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Die bekanntesten Terrororganisationen und ihre Anschläge – eine umfassende Analyse.
Der zweite Band der spannenden Reihe zur globalen Terrorgeschichte bietet einen tiefgehenden Einblick in die gefährlichsten Terrororganisationen der Welt und ihre schockierendsten Anschläge. Beginnend mit den Ereignissen des 11. September in New York, über die Eliminierung von Osama bin Laden durch ein US-Kommandounternehmen bis hin zur Untersuchung von Al-Qaida-Ablegern in Afrika und Asien. Das Buch beleuchtet außerdem den Homegrown Terrorism in den USA und endet mit einer Analyse des Kapitolsturms 2021 – ein unverzichtbares Werk für alle, die die Dynamik des modernen Terrorismus verstehen wollen.
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Seitenzahl: 842
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kapitel 1: Der 11. September 2001
Krieg gegen die USA und die amerikanischen Versäumnisse
Kapitel 2: Tora Bora oder die USA gegen al-Qaida
Manche Erfolge, aber kein Sieg
Kapitel 3: Krieg im Zeichen der Rumsfeld-Doktrin
Afghanistan und Irak
Kapitel 4: Der Islamische Staat – die Anfänge
Die Entwicklung von 1966 bis 2006
Kapitel 5: Der Islamische Staat – Höhepunkt und Ende
Der Niedergang von 2006 bis 2019
Kapitel 6: Anschläge des Islamischen Staates – weltweit
Grausamkeit zum Erreichen der islamischen Vorherrschaft
Kapitel 7: Al-Qaida nach 9/11
Umstrukturierung und neue Bündnisse
Kapitel 8: Jagd auf Osama bin Laden
Zwei Versionen seines Todes
Kapitel 9: Al-Qaida und die weltweiten Dschihad-Zellen I
Terrormorde in Bali, Madrid und London
Kapitel 10: Al-Qaida und die weltweiten Dschihad-Zellen II
Angriffe in Mumbai und das Charlie-Hebdo-Massaker
Kapitel 11: Terrorismus in Russland I
Stalins „Große Säuberung“, Anschlag auf das Dubrowka-Theater
Kapitel 12: Terrorismus in Russland II
Tschetschenien-Konflikt, Geiselnahme in der Schule von Beslan
Kapitel 13: Terrorismus in Afrika
Boko Haram in Nigeria und al-Shabaab in Somalia
Kapitel 14: Terrorismus in Asien
Indonesien, Zentralasien, Pandschab und Japan
Kapitel 15: Terrorismus in den USA nach 9/11
Dschihadisten, Rechtsextreme und Erstürmung des Kapitols
Kapitel 16: Erreicht Terrorismus seine Ziele?
Gegensätzliche Meinungen der Terrorismus-Experten
Anhang: Was ist Terrorismus?
Die Schwierigkeit der Definition
Register
Am 29. August 2001 um 2.30 Uhr morgens Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) rief Mohammed Atta, der Anführer der Flugzeugentführer, von den USA aus seinen al-Qaida-Betreuer Ramzi Binalshibh in Hamburg an und forderte ihn auf, folgendes Rätsel zu lösen: „Zwei Stäbchen, ein Strich und ein Kuchen mit einem Stock unten – was ist das?“ Binalshibh erkannte, dass die beiden Stäbchen die Zahl 11 und der Kuchen mit dem Strich nach unten eine 9 darstellten und dass Atta ihm damit sagte, dass die Anschläge in zwei Wochen am 11. 9. stattfinden würden. Dieses Datum ist in den Vereinigten Staaten, wo man den Monat zuerst nennt, als 9/11 (Nine-Eleven) bekannt.
Binalshibh war ein gemäßigt religiöser Jemenite, der sich freiwillig als einer der Flugzeugentführer gemeldet hatte, dem aber das amerikanische Visum verweigert worden war. Dafür, dass er nun nicht „Märtyrer“ werden konnte, sollte er von seiner Wohnung in Hamburg aus die Koordination der Anschlagspläne von al-Qaida gegen die USA übernehmen. Atta kommunizierte per E-Mail von den Vereinigten Staaten aus mit Binalshibh und informierte ihn über den Fortgang des Plans. In seinen E-Mails gab sich Atta als Universitätsstudent aus und schrieb an seine Freundin „Jenny“. Atta benutzte einen unverfänglichen Code, um Binalshibh darauf hinzuweisen, dass das Komplott kurz vor dem Abschluss stand: „Das erste Semester beginnt in zwei Wochen […] Neunzehn Scheine für Privatunterricht und vier Prüfungen.“ Die neunzehn „Scheine“ bezogen sich auf die neunzehn al-Qaida-Entführer und die vier „Prüfungen“ auf die vier Ziele der bald zu entführenden Flugzeuge.(Bergen, The Longest War, S. 3)
Vor 1993 hatten sich nur wenige Amerikaner Gedanken über die Bedrohung durch den radikalen muslimischen Terrorismus gemacht. Bin Laden war noch nicht als Terrorist identifiziert, und die amerikanischen Behörden wussten noch nicht einmal, wer oder was al-Qaida war, obwohl die Gründung bereits 1988 erfolgt war.
Am 27. Februar 1993, sechs Wochen nach Beginn der ersten Amtszeit von Präsident Clinton, als Terroristen in der Tiefgarage des World Trade Center eine Bombe zündeten und sechs Menschen töteten, änderte sich dies schlagartig: Die Clinton-Regierung verstärkte ihre Bemühungen zur Bekämpfung des Terrorismus drastisch. Da die Bedrohung durch al-Qaida ständig wuchs, verschärfte auch die Clinton-Regierung ihre Maßnahmen, wobei diese nur teilweise Erfolge zeitigten. Zwar kann man über die Wirksamkeit der Antiterrormaßnahmen der Clinton-Regierung streiten, doch für Präsident Clinton und seine Regierung hatte die sich abzeichnende Bedrohung durch al-Qaida bis Ende 2000 höchste Priorität.
Der Bush-Regierung zufolge, die seit dem 20. Januar 2000 im Amt war, hieß es, dass die Terrorismusbekämpfung in diesen ersten acht Monaten des Jahres 2001 weiterhin oberste Priorität gehabt habe – so jedenfalls Condoleezza Rice vor der „National Commission on Terrorist Attacks upon the United States“, die nach den Anschlägen von 9/11 gegründet worden war. Allerdings wurden alle Informationen, die diese Behauptung hätten belegen können, verweigert. Jedoch geht aus Pressemeldungen, z. B. der Washington Post und der New York Times, hervor, dass die intensive Beschäftigung mit dem Terrorismus, wie sie am Ende der Clinton-Regierung stattgefunden hatte, unter der Bush-Regierung deutlich abnahm. Mit wenigen Ausnahmen wurde dem Terrorismus wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl die Zahl der Warnungen ein noch nie dagewesenes Maß erreichte.
Eine neue, aggressivere Politik gegen al-Qaida, die im Dezember 2000 entworfen worden war, wurde in den ersten acht Monaten des Jahres 2001 nicht umgesetzt und war Anfang September noch nicht fertiggestellt. Der neue stellvertretende Verteidigungsminister Wolfowitz erklärte in einem internen Treffen am 30. April 2001, dass der Fokus auf al-Qaida falsch sei. Wörtlich sagte er: „Wer kümmert sich um einen kleinen Terroristen in Afghanistan?“ (Newsweek, 22.3.2004)
Ein „normaler“ Dienstag
Die Wettervorhersage für New York lautet am Dienstag, dem 11. September 2001: niedrige Luftfeuchtigkeit, ganztags Sonnenschein und Tageshöchsttemperatur 26 °C. In den USA befinden sich 19 Kämpfer der al-Qaida, haben ihre Flugausbildung absolviert und sollen in den folgenden Stunden vier Flugzeuge – zwei von „United Airlines“ (UA) und zwei von „American Airlines“ (AA) – entführen und in verschiedene Gebäude fliegen. So die Planung.
06.00 Uhr
Die angegebenen Uhrzeiten sind Ortszeiten von der Ostküste der USA (Eastern Standard Time, EST) Die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice betritt ihr Büro im Westflügel des Weißen Hauses. In den Meldungen auf ihrem Schreibtisch: nichts Besonderes.
06.00 Uhr
Im Kommandozentrum von NORAD (North American Aerospace Defense Command), der zentralen Führungsstelle der amerikanischen Luftverteidigung, bereiten sich die Offiziere auf die zweitägige Übung „Vigilant Guardian 01-2“ vor, eine sogenannte Heimatschutzübung.
Präsident George W. Bush, der am Abend zuvor in Sarasota, Florida, eingetroffen war – am Dienstag Morgen stand ein Termin in einer Schule an – verbrachte die Nacht im „Colony Beach & Tennis Resort“ in Longboat Key, Florida. Um 6.30 Uhr begann er seine morgendliche Jogging-Runde in Begleitung der Agenten des Secret Service. Nach einer Dusche und einem leichten Frühstück blätterte Präsident Bush durch die Morgenpresse. Die Schlagzeilen: Bürgermeisterwahl in New York und Fälle von Rinderwahnsinn in Japan.
Präsident Bush erhielt sein tägliches Briefing der Geheimdienste um 8.00 Uhr. Themen: Russland, China und der Palästinenser-Aufstand in der West Bank und im Gazastreifen. Das Briefing enthielt offenbar auch Hinweise auf eine erhöhte Terrorgefahr, über die im Laufe des Sommers immer wieder berichtet worden war. Es enthielt aber gemäß dem „Daily Telegraph“ vom 16. Dezember 2001 nichts Ernstes, das Bush veranlasst hätte, die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice zu kontaktieren. Gegen 8.20 Uhr endet das Briefing.
7.45 Uhr
Mohammed Atta, der Hijacker-Pilot, und Abdulazis al-Omari besteigen in Boston den Flug AA 11. Die Maschine ist eine Boeing 767-223 mit 81 Passagieren, 9 Flugbegleitern und 2 Piloten. Das Ziel: Los Angeles. Die anderen drei Terroristen sind bereits an Bord: Waleed al-Shehri, Wail al-Shehri und Satam al-Suqami.
7.59 Uhr
Flug AA 11 erhält die Startfreigabe und startet nach Los Angeles. Die Kommunikation mit dem FAA-Tower und der Abflugkontrolle in Boston verläuft routinemäßig und normal
8.09 Uhr
AA Flug 11 meldet sich bei der Federal Aviation Administration (FAA) Boston: „Guten Morgen, Boston Center, hier ist American 11, steigen von 19.000 Fuß auf 23.000 Fuß.“ Boston Center bestätigt.
8.13 Uhr
AA Flug 11 erhält von FAA Boston eine neue Richtungsanweisung: „American Elf drehen Sie zwanzig Grad nach rechts.“ Dies ist die letzte routinemäßige Anweisung für den Flug AA 11.
8.14 Uhr
UA Flight 175, eine Boeing 767, startet mit einer Verspätung von 14 Minuten von Terminal C in Boston nach Los Angeles. An Bord der Maschine befinden sich 2 Piloten, 7 Flugbegleiter, 56 Passagiere und 5 Terroristen: Marwan al-Shehhi, der Hijacker-Pilot, Mohand al-Shehri, Fayez Banihammad, Hamza al-Ghamdi und Ahmed al-Ghamdi.
8.14 Uhr
AA Flug 11 ist inzwischen auf 27.000 Fuß. Zu diesem Zeitpunkt wird das Zeichen „Fasten Seatbelt“ normalerweise ausgeschaltet und die Flugbegleiter beginnen mit dem Kabinenservice. Vermutlich zu diesem Zeitpunkt wird Flug AA 11 von den Terroristen übernommen und ein Passagier dabei getötet. Die FAA Boston versucht seit 8.13 Uhr, Flug 11 der AA zu erreichen.
8.18 Uhr
Die Stewardess Betty Ong vom Flug AA 11 meldet die Entführung über das „Seatback Airphone“ im Heck der Maschine, mit dem sie direkt mit der Zentrale der Fluggesellschaft in Gary, North Carolina, in Verbindung treten kann.
8.20 Uhr
AA Flug 11 sendet sein Kennungssignal nicht mehr.
8.20 Uhr
Die Flugkontrolle in Boston entscheidet, dass Flug AA 11 mit großer Wahrscheinlichkeit entführt wurde, benachrichtigt aber erst nach fünf Minuten die anderen Flugkontrollzentren und nach etwa 20 Minuten NORAD, die zentrale Führungsstelle der amerikanischen Luftverteidigung.
8. 20 Uhr
Mit einer Verspätung von zehn Minuten startet AA 77, eine Boeing 757-223, von Dulles Airport außerhalb von Washington D.C. nach Los Angeles mit 2 Piloten, 4 Flugbegleitern, 58 Passagieren und 5 Terroristen: Khalid al-Mihdhar, Majed Moqed, Nawaf al-Hazmi, Salem al-Hazmi und Hani Hanjour. Letzterer war vermutlich der Pilot.
8. 24 Uhr
Auf einem Radarschirm der Flugkontrolle Boston wird der Flug von AA 11 verfolgt, der eine 100-Grad-Wende nach Süden macht.
8.24 Uhr
Da die Talkback-Taste in Flug 11 unbeabsichtigt aktiviert wurde, können die Fluglotsen in Boston hören, wie ein Entführer zu den Passagieren spricht: „Wir haben einige Flugzeuge. Bleiben Sie einfach ruhig und es wird Ihnen nichts passieren. Wir kehren jetzt zum Flughafen zurück. Wenn Sie versuchen, sich zu wehren, bringen Sie sich und das Flugzeug in Gefahr.“
8.25 Uhr
Die Flugkontrolle in Boston informiert das Command Center der Flugkontrollen über die Entführung von Flug AA 11. Es wird eine Konferenz geschaltet zwischen Boston, Cleveland und New York. Man nimmt an, dass Flug 11 in New York landen will.
8.25 Uhr
Flug AA 77 meldet dem FAA Washington Center, dass die Marke 13.000 Fuß soeben passiert wurde. Die weiteren Gesprächskontakte verlaufen normal und Flug 77 steigt auf 27.000 Fuß.
8.26 Uhr
Eine weitere Stewardess des Fluges AA 11, Amy Sweeney, telefoniert mit der Fluggesellschaft, und zusammen mit ihrer Kollegin Betty Ong gibt sie die Sitzplätze der Entführer durch, damit sie identifi ziert werden können. Die Stewardessen haben keinen Kontakt mehr zum Cockpit.
8.28 Uhr
Die Flugkontrolle Boston behandelt den AA Flug 11 nun als bestätigte Entführung. Andere Flugzeuge werden entsprechend umgeleitet.
8.30 Uhr
Im Pentagon meldet sich Hauptmann Leidig als stellvertretender Einsatzleiter (DDO) für das Operationsteam 2, eines von fünf, im Nationalen Militärkommandozentrum (NMCC) zum Dienst. Der Einsatzleiter, Armee-Brigadegeneral Montague Winfi eld, befi ndet sich bis 10.45 Uhr in einer Sitzung.
8.34 Uhr
Die Flugsicherung in Boston versucht, über die FAA-Station in Cape Cod, Massachusetts, Kontakt mit dem Militär aufzunehmen. Zwei Kampffl ugzeuge sind auf der Otis Air National Guard Base in Cape Cod rund um die Uhr in Alarmbereitschaft. Offenbar geschieht dies, ohne die üblichen NORAD-Kanäle zu nutzen.
Präsident Bush verabschiedete sich vom Manager des Resorts, und gegen 8.35 Uhr, fünf Minuten später als geplant, startete seine Autokolonne in Richtung Emma E. Booker Elementary School (Grundschule) in Sarasota, Florida. Es sollte sich um einen Fototermin handeln, mit dem der Präsident seine Bildungspolitik bewerben wollte. Niemand in seinem Umfeld oder im Weißen Haus war bisher über die Entführung der Flugzeuge informiert worden.
8.36 Uhr
Die beiden Stewardessen Betty Ong und Amy Sweeney berichten, dass das Flugzeug in einen schnellen Sinkfl ug übergegangen ist. Sweeney beschreibt die Entführer als aus dem Nahen Osten.
8.37 Uhr
Erst jetzt ruft Boston fl ight control NORAD an: „Hi, hier ist Boston fl ight control, wir haben ein Problem: … eine entführte Maschine, die sich New York nähert. Dies ist ein Ernstfall und keine Übung“ Zur gleichen Zeit lief ja auch die Heimatschutzübung „Vigilant Guardian“. Erst 17 Minuten nachdem der Flug AA 11 als „Entführt“ eingestuft wurde, wird NORAD informiert.
8.40 Uhr
Auf dem Weg zu ihren F-15 Abfangjägern erhalten die beiden Piloten die letzten Informationen über den Flug AA 11. Auf den Startbefehl müssen sie aber noch warten.
8.41 Uhr
Flug UA 175 erreicht den Kontrollbereich von New York und wird etwas später entführt.
8. 42 Uhr
Flug UA 93, eine Boeing 757, startet mit 41 Minuten Verspätung von Newark International Airport nach San Francisco mit nur 38 Passagieren, 5 Flugbegleitern, 2 Piloten und 4 Terroristen: Ahmed Alhaznawi, Ahmed Alnami, sowie Saeed Alghamdi und Ziad Jarrah, als vermuteten Piloten.
8.43 Uhr
New York fl ight control informiert NORAD, dass Flug UA 175 entführt worden ist.
8.45 Uhr
Die Stewardess Amy Sweeney telefoniert immer noch mit dem Flight Service Manager, ihrem Boss Michael Woodward und beschreibt die Situation an Bord des Flugzeuges. Das Flugzeug nähert sich New York City, aber die Passagiere in der Touristenklasse sind immer noch ruhig, offenbar ohne zu erkennen, dass eine Entführung im Gange ist. Woodward bittet Sweeney, aus dem Fenster zu sehen und zu erzählen, wo sie gerade
sind. Sie antwortet: „Ich sehe das Wasser. Ich sehe die Gebäude. Ich sehe Häuser.“ Sie sagt ihm, dass das Flugzeug sehr niedrig fliegt. Dann atmet sie tief ein und sagt langsam und ruhig: „Oh, mein Gott!“ Woodward hört ein lautes Klicken und dann Stille. Von Betty Ong am anderen Telefon hört man nur: „Betet für uns, betet für uns!“ Dann ist die Verbindung unterbrochen.
Die Flugrouten der vier entführten Flugzeuge, die bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 benutzt wurden: 1. AA-Flug 11 von Boston, 2. UA-Flug 175 von Boston, 3. AA-Flug 77 von Washington D.C. 4. UA-Flug 93 von Newark (bei New York City)
8.46 Uhr
Flug AA 11 fliegt direkt in den Nordturm des World Trade Center. Nach seismischen Aufzeichnungen erfolgt der Zusammenstoß genau 26 Sekunden nach 8.46 Uhr. Ermittler vermuten, dass das Flugzeug noch rund 38.000 Liter Kerosin in seinen Tanks hat und mit einer Geschwindigkeit von etwa 750 km/h in das Gebäude flog. Das Flugzeug trifft das 110 Stockwerke hohe Gebäude zwischen dem 93. und 98. Stockwerk. Niemand oberhalb der Absturzlinie überlebt; etwa 1360 Menschen sterben. Unterhalb der Absturzlinie sterben etwa 72 Menschen, mehr als 4.000 überleben. In beiden Türmen befi ndet sich zum Zeitpunkt des Angriffs etwas weniger als die Hälfte des Personals, denn viele Büroangestellte sind noch nicht zur Arbeit erschienen. In jedem Turm befi nden sich zwischen 5.000 und 7.000 Menschen.
8.46 Uhr
Flug UA 175 sendet sein Transpondersignal nicht mehr aus. Er befi ndet sich 50 Meilen nördlich von New York, auf dem Weg nach Baltimore. Der Transponder wird jedoch nur für etwa 30 Sekunden ausgeschaltet und dann auf ein Signal umgeschaltet, das für kein Flugzeug bestimmt ist.
8.46 Uhr
Zwei F-15-Kampffl ugzeuge erhalten den Befehl, von der Otis Air National Guard Base in Massachusetts aus nach Flug 11 zu suchen, der etwa 300 Kilometer von der bekannten Position des Flugzeugs und 290 Kilometer von New York City entfernt sein muss.
Die CNN-Sendung „Live at Daybreak“ (Live zum Tagesanbruch) sendete um 8.47 Uhr einen kurzweiligen Bericht über eine Modenschau für Umstandsmode in New York. Dann, um 8.48 Uhr, unterbrach die Moderatorin Carol Lin einen Werbespot über Schuldenhilfe und sagte: „Das kam gerade herein. Sie sehen hier offensichtlich eine sehr beunruhigende Live-Aufnahme. Das ist das World Trade Center, und wir haben heute Morgen unbestätigte Berichte, dass ein Flugzeug in einen der Türme des World Trade Center gestürzt ist.“ CNN schaltete dann zu einem Telefoninterview mit Sean Murtagh, dem Vizepräsidenten des Senders, der den Absturz des Flugzeugs vom 21. Stockwerk des Bürohauses 5 Penn Plaza beobachtet hat: „Ich sah gerade ein Flugzeug, das anscheinend in einer etwas niedrigeren als der normalen Flughöhe über New York City flog. Und es scheint in einen der World Trade Towers gestürzt zu sein – ich weiß nicht, um welchen Turm es sich handelt –, aber es schlug direkt in der Mitte eines der Türme ein,“ sagte er. „Es war ein Jet, vielleicht ein zweimotoriger Jet, vielleicht eine 737 … ein großes Passagierflugzeug … es schwankte hin und her, von Flügelspitze zu Flügelspitze, und es sieht so aus, als sei es in das – etwa 120 Stockwerke hohe – World Trade Center gestürzt, vielleicht in das 80. bis 85 Stockwerk. Und dann stieg Rauch aus dem World Trade Center auf.“ (James Bamford, A Pretext for War, S. 16 f.)
8.50 Uhr
Ein Mechaniker eines Wartungszentrums in San Francisco informiert Rich Miles, den Leiter des System Operation Center von United Airlines in Chicago, dass eine Flugbegleiterin von Flug 175 soeben angerufen und berichtet hat: „Oh mein Gott, die Besatzung wurde getötet, eine Flugbegleiterin erstochen. Wir sind entführt worden!“
8.50 Uhr
Flug AA 77 erbittet die Freigabe, höher zu fliegen. Sechs Minuten später antwortet das Flugzeug nicht auf eine Routine-Anweisung.
8.53 Uhr
NORAD wird informiert, dass Flug 175 entführt worden ist. Vorausgegangen sind Versuche, Kontakt mit dem Flugzeug aufzunehmen.
Als der Auto-Konvoi von Präsident Bush die Booker-Grundschule um 8.55 Uhr erreichte, erwarteten der Pressesprecher Ari Fleischer und die Berater Karl Rove und Dan Bartlett den Präsidenten auf dem Bürgersteig vor der Schule, um ihn zu informieren, dass ein Flugzeug in das World Trade Center geflogen sei. Der Grund sei unklar. „Was für ein furchtbares Unglück“, sagte Bush. Ari Fleischer sagte später: „Der Präsident dachte, es sei ein Unfall gewesen.“ Damit, so scheint es, wusste der amerikanische Präsident deutlich weniger als 10 Millionen Fernsehzuschauer in aller Welt, denn zahllose TV-Stationen übernahmen die Bilder sofort, die CNN sendete. In Mitteleuropa war es zum Zeitpunkt des Anschlags auf den Nordturm, also des ersten Anschlags, 14.46 Uhr.
8.56 Uhr
Das Transponder-Signal des Fluges AA 77 ist ausgeschaltet und aufgrund eines technischen Fehlers kann das Flugzeug nicht über das normale Radarsystem angezeigt werden. Zu diesem Zeitpunkt übernehmen die Entführer das Flugzeug.
9.00 Uhr
Ed Ballinger, Flugdienstleiter der United Airlines, schickt dem Flug UA 93 eine Warnung, die Cockpittür zu verriegeln. Dieselbe Warnung erhalten 16 weitere UA-Flüge.
Kaum war der Präsident im Schulgebäude angelangt, um 9.00 Uhr, informierte die Schuldirektorin Gwen Tose-Rigell ihn ihrerseits, dass ein Linienflugzeug in das World Trade Center gestürzt sei. Trotzdem machte der Präsident, wie geplant, mit dem Vorlesen und dem Fototermin weiter. Eigentlich hätte er sich sofort zur Präsidentenmaschine Air Force One begeben und Sarasota verlassen müssen – so jedenfalls formulierte es das Sicherheitsprotokoll.
9.00 Uhr
Richard Clarke, Terror-Experte unter Clinton und nun auch unter Bush, befindet sich auf einer Konferenz nicht weit vom Weißen Haus entfernt, als er telefonisch über die Ereignisse informiert wird. Seine Antwort: „Aktiviert die CSG (Counterterrorism and Security Group), ich bin in fünf Minuten da.“
9.03 Uhr
Die Maschine des Flugs 175 fliegt in den Südturm des World Trade Center um genau sechs Sekunden vor 9.03 Uhr; Millionen Fernsehzuschauer werden Zeugen. Das Flugzeug trifft den 110 Stockwerke hohen Turm zwischen dem 78. und dem 84. Stockwerk. Etwa 100 Menschen, die sich dort befinden, werden bei dem Aufprall getötet, weitere 600 sterben anschließend. Die Zahl der Todesopfer ist weitaus geringer als im Nordturm, da etwa zwei Drittel der im Südturm befindlichen Menschen das Gebäude in den 17 Minuten seit dem Einschlag in den ersten Turm fluchtartig verlassen haben.
9.04 Uhr
In mehreren Schritten erteilen die Verantwortlichen der Flugkontrolle entsprechende Flugverbote. Alle Starts und Landungen in New York City werden innerhalb einer Minute nach dem Aufprall von Flug 175 gestoppt. Die Flugkontrollzentren in Boston und Newark folgen in den nächsten Minuten. Gegen 9.08 Uhr werden landesweit Abflüge in oder durch den Luftraum von New York und Boston gestrichen und alle Abflüge von Washington gestoppt.
9.05 Uhr
Im Weißen Haus trifft Richard Clarke die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und den Vizepräsidenten Dick Cheney in dessen Büro. Cheney begrüßt Clarke mit den Worten: „Es ist ein al-Qaida-Angriff. Sie mögen gleichzeitige Angriffe; es ist wohl noch nicht vorbei.“ Rice fragt Clarke nach Vorschlägen. Er antwortet: „Wir richten eine sichere Telefonkonferenz ein, um die Krise zu bewältigen.“ Er empfiehlt auch die Evakuierung des Weißen Hauses, doch diese beginnt erst um 9.45 Uhr, nachdem kritische 40 Minuten verstrichen sind.
Inzwischen war Präsident Bush in einem Klassenzimmer der 2. Schulklasse angekommen. Der Chef des Stabes, Andrew Card, kam um 9.06 Uhr herein und flüsterte dem Präsidenten ins Ohr: „Ein zweites Flugzeug traf den anderen Turm, … Amerika wurde angegriffen.“
James Bamford, ein renommierter US-Journalist und Autor, übt deutliche Kritik am Verhalten von Präsident Bush und beschreibt dessen Reaktion so: „Unmittelbar nachdem Card Bush informiert hat, geht ein Ausdruck der Verblüffung über das Gesicht des Präsidenten. Nachdem er gerade erfahren hat, dass das Land angegriffen wird, scheint der Oberbefehlshaber nicht an weiteren Einzelheiten interessiert zu sein. Er fragt nicht, ob es weitere Bedrohungen gegeben hat, woher die Angriffe kommen, wie man das Land am besten vor weiteren Angriffen schützen kann ... Stattdessen wendet er sich mitten in einem modernen Pearl Harbour einfach wieder der Sache zu, deretwegen er hier ist: dem Fototermin des Tages.“
(Body of Secrets, S. 633)
9.08 Uhr
Die beiden F-15 Flugzeuge, die den Flug AA 11 über New York finden sollen, erhalten den Befehl, in einem 150-Meilen-Fenster des Luftraums vor der Küste von Long Island zu kreisen. Die Kampfflugzeuge bleiben bis 9.13 Uhr in der Warteschleife über dem Ozean, bevor sie auf Befehl um 9.25 Uhr eine CAP (Combat Air Patrol, Luftraumüberwachungseinsatz mit Kampfauftrag) über der Stadt einrichten und für die nächsten vier Stunden über New York City bleiben.
9.09 Uhr
Die Flugkontrolle in Indianapolis berichtet dem FAA Regional Zentrum, dass sie den Kontakt zu Flug AA 77 verloren haben. Das Zentrum wartet 16 Minuten, ehe es die Information an die FAA-Zentrale weiterleitet.
9.12 Uhr
Renee May, Stewardess auf Flug AA 77, ruft ihre Mutter vom Handy aus an und teilt ihr mit, dass ihr Flug entführt worden sei und sie „American Airlines“ informieren möge.
9.15 Uhr
Richard Clarke beginnt mit der Krisenreaktions-Videokonferenz, an der die FAA, das FBI, die CIA, das Pentagon, das Justizministerium und das Außenministerium teilnehmen. Jane Garvey, die Direktorin der FAA, erklärt, dass sie alle Starts und Landungen in New York und Washington gestoppt habe. Clarke und Garvey erörtern dann die Möglichkeit, landesweit alle Starts zu streichen und ein generelles Flugverbot zu verhängen. Das sei möglich, sagt Garvey, aber es werde wohl Zeit brauchen.
Nachdem der Fototermin in der Schule vorüber war, verließ Präsident Bush um 9.16 Uhr den Klassenraum. Mit seinem Stab begab er sich in einen anderen Raum der Schule mit einem Fernseher, um an einer Ansprache zu den Terroranschlägen zu arbeiten, die er um 9.29 Uhr halten wollte. Zwischendrin schaute er immer wieder auf den aufgestellten Fernseher. Dann sagte er: „Wir sind im Krieg.“
9.21 Uhr
Die Stadtverwaltung von New York City schließt alle Brücken und Tunnel der Stadt.
9.26 Uhr
Jane Garvey erlässt ein landesweites Startverbot und ordnet an, dass Flugzeuge, die sich in der Luft befinden, unverzüglich landen. Die Anordnung, die seit der Erfindung der Fliegerei im Jahr 1903 noch nie umgesetzt wurde, gilt für jede Art von Maschine, die abheben kann: zivile, militärische und polizeiliche. Eine begrenzte Anzahl von Militärflügen ist während dieses Verbots erlaubt.
9.28 Uhr
Flug 93 bestätigt eine Anweisung eines Fluglotsen aus Cleveland. Das ist der letzte reguläre Kontakt mit dem Flugzeug. Eine Minute später hören der Fluglotse und die Piloten der in der Nähe befindlichen Flugzeuge „eine Funkübertragung von unverständlichen Geräuschen, die möglicherweise auf Schreie oder einen Kampf hindeuten und von unbekannter Herkunft sind. … Jemand, vermutlich der Pilot Jason Dahl, wird von den Fluglotsen gehört, als er „Mayday“ ruft. Sekunden später antwortet der Lotse: „Hat jemand Cleveland angerufen?“ Dann sind weitere Schreie zu hören und jemand brüllt: „Raus hier, raus hier!“ Handy-Anrufe von Passagieren beschreiben zwei tote oder verletzte Körper direkt vor dem Cockpit: Vermutlich handelt es sich dabei um die Piloten.
Wie kurzfristig geplant, hielt Präsident Bush um 9.29 Uhr vor 200 Schülern, Lehrern, Reportern und TV-Crews eine knappe, aber bedeutungsschwere Ansprache: „Heute haben wir eine nationale Tragödie erlebt. Zwei Flugzeuge sind in das World Trade Center gestürzt, offenbar ein terroristischer Anschlag auf unser Land.“
9.31 Uhr
Über den eingeschalteten Stimmenrekorder im Cockpit von Flug 93 hört man eine Stimme, die einer Frau befiehlt, sich hinzusetzen. Die Frau, wahrscheinlich eine Stewardess, bittet: „Nicht, nicht!“ Sie bittet nochmals: „Bitte, ich will noch nicht sterben!“ Während der Entführung des Flugzeugs wird die Stewardess Debbie Welsh erstochen.
9.32 Uhr
Einer der Entführer des Flugs 93 sagt über Funk: „Meine Damen und Herren, hier spricht der Kapitän. Bitte setzen sie sich, bleiben sie bitte sitzen. Wir haben eine Bombe an Bord.“ Die Fluglotsen in Cleveland hören etwa eine Minute lang Schreie, bis eine Stimme wieder etwas von einer „Bombe an Bord“ sagt. Ein Entführer sagt, dass sie zum Flughafen zurückkehren würden. Der Fluglotse benachrichtigt seinen Vorgesetzten, der die Meldung an die FAA-Zentrale weiterleitet.
9.35 Uhr
Die Fluglotsen in Washington verfolgen den Flug 77 als Blips (Leuchtsignale) auf dem Radarschirm. Die FAA-Zentrale wird informiert, dass das Flugzeug kreist und sich vom Weißen Haus entfernt. Dann verschwinden die Blips; die letzte bekannte Position ist 10 km vom Pentagon und 6 km vom Weißen Haus entfernt. Das Flugzeug hat eine Geschwindigkeit von 800 km/h.
9.36 Uhr
Flug 93 nimmt einen neuen Kurs auf. Das Radar zeigt, dass das Flugzeug um 180 Grad gedreht hat. Es fliegt nun Richtung Washington.
9.37 Uhr
Flug 77 stürzt in das Pentagon. 125 Personen am Boden werden später als tot oder vermisst ermittelt. Flug 77 trifft die Seite des Pentagons, die kürzlich renoviert worden ist. Es ist der einzige Bereich des Pentagon mit einer Sprinkleranlage, und er ist mit einem Geflecht aus Stahlträgern und -streben verstärkt worden, um einer Bombenexplosion standzuhalten. Dieser Bereich hat außerdem sprengstoffsichere Fenster. Wegen der Renovierungsarbeiten befinden sich dort nur 800 Menschen.
9.40 Uhr
Das Transponder-Signal von Flug 93 verstummt. Allerdings kann das Flugzeug weiter auf dem Radar verfolgt werden, doch seine Flughöhe ist nicht mehr zu ermitteln. Die Geschwindigkeit schwankt zwischen 650 und 950 km/h.
Das Weiße Haus begann mit der Evakuierung um 9.45 Uhr – 30 Minuten nachdem Vizepräsident Cheney evakuiert worden war. Zunächst verlief die Evakuierung geordnet, doch schon bald riefen die Agenten des Secret Service den Leuten zu, so schnell wie möglich aus dem Gebäude zu fliehen.
9.45 Uhr
Die FAA ordnet die Schließung des gesamten landesweiten Luftverkehrs an. Alle Flüge auf US-Flughäfen werden gestoppt. Etwa 3950 Flüge sind noch in der Luft und rund 75 Prozent der Flugzeuge landen innerhalb einer Stunde nach der Anordnung.
9.50 Uhr
Die Stewardess Sandy Bradshaw ruft vom Flug 93 aus ihren Mann an und berichtet, dass das Flugzeug von drei Männern mit Messern entführt worden sei und dass einige Passagiere in der hinteren Bordküche Behälter mit heißem Wasser füllen, um gegen die Hijacker vorzugehen.
9.53 Uhr
Laut dem Cockpit-Stimmenrekorder von Flug 93 befürchten die Entführer, dass die Passagiere sich gewaltsam wehren könnten.
Die Air Force One startete um 9.59 Uhr und gewann schnell an Höhe. Präsident Bush hatte seine Entscheidung getroffen: Anstatt nach Washington zurückzukehren, würde er ins Landesinnere fliegen. Sein Plan war, zum Luftwaffenstützpunkt Barksdale in der Nähe von Shreveport, Louisiana, zu fliegen. Barksdale beherbergte einen unterirdischen Kommandoposten des Strategischen Kommandos der USA, einen Bunker, von dem aus Bush notfalls einen Krieg führen konnte. Die Air Force One landete um 11.45 Uhr auf Barksdale. Bush wurde zum Gebäude 245 gebracht, dem Hauptquartier der Eight Air Force, einer der beiden aktiven amerikanischen Luftflotten. (James Bamford, A Pretext for War, S. 84 ff.)
9.57 Uhr
Eine Analyse der Cockpit-Aufzeichnung legt nahe, dass der Kampf der Passagiere tatsächlich vorn im Flugzeug beginnt. Die Beamten stellen später die Theorie auf, dass die Passagiere des Flugs 93 das Cockpit mit Hilfe eines Lebensmittelwagens als Rammbock und Schutzschild erreichen. Sie meinen, das Geräusch von umherfliegenden Tellern und Gläsern zu erkennen.
9.58 Uhr
„Ins Cockpit! Ins Cockpit!“ ist aus Flug 93 zu hören. Die Entführer sollen sich gegenseitig aufgefordert haben, von innen die Tür zuzuhalten. Einer der Passagiere ruft draußen: „Let’s get them!“ Die Entführer schreien „Allah o akbar!“ (Gott ist groß). Einer der Entführer will die Sauerstoffzufuhr in der Kabine abschalten, ein anderer fragt: „Sollen wir es beenden?“ Ein anderer: „Noch nicht.“ Die Geräusche der Passagiere werden deutlicher. Es ist zu hören: „Give it to me!“ und etwas wie „Roll it up!“ und „Lift it up!“
9.59 Uhr
Der Südturm des World Trade Center stürzt nach 56 Minuten Brand ein.
10.00 Uhr
Ziad Jarrah, der Hijacker-Pilot, fragt einen anderen: „Sollen wir es beenden?“ Eine andere Stimme antwortet: „Nein, noch nicht. Wenn sie alle kommen, beenden wir es.“ Ein paar Sekunden später ist die Stimme eines Passagiers zu hören: „Ins Cockpit! Wenn wir es nicht tun, werden wir sterben.“ Eine andere Stimme sagt: „Lass es rollen.“ Um 10.01 Uhr stoppt der Pilot das Stampfen der Maschine und fragt: „War’s das? Ich meine, sollen wir runtergehen?“ Ein Entführer antwortet: „Ja, zieht es runter.“ Die Entführer bleiben am Steuerknüppel, weil offensichtlich die Passagiere nur noch Sekunden davon entfernt sind, sie zu überwältigen.
10.03 Uhr
Flug 93 wird von seinen Entführern auf einem Feld in Somerset County, Pennsylvania, zum Absturz gebracht. Aus späteren Berichten geht hervor, dass die Passagiere zuvor von den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon erfahren haben. Alle Menschen kommen bei dem Absturz ums Leben.
10.28 Uhr
Der Nordturm des World Trade Center stürzt ein, eine Stunde und 42 Minuten nachdem Flug 11 ihn gerammt hat. (Paul Thompson, The Terror Timeline, S. 351–451)
Die Anschläge forderten 2.977 Todesopfer und mehr als 25.000 Verletzte. Sie führten zu erheblichen gesundheitlichen Spätfolgen sowie zu Infrastruktur- und Sachschäden in Höhe von mindestens zehn Milliarden Dollar. Es ist nach wie vor der verheerendste Terroranschlag in der Geschichte der Menschheit und der tödlichste Einsatz für Feuerwehrleute und Polizeibeamte in der Geschichte der Vereinigten Staaten mit 340 bzw. 72 Toten.
Die Zerstörung des World Trade Center und der umliegenden Infrastruktur hat der Wirtschaft von New York City schweren Schaden zugefügt und zudem eine weltweite wirtschaftliche Rezession ausgelöst. Viele Länder verschärften ihre Anti-Terror-Gesetze und erweiterten teilweise die Befugnisse der Strafverfolgungs- und Nachrichtendienste, um Terroranschläge zu verhindern. Der Luftraum der USA und Kanadas blieb bis zum 13. September für zivile Flugzeuge geschlossen, der Handel an der Wall Street wurde bis zum 17. September ausgesetzt.
Am Abend des 11. September sollte eigentlich die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice eine Rede halten, in der sie über „die Bedrohungen und Probleme von heute und morgen, nicht der Welt von gestern“ sprechen wollte. Die Rede wurde aber aufgrund der Anschläge vom Vormittag abgesagt. Später wurde das Manuskript aber den Medien zugespielt. Die „Washington Post“ bezeichnete die Rede als einen „aufschlussreichen Einblick in die Denkweise der Regierung“, da sie die Raketenabwehr in den Mittelpunkt stelle und keine Erwähnung von al-Qaida, bin Laden oder islamischen Extremistengruppen enthalte. Die einzige Erwähnung des Terrorismus steht im Zusammenhang mit der Gefahr, die von Schurkenstaaten wie dem Irak ausgehe. (Washington Post, 1. April 2002)
Ahnungslose Arroganz
Wie nach schwerwiegenden Ereignissen fast immer, tauchte auch in den USA die Frage auf: Hätten die Anschläge nicht verhindert werden können? Was wussten die Geheimdienste? Warum haben sie nicht gewarnt, die NSA, die CIA, der FBI?
FBI-Direktor Mueller bezeichnete am 14. September 2001 die Berichte, wonach mehrere der Entführer eine Flugausbildung in den USA absolviert hätten, als „ganz offensichtlich neu“ und fügte hinzu: „Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir es vielleicht verhindern können.“ Später stellte sich heraus, dass das FBI entgegen Muellers Behauptungen von 1996 bis wenige Wochen vor dem 11. September 2001 bei zahlreichen Gelegenheiten Mitarbeiter von Flugschulen über Flugschüler aus dem Nahen Osten befragt hatte. (Washington Post, 23.9.2001)
Drei Tage später sagt er: „Meines Wissens gab es keine Warnsignale, die auf diese Art von Operationen im Lande hingedeutet hätten.“ (Department of Justice, Transcript, 17.9.2001)
Bei einer Kongress-Anhörung am 2. Mai 2002 erklärt FBI-Direktor Mueller erneut: „Es gab nichts, was die Sicherheitsbehörden hätten tun können, um die 9/11-Anschläge vorherzusehen und zu verhindern.“ (9/11 Congressional Inquiry, 18.9.2002)
„Niemals hätten wir bei unseren Überlegungen, wie wir Amerika schützen könnten, gedacht, dass die Verbrecher nicht nur eines, sondern vier Verkehrsflugzeuge in Ziele in den USA lenken würden … niemals.“ So Präsident Bush am 16. September 2001.
Einen Monat später erklärte Paul Pillar, der ehemalige stellvertretende Direktor des CIA-Zentrums für Terrorismusbekämpfung: „Die Idee, ein Flugzeug zu kapern, es in den Boden zu rammen und hohe Verluste zu verursachen, daran haben wir natürlich gedacht.“ (Los Angeles Times, 14.10.2001)
Für die Bush-Regierung war es verheerend, was der Fernsehsender CBS in den Abendnachrichten enthüllte: Der Präsident war im August 2001 in einem Memo vor Anschlägen von al-Qaida im Inland gewarnt worden. Bush hatte wiederholt behauptet, er habe „keinerlei Warnung“ erhalten. Pressesprecher Ari Fleischer erklärte, dass Bush zwar vor möglichen Flugzeugentführungen gewarnt worden sei, „der Präsident aber keine Informationen über die Verwendung von Flugzeugen als Waffe durch Selbstmordattentäter erhielt“. (Washington Post, 16.5.2002) Fleischer behauptete, das Memo vom August habe den Titel getragen „Bin Laden entschlossen, die USA anzugreifen“. Doch der wirkliche Titel endete mit „... strike in U.S. (in den USA anzugreifen)“. (Washington Post, 18.5.2002)
Das Memo, der „President’s Daily Brief“ (PDB), der von der CIA erstellt und am Montag, den 6. August 2001, an US-Präsident George W. Bush übergeben wurde, lautete tatsächlich: „Bin Laden Determined to Strike in US“ (Bin Laden entschlossen, in den USA zuzuschlagen). Darin wurde 36 Tage vor den Anschlägen vom 11. September vor terroristischen Bedrohungen durch Osama bin Laden und al-Qaida gewarnt und auf „Muster verdächtiger Aktivitäten […], die mit den Vorbereitungen für eine Flugzeugentführung in den USA übereinstimmen“, hingewiesen.
Der Inhalt des PDB wurde, wie bei allen anderen PDBs, geheim gehalten, bis er im Jahr 2002 durchsickerte. Die CBS-Abendnachrichten berichteten am 15. Mai 2002 über das Dokument. Das PDB wurde dann am 10. April 2004 für die 9/11-Kommission freigegeben und am 22. Juli 2004 im Bericht der 9/11-Kommission veröffentlicht.
Im „Guardian“ hieß es einige Tage nach den CBS-Enthüllungen: „Das Memo lässt wenig Zweifel daran, dass die entführten Flugzeuge als Raketen eingesetzt werden sollten und dass die beabsichtigten Ziele innerhalb der USA liegen würden.“ (Guardian, 19.5.2002)
Gemäß Antonia Felix, Autorin der Condoleezza-Rice-Biografie „Condi“, betonte die Nationale Sicherheitsberaterin vor der 9/11-Kommission, dass die Regierung nicht mit Anschlägen im Inland gerechnet habe. Sie habe sich auf terroristische Aktivitäten in anderen Teilen der Welt konzentriert. Kommissionsmitglied Richard Ben-Veniste sei jedoch auf das Memo zurückgekommen, indem er darauf hinwies, dass der Titel des Memos auf einen Angriff im Inland hingedeutet habe. Ben-Veniste: „Ist es nicht eine Tatsache, Dr. Rice, dass das PDB vom 6. August vor möglichen Anschlägen in diesem Land warnte?“ [...]
Rice: „Sie fragten, ob nicht vor Anschlägen gewarnt wurde? Es wurde nicht vor Anschlägen innerhalb der Vereinigten Staaten gewarnt. Es handelte sich um historische Informationen, die auf alten Berichten basierten. Es gab keine neuen Bedrohungsinformationen. Und er warnte tatsächlich nicht vor kommenden Angriffen innerhalb der Vereinigten Staaten.“ (Condi, S. 228 f.)
In dem „White House Briefing“ vom 16. Mai 2002 beschrieb die Nationale Sicherheitsberaterin Rice den PDB als sehr unspezifisch, da nichts Neues enthalten gewesen sei. Es sei ein analytisches Papier über verschiedene verfügbare Methoden gewesen. Auch Präsident Bush erklärte, dass das PDB nichts über einen Angriff auf Amerika gesagt habe. „Es ging um Absichten, um jemanden, der Amerika hasst – nun, das wussten wir“. (The National Security Archive, 12.4.2004)
In dem PDB stand natürlich nicht, dass al-Qaida am Tag X einen Bombenanschlag auf das WTC verüben werde. Aus dem deklassifizierten Teil des Memos, also dem Teil, der zur Veröffentlichung freigegeben wurde, wird aber ersichtlich, dass bin Laden in den USA Anschläge verüben wollte, dass er den Einsatz von Flugzeugen erwog und es in den USA bereits Unterstützer gab. „Geheimen ausländischen Regierungs- und Medienberichten zufolge wollte bin Laden seit 1997 Terroranschläge in den USA verüben. In US-Fernsehinterviews deutete bin Laden schon 1997 und 1998 an, dass seine Anhänger dem Beispiel des WTC-Attentäters Ramzi Yousef folgen und den Kampf nach Amerika bringen werden.“
In dem Briefing heißt es zudem: „Wir waren nicht in der Lage, einige der aufsehenerregenden Drohungen zu bestätigen, wie z. B. die Meldung des [...] Dienstes aus dem Jahr 1998, dass bin Laden ein US-Flugzeug entführen wolle, um die Freilassung des ,Blinden Scheichs’, eines ägyptischen Islamisten, zu erpressen. […] Dennoch deuten FBI-Informationen seit dieser Zeit auf verdächtige Aktivitäten in diesem Land hin, die mit Vorbereitungen für Entführungen oder andere Arten von Anschlägen zusammenhängen, einschließlich der jüngsten Beobachtung von Bundesgebäuden in New York.“ (PDB Bin Ladin Determinded to Strike in US, 10.4.2004)
Nachdem im Januar 1995 in Manila der sogenannte Bojinka Plot (Operation „Bojinka“, siehe auch Band I, S. 369) aufgeflogen war – die Planung von drei Terroranschlägen, finanziert von Osama bin Laden –, war es offensichtlich, dass Terroristen in Zukunft Flugzeuge als Waffen einsetzen würden. Neben einem Attentat auf den Papst waren auch Bombenanschläge auf Verkehrsflugzeuge sowie ein Anschlag auf die CIA-Zentrale geplant gewesen. Im letzteren Fall sollte ein mit Sprengstoff gefülltes Flugzeug von einem Selbstmordpiloten in das Gebäude geflogen werden. Der Bojinka Plot und der Terroranschlag vom 11. September auf das World Trade Center weisen dieselbe Handschrift auf, denn beide wurden von derselben Person geplant, von Khalid Sheik Mohammed, dem Onkel von Ramzi Yousef, dem ersten WTC-Attentäter.
Die Suche nach dem Sündenbock
Während der Kongressuntersuchung über die Hintergründe von 9/11 wurde deutlich, dass es bei CIA und FBI nicht genügend Mitarbeiter gab, die sich mit al-Qaida befassten. In der entsprechenden Sondereinheit des FBI arbeiteten nur etwa 20 Personen, und von den 27.000 Mitarbeitern waren nur 153 mit Terrorismus-Analyse befasst. Zusätzlich war viel analytisches Fachwissen des FBI durch Versetzung von Experten in operative Einheiten verloren gegangen, und nur ein einziger strategischer Analytiker war in Vollzeit mit al-Qaida befasst. Ein hochrangiger FBI-Beamter erklärte vor dem Kongress, dass im August 1998, als die Bombenanschläge auf die US-Botschaft in Nairobi bin Laden zu einem Begriff machten, mehr FBI-Agenten mit der Terrorismusbekämpfung betraut waren als im September 2001. Die CIA wiederum hatte nur etwa 35 bis 40 Personen, die einer bin-Laden-Sondereinheit zugeteilt waren, darunter fünf strategische Analysten, die ausschließlich an al-Qaida arbeiteten. Einzelne Mitarbeiter sowohl der FBI- als auch der CIA-Einheiten berichteten, dass sie vor dem 11. September 2001 mit der Menge an Informationen und der entsprechenden Arbeitsbelastung völlig überfordert waren. (9/11 Congressional Inquiry, 18.9.2002)
Freigabe des CIA-Berichts im Juni 2015
Zehn Jahre nachdem das Büro des Generalinspekteurs der CIA seine Untersuchung der nachrichtendienstlichen Versäumnisse im Vorfeld der Terroranschläge vom 11. September 2001 abgeschlossen hatte, gab die Behörde am Freitag, den 12. Juni 2015, ihren Bericht in einer gekürzten Fassung für die Öffentlichkeit frei. Der Joint Inquiry genannte und im Original fast 500 Seiten umfassende Bericht enthält eine Liste von „systemimmanenten Problemen“, die dazu beitrugen, dass Warnungen vor Osama bin Ladens Plan, Flugzeuge zu entführen und sie als Waffen zu benutzen, nicht beachtet wurden. In dem Bericht wird dargelegt, dass es auch nicht gelang, die Bedeutung von Khalid Sheikh Mohammed zu erkennen und die Bedrohung vollständig zu bewerten. Dem Bericht zufolge wussten 50 bis 60 CIA-Beamte im Jahr 2000 von Geheimdienstberichten, dass sich zwei Gefährder und spätere Attentäter vom 11. September, Nawaf al-Hamzi und Khalid al-Mihdhar, in den Vereinigten Staaten aufhielten. Doch keiner dieser Beamten dachte daran, das FBI über die potenzielle inländische Bedrohung zu informieren, was als Beweis für ein systemisches Versagen gelten musste. Der Generalinspekteur empfahl deshalb, dass mehrere Spitzenbeamte der Behörde, einschließlich des ehemaligen Direktors George J. Tenet, für ihr Versagen bei der Entwicklung einer Strategie zur Zerschlagung von al-Qaida in den Jahren vor dem 11. September 2001 zur Verantwortung gezogen werden sollten. (https://edition.cnn.com/2015/06/12/politics/cia-inspector-general-report-declassified/index.html)
Es gab aber keine Disziplinarmaßnahmen; Direktor Tenet war bereits 2004 zurückgetreten und hatte die CIA verlassen.
In dem Bericht der Joint Inquiry über die Untersuchung der Terroranschläge vom 11. September 2001 werden zehn „operative Gelegenheiten“ aufgeführt, bin Laden und seinen Attentätern auf die Spur zu kommen. Im Januar 2000 zum Beispiel wurde das FBI nicht von der CIA darüber informiert, dass der Gefährder und später Attentäter Khalid al-Mihdhar ein gültiges US-Visum besaß. Im März 2000 informierte die CIA das FBI nicht, dass Nawaf al-Hazmi am 15 Januar 2000 nach Los Angeles geflogen war; am 11. September befand er sich in der Maschine, die ins Pentagon gestürzt wurde. Auch erhielt das FBI keine Informationen darüber, dass Taufik al-Atasch, ein Beteiligter des Anschlages auf die USS Cole, sich in Kuala Lumpur mit Mihdhar und Hazmi getroffen hatte.
Neben einer gewissen Rivalität zwischen den Diensten ist auch der Versuch des Justizministeriums aus dem Jahre 1995, den Informationsaustausch zwischen den Diensten zu reglementieren, eine weitere Ursache, die die Weitergabe von Informationen einschränkte, natürlich in Verbindung mit dem Widerwillen der CIA und der NSA, „sensible Quellen und Methoden“ preiszugeben. Es war eine Richtlinie, die als „The Wall“ bekannt ist. Aber auch das FBI meidet den Informationsaustausch mit den Strafverfolgern, denn die dürfen ohne einen entsprechenden Gerichtsbeschluss keine Informationen der Geheimdienste nutzen. Die ehemalige Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice sagte vor dem Untersuchungsausschuss aus, CIA und FBI hätten eher konkurriert als kooperiert, und nannte dies einen „Fehler des Systems“.
Michael Scheuer, von 1996 bis 1999 Leiter der Bin-Laden-Einheit der CIA und bis 2004 Analyst für Terrorismusbekämpfung, sieht das Ergebnis des Ausschusses eher kritisch: „Seltsamerweise hat die Untersuchungskommission nach dem 11. September 2001 keine Schuld an den Personen gefunden, die den ununterbrochenen Betrieb von Ausbildungslagern […] zugelassen haben. In der Tat konnte die Kommission nicht einmal den Mut aufbringen, einen Kommentar abzugeben, als Richard Clarke, der die Lager während der gesamten 1990er-Jahre beobachtet, aber keine Maßnahmen gegen sie ergriffen hatte, die Regierung von George W. Bush dafür tadelte, dass sie die al-Qaida-Lager nach ihrem Amtsantritt nicht angegriffen hatte.“
Clarke sagte den 9/11-Kommissionsmitgliedern, er könne nicht verstehen, „warum wir weiterhin die Existenz großer al-Qaida-Stützpunkte zulassen, von denen wir wissen, dass die Leute dort trainiert werden, Amerikaner zu töten“. Könnte es sein, dass das Bush-Team einfach Mr. Clarkes jahrzehntelanger Demonstration der Zurückhaltung folgte?“ (Scheuer, Marching Toward Hell, S. 37)
In ihrem Report kam die Joint Inquiry schließlich zu dem Schluss, dass weder die US-Regierung noch die Geheimdienste vor dem 11. September 2001 über eine umfassende Strategie zur Bekämpfung von al-Qaida verfügt haben. Sie beschuldigte den Director of Central Intelligence (DCI), den CIA-Direktor Tenet, entweder nicht willens oder nicht in der Lage gewesen zu sein, die gesamte Bandbreite der nachrichtendienstlichen Ressourcen zu mobilisieren, um der wachsenden Bedrohung der Vereinigten Staaten gerecht zu werden.
Ermittlungen
Unmittelbar nach den Anschlägen leitete das FBI die Untersuchung „PENTTBOM“ ein, die größte strafrechtliche Ermittlung in der Geschichte der USA. Auf ihrem Höhepunkt arbeiteten mehr als die Hälfte aller FBI-Agenten an den Ermittlungen und verfolgten eine halbe Million Hinweise. Das FBI, so Dale L. Watson, stellvertretender Direktor der Abteilung Terrorismusbekämpfung/Spionageabwehr, sei zu dem Schluss gekommen, dass es „klare und unwiderlegbare“ Beweise gab, dass al-Qaida und bin Laden mit den Anschlägen in Verbindung standen.
Das FBI konnte die Entführer, insbesondere den Anführer Mohammed Atta, in kürzester Zeit identifizieren: Sein Gepäck wurde auf dem Bostoner Flughafen Logan entdeckt. Atta war gezwungen gewesen, zwei seiner drei Gepäckstücke gesondert aufzugeben, da der Platz auf dem 19-sitzigen Shuttleflug nach Boston begrenzt war. Aufgrund einer neuen Regelung, die Flugverspätungen vermeiden sollte, gelangte das Gepäck nicht wie geplant an Bord von American Airlines Flug 11. Das Gepäck enthielt alle wichtigen Informationen für die Ermittler: die Namen der Entführer, ihre Aufträge und die Verbindungen zu al-Qaida. Bereits wenige Stunden nach den Anschlägen veröffentlichte das FBI die Namen und in vielen Fällen auch die persönlichen Daten der mutmaßlichen Piloten und Entführer. Am 27. September 2001 wurden Fotos aller 19 Entführer veröffentlicht, zusammen mit Informationen über mögliche Nationalitäten und Aliasnamen. 15 der Männer stammten aus Saudi-Arabien, zwei aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, einer aus Ägypten und einer aus dem Libanon.
Bis zum Mittag des 11. September 2001 hatten die Nationale Sicherheitsbehörde der USA und der deutsche Bundesnachrichtendienst Telefonate abgefangen, die auf Osama bin Laden hinwiesen. Von zweien der Entführer wusste man, dass sie im Jahr 2000 mit einem Mitarbeiter bin Ladens nach Malaysia gereist waren, und der Entführer Mohammed Atta war zuvor nach Afghanistan gereist. Er und andere gehörten zu einer Terrorzelle in Hamburg, der sogenannten „Hamburger Zelle“. Es wurde festgestellt, dass ein Mitglied dieser Zelle in Verbindung mit Khalid Sheik Mohammed stand, der als Mitglied von al-Qaida identifiziert worden war und hinter dem ersten Anschlag auf das World Trade Center stand.
Die Hamburger Zelle
Die Hamburger Zelle war nach Angaben der Geheimdienste eine Gruppe radikaler Islamisten in Hamburg. Studenten aus verschiedenen arabischen Ländern gehörten ihr an, die schließlich zu den Hauptakteuren der Anschläge vom 11. September 2001 wurden. Zu den wichtigsten Mitgliedern gehörten Mohammed Atta, der 2001 die vier Entführungsteams anführte und den American-Airlines-Flug 11 steuerte, Ramzi Binalshibh, der sich mit den anderen drei Mitgliedern verschworen hatte, aber nicht in die Vereinigten Staaten einreisen konnte, Marwan Alshehhi, der den United-Airlines-Flug 175 steuerte, und Ziad Jarrah, der den United-Airlines-Flug 93 steuerte und die Maschine in einen Acker stürzen ließ. Sein Ziel in Washington D.C. zu treffen war nicht möglich, da die Passagiere Widerstand leisteten. Khalid Sheikh Mohammed sagte nach seiner Verhaftung aus, dass das Ziel das Kapitol gewesen sei.
Am 1. November 1998 zogen die späteren Entführer Mohammed Atta, Marwan Alshehhi und Ramzi Binalshibh gemeinsam in eine Wohnung in der Hamburger Marienstraße. Hier bildeten sie die sogenannte Hamburger Zelle, zu der auch andere, weniger wichtige Teilnehmer an der Verschwörung vom 11. September gehörten. Im Jahr 1999 hatten die vier Kernmitglieder der Gruppe die Absicht, den Dschihad in Tschetschenien zu unterstützen, wo islamische Dschihadisten gegen Russland rebellierten. Dem 9/11-Kommissionsreport zufolge führte ein zufälliges Treffen in einem Zug in Deutschland dazu, dass die Gruppe stattdessen nach Afghanistan reiste. Eine Person namens Khalid al-Masri sprach Binalshibh und Alshehhi an und begann ein Gespräch über den Dschihad in Tschetschenien. Als sie später al-Masri anriefen und ihr Interesse bekundeten, riet er ihnen, Abu Musab in Duisburg zu kontaktieren. Abu Musab entpuppte sich als Mohamedou Ould Slahi, ein bedeutender al-Qaida-Aktivist, der den US-amerikanischen und deutschen Geheimdiensten schon damals gut bekannt war. Keine der beiden Regierungen wusste jedoch, dass er sich Ende 1999 in Deutschland aufhielt.
Binalshibh, Alshehhi und Jarrah fuhren nach Duisburg, wo Slahi sie davon überzeugte, dass es am besten wäre, zunächst in Afghanistan zu trainieren, da weitere Erfahrungen nützlich seien und es zu diesem Zeitpunkt ohnehin schwierig war, nach Tschetschenien zu gelangen. Slahi wies sie an, nach Pakistan zu reisen, und zwar erst nach Karatschi, dann zum Taliban-Büro in Quetta. Dort sollten sie einen Mann namens Umar al-Masri kontaktieren. Atta und Jarrah verließen Hamburg in der letzten Novemberwoche 1999. Alshehhi reiste etwa zur gleichen Zeit allein ab; Binalshibh folgte zwei Wochen später. Es stellte sich heraus, dass es Umar al-Masri gar nicht gab. Der Name war ein Codewort, mit dem Mitglieder des Taliban-Büros angewiesen wurden, die Männer ins afghanische Kandahar zu bringen, wo sie aufgefordert wurden, sich dem al-Qaida-Netzwerk und dem Dschihad gegen die USA anzuschließen. Sie trafen Osama bin Laden persönlich und schworen ihm ihre Loyalität. Mohammed Atta wurde von bin Laden als Anführer der Gruppe ausgewählt, die Amerika angreifen sollte; später, vor den Anschlägen sollte Atta noch mehrere Male Kontakt zu bin Laden aufnehmen. Die Männer kehrten dann nach Deutschland zurück, um eine Flugschule zu besuchen, und wechselten später zu Flugschulen in den Vereinigten Staaten.
Für bin Laden waren die Mitglieder der Hamburger Zelle von allergrößtem Wert, denn ohne sie hätte es den Anschlag vom 11. September wohl nicht gegeben, den Khalid Sheik Mohammed schon 1996 vorgeschlagen hatte. Die Hamburger Studenten hatten den Vorteil, dass sie fließend Englisch sprachen, gebildet und an den westlichen Lebensstil gewöhnt und dabei radikal islamisch waren. Und sie waren in der Lage, das Führen eines Flugzeugs zu erlernen. „Bin Laden und Mohammed Atef zögerten nicht, die Hamburger Gruppe mit der ehrgeizigsten Operation zu beauftragen, die al-Qaida je geplant hatte“, heißt es im Bericht der 9/11-Kommission. (9/11 Congressional Inquiry, 18.9.2002)
Die Planung
Mohammed Atta, Ramzi Binalshibh, Marwan Alshehhi und Ziad Jarrah, die vier Freunde aus Hamburg, kamen im November 1999 zu einem Vorbereitungskurs in das afghanische Ausbildungslager Khaldan. Sie kamen zu einem günstigen Zeitpunkt.
In den drei Jahren nach 1996, als Khalid Sheikh Mohammed in einer Höhle in Tora Bora bin Laden seine Flugzeug-Operation vorgeschlagen hatte, hatte al-Qaida an einem alternativen Plan für einen Angriff auf die USA gearbeitet. Mohammed hatte zwei Wellen entführter Flugzeuge vorgesehen, fünf an der Ostküste aus und fünf an der Westküste, von Asien aus. Sie sollten in ausgewählte Ziele wie die CIA, das FBI oder Atomkraftwerke stürzen. Zunächst hatte bin Laden diese Idee abgelehnt, aber im Frühjahr 1999 zitierte er Mohammed nach Kandahar und gab ihm grünes Licht für die Umsetzung seines Plans.
Ein paar Monate später trafen sich bin Laden, sein „Leutnant“ Abu Hafs und Khalid Sheikh Mohammed in Kandahar, um potenzielle Ziele auszuwählen; nur diese drei Männer waren daran beteiligt. Ihr Ziel war es nicht nur, symbolischen Schaden anzurichten – bin Laden wollte auch das Weiße Haus und das Kapitol angreifen. Zudem setzte er das Pentagon auf seine Liste. Khalid Sheikh Mohammed schlug das World Trade Center vor, das sein Neffe Ramzi Yousef sechs Jahre zuvor bei einem Bombenanschlag nicht zum Einsturz gebracht hatte. Bin Laden beschloss dann, dass der Angriff auf Ziele an der Westküste noch warten konnte.
Zunächst hatte der Plan vorgesehen, Flugzeuge in der Luft zu sprengen, sodass es keinen Bedarf an ausgebildeten Piloten gab. Doch das Konzept wurde weiterentwickelt, und als der Entwurf des endgültigen Plans klar wurde, bedeutete dies, dass das Fliegen von Flugzeugen eine disziplinierte Gruppe mit Kenntnissen erfordern würde, deren Vermittlung wohl Jahre dauern würde. Bin Laden beauftragte vier seiner zuverlässigsten Männer, an der Operation teilzunehmen. Doch keiner der Vier konnte fliegen oder Englisch, was aber für eine Pilotenlizenz erforderlich war; auch hatten sie keine Erfahrung mit dem Leben im Westen. Mohammed versuchte zwar, ihnen Nachhilfe zu geben: Er brachte ihnen englische Redewendungen bei und sammelte Broschüren von Flugschulen in den USA. Sie spielten Flugsimulator-Computerspiele und sahen sich Hollywood-Filme über Flugzeugentführungen an, aber die Kluft zwischen den Fähigkeiten der Männer und den Anforderungen der Mission muss gewaltig gewesen sein. Da bin Laden nicht in der Lage war, alle seine Männer nach Amerika einzuschleusen, da nur die Kämpfer mit saudischem Pass Visa erhielten, schickte er die Männer nach Südostasien, um zu prüfen, ob Mohammeds Plan, amerikanische Flugzeuge während des Fluges zu sprengen, durchführbar war. Zu diesem Zeitpunkt schien es so, als ob der große Plan, die USA in ihrem eigenen Land anzugreifen, hinfällig geworden sei.
Doch dann tauchten Mohammed Atta und seine Freunde zum ersten Mal in Afghanistan auf; ihre Ankunft erfolgte gestaffelt über einen Zeitraum von zwei Wochen Ende November, kurz vor dem Ramadan. Abu Hafs erkannte sofort: Das waren gebildete, technisch versierte Männer, deren Englischkenntnisse von rudimentär bis fließend reichten. Man musste ihnen nicht erklären, wie man im Westen lebt, und Visa würden auch kein Problem sein – die Studenten waren entweder Saudis oder aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Alles, was sie brauchten, war zu lernen, wie man fliegt, und bereit zu sein, zu sterben.
Als Ramzi Binalshibh dann eintraf, erzählten ihm Atta, Jarrah und Alshehhi, dass sie für eine geheime Mission ausgewählt worden seien. Die vier wurden zu einem Ramadan-Festmahl mit bin Laden eingeladen. Sie sprachen über die Taliban und bin Laden erkundigte sich nach den Lebensbedingungen von Muslimen in Europa. Dann teilte er ihnen mit, dass sie Märtyrer sein würden. Sie sollten nach Deutschland zurückkehren und sich bei Flugschulen in den Vereinigten Staaten bewerben.
Al-Qaida hatte inzwischen eine neue „Managementphilosophie“ entwickelt: „Zentralisierung der Entscheidung und Dezentralisierung der Ausführung.“ Bin Laden entschied über die Ziele, wählte die Anführer aus und sorgte für zumindest einen Teil der Finanzierung. Danach wurden die Planung der Operation und die Methode des Angriffs den Männern überlassen, die die Verantwortung für die Durchführung tragen sollten.
Ankunft in den USA
Atta, Alshehhi und Jarrah besorgten sich zunächst neue Pässe, ohne den verräterischen Einreisestempel von Afghanistan. Mit den neuen Pässen beantragten sie dann US-Visa. Atta, Jarrah und Binalshibh kehrten Anfang 2000 nach Hamburg zurück, während Alshehhi in die Vereinigten Arabischen Emirate zurückkehrte, um sich dort einen neuen Pass und ein US-Visum zu besorgen. Zurück in Deutschland bemühte sich die Gruppe, weniger radikal zu erscheinen: Sie hörten auf, die extremistische al-Quds-Moschee in Hamburg zu besuchen, die ihre geistige Heimat war, und änderten ihr Aussehen, etwa indem sie sich die Bärte abnahmen.
Khalid al-Mihdhar und Nawaf al-Hazmi kamen am 15. Januar 2000 in Los Angeles an. Bin Laden hatte die beiden ausgewählt, aber da sie keine Flugschule besuchen konnten, sollten sie im entführten Flugzeug als „Muskel“ fungieren und die Passagiere in Schach halten. Am 18. Januar beantragte Marwan Alshehhi in den Vereinigten Arabischen Emiraten ein Visum für die USA. Binalshibh beantragte in Hamburg mehrmals ein Visum für die Vereinigten Staaten, aber als Jemenit wurde er abgelehnt, weil man befürchtete, dass er das Visum nützen würde, um illegal einzuwandern. Also blieb er in Hamburg und sorgte für die Koordination zwischen Atta und Sheik Mohammed.
Im März 2000 verschickte Mohamed Atta 50 bis 60 gleichlautende E-Mails an Flugschulen in den USA und wurde in Florida bei Huffman Aviation fündig. Am 18. Mai 2000 beantragte und erhielt er ein Visum für die USA. Er reiste nach Prag, bevor er in die USA flog. Zusammen mit Marwan Alshehhi und Ziad Jarrah kam Atta in Venice, Florida, an. Sie besuchten die Huffman Aviation und begannen dort ihre Pilotenausbildung. Im Dezember erhielten Atta und Alshehhi eine Pilotenlizenz, Jarrah einen Monat später.
Etwa drei Wochen vor den Anschlägen wurden den vier Teams die Ziele zugeteilt. Das Kapitol der USA erhielt den Codenamen „Die juristische Fakultät“. Das Pentagon wurde als „Fakultät der Schönen Künste“ betitelt. Mohammed Atta nannte das World Trade Center „Fakultät für Stadtplanung“.
Entgegen dem weit verbreiteten Mythos, al-Qaida habe das Datum 9/11 wegen seiner Ähnlichkeit mit der US-Notrufnummer 9-1-1 gewählt, wurde das Datum von dem Terrornetzwerk wegen seiner Beziehung zum Islam ausgewählt. Wie Lawrence Wright in seinem Buch „The Looming Tower“ schreibt, begann der König von Polen am 11. September 1683 die „Schlacht am Kahlenberg“, die den Vormarsch der muslimischen Armeen endgültig zurückwarf. „Für die nächsten dreihundert Jahre sollte der Islam vom Aufblühen der westlichen christlichen Gesellschaften überschattet werden“, so Wright. Osama bin Laden betrachtete den Angriff auf das World Trade Center als das große Comeback des Islams. (https://foreignpolicy.com/2013/05/03/how-jihadists-schedule-terrorist-attacks/)
Dieses Datum wurde seither auch von anderen Terroristen genutzt, z. B. von den Dschihadisten von Ansar al-Scharia, die am 11. September 2012 den US-Botschafter Chris Stevens und drei weitere Amerikaner töteten, als sie das US-Gelände in Bengasi, Libyen, angriffen.
Hätte 9/11 verhindert werden können?
Eigentlich ist das eine rhetorische Frage. Wenn die Amerikaner den Anschlag vom 11. September verhindert hätten, so wäre es al-Qaida zu einem späteren Zeitpunkt sicherlich doch ein Anschlag gelungen. Es wäre also nur eine Frage der Zeit gewesen. Der Terror-Experte Richard Clarke drückte es so aus: „Es wäre zu einfach, dies zu bejahen. Klar ist, dass die Organisationen, auf deren Schutz wir vertrauten, versagt haben, dass es nicht gelungen ist, Informationen zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu bringen, und dass es nicht gelungen ist, entschlossen zu handeln, um die Bedrohung zu verringern oder zu verhindern.“ (Clarke, Against all Enemies, S. 238)
CIA und FBI, so der Autor an anderer Stelle, hätten zu spät erkannt, dass es eine Bedrohung für die USA gab, und selbst nachdem sie sich einig waren, dass die Bedrohung real und bedeutend war, seien sie nicht in der Lage gewesen, sie zu vereiteln.
Wenn man die Entwicklung von al-Qaida bis zum11. September betrachtet, so spielte auch das Verhalten von vier Präsidenten eine große Rolle:
• Ronald Reagan (20.1.1981–20.1.1989) Er ordnete keine Vergeltungsmaßnahmen für die Ermordung von 278 US-Marines in Beirut an und verstieß gegen seine eigene Terrorismuspolitik, indem er im Rahmen des so genannten Iran-Contra-Skandals Waffen gegen Geiseln tauschte.
• George H.W. Bush (20.1.1989–20.1.1993) Er rächte die Ermordung von 259 Passagieren des Pan-Am-Flugs 103 (Lockerbie-Anschlag) nicht. Er verfolgte keine offizielle Politik zur Bekämpfung des Terrorismus und beließ Saddam Hussein im Amt, was die Vereinigten Staaten dazu zwang, ihre große Militärpräsenz in Saudi-Arabien aufrecht zu erhalten.
• Bill Clinton (20.1.1993–20.1.2001) Er erkannte den Terrorismus als die größte Bedrohung nach dem Kalten Krieg und ergriff Maßnahmen zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung der USA. Was der Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Er unterdrückte den antiamerikanischen Terrorismus durch den Irak und den Iran und vereitelte einen Versuch von al-Qaida, Bosnien zu beherrschen. Doch geschwächt durch anhaltende politische Angriffe konnte er die CIA, das Pentagon und das FBI nicht dazu bringen, ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, um der Terrorismusbedrohung wirksam zu begegnen.
• George W. Bush (20.1.2001–20.1.2009) Er unternahm trotz wiederholter Warnungen in der Zeit vor dem 11. September nichts gegen die Bedrohung durch al-Qaida und erntete dann nach den Anschlägen mit offensichtlichen, aber unzureichenden Maßnahmen politische Lorbeeren. (Clarke, Against all Enemies, S. XXIV)
Zu Bill Clinton und George W. Bush sei noch angemerkt, dass Richard Clarke unter diesen beiden Präsidenten für die Terrorismusbekämpfung zuständig war und in dieser Zeit nicht durch irgendeine Art von Aktivismus oder besondere Tätigkeit auffiel. Seine Kritik ist zwar berechtigt, doch aus seinem Mund wirkt sie eher wie der Versuch, die eigene Untätigkeit zu kaschieren bzw. sich selbst reinzuwaschen.
Der nach dem 11. September beginnende Afghanistan-Krieg, der schließlich 20 Jahre dauerte, hätte nicht geführt werden müssen, wenn die Regierung Clinton es nicht versäumt hätte, bin Laden zu töten, obwohl sie mehrfach die Gelegenheit dazu hatte. Der ehemalige Präsident Clinton brachte dieses Thema in die Kongresswahlen 2006 ein, indem er gegenüber Chris Wallace von Fox News erklärte, dass seine Regierung jede sich bietende Gelegenheit genutzt habe, um Osama bin Laden und die von ihm ausgehende Gefahr zu beseitigen. Das war zwar gelogen, aber immerhin gab er zu, dass er versagt habe, so Michael Scheuer. Er, Bill Clinton, fügte hinzu, dass sein Nationales Sicherheitsteam der nachfolgenden Bush-Regierung einen vollständigen Masterplan für die Invasion Afghanistans, den Sieg über die Taliban und die Beseitigung bin Ladens und al-Qaidas hinterlassen habe. Clinton bezeichnete diesen Plan als „umfassende Anti-Terrorismus-Strategie“. Michael Scheuer zufolge war auch dies eine Lüge von Bill Clinton, denn es gab keinen Masterplan, den die Clinton-Regierung für die nachfolgende Bush-Regierung hinterlassen hätte. Allerdings hatte das Militär eine Liste mit Zielen in Afghanistan erstellt, die sofort hätten angegriffen werden können, doch Clinton wollte diese Liste nicht nutzen wegen der beginnenden Präsidentschaftswahl, aus der er das Thema heraushalten wollte.
Nach dem al-Qaida-Anschlag auf die USS Cole am 12. Oktober 2000, so Michael Scheuer, wies der Nationale Sicherheitsrat (NSC) die CIA und andere zuständige Dienste an, eine stets aktuell zu haltende Liste von Taliban- und al-Qaida-Zielen in Afghanistan zu erstellen, die vom US-Militär angegriffen werden könnten, falls bin Laden erneut US-Interessen verletze. Diese NSC-Direktive beruhte auf dem Konzept „Wenn Al-Qaida erneut US-Interessen angreift“, was belegte, dass die Mitglieder von Clintons Nationalem Sicherheitsrat, die sich mit Terrorismusabwehr befassten, die Urheberschaft al-Qaida am Cole-Anschlag für erwiesen hielten. Was auch immer der Grund für Präsident Clintons Entscheidung war, nicht militärisch auf den Beinahe-Untergang der Cole zu reagieren: Es lag nicht an fehlenden Erkenntnissen, die auf al-Qaida hinwiesen. Es könnte auch sein, dass der Director of Central Intelligence, George Tenet, sowie hochrangige FBI-Beamte, die mit Präsident Clinton und seinem Stab in dieser Angelegenheit zu tun hatten, spürten, dass das Weiße Haus nicht mitten in den Präsidentschaftswahlen einen Krieg in Afghanistan beginnen wollte. (Scheuer, Marching Toward Hell, S. 102–104)
So groß die Versäumnisse der Clinton-Regierung nach dem Cole Anschlag auch gewesen sein mögen – die neue Bush-Regierung verwarf die Zielliste des Militärs aus der Clinton-Ära noch vor dem 11. September und gab damit freiwillig die einzige gut vorbereitete Grundlage für einen sofortigen Vergeltungsschlag der USA auf. (Scheuer, Marching Toward Hell, S. 105)
Krisensitzungen
Noch am Abend des 11. September wurde der Präsident wieder nach Washington zurückgeflogen. Die erste Sitzung zur Erörterung der Anschläge begann um 21.30 Uhr im Presidential Emergency Operations Center (Notfall-Operationszentrum), einem Raum im Bunker des Weißen Hauses. Die Kabinettsmitglieder wurden von Geheimdienstmitarbeitern durch dicke Panzertüren und einen langen unterirdischen Tunnel unter dem Ostflügel geführt, wo sich der Bunker befindet. Die Sitzung war kurz und konzentrierte sich hauptsächlich auf die Schäden.
Am Morgen des 12. September trat der Nationale Sicherheitsrat erneut zusammen. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und sein oberster Stellvertreter Paul Wolfowitz drängten sofort auf einen Krieg mit Saddam Hussein, nachdem sie dieses Thema bereits am Vorabend angesprochen hatten. Bush sagte: „Moment mal, ich habe kein Wort darüber gehört, dass er für den Angriff verantwortlich sei.“ Wolfowitz und Rumsfeld versuchten, die Katastrophe vom 11. September zu nutzen, um den Sturz Saddams zu forcieren.
Am 15 September, einem Samstag, traf sich das Kabinett in Camp David, Maryland. Rumsfeld wollte mehr Staaten angreifen als nur Afghanistan: auch die Sponsoren von Terrorismus, wie etwa den Irak, Libyen und auch den Sudan. Wolfowitz zufolge muss bin Laden die Unterstützung eines Landes gehabt haben, etwa des Irak, um einen solchen Angriff durchzuführen. Wolfowitz war überzeugt, Saddam Hussein sei der Kopf der Schlange, doch der CIA-Vertreter widersprach ihm: Saddam habe nichts mit den Anschlägen zu tun.