war ein Biest, wie es im Buche stand, kompliziert und nervtötend. Aber sie ließ niemals jemanden hängen, der in Not geriet und manchmal, so wie jetzt, überraschte sie Calael mit ihrer Einfühlsamkeit. Nirta sah aus wie eine Porzellanpuppe mit ihren feinen, sehr hellen Gesichtszügen, den himmelblauen Augen, den goldenen Ringellöckchen und ihrer scheinbar zerbrechlichen kleinen Gestalt. Es war unmöglich, ihr böse zu sein, wenn sie einen anlächelte, gleichgültig, was sie getan hatte. Eine Art von natürlicher Magie, die sie schamlos zu ihrem Vorteil nutzte.

„Denk nicht an das Ritual“, murmelte sie und nahm Calael liebevoll in die Arme. „Denk an den Sonnenaufgang. Nur daran. Du weißt, egal wie furchtbar es ist, es wird vorbeigehen.“

Calael lehnte sich steif an die zarten Schultern, ließ sich von dem Rosenduft seiner Schwester umhüllen. Er war dankbar, dass er nicht sprechen musste. Es gab nichts zu sagen. Es gab keinen Trost. Jason würde sterben … Nirta war stark genug, ihn mit all ihrem Kummer zu halten, solange er sich seiner Schwäche hingab.

Da spürte er plötzlich Schmerz in seiner Brust, der Saphir begann heftiger zu pulsieren: Das Warnsignal, dass Jason sich in Lebensgefahr befand!

Ohne nachzudenken riss Calael das prachtvoll verzierte Kurzschwert aus der Rückenscheide und rannte zum Spiegel. Seine Gedanken waren fest auf Jason fixiert. Die Magie des Seelensteines, von dem er sich niemals trennte, ermöglichte es ihm, zwischen den Welten zu wandeln und dabei jegliche spiegelnde Fläche als Tor zu benutzen.

Als er in Jasons Zimmer stürmte, spürte er kurz eine dämonische Präsenz, die anhaltende Angst seines Bruders – und dann nichts mehr. Jason war im Limbus zwischen den Welten gelandet!

 

Jason stieß ein verdutztes Grunzen aus, als er nicht wie erwartet gegen den Spiegel prallte. Gleich darauf war er damit beschäftigt, nicht der Länge hinzuschlagen, denn eigentlich hätte ihn der Schrank bremsen sollen. Daher stolperte er ungelenk quer durch ein fremdes Zimmer, bis er gegen etwas stieß, das wie eine überbreite Kiste mit Matratze aussah, und hilflos darauf plumpste. Einen verwirrenden Moment lang lag er da, während ihm gleichzeitig durch den Kopf ging, dass er wenigstens weich gelandet war und er endlich die Polizei rufen musste. Mit einem Ruck setzte er sich auf, gerade rechtzeitig, um in dem Spiegel gegenüber einen Schatten zu erkennen. Aus dem Schatten wurde Mijos Spiegelbild und plötzlich trat Mijo aus dem Spiegel, als wäre der nichts weiter als eine Tür. Fassungslos saß Jason auf dem Bett und starrte Mijo an. Der Junkie-Biker-Dämon-Irre breitete die Arme aus und rief lautstark:„Willkommen in Udeah, bevölkert von den schrecklich schönen Dämonen und den liebreizenden Schutzengeln, die dich abschlachten wollen! Willkommen!“

„Wo … wo sind wir?“ Ratlos hockte Jason da und schaute sich um. Das Zimmer war mit einem Schrank, einem Tisch und einem unbequem aussehendem Stuhl sowie dem Bett eingerichtet, auf dem er saß. Alle Möbelstücke waren weiß. Ebenso der glatte Fußboden und die schmucklosen Wände, aus denen irgendwie Licht zu sickern schien. Jedenfalls konnte Jason keine Lampe in dem fensterlosen Raum erkennen. Es gab keinerlei Dekorationsstücke, weder Bilder, Fotos noch Figuren. Der ganze Raum wirkte kahl und steril.

„Und? Gefällt dir mein Zimmer? Ein bisschen protzig vielleicht, aber warum verstecken, was man hat?“

Protzig? Wenn das protzig war, wusste Jason auch nicht mehr weiter.

„Wo sind wir?“, fragte er und betonte jedes einzelne Wort.

„Verdammt! Warum hat mir niemand gesagt, dass ich es mit einem Seeelenzwilling zu tun bekomme, der einen Hörschaden hat? Also noch einmal für taube Mitglieder der Menschheit: Willkommen in Udeah, bevölkert …“

Jason hob die Hand und Mijo unterbrach sich sofort. „Ja bitte? Der Herr dort in der ersten Reihe?“

„Wo genau liegt Udeah?“

„Jenseits der Spiegel.“

„Wie sind wir hierher gekommen?“

„Durch einen Spiegel.“

Jason seufzte und Mijo musterte ihn gespannt.

„Ist das Quiz bereits vorbei?“, fragte er, als Jason nichts mehr sagte, sondern sich inzwischen mit allen zehn Fingern die Schläfen rieb. Mijo lachte leise. Es war ein dunkler Laut, der Jasons Nervenbahnen zum Schwingen brachte. Der merkwürdige Kerl zog seine Lederjacke aus und hängte sie über den Stuhl, auf den er sich verkehrt herum setzte. Die Arme stützte er lässig auf der Rückenlehne ab. Ohne die Jacke gewährte er Jason einen freien Blick auf eine breite Brust, die von einem weißen Feinripp-Muscle-Shirt bedeckt wurde, das ein wenig spannte. Mit einem auffälligen Tattoo auf einem Arm schaute er wie ein zäher Straßenkämpfer aus. Irgendwie sexy. Unter anderen Umständen hätte Jason ihn wahrscheinlich angeflirtet. Aber da waren noch die saphirblauen Augen, denen er verfallen war. Und die Tatsache, dass Mijo ihn entführt und er keinen Schimmer hatte, wo dieses U… irgendwas lag. Unter Mijos wachsamen Blick erhob er sich und ging zu dem Spiegel hinüber. Langsam hob er die Hand und berührte die kühle Oberfläche. Ganz normales Glas, stellte er fest. Er hinterließ sogar Fingerabdrücke.

„Dahinter soll meine Wohnung liegen?“, fragte er und drehte sich zu Mijo um.

„Nicht auf die Weise, wie du es dir vorstellst. Es ist kein Fenster, das man öffnet und es befindet sich jedes Mal die gleiche Landschaft dahinter. Der Spiegel ist vielmehr ein Tor in andere Welten. Er kann dich an verschiedene Orte bringen. Und nicht nur der Spiegel. Das funktioniert auch mit einer Pfütze oder einer besonders blank polierten Oberfläche.“

„Wie ein Portal?“

Mijo grinste zufrieden. „Jetzt kommt der Student der Sache schon näher.“

„Wie bei Stargate?“

„Mit dem feinen Unterschied, dass bei deiner Fernsehserie jeder das Portal bedienen kann.“

„Und hier gibt es bloß einen Scotty, der mich irgendwo hin beamen kann?“

„Dein Scotty ist in diesem Fall das Tribunal und die werden dich demnächst auf ihre Kommandobrücke zitieren, sobald sie Wind davon bekommen, dass ich dich hierher gebracht habe. Das war vielleicht nicht gerade die schlaueste Idee, aber wo wärst du sicherer als direkt unter der Nase des Feindes?“

Dieses blöde Geschwafel machte Jason ganz verrückt.

„Bring mich zurück.“

„Das kann ich nicht.“

„Dann bring mich zu Calael.“

„Das werde ich nicht.“

Mijo blieb ganz ruhig, während Jason spürte, dass sich seine Wangen vor Wut erhitzten. Er verpasste gerade eine wichtige Vorlesung und er wollte pünktlich zum Mittagessen bei seinen Pflegeeltern erscheinen. Sicherlich gab es Apfelpfannkuchen. Sybilla, seine Pflegemutter, wusste, wie gerne er die aß. Außerdem war da noch die Party. Sie wollten reinfeiern und er musste noch Bier besorgen. Das hatte er gestern nicht geschafft, weil sein uralter Ford wieder einmal gestreikt hatte und er die olle Rostlaube in die Werkstatt schieben musste. Halb Maine hatte zugesehen, wie er sich mit dem Wagen abgemüht hatte, dennoch es gab nicht einen einzigen mitleidigen Bürger im ganzen Bezirk, der ihm geholfen hätte.

„Du wirkst, als wolltest du mir eine reinhauen“, erklärte Mijo fröhlich.

„Gewalt ist keine Lösung“, murmelte Jason.

„Oh, darüber denke ich anders. Nur zu, wenn es dich glücklicher macht.“ Das Angebot war verlockend, trotzdem gab es einen guten Grund, warum sich Jason für eine Sportart wie Aikido entschieden hatte. Er wollte sich verteidigen können, ohne selbst aggressiv werden zu müssen. Jason tastete noch einmal prüfend über den Spiegel, ehe er fragte: „Was passiert, wenn ich ihn zerschlage?“

„In diesem Fall gibt es Scherben“, antwortete Mijo belustigt.

„Und wie komme ich nach Hause zurück?“

„Es gibt andere Spiegel, das habe ich soeben versucht dir beizubringen. Hörst du mir eigentlich zu?“ Mijo erhob sich und schlenderte auf Jason zu, um sich dicht vor ihm aufzubauen. Jason war nicht gerade klein, doch Mijo überragte ihn um mehr als einen halben Kopf.

„Ich will jetzt gehen“, sagte Jason trotzig. „Du kannst mich nicht gegen meinen Willen festhalten.“

„Das lassen wir mal dahingestellt sein. Allerdings würde es mich interessieren, wie du nach Hause kommen willst. Es gibt hier keine Busstation um die Ecke.“

„Ich werde Calael suchen.“

„Ein guter Gedanke. Anstatt dir hinterherzurennen, kann er in aller Ruhe das Messer wetzen, mit dem er dir die Kehle aufschlitzen wird. Eine sehr blutige Angelegenheit. Ich hoffe, er bekommt keine hässlichen Flecken auf seine makellos weiße Weste. Er wohnt übrigens nicht in Oikos-City, sondern in Preside Hill.“

Jason duckte sich blitzartig und tauchte unter Mijos Arm hindurch, um in der nächsten Sekunde zur Tür zu spurten. Im Stillen gratulierte er sich bereits zu dieser Meisterleistung und streckte schon die Hand nach der Klinke aus. Da prallte er gegen seinen Entführer, der es auf unerklärliche Weise vor ihm zur Tür geschafft hatte. Arme legten sich wie Stahlklammern um ihn und pressten ihn fest gegen einen harten Körper.

„Na, sieh mal einer an. So stürmisch?“ Mijo schaute auf ihn herab und leckte sich aufreizend über die Lippen. Wie erstarrt hing Jason in seinem Griff und konnte ihn nur wie hypnotisiert anstarren.

Mijos Kopf näherte sich langsam, gab ihm Zeit, sich zu entziehen. Jason konnte nicht reagieren, nicht denken, sich nicht einmal fürchten – das alles war verdammt irreal!

Die Lippen, die sich sanft an die seinen drückten, fühlten sich hingegen äußerst real an. Genauso wie die Hand, die sich auf seinen Hinterkopf legte. Erst als er Mijos Zunge spürte, die sich anschickte, seinen Mund zu erobern, wurde Jason wieder ausreichend klar, dass er sich wehren konnte. Mit einem Ruck befreite er sich, froh, dass der Dämon nicht versuchte, ihn gewaltsam zurückzuhalten.

„Tja. Kämpfen willst du nicht, küssen auch nicht. Was mach ich also jetzt mit dir? Und nein, Calael suchen steht nicht auf der Wunschliste, ich darf dich nämlich nicht sterben lassen. Befehl von oben.“ Mijo lachte ihn aus, als Jason sich in eine Zimmerecke hockte und dort an die Wand kauerte, soweit von diesem Irren entfernt wie möglich. „Ehrlich, du bist süß, Kleiner. Ich würde dich ja gern an den Feind ausliefern, dann wärst du in Nullkommnix einer von uns und ich könnte dich nach Lust und Laune vernaschen.“ Jason musste bei diesen Worten einen verschreckten Eindruck machen, denn Mijo hob beschwichtigend die Hände und fügte hinzu: „Keine Angst, ich tu dir nichts. Ich mag es zwar, wenn meine Gespielen unter mir zappeln, schreien und stöhnen, aber nur vor Lust, bitte schön. Mit einem verstörten Sensibelchen wie dir kann ich nichts anfangen.“

Mijo warf sich auf sein Bett und hielt plötzlich irgendein kleines Gerät in den Händen, einem zu breit geratenem Smartphone nicht unähnlich, mit dem er sich eingehend beschäftigte. Er beachtete ihn nicht mehr, wofür Jason wirklich dankbar war.

Verstörtes Sensibelchen … Dieser arrogante Mistkerl! Wenn man ihn einfach entführt und das halbe Weltbild auf den Kopf gestellt hätte, wäre er auch nicht fröhlich!

Ich muss mich zusammenreißen. Keine albernen Weglaufversuche mehr, kein kindisches ‚Ich will nach Hause zu Mama’. Wenn ich das alles überstehen will, brauch ich jedes bisschen klaren Verstand.

„Wie soll das jetzt weitergehen? Was hast du mit mir vor?“, fragte er leise.

Mijo warf ihm einen ungehaltenen Blick zu, schwieg aber.

„Was will dieses Tribunal von mir?“

Keine Antwort.

„Oh, ich verstehe, du hast selbst keine Ahnung, hm?“

Bevor er blinzeln konnte, war Mijo bereits bei ihm und riss ihn schwungvoll auf die Füße, mit einem Ausdruck ernster Verärgerung in den schwarzen Augen.

„Sei froh, dass du noch gebraucht wirst, Menschlein!“, zischte er. „Du willst wissen, warum du hier bist? Ganz einfach, das Tribunal wartet seit Jahren darauf, dich schnappen zu können. Calael ist nicht irgendein Spiegelweltler, sondern der Sohn vom Obermotz. Er soll in einigen Jahren der Anführer dieser Plage werden, die mein Volk wie Nutzvieh missbraucht! Wenn wir ihm die Magie vorenthalten, die er durch deinen Tod gewinnt, haben wir ein probates Druckmittel, um wenigstens ein paar Sonderrechte auszuhandeln. Besseres Essen, größerer Freiraum bei Besuchen auf der anderen Spiegelseite. Die halten uns absichtlich knapp und egal wie groß und wie schön vergoldet, wir hocken in einem Käfig. Für dich als Person interessiert sich in Udeah kein Arsch, es geht ausschließlich um den Vorteil, den du uns bringen kannst.“

Mit jedem Wort wurde Jason grob durchgeschüttelt, dass ihm die Zähne klapperten. Er stand kurz davor in Panik zu verfallen – er verstand das alles nicht, nichts davon! Klar war lediglich, dass Mijo ihm körperlich mindestens so überlegen war wie die drei Einbrecher damals, und dass diesmal kein Schutzengel kommen würde, um ihn zu retten …

 

Mijo spürte, wie verängstigt der junge Mann war, den er gerade beutelte. Jason war schuldlos, Mijos Zorn galt den Spiegelweltlern, nicht ihm. Es war noch nicht lange her, da war Mijo ebenfalls ein Mensch gewesen, ein Seelenzwilling. Vor sieben Jahren hatte man ihn aus dem Bett gerissen, auf die andere Seite des Spiegels gebracht und auf dem Ritualblock gefesselt. Andina, jenes Mädchen, das er Zeit seines sterblichen Lebens für seinen Schutzengel gehalten hatte, war neben ihm erschienen und hatte ihm mit einem seligen Lächeln im Gesicht die Kehle durchgeschnitten. Doch statt zu sterben war Mijo nach kurzer Bewusstlosigkeit wieder erwacht, vollkommen unversehrt und genauso vollkommen verwirrt. Andina hatte ihn befreit, einem Fremden in die Arme geschubst, der ihm verkündete, dass er von nun an ein seelenloser Dämon war. Seitdem fristete Mijo ein Dasein ohne Sinn, Ziel oder Hoffnung. Das Ritual hatte seinen Körper gewandelt, er besaß Kräfte, von denen er früher nicht einmal hätte träumen können. Was genau er dafür verloren hatte, war ihm nie richtig klar geworden –gefühllos war er jedenfalls nicht. Er war sehr viel stärker, kannte kaum Angst und war vielen Dingen gegenüber gleichgültiger als früher. Mijo trauerte seinem menschlichen Leben nicht weiter nach, die zweifelhaften Freunde von damals interessierten ihn nicht. Aber er war weder zum instinktgetriebenen Monster noch zur eiskalten Killermaschine mutiert. Die Dämonen waren sein Volk, seine Familie. Bei ihnen fühlte er sich sicher, viele von ihnen bedeuteten ihm etwas, im Guten wie im Schlechten. Die Spiegelweltler hasste er von ganzem Herzen … Dieses leckere Häppchen Mensch in seinen Armen hingegen weckte Appetit, er wollte zu gerne von ihm kosten.

Jason hyperventilierte, seine grünlich-braunen Augen wirkten riesig in dem bleichen Gesicht. Ein hübsches Gesicht, das Mijo gern mit Küssen bedecken würde. Und diese fein gestylten hellbraunen Haare durchwühlen. Stattdessen hielt er ihm den Mund zu, bevor er einen Sauerstoffkoller bekam, wodurch Jason endgültig die Kontrolle über sich verlieren würde. Er schrie gegen Mijos Handfläche, versuchte verzweifelt, sich von ihm loszureißen – vergebens.

„Schön ruhig, mein Süßer. Wenn du fertig damit bist, dich aufzuregen, werde ich dir alles erklären, okay?“ Er hielt Jason eisern fest, bis die Spannung aus dem schlanken Körper wich. Vorsichtshalber hob er ihn hoch und trug ihn zum Bett hinüber – nicht, dass der Kleine ihm schlapp machte! Um sicherzugehen, dass er nicht versehentlich über Jason herfiel, blieb Mijo auf Abstand. Er musste ihn nicht berühren, um ihm zu erklären, was hier in Udeah ablief.

 

 

Calael stand zornbebend in Jasons Studentenbude und musste sich arg zusammenreißen, um das Zimmer nicht in Schutt und Trümmern zu zerlegen. Dabei brauchte seine Wut dringend ein Ventil. Sein Seelenzwilling war fort und wenn ihn sein Saphir nicht täuschte, befand sich Jason nicht mehr auf der Erde. Und die hatte er unmöglich alleine verlassen können. Nur die Spiegelweltler beherrschten die Übergänge von einer Welt in die nächste. Und die Dämonen, wenn sie sich zusammentaten. Calael lächelte grimmig.

Sein Volk beherrschte seit ewigen Zeiten die Fähigkeit durch die Spiegel in andere Welten zu wandern, die über magische Portale verfügten. Manche waren kaum von der Erde zu unterscheiden, andere wiederum konnten einen Mann mit ihrer Fremdartigkeit in den Wahnsinn treiben. Vor etlichen Generationen fand sein Volk dann die Welt der Dämonen, die ihrer eigenen Heimat und auch der Erde sehr ähnlich war. Mit dem feinen Unterschied, dass die Dämonen über Magie verfügten. Diese Kräfte wollten die Udeahner ebenfalls nutzen und tatsächlich fanden sie eine Möglichkeit, die Dämonen anzuzapfen und ihnen ihre Kräfte zum großen Teil abzuschöpfen. Dadurch wurden die Dämonen unfähig selbst durch die Spiegel zu gehen. Diese Erkenntnis nutzten die Udeahner und in einem erbitterten Krieg machten sie so viele Gefangene, wie sie konnten und brachten sie nach Udeah. Einen Großteil ihrer Kräfte beraubt, konnten die Dämonen nicht mehr durch die Spiegel fliehen. Neue Kämpfe entbrannten, als die Kriegsgefangenen an die Quelle gelangen wollten, in der die Udeahner die Magie wie in einem Teich sammelten, um sich jederzeit aus diesem Pool bedienen zu können. Für Calaels Volk wurde es zu riskant, weiterhin in die Dämonenwelt zu gehen, um die Gefangenen zu ersetzen, die in den Kämpfen getötet wurden. Aus diesem Grund hatten sie das Portal, dass Udeah mit der Fremdwelt verband, für alle Zeiten versiegelt. Doch es war nötig, die Zahl der Dämonen auf Udeah konstant zu halten, damit die Magie weiterhin floss. An diesem Punkt kamen die Seelenzwillinge ins Spiel. Auf der Erde wurden Kinder geboren, die Dämonen sehr ähnlich waren. Wenn man diese Kinder in der Blüte ihres Lebens wandelte, wurden sie zu Dämonen. Auf diese Weise gelangte Udeah problemlos an Nachschub.

Na ja, ganz so problemlos war das nicht. Calael nahm das Foto vom Sideboard, das Jason und seine Pflegeeltern zeigte. Er zerschlug den Rahmen, nahm das Foto heraus und riss es in der Mitte auseinander. Die Hälfte, die einen lachenden Jason zeigte, starrte er verlangend an.

„Ich habe mein Leben lang hart trainiert, um dich vor allen Gefahren beschützen zu können. Du darfst mich nicht meines Lohnes berauben, Jason“, flüsterte er und stopfte das Foto in seine Tasche. Mit einer finsteren Grimasse näherte er sich dem Spiegel. Die dämonische Präsenz, die er gespürt hatte, war hier noch deutlich zu fühlen. Sicherlich hatte das Tribunal Andinas Dämon Mijo geschickt. Immerhin war er einer der stärksten menschgeborenen Dämonen und er kannte überhaupt keine Furcht. Auch dieser Gedanke trug nicht dazu bei, dass sich Calaels Wut legte. Andina und Mijo waren weitere Ärgernisse auf seinem Weg zur Führungsspitze. Seine Cousine war schon immer eine ehrgeizige Person gewesen und das Schicksal wollte es, dass sie einen äußerst starken Seelenzwilling bekam – Mijo. Jahrelang hatte sie den Eindruck erweckt, als würde sie regelrecht dem Tag entgegenfiebern, an dem sie Mijo die Kehle durchschneiden konnte, um ihn in einen Dämon zu verwandeln. Mit den von Mijo erhaltenen Kräften wollte sie selbst die Führung von Udeah einnehmen. Sie war also seine Konkurrentin auf dem Weg zur absoluten Macht. Dabei gab es noch weitere Anwärter. Boldt, der kaltherzige Sohn seiner hochnäsigen Tante. Und auch dessen jüngerer Bruder Wymer, der seiner Meinung nach einen Dachschaden hatte, weil er jedem Insekt, das er fand, die Beine ausreißen musste. Die beiden strebten ebenfalls das Amt des Patriarchen an, getrieben von ihrer Mutter, die sich schon immer für etwas Besseres als den Rest der Familie gehalten hatte. Allein diese Situation machte es unumgänglich, Jason zu töten, anstatt ihn zu lieben. Jason war Mijo ebenbürtig und nur durch dessen Kräfte konnte er Andina Einhalt gebieten und dieses arrogante Miststück in ihre Schranken verweisen.

 

 

„Andina und Calael hassen sich wie die Pest. Bloß einer von ihnen wird herrschen können. Und dazu brauchen sie dich, Jason.“

Jason hatte ihm aufmerksam zugehört und darüber zum Glück seine Panik vergessen. Er hyperventilierte nicht mehr, war ruhiger geworden. Trotzdem bebte er vor Angst. Mijo konnte es ihm nicht verübeln. Vielleicht hätte er Jason das Händchen tätscheln oder ihn auf irgendeine Weise trösten sollen. Niemand wäre glücklich darüber, derartig zwischen die Fronten zweier erbitterter Feinde zu geraten. Aber – hallo! – er war ein Dämon und kein Kindermädchen. Schon als Mensch war er nicht darin geübt gewesen, anderen Trost zu spenden. Mijo war in den Slums von New York aufgewachsen, hatte den größten Teil seiner Kindheit in einem Abrisshaus zwischen Kartons und Unrat gehaust und sich mit den räudigen Straßenkatzen um die gammligen Abfälle aus den Mülltonnen gebalgt. Als er zehn Jahre alt war, hatte er einem Gangmitglied der Highnoons beinahe den Schwanz abgebissen, als dieser ihn zu einem Blowjob zwingen wollte. Das hatte ihm wiederum den Respekt der Street Rats eingebracht, sodass er fortan bei dieser Gang ein Zuhause fand. Doch auch dort hatte er schnell gelernt, dass das Leben kein Zuckerschlecken war. Und das niemand eine Heulsuse respektierte. Andina, von der er damals glaubte, dass sie sein Schutzengel war, hatte alle Hände voll zu tun gehabt, um sein Leben zu schützen. Schlägereien war er genauso wenig aus dem Wege gegangen wie einem Zweikampf mit dem Messer. Er war sich stets unsterblich vorgekommen. Bis zu dem Tag, als er verschnürt wie ein FedEx-Paket auf dem Ritualblock lag und sein Schutzengel ihm mit einem genüsslichen Schnitt einer scharfen Klinge beibrachte, wie tödlich Täuschungen sein konnten.

„Hätte mich diese Andina nicht umbringen lassen, wenn ich für sie ein solches Ärgernis darstelle?“, fragte Jason in diesen Moment und riss Mijo damit aus seinen Gedanken.

„Oh, Süßer, sie hat es versucht. Mehrmals. Beinahe wärst du ja auch draufgegangen.“

Verständnislos starrte ihn Jason an.

„Die drei Kerle, die deine Eltern umgebracht haben. Andina hat ihnen eingeflüstert, bei euch einzubrechen.“

Er ignorierte Jasons verzweifeltes Kopfschütteln und fuhr fort: „Der Hund, der plötzlich wild geworden ist und dir an die Kehle wollte.

---ENDE DER LESEPROBE---