Stadt, Land, Volk - Michael Bröning - E-Book

Stadt, Land, Volk E-Book

Michael Bröning

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Beschreibung

Vor 100 Jahren wurde mit der Weimarer Verfassung die erste Demokratie auf deutschem Boden gegründet. 100 bewegte, teilweise ausgesprochen undemokratische Jahre. Und heute? Welche Visionen haben wir für die Zukunft unseres Zusammenlebens in einer Zeit, in der viele Menschen das Zutrauen in die Demokratie verloren haben und die Gesellschaft immer mehr von Partikularinteressen zerrissen wirkt? Und wer soll diese Zukunft wie gestalten? "Das Volk", wen auch immer man darunter fasst, oder demokratisch gewählte Volksvertreter? Nationalstaaten? Europa oder die globale Weltgemeinschaft? "Staat und Nation sind Erfolgsmodelle und Basis für ein starkes Europas in einer multipolaren Welt", sagt der Linke Michael Bröning. "In einer pluralen, vielschichtigen Gesellschaft wie unserer gibt es mehr als eine Nation", sagt der Konservative Michael Wolffsohn. Und er beobachtet eine fundamentale Verunsicherung der Entscheidungsträger in unserer Zeit. Wo sind die handlungsfähigen Gestaltungskräfte für unser zukünftiges Zusammenleben? Und was ist das eigentlich, die Nation, der sich wissenschaftlichen Studien zufolge 86 Prozent der Weltbevölkerung emotional verbunden fühlen? Eine zufällige Geburtengemeinschaft? Eine staatliche Organisationsstruktur im Sinne eines Nationalstaates oder eine Wertegemeinschaft im Sinne einer Kulturnation? Ein hochaktuelles Streitgespräch zwischen zwei brillanten Köpfen unserer Zeit: Michael Bröning und Michael Wolffsohn. Anregend, aufrüttelnd und unbedingt lesenswert.

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Michael Bröning | Michael Wolffsohn

Stadt, Land, Volk

Ein Streitgespräch über die Zukunft der Demokratie

Herausgegeben von Reinhard Bingener

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 by edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Elina Hartlaub, Frankfurt/Main

Innenlayout: makena plangrafik, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-96038-202-7

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Der Ausgangspunkt dieses Buches ist die Beobachtung, dass Deutschland und Europa in eine Zeit des beschleunigten Wandels eingetreten sind. Dieser Eindruck speist sich aus mehreren Quellen: Es ist gar nicht lange her, dass in Meinungsartikeln die Klage geführt wurde, über das Land habe sich eine bleierne Stille und apolitische Langeweile gelegt. Solche Stimmen sind mit der Flüchtlingskrise und der darauf folgenden innenpolitischen Polarisierung schlagartig verstummt. Stattdessen hat sich in der Gesellschaft ein Gefühl der Verunsicherung breitgemacht, das allerdings nicht allein mit der Migration zu erklären ist. Der rasante Wandel durch die Digitalisierung trägt dazu ebenso bei wie der Klimawandel, dessen Folgen in zunehmendem Maß greifbar werden.

Auch auf geopolitischer Ebene deutet sich ein Umbruch an. Dass der seit dem Zweiten Weltkrieg bestehende Grundkonsens zwischen Westeuropa und Nordamerika in Fragen der Sicherheits- und Handelspolitik nicht mehr ohne Einschränkung gilt, ist dafür wohl nur ein Symptom. Der eigentliche Grund liegt darin, dass die bisher dominante Rolle dieser beiden Regionen in der Welt zur Disposition steht. Der im Jahr 1992 vom Politikwissenschaftler Francis Fukuyama als »Ende der Geschichte« proklamierte Sieg von liberaler Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft scheint hinfällig. Russland, vor allem aber China haben sich aufgemacht, mit eigenen Ordnungsmodellen in eine neue Systemkonkurrenz einzutreten.

Das politische Geschehen scheint sich somit gleich auf mehreren Ebenen neu zu sortieren. Unter der Überschrift »Stadt, Land, Volk« möchte dieses Buch einen nüchternen, analytischen Blick auf diesen Wandel werfen. Der Buchtitel will deutlich machen, dass sich die Veränderungen nicht nur in der abstrakten Ferne transnationaler Institutionen abspielen, sondern oftmals vor Ort mit Händen zu greifen sind: Dörfer, ja ganze Landstriche veröden und verlieren massiv an Bevölkerung, während sich die Städte zu kulturellen Schmelztiegeln wandeln, die auf die einen bunt und dynamisch wirken, auf andere hingegen konfliktreich und abstoßend. Alte Identitätsmuster lösen sich auf, neue entstehen in beinahe spielerisch wirkender Kombinationslust. Auch dieser Prozess verläuft keineswegs konfliktfrei. In den europäischen Gesellschaften werden in neuer und verschärfter Form Fragen der Zugehörigkeit verhandelt: Wer darf ins Land hineinkommen, wer dauerhaft bleiben? Definiert sich Identität über den Reisepass, über das Grundgesetz oder muss dafür eine Leitkultur formuliert werden? Soll der künftige Ordnungsrahmen ein nationaler oder ein europäischer sein?

Über diese und andere Themen soll im folgenden Gespräch mit Prof. Dr. Michael Wolffsohn und Dr. Michael Bröning debattiert werden. Das Wagnis, aber auch der Reiz dieses Buches besteht darin, dass hier keine Extrempositionen in einen kurzatmigen Schlagabtausch gehetzt werden. Wolffsohn und Bröning argumentieren zwar von grundverschiedenen Positionen aus, aber sie lassen sich beide nicht in die hergebrachten Schablonen von links und rechts, progressiv und konservativ pressen, sondern stehen an wichtigen Punkten quer zu den gewohnten Fronten.

Michael Bröning hat die politische Linke, der er sich verpflichtet fühlt, in seinem vielbeachteten Buch »Lob der Nation« nachdrücklich davor gewarnt, den Nationalstaat als überholt oder gestrig zu belächeln und damit letztlich dem politischen Gegner zu überlassen. Als Leiter des Referats für internationale Politikanalyse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung scheut Bröning auch nicht davor zurück, über die Nachteile einer ungesteuerten Einwanderung zu sprechen, gerade weil er an klassischen linken Positionen wie gesellschaftlicher Solidarität durch Umverteilung festhält und den Sozialstaat bewahren möchte.

Das Denken von Michael Wolffsohn ist im Unterschied zu Bröning von einer Kombination aus liberalen und konservativen Grundannahmen geprägt. Das politische Ideal des bekannten Historikers ist ein leistungsfähiger, aber schlanker Staat, der den Freiraum seiner Bürger möglichst wenig einschränkt. Dies kann, muss aber nicht unbedingt im Rahmen eines Nationalstaats geschehen. Zudem hält Wolffsohn die Nationalstaaten für viel fragiler als weithin angenommen. Die Föderalisierung bestehender Staaten ist für Wolffsohn ebenso wenig ein Schreckgespenst wie eine verstärkte transnationale Kooperation.

Gemeinsam ist beiden Gesprächspartnern, dass ihr politisches Denken nicht in Maximalforderungen mündet oder einen für alle Zeiten geltenden Endzustand anstrebt. Bröning und Wolffsohn wollen mit ihren politischen Analysen nicht nach Utopia führen. Ihr Ziel ist bescheidener, aber deshalb auch humaner: Es geht darum, einen Ordnungsrahmen zu finden, in dem sich die vorfindlichen Strömungen und Kräfte der europäischen Gesellschaften friedlich zusammenführen lassen.

Gewürdigt werden sollen an dieser Stelle diejenigen, die den Anstoß zu diesem Buch gegeben haben und ohne deren stetiges Zutun es nicht zustande gekommen wäre: Dr. Annette Weidhas, Programm- und Verlagsleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt (EVA), sowie Annegret Grimm, Programmleiterin des EVA-Imprints edition chrismon. Die Autoren und der Herausgeber sagen beiden für ihr Engagement herzlichen Dank.

Reinhard BingenerJanuar 2019

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. Herausgeforderte Demokratie

2. Gesellschaftliche Spaltungen

3. Epochenfrage Migration

4. Der Staat und seine Grenzen

5. Völker, Nationen, Minderheiten

6. Deutschland, Europa und die Welt

Über die Autoren

1. Herausgeforderte Demokratie

BINGENER:Lieber Herr Wolffsohn, lieber Herr Bröning, am 9. November 2018 wurde von diversen Balkonen Europas die Europäische Republik ausgerufen und das Ende der Nationalstaaten proklamiert. Vermutlich haben Sie von diesem »European Balcony Project« im Schnittfeld von Kunst und Politik gehört. Was halten Sie davon – ist das eine zukunftsweisende Idee oder eine Illusion?

WOLFFSOHN: Der Gedanke scheint sympathisch, ist aber vollkommen unrealistisch. Die Balkonengeste ist schön, weil damit natürlich an die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann erinnert wird oder an den »Gegenbalkon« von Karl Liebknecht. Die Idee ist deshalb so sympathisch, weil sie sich von der Fokussierung auf den Nationalstaat löst, von der Notwendigkeit einer funktionalen Zusammenarbeit ausgeht und nationale Urteile und Vorurteile überwinden will. Aber die Wirklichkeit sieht, fürchte ich, so aus, dass es in Europa eher zu einer Re-Regionalisierung und Re-Nationalisierung kommen wird. Re-Nationalisierung muss nicht von vornherein negativ sein, aber die Erfahrung zeigt: Nationalismen neigen zu Extremformen. Gegen einen aufgeklärten Nationalismus, Patriotismus oder wie immer man das nennen will, ist an sich nichts zu sagen. Punktum: sympathisch, aber unrealistisch.

BRÖNING: Ich sehe das durchaus kritischer: Das wäre sympathisch, wenn es nicht so gefährlich wäre.

BINGENER:Die Initiatoren des Projekts, zu denen der Autor Robert Menasse und die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot gehören, schreiben: »Europäer ist, wer es sein will. Die Europäische Republik ist der erste Schritt auf dem Weg zur globalen Demokratie.« Was ist daran gefährlich?

BRÖNING: Das Projekt ist gefährlich, weil jede Umfrage zeigt, dass eine Europäische Republik auf den Trümmern der Nationalstaaten genau das ist, was die meisten Menschen in Europa nicht wollen. Die Aktivisten des Balcony Project wären deshalb nur erfolgreich, wenn sie sich im nächsten Schritt daranmachten, das Volk aufzulösen und sich ein neues zu wählen, um mit Bert Brecht zu sprechen. Deshalb versinnbildlicht die Aktion für mich genau die Art von »Hurra-Europäismus«, die nicht Teil der Lösung ist, sondern Teil des Problems. Und es ist traurig, ja letztlich ironisch, dass Europa auf diesem Weg nicht nur von den Rechtspopulisten infrage gestellt wird, sondern unbeabsichtigt auch von Europafreunden, die in ihrer visionären Begeisterung nicht verstehen, dass man manchmal eher weniger Europa braucht, um die europäische Idee zu sichern. Noch utopischer ist dabei die Vision einer globalen Demokratie. Ja, demokratische Staaten weltweit wären ein Segen. Aber ein demokratischer Weltstaat? Ein solcher wäre nicht nur ein bürokratisches Monstrum, sondern würde Selbstbestimmung unmöglich machen. Wie sollen in einem Weltstaat politische Präferenzen abgebildet werden? Pluralismus und Diversität jedenfalls ließen sich in einem solchen Gebilde kaum sicherstellen. Und: Bilden wir die Weltregierung dann mit Putin, Trump, Erdogan, dem brasilianischen Präsidenten Bolsonaro und Kim Jong-un?

BINGENER:Sie sehen also Europa und seine Staaten nicht nur von seinen Feinden bedroht, sondern auch von seinen vermeintlich besten Freunden. Aber wie groß ist die Gefahr? Herr Wolffsohn, Sie halten politische Systeme ja generell für deutlich fragiler, als man gemeinhin annimmt.

WOLFFSOHN: Jede Gesellschaft an sich ist fragil, weil sie immer vielschichtig ist. Die »eine Nation« ist eine Fiktion. Wir haben, um es marxistisch zu formulieren, den Gegensatz von Klassen, wir haben den Gegensatz von Religionen, Ideologien, Sprachen und anderem. Letzteres schien in den weitgehend heidnisch gewordenen deutschen und westeuropäischen Gesellschaften völlig vergessen worden zu sein, aber der Rest der Welt ist eben a) größer und b) anders programmiert. Wo auch immer ich hinschaue, sehe ich dramatische Unterschiede. Deswegen ist es notwendig, auch aus funktionalen und aus Gründen der Zivilität, den Menschen vor dem Menschen zu schützen, Mechanismen zu entwickeln oder zu stärken, die einen Crash der verschiedenen politischen Einheiten verhindert.

Ich bin aber nicht der Ansicht, dass wir dafür mehr plebiszitäre Elemente wie Volksabstimmungen usw. einführen sollten, im Gegenteil: Wir haben zu wenig repräsentative Demokratie und zunehmend zu viele außerinstitutionelle politische Auseinandersetzungen. Denn solange die gesellschaftlichen Gegensätze in den Institutionen ausgetragen werden, gilt die Formel: Worte statt Waffen. In dem Augenblick, in dem die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen außerhalb der Institutionen, sprich den Parlamenten, stattfinden, kommt es – strukturell programmiert – zu Gewalttätigkeit. Das halte ich für ein Krisensymptom.

Die diversen Demonstrationen und Gegendemonstrationen und die Zunahme von Gewalt dabei – sei es durch rechts- oder linksextremistische Randale, sei es durch sozialpolitisch motivierte Aufstände wie die der Gelbwesten in Frankreich – sind Krisenzeichen. Und die überall zu beobachtende Zunahme der Nutzung plebiszitärer Elemente durch Verantwortliche der repräsentativen Demokratie bekämpft nicht etwa die Krise, sondern vertieft sie. Denn auf diese Weise zählen faktisch Stimmungen mehr als die Stimmen der für vier oder fünf Jahre gewählten politisch Verantwortlichen. Aus dem Instrument der Partizipation und damit der Pazifikation erwächst also eine Destabilisierung. Das ist eine Entwicklung, die mich beunruhigt.

BINGENER:Teilen Sie diese Analyse, Herr Bröning? Und wie sieht es auf der europäischen Ebene aus? Wie fragil ist das europäische Projekt?

BRÖNING: Ich würde mich der Analyse nur zum Teil anschließen. Zentral ist, dass politische Konflikte innerhalb des politischen Systems ausgetragen werden. Dabei geht es aber auch darum, Gesellschaften so abzubilden, dass möglichst breite Strömungen erfasst werden. Doch die demokratische Mitte muss halten. Ich bin vor allem in Sorge, wenn ich mir die Entwicklung in den Vereinigten Staaten anschaue. Die sogenannte populistische Revolte in Deutschland und in Europa hat sich ja lange Zeit außerhalb der etablierten Systeme abgespielt. Die etablierten Parteien wurden umgangen, und es wurden ganz neue Bewegungen gegründet, eben zunächst außerparlamentarische. In den Vereinigten Staaten hat es das genauso gegeben, aber nun hat das System die Revolte absorbiert. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist wahrscheinlich, wie die republikanische Partei von Donald Trump übernommen wurde. Aber auch die Demokraten rücken derzeit weit nach links. Die Folge ist politische Dysfunktionalität. Wenn Sie sich anschauen, wie kooperationsunfähig die beiden politischen Parteien in den USA geworden sind, wird klar, dass das reine Abbilden der Spaltung innerhalb des Systems auch kein Allheilmittel ist. Politik funktioniert nur, wenn ein gesellschaftlicher Grundkonsens besteht. Und der wird derzeit zum Teil infrage gestellt. Deshalb ist unsere Demokratie fragiler geworden. Es hat nichts mit »Diskurs« zu tun, wenn der Gegner wahlweise als Volksverräter oder als Faschist diffamiert wird. Diese Polarisierung geht zu weit.

Allerdings muss man unterscheiden, ob Staaten oder ob unsere Demokratien fragil sind. Die Staatsgebilde selbst halte ich nicht für fragil, im Gegenteil. Das Ableben der Nationalstaaten ist schon hundertmal besungen worden von Karl Marx bis zu den Hohepriestern des Neoliberalismus. Aber Staaten sind Konstrukte, die offenbar nicht vergehen wollen, sondern ziemlich robust sind. Im Hinblick auf die Regierungsform »Demokratie« sieht das anders aus. Hier steht Europa vor deutlichen Herausforderungen, und zwar von zwei Seiten her. Wenn man sich die aktuellen Wahlergebnisse in Ungarn, Polen, Österreich, der Schweiz, Schweden oder Dänemark anschaut, sieht man eine „populistische“ Revolte von Leuten, die – überspitzt gesagt – antiliberal, aber nicht immer undemokratisch sind. Sie fordern ja mehr direkte Demokratie, mehr Referenden, und zugleich mehr Nationalstaat, weniger Brüssel, weniger Migration, weniger Minderheitenrechte. Auf der anderen Seite, und das wird oft übersehen, erleben wir aber das, was Yascha Mounk von der Universität Harvard als »antidemokratischen Liberalismus« bezeichnet. Hier ist manch einer mittlerweile bereit, demokratische Prinzipien infrage zu stellen, wenn es nur darum geht, das zu verteidigen, was als politisch »fortschrittlich« gilt. Daraus erwachsen dann Forderungen, der eigenen Überzeugung zuwiderlaufende Referenden zu ignorieren, Abstimmungen so lange zu wiederholen, bis das Ergebnis passt, oder unliebsame Stimmen gleich ganz zu verbieten. Auch wenn diese Position vom Wunsch getragen sein mag, das vermeintlich Gute, Wahre und Schöne anzustreben, birgt sie in sich einen undemokratischen Kern. Deswegen sehe ich von zwei Seiten her eine Entwicklung, die den demokratischen Grundkonsens angreift – auch wenn ich beide Trends nicht gleichsetzen will. Darüber hinaus aber sorge ich mich um die Zukunft der Demokratie, wenn ich mich frage, was eigentlich nach der aktuellen populistischen Welle kommt.

BINGENER:Ist die Erosion des vorpolitischen Konsenses über Werte und Umgangsformen der eigentliche Kern des Problems?

WOLFFSOHN: Jeder gesellschaftliche Konsens ist meines Erachtens eine Fiktion, wenn auch eine sehr sympathische Fiktion. Als Historiker versuche ich, die Wirklichkeit als Wirklichkeit zu erkennen. Ich spreche nicht von Objektivität, sondern vielmehr von dem Versuch, den realen Charakter der Wirklichkeit zu erkennen und scheinbar widersprüchlich zu formulieren. Wo gab es denn – historisch betrachtet – wann einen echten Konsens, einen allgemeinen Wertekonsens? Einen Regelkonsens zu erreichen, halte ich hingegen für unverzichtbar. Das Beispiel, das mir in diesem Zusammenhang immer einfällt, ist der Straßenverkehr. Wir können nicht beschließen, den Linksverkehr einzuführen, nur weil Herr Bröning oder ich den vielleicht lieber hätten. Das ist einfach nicht möglich, da gäbe es zu viele Geisterfahrer, was dysfunktional wäre. Ein Regelkonsens ist also unverzichtbar und muss durchgesetzt werden. Das kann nur eine administrative Einheit, die über das Gewaltmonopol verfügt – und die nennt man Staat. Deswegen sind alle Totsagungen von oder Mordabsichten an Staatsgewalt als solche absurd, denn man braucht eine administrative Einheit. Je größer die Menschenzahl, desto notwendiger ist eine steuernde funktionale Monopolinstitution. Das ist der Staat. Erster Punkt.

Zweiter Punkt: Es kann und wird zwischen vielen unterschiedlichen Menschen niemals einen allumfassenden Konsens geben. Ich brauche also ein Regulativ. Das ist der Staat, und der Staat muss funktionierende Institutionen haben. Die bedauerliche, aber realistische Grundüberlegung dabei ist: Jede Gesellschaft befindet sich in einem permanenten Bürgerkrieg. Das heißt in der Regel nicht, dass man zu den Waffen greift, aber Andersdenkende und Andershandelnde sind tatsächlich Gegner. Im individuellen, alltäglichen Bereich und erst recht im politischen könnte man mit Thomas Hobbes sagen: Jeder Mensch ist des anderen Wolf. Schreckliche Situation, aber es war nie anders. Auch nicht in früheren nationalen Gesellschaften, selbst dann nicht, wenn sie kulturell homogener waren als heute. Genau betrachtet, gibt es keine homogenen Gesellschaften, Menschen sind immer verschieden, was auch gut so ist. Wie können wir also die notwendige Inhomogenität einer Gesellschaft so steuern, dass sie produktiv bleibt, dass die Vielfalt, die wir alle wollen, nicht in Destruktion umkippt? Letztlich nur durch eine administrative Einheit mit all ihren Institutionen und Steuerungselementen für Auseinandersetzungen, die wir Staat nennen. Die »Feindschaften«, die in den Institutionen ausgetragen werden, sind das reale Abbild der Gesellschaft, nur minus Waffen – und das ist der entscheidende Punkt. Diesen zivilisatorischen Konsens halte ich für unverzichtbar.

Historisch betrachtet, erleben wir im Moment eine ganz normale wellenartige Bewegung: Immer nach großen Katastrophen sieht ein größerer Teil der jeweiligen Gesellschaft ein, dass es nicht noch einmal so katastrophal werden darf, wie es vorher war, um dann wieder die Vorzüge dieses funktionalen Konsenses zu vergessen und – nennen wir es aus Übermut – die Errungenschaften der repräsentativen Demokratie, die wir in Deutschland und Westeuropa nach enormem Blutvergießen erreicht haben, wieder aufs Spiel zu setzen.

BRÖNING: Mag sein, aber bei aller gesellschaftlicher Auseinandersetzung, wie wir sie jetzt erleben, sollte man verstehen, dass Streit der Normalfall ist. Ich würde deshalb davor warnen, das Lied auf den nahen Weltuntergang anzustimmen, weil wir die Lehren der Geschichte vergessen hätten und jetzt wieder so furchtbar gemein zueinander seien. Ich bin zwar noch etwas jünger als Sie, Herr Wolffsohn, aber ich meine, in den 1970er und 1980er Jahren hat das Ausmaß der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wahrscheinlich über dem heutigen Niveau gelegen. Denken Sie an den Kampf um die Startbahn West, um Wackersdorf oder die Ostverträge Willy Brandts. Im Deutschen Herbst wurden Menschen entführt und ermordet. In den 1920er Jahren gab es Straßenschlachten. Sie können noch weiter zurückgehen zum Dreißigjährigen Krieg. Kurzum: Die Geschichte Europas ist nicht wirklich die Geschichte von eitel Sonnenschein. Gesellschaftliche Polarisierung, wie wir sie heute erleben, ist deswegen möglicherweise eher der Normalfall und das, was wir in den vergangenen dreißig Jahren erlebt haben, eher die Ausnahme. Vielleicht eine Art von kurzzeitiger Euphorie über das Ende des Kalten Krieges? Die Auseinandersetzungen, die wir jetzt zu den Fragekreisen Globalisierung und Migration erleben, sind zwar intensiv, aber nicht grundsätzlich neu. Und sie sind legitim. Es ist ja nicht schlimm, dass Menschen miteinander streiten, so gehört sich das erst einmal. Wer das nicht versteht, braucht Nachhilfe im Einmaleins der Demokratie.

Wichtig aber ist, dass ein Werterahmen existiert. An dem von Ihnen, Herr Wolffsohn, angeführten Beispiel Straßenverkehr wird das deutlich. Der erste Paragraf der Straßenverkehrsordnung spricht von gegenseitiger Rücksichtnahme. Was das aber ist, können Sie nicht definieren. Weil Rücksichtnahme fallabhängig ist und von jedem anders interpretiert wird. Trotzdem ist sie das Gerüst, auf dem alles beruht. Und das ist letztlich ein Wert: Rücksicht aufeinander zu nehmen. Das zeigt, wie sehr wir einen Wertekonsens brauchen. Diese Werte aber müssen gesellschaftlich vereinbart werden. Und dafür ist ein gemeinsamer Blick auf die Realität unerlässlich. Wenn wir diesen fördern, kann das gelingen. Deswegen ist es bei aller Sorge um die Demokratie für Pessimismus zu früh. In der politischen Landschaft in Deutschland weist vieles darauf hin, dass der Nerv noch lebt: Wir sehen neue Parteigründungen, wir sehen, dass sich das Parteiensystem neu ausbuchstabiert. Wir sehen neue gesellschaftliche Initiativen und haben ein breites politisches Spektrum im Land. Bei »Pulse of Europe« setzen sich junge Leute für ein geeintes Europa ein, und bei Pegida-Demonstrationen wird die genau entgegengesetzte politische Richtung formuliert. Wir sehen, dass die Wahlbeteiligung steigt, dass die Leute nicht sagen, ich lege die Hände in den Schoß, das geht mich alles nichts an. Nein, sie gehen zu Abstimmungen und beteiligen sich. Da ist sehr viel Lebendiges, und ich halte das auch für ein positives Zeichen. Es zeigt, dass wir in unserer Krisendiagnose nicht zu weit gehen dürfen. Wir brauchen einen Konsens, und das, was jetzt gerade passiert, ist der Versuch der Gesellschaft, ihn auszuhandeln.

BINGENER:Sie werfen damit eine ganz wichtige Frage auf: Wie tief reicht eigentlich die Krisendiagnose? Es mutet auf den ersten Blick merkwürdig an, wenn heute Leute auf ihrer Couch über den bevorstehenden Untergang des Systems fabulieren, kurz nachdem sie ihr SUV in der Garage geparkt haben.

WOLFFSOHN: Die Krisendiagnose ist als solche falsch. Die Frage ist doch: Was verstehen wir unter einer Krise? Wenn wir Krise definieren als nicht vorhandene Stabilität, dann kann man nur feststellen: Stabilität kann es und soll es nicht geben in einer menschlichen Gesellschaft, denn Anpassung und Entwicklung ist etwas ganz Natürliches. Ich muss da jetzt sicher nicht mit Biologismen kommen und die Evolution als Beispiel anführen, aber im Grunde genommen ist es so. Das Gerede über Krise sollte man realistisch historisch einordnen. Wir kriseln auf einem relativ hohen Niveau. Die Welt ist schlecht, aber nie war sie so gut wie jetzt, zumindest für uns in Deutschland und Westeuropa. Das Feststellen einer Krise ist eigentlich mehr die Angst vor Kommendem. Aber jenseits dieses eher optimistischen Einschätzens gibt es natürlich eine faktisch neue Entwicklung: Die Zunahme von Gewalt als gesellschaftliches Phänomen ist im Vergleich zur westeuropäischen Situation nach 1945 unbestreitbar.

BINGENER:Woran machen Sie das fest?

WOLFFSOHN: Ich meine beispielsweise den Terror. Oder gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links, seien sie in Hamburg beim G20-Gipfel oder in Chemnitz oder, oder, oder. Und das wiederum hängt mit einer anderen Form der Instabilität zusammen, nämlich mit der demografischen Revolution, in der wir uns jetzt befinden. Übrigens nicht erst seit 2015, sondern im Grunde genommen seit dem Prozess der Entkolonialisierung nach 1945. Um es am Beispiel Frankreich zu illustrieren: Die Unabhängigkeit von Tunesien und Marokko 1956 und Algerien 1962 zog einen Exodus aus den nordafrikanischen Staaten nach sich. Nicht nur von den Exkolonialisten, sondern eben auch von der einheimischen Bevölkerung, die erkannte, dass das Leben in Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht, immer noch besser ist als das in den neuen unabhängigen Staaten.

BINGENER:Migration ist also ein Teil des Problems?

WOLFFSOHN: Ja und nein, Migration hat mehrere Elemente: Entkolonialisierung, Arbeitsmigration, Kriege und Bürgerkriege. Migration ist sozusagen ein Sammelbegriff. Und durch die Migration, um beim Sammelbegriff zu bleiben, haben wir eine demografische Revolution. Das ist aber wiederum historisch betrachtet »nur« ein neuer Faktor der ständigen Instabilität von Gesellschaften. Und es bedarf nach jeder Veränderung, sei sie revolutionär oder nicht, einer Anpassung. Das ist überhaupt nichts Neues. Neu ist die enorme Quantität der Migration, die zu einer deutlichen Zunahme unterschiedlicher Lebensvorstellungen geführt hat. Neu ist auch das Fehlen eines Regelkonsenses zwischen Migranten und Einheimischen. Denn die Migranten kommen weitgehend aus Regionen, in denen es gar keine Institutionen gegeben hat, durch die man beispielsweise den institutionellen zivilisatorischen Konsens »Worte statt Waffen« hätte einüben können. Das wiederum führt zu einer Radikalisierung der ohnehin schon tendenziell gewalttätigeren Teile der Bevölkerung. Und daher haben wir eine Zunahme der Gewalt, die tatsächlich mit der demografischen Revolution zu tun hat. Wie kann man das regulieren? Ist das nur eine funktionale Frage oder auch eine Frage der Werte?

Um zum Straßenverkehr zurückzukommen: Nehmen wir die Rücksichtnahme. Rücksichtnahme ist doch ein anderes Wort für das, und jetzt kommen wir tatsächlich in die Wertediskussion, was in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 formuliert worden ist: Jeder Mensch hat das Recht auf »Life, Liberty and the Pursuit of Happiness«. An erster Stelle steht das Leben. Was heißt das? Die Würde des Menschen, präziser: das Leben des Menschen ist unantastbar. Das ist ein hoher Wert. Und der muss funktional gesichert werden. Administrativ in den verschiedensten Bereichen durch den Staat, im Straßenverkehr durch die Straßenverkehrsordnung, in der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung dadurch, dass man Streit so zivilisiert, dass der Schutz des Menschen vor dem Menschen, also Zivilisation im Sinne von Norbert Elias