Vom Ende der Freiheit - Michael Bröning - E-Book

Vom Ende der Freiheit E-Book

Michael Bröning

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was bedeutet Freiheit in Zeiten der Pandemie? Ist der Kampf gegen den Klimawandel zwangsläufig ein Kampf gegen freie Selbstbestimmung? Wie kann eine offene Debatte unter Bedingungen der totalen Vernetzung und der allgegenwärtig beschworenen politischen Alternativlosigkeit verteidigt werden? Und: Wer schützt unsere Gesellschaften vor dem schleichenden Gift identitätspolitischer Spaltung? Freiheit und Demokratie stehen unter Druck – weltweit. Doch oft wird übersehen: Nicht nur Rechtsextremisten und religiöse Fundamentalisten stellen Autonomie und Gleichheit in Frage. Auch Teile der politischen Linken wenden sich immer häufiger gegen das Prinzip der Freiheit. Ausmaß, Hintergründe und die brisanten Folgen durchleuchtet Michael Brönings so klarsichtiger wie streitbarer Zwischenruf. Höchste Zeit, die Freiheit als Kern des demokratischen Versprechens wiederzuentdecken!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 185

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Einem bestens gealterten Ehepaar an der Kieler Förde und den Buchläden in meiner Nachbarschaft, die von mir über Wochen systematisch wie öffentliche Bibliotheken behandelt wurden.

Michael Bröning

Vom Ende der Freiheit

Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0625-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8012-7035-3 (E-Book)

1. Auflage 2021

Copyright © 2021 by

Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Lektorat: Eckard Schuster

Umschlag: Hermann Brandner | gabor’s, Köln

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1 Einführung: Im perfekten Sturm der Freiheit

Kapitel 2 Freiheit und die neue Normalität der Pandemie

Kapitel 3 Freiheit und die Fesseln der Identität

Kapitel 4 Freiheit und die Zumutung der Andersdenkenden

Kapitel 5 Freiheit und die digitale Gesellschaft

Kapitel 6 Freiheit und die Alternativlosigkeit der Klimakrise

Kapitel 7 Ausblick: Von wahren, falschen und fehlenden Freunden der Freiheit

Dank

Über den Autor

Kapitel 1 Einführung: Im perfekten Sturm der Freiheit

Die Freiheit hat allzu viele Feinde, viel zu wenige Freunde – und dann auch noch meist die falschen. Ein Hoch auf die Freiheit: Das hat heute den Nimbus der Unangemessenheit – wenn nicht der Subversion. Ist nicht der Ruf nach Freiheit mittlerweile die letzte Ausrede all jener Ewiggestriger, die unter Selbstverwirklichung schon immer einen Blankoscheck für das Loslassen des inneren Schweinehunds verstanden haben?

Freiheit, das klingt in Zeiten der Pandemie auch nach einer Absage an Rationalität, ja, nach einer trotzigen Ablehnung sogar von Wissenschaft und objektiven Fakten. Wenn man Begriffe über ihre Anhänger definiert, erscheint das Beschwören der Freiheit geradezu als letztes Bollwerk all jener, die den Anschluss an die Komplexitäten der Wirklichkeit schon länger eingebüßt haben.

Sicher, der zweite Artikel unseres Grundgesetzes garantiert die »freie Entfaltung der Persönlichkeit«. Und auch in der Europäischen Union ist Freiheit als Grundwert fest und vertraglich verankert. Doch das Konzept der Freiheit ist ideologisch nach rechtsaußen gewandert. In den Niederlanden und in Österreich stehen die rechtspopulistische »Partei für die Freiheit« beziehungsweise die »freiheitliche« FPÖ schon mit ihren Parteinamen vermeintlich für die Freiheit. Im Europäischen Parlament haben sich die rechtspopulistischen Parteien gar in einer Fraktion zusammengeschlossen, die den programmatischen Namen »Europa der Nationen und der Freiheit« trägt. Die Fraktionsgründung bejubelte der niederländische Rechtsaußen Geert Wilders euphorisch als »Beginn unserer Befreiung«.

Und in Deutschland? Auch hier ist das Lob auf die Freiheit an den rechten Rand gerückt. Im Wochentakt versammeln sich rechte Vordenker in der Wochenzeitung Junge Freiheit, während die Alternative für Deutschland mit Slogans wie »Freiheit statt Brüssel« Stimmung macht.

In dem Maße aber, in dem die politische Rechte den Begriff der Freiheit besetzt, scheinen progressive Stimmen von einem uneingeschränkten Ja zum gesellschaftlichen Ideal der Freiheit abzurücken. Ein klares Bekenntnis zur Freiheit wirkt in aufgeklärten Kreisen mittlerweile nicht nur häufig als naiv und überholt, sondern fast schon als gefährliches Entgegenkommen gegenüber dem politischen Gegner.

Auch in der politischen Kommunikation spielt die Freiheit für fortschrittliche Kräfte meist nur noch eine Nebenrolle – nicht nur in Deutschland. Progressive Parteien als Stimme für den Fortschritt? Ja. Als Garant für mehr Gerechtigkeit? Sicher. Als Streiter für Klimasicherheit und globale Kooperation? Auch das. Doch als Stimme für die Freiheit, als Kämpfer gegen Bevormundung und Fremdbestimmung, haben sich die fortschrittlichen Milieus westlicher Gesellschaften schon lange nicht mehr offensiv präsentiert.

Das Ausmaß, die Hintergründe und die politischen Folgen dieses Abwendens vom Wert der Freiheit bilden das Thema dieses Zwischenrufs. Dabei soll gezeigt werden, dass die zu beobachtende Entfremdung von der Freiheit eine allzu oft übersehene ernsthafte Gefahr für die Zukunft demokratischer Gesellschaften darstellt. Denn sie fällt in eine Zeit, in der die Freiheit als Ideal ohnehin einer historisch einzigartigen Bedrohung – nicht zuletzt vonseiten der autoritären Rechten – ausgesetzt ist.

In einem perfekten Sturm aus Pandemie, Autoritarismus, Digitalisierung und Klimakrise finden sich aktuell neue und alte Feinde der Freiheit in merkwürdigen Konstellationen zusammen. Traditionelle Fürsprecher der Freiheit jedoch, die Prinzipien der Autonomie und Selbstbestimmung historisch immer wieder gegen Übergriffe des Staates und der Ökonomie, aber auch gegen das schleichende Gift der Indifferenz in Schutz genommen haben, stemmen sich diesen Gefahren nur noch äußerst selektiv entgegen. Vielerorts reagieren maßgebliche Teile des progressiven Milieus angesichts der Bedrohung gleichgültig mit Schulterzucken, senken aus den vermeintlich besten Gründen den Daumen über ein scheinbar aus der Zeit gefallenes Ideal oder entwerten das Konzept der Freiheit durch allzu leicht instrumentalisierbare Abstrahierungen.

Vor dem Hintergrund dieser Gefährdung ist es das Anliegen dieses Essays, eine Lanze zu brechen für den Grundwert der Freiheit als grundlegendes gesamtgesellschaftliches Gut. Freiheit hat keine Zukunft, wenn sich demokratische und insbesondere fortschrittliche Kräfte in Zeiten der Krise von ihr abwenden.

»Freiheit ist Freiheit«, mahnte der britisch-jüdische Philosoph Isaiah Berlin, »nicht Gleichheit oder Fairness oder Gerechtigkeit oder Kultur oder menschliches Glück oder ein ruhiges Gewissen.« Freiheit ist Freiheit: Wer diese scheinbar so simple Einsicht aus den Augen verliert, setzt nicht nur die Aussagekraft eines abstrakten Ideals auf Spiel, sondern auch die Grundlage einer demokratischen, gerechten und menschenwürdigen Zukunft.

Der Rollentausch der Freiheit

Bibliotheken ließen sich füllen mit Abhandlungen und Streitschriften für, gegen oder über die Freiheit. Was ist Freiheit? Bürde und Kür eines Christenmenschen, wie Martin Luther meinte? Selbstverwirklichungsfeld »männlicher Krieger«, von denen Friedrich Nietzsche schwärmte? Die »Freiheit der Sklavenhalter« Lenins oder die Selbstbeschränkung, wie Hans Jonas argumentiert? Mit Hannah Arendt »die Freiheit, frei zu sein« oder mit Theodor Adorno etwas, was es »nicht gibt«?

»Philosophische Erklärungen der Freiheit sprechen wenig an«, heißt es lakonisch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm aus dem Jahr 1864. Dieser Hinweis von Andreas Arndt gilt heute ungebrochen, allerdings weit über das Feld der Philosophie hinaus. »Freiheit« sei ein Begriff so unbestimmt wie das Wetter, spottete der rechtskonservative Publizist Joachim Fernau, um süffisant zu fragen: »Mögen Sie Wetter?« Und auf der Linken konterte Kurt Tucholsky: »Wer die Freiheit nicht im Blut hat, wer nicht fühlt, was das ist: Freiheit – der wird sie nie erringen«. Aber: Muss man die Freiheit im Blut haben oder doch eher im Investitionsportfolio? Zumindest in der Welt des Kommerzes scheint das Produkt Freiheit schließlich nach wie vor reißenden Absatz zu finden. Die Freiheit liegt demnach im Konsum – den Überbau dieser eingeschränkten Weltsicht lieferte der Ökonom Milton Friedman mit seiner Gleichsetzung von Kapitalismus und Freiheit.

Von der griechischen und römischen Antike über das europäische Mittelalter bis zur Französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung war der Begriff der Freiheit stets ein Spielball widerstreitender Interessen. Die Freiheit, so viel zeigt ein Blick auf die Genese des Begriffs, war immer alles andere als selbsterklärend.

Als einflussreiche Stimme neuzeitlicher Freiheitsüberlegungen hat sich insbesondere der Philosoph und Nationalökonom John Stuart Mill erwiesen, der in seinem Aufsatz »On Liberty« Grundsätze eines individualistischen Freiheitsverständnisses formulierte. Für Mill umfasst menschliche Freiheit »als Erstes das innere Feld des Bewusstseins und … zweitens … Freiheit, einen Lebensplan, der unseren eigenen Charakteranlagen entspricht, zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt, ohne Rücksicht auf die Folgen und ohne uns von unseren Zeitgenossen stören zu lassen, solange wie ihnen nichts zuleide tun«. Mills Erörterungen zum Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft sind auch heute noch aktuell. Doch weiterführender für die auf den folgenden Seiten erörterte Bedrohung der Freiheit erscheint eine Unterscheidung, die auf Isaiah Berlin zurückgeht: nämlich die zwischen positiver und negativer Freiheit.

Isaiah Berlin, der in Riga geboren wurde und den Despotismus des Zarismus und der Revolution in Russland selbst hautnah miterlebte, thematisierte in seiner Oxforder Antrittsvorlesung »Two Concepts of Liberty« einen doppelten Freiheitsbegriff. Negative Freiheit wird darin im Wesentlichen als »Freiheit von« begriffen. Als Freiheit von Unterdrückung, Freiheit von Fremdbestimmung, Freiheit von staatlicher Übergriffigkeit, aber auch als Freiheit von den Störungen durch das Freiheitsstreben anderer. Es ist dieses enge Verständnis von Freiheit als Trumpf gegen den Staat, das die größte Gemeinsamkeit mit dem heutigen Alltagsverständnis von Freiheit aufweist.

In Abgrenzung zur negativen definiert Berlin die positive Freiheit. Sie bezieht sich auf die Voraussetzungen, die zur Realisierung negativer Freiheitsrechte erforderlich sind. Denn welchen Sinn hätte etwa die Pressefreiheit in einer Gesellschaft von Analphabeten? Welchen realen Inhalt hätte die Freiheit der Berufswahl, wenn nicht der Staat durch ein öffentliches Bildungssystem die Grundlagen für eine wirkliche Wahlfreiheit legt?

Die Rolle des Staates beschränkt sich für Verfechter der positiven Freiheit eben nicht auf einen Rückzug auf den »Nachtwächterstaat«, sondern sie umfasst eine staatliche Betätigung, die Freiheitsrechte auch über punktuelle Einschränkungen fördert – etwa durch Besteuerung, Zölle und Tarife. Denn nur so werden öffentliche Güter im Bereich der Gesundheitsvorsorge, der Forschung, der Bildung, aber auch der Sicherheit geschaffen und für alle zugänglich. Hinter dieser Unterscheidung steht die fundamentale Einsicht, dass Rechte keine Freiheiten darstellen, sondern Privilegien, wenn Freiheit nicht mit dem Ideal der Gleichheit verknüpft wird.

Es ist wenig verwunderlich, dass sich gerade politische Kräfte links der Mitte in die Tradition dieser positiven Freiheitsrechte gestellt haben – nicht zuletzt in Deutschland. Schon der Mitbegründer der Sozialdemokratie, August Bebel, fragte 1870: »Was nützt ihm [dem Arbeiter, M. B.] die bloße politische Freiheit, wenn er dabei hungert, wenn seine Lage sich nicht verbessert, er der vom Kapitalisten ausgebeutete Mensch ist, der sein ganzes Leben sich plagen und abrackern muss, um schließlich elend zu Grunde zu gehen«? Bebel geht es hier weniger um die Freiheit von staatlicher Bevormundung als vielmehr darum, dass Freiheit nie voraussetzungsfrei ist. Ohne die Befähigung zu bestimmten Ansprüchen ergeben negative Freiheitsrechte entweder keinen Sinn oder sie können faktisch nicht in Anspruch genommen werden.

Rechte und linke politische Kräfte lassen sich weltweit auch anhand ihrer jeweiligen Bewertungen von positiver und negativer Freiheit unterscheiden: Im rechten und liberalen Spektrum liegt der Fokus auf der (negativen) Freiheit vom übermächtigen Staat, der kritischen Beurteilung bürokratischer Regelungen und dem dezidierten Lob der Eigeninitiative. Auf der Linken erklingt dagegen der Ruf nach einem handlungsfähigen Gemeinwesen, dem die Aufgabe zukommt, vergleichbare Lebenschancen für alle sicherzustellen, die Voraussetzungen für tatsächliche Autonomie in den Blick zu nehmen und dabei, wenn erforderlich, auch rein negative Freiheitsvorstellungen einzuschränken.

In der jüngeren Vergangenheit haben sich nahezu sämtliche maßgeblichen politischen Kräfte zumindest in westlichen Demokratien im Wesentlichen mit einem Freiheitsbegriff arrangiert, der sowohl negative als auch positive Freiheitsrechte beinhaltet. Von radikalen Ausnahmen abgesehen, stellen sich schließlich selbst hartgesottene Verfechter der »Freiheit von« nicht etwa ernsthaft gegen die Erhebung einer Einkommensteuer, die ja das heilige Ideal des Eigentums verletzt, nur um zum Beispiel ein allgemeines Straßennetz zu finanzieren.

Akzeptiert wird dabei die grundlegende Einsicht Isaiah Berlins, dass das Zusammenspiel von positiver und negativer Freiheit eben nicht als ein Entweder-Oder begriffen werden kann. »Negative Freiheit muss begrenzt werden, wenn positive Freiheit realisiert werden soll, zwischen beiden muss eine Balance bestehen«, so Berlin. Doch – und diese Sorge durchzieht die folgende Warnung vor dem »Ende der Freiheit« – kann eine solche Balance noch zweifelsfrei für prägende Teile des linksliberalen Lagers festgestellt werden?

Heute, so scheint es, richten maßgebliche Stimmen des progressiven Spektrums ihre Aufmerksamkeit zwar zu Recht weiterhin auf positive Freiheitsvorstellungen – und fordern einen aktiven Staat und gerecht verteilte Lebenschancen. Doch ebenso entscheidende Aspekte eines negativen Freiheitsbegriffs wie die grundlegende Freiheit von Bevormundung, das Zurückweisen von Paternalismus und staatlicher Gängelung werden nicht nur übersehen, sondern in Teilen ganz bewusst infrage gestellt.

Das aber ist ein so gefährlicher wie merkwürdiger historischer Rollentausch. Denn es waren traditionell schließlich stets herrschaftsnahe und privilegierte gesellschaftliche Kräfte, die ein Zuviel an Freiheit und Zügellosigkeit als Bedrohung auffassten. Angesichts der bestehenden Wohlstandsunterschiede bezog sich diese Furcht der Besitzenden historisch in der Regel zuallererst auf den Schutz von Eigentumsrechten, die vor allzu umfassender freiheitlicher Maßlosigkeit behütet werden mussten.

Die vom französischen Publizisten (und Aristokraten) Alexis de Tocqueville konstatierte Gefahr der »Tyrannei der Mehrheit« fand aus diesem Grund einen breiten Widerhall auch in der konservativen angelsächsischen Tradition bei Denkern wie Edmund Burke, in dessen skeptischem Blick »praktische Freiheit« nur realisierbar erscheint, sofern dem »Appetit der Menschen moralische Ketten auferlegt werden«. Dieser Impuls mag mit Blick auf die jakobinische Tyrannei der Französischen Revolution nur zu gerechtfertigt erscheinen. Doch ist es nicht bezeichnend, dass der große konservative Denker des viktorianischen Zeitalters mit seiner Forderung nach »moralischen Ketten«, nach einer Begrenzung des »Appetits der Menschen« und mit seinem skeptischen Blick auf freiheitliche Ideale heute ausgerechnet in Teilen des progressiven Lagers offene Türen einlaufen würde? Wo ist das progressive Lob der Freiheit? Und wann ist es verloren gegangen?

Das dröhnende Beschweigen der Freiheit

In seiner ersten Rede als US-Präsident im Januar 2013 berief sich Barack Obama mehr als ein Dutzend Mal auf die Ideale »Freedom« und »Liberty«, die in den USA mehr oder weniger synonym verwendet werden. Obama beendete seine Ansprache mit einem eindringlichen Plädoyer, »das wertvolle Licht der Freiheit in eine ungewisse Zukunft zu tragen«.

Und heute? Im Corona-Jahr 2021 erwähnte der frisch gewählte US-Präsident Joe Biden das Wort »Freedom« in seiner Antrittsrede mit keiner einzigen Silbe und den Begriff »Liberty« nur zweimal, in einem Fall mehr oder weniger versteckt im Rahmen einer Auflistung von insgesamt sieben als amerikanisch definierten Werten.

Auch das bei Bidens Amtseinführung rezitierte, gerade im progressiven Lager so hochgelobte Gedicht »The Hill We Climb« der jungen afroamerikanischen Dichterin Amanda Gorman machte um das Ideal der Freiheit eher einen Bogen. Gorman beschwört »a country committed to all cultures, colors, characters, and conditions of man« und beschreibt die Aufgabe der Versöhnung in einer »era of just redemption«. Die Idee der Freiheit aber wird in ihrem Text gerade ein einziges Mal erwähnt – als Schlusspunkt der Beschreibung eines Landes, »that is bruised but whole, benevolent but bold, fierce and free«. Genau das aber ist bezeichnend für eine Verschiebung der Schwerpunkte. Zumal dieser Trend auch in Deutschland zu beobachten ist. So stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre allererste Regierungserklärung 2005 geradezu unter die Überschrift »Freiheit«. Nicht weniger als zehnmal erwähnte sie den Begriff, und ihre Rede kulminierte in der von Willy Brandt entlehnten Forderung: »Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!«

Davon aber konnte schon in der Regierungserklärung des Jahres 2013 keine Rede mehr sein, in der sich kein einziger Hinweis mehr auf das Prinzip der Freiheit fand. Ebenso wenig wie in der von 2018 – sieht man mal von einer En-passant-Erwähnung der »freiheitlichen Gesellschaft« ab. Wer heute auf der Redenseite des Bundeskanzleramts nach dem Stichwort »Freiheit« sucht, findet als prominentesten Treffer einen Hinweis auf die »Barrierefreiheit« der Webseite. Das aber ist ein merkwürdiges Verschwinden eines Begriffs, den unsere Verfassung an den Anfang aller staatlichen Tätigkeit gestellt hat.

Doch – so könnte man einwenden – ist diese Vernachlässigung insbesondere im Nachgang des Kalten Kriegs nicht weniger überraschend als vielmehr einleuchtend?

Die Selbstbeschreibung der USA in der amerikanischen Nationalhymne als »Land der Freien und Heimat der Tapferen« wurde in den Jahrzehnten der Ost-West-Konfrontation bekanntlich ohne großes Federlesen auf die gesamte westliche Hemisphäre übertragen. Der Westen repräsentierte die »freie Welt« im Gegensatz zur »totalitären Dunkelheit … im Reich des Bösen«, um die plakative Formulierung des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan zu verwenden.

Die zentrale Rolle des Freiheitsnarrativs in der Ost-West-Konfrontation spiegelt sich in John F. Kennedys Berlin-Rede, in der fast jeder zweite Satz ein Hoch auf die Freiheit darstellt. In seiner knapp dreiminütigen Ansprache beschwor Kennedy nicht weniger als 15-mal das Ideal der Freiheit. Nur zwei Monate später vollbrachte Martin Luther King Jr. in seiner »I Have a Dream«-Ansprache vor dem Lincoln Memorial in Washington, D.C., das Kunststück, die Freiheit volle 25-mal hochleben zu lassen. Das tat er wohl nicht zufällig auch zur Erinnerung daran, dass die Freiheit, die der US-Präsident im Ausland so ausführlich gefeiert hatte, im Inland eben noch längst keine Realität war.

Da die Freiheit so augenscheinlich als Kampfbegriff des Kalten Krieges diente, wäre es immerhin denkbar, dass der Slogan nach Ende des Konflikts seine Schuldigkeit getan hatte. Steuerte die Welt nun nicht unumkehrbar auf das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) zu und auf eine universalistische Zukunft liberaler Demokratien? Die Freiheit hatte gesiegt, und niemand feiert sich als Freiheitskämpfer, wenn alle es sind.

Nur: Ist das Ideal der Freiheit tatsächlich so umfassend erreicht und abgesichert, dass sich eine Erwähnung erübrigt? Hier sind doch sehr grundsätzliche Zweifel angezeigt – wie auf den kommenden Seiten noch ausführlicher dargelegt wird.

Die Ausnahme der Freiheit

Die Freiheit ist nicht am Ende. Zumindest noch nicht. Wie könnte sonst ein Essay »Vom Ende der Freiheit« erscheinen? Für die folgenden Ausführungen sei deshalb auch klargestellt: Eine Debatte über den gesellschaftlichen Wert der Freiheit findet gerade in Deutschland nach wie vor unter idyllischen Bedingungen statt, trotz Pandemie, Einschränkungen von Grundrechten und ungeachtet aller gerechtfertigten Kritik an Unzulänglichkeiten der öffentlichen Debatte. Wer hier allen Ernstes von Gesinnungsdiktatur schwadroniert, erweist sich als historisch blind und der Sache der Freiheit einen Bärendienst.

Die folgenden Überlegungen sind deshalb kein Ausdruck von Katastrophismus und auch kein effekthascherischer Kassandraruf eines »Experten der Apokalypse« (Umberto Eco), sondern ihnen liegt vielmehr die umfassend belegte Tatsache zugrunde, dass das Ideal der Freiheit weltweit unter einzigartigem Druck steht. Der jährliche Bericht etwa der Nichtregierungsorganisation Freedom House zeichnet hier aktuell ein geradezu gespenstisches Bild. Insbesondere das Jahr 2020 zeichnet sich durch historisch einmalige Einbrüche in Sachen Demokratie und Freiheitsrechten aus. Nahezu zwei Drittel der Weltbevölkerung leben heute in einem Land, in dem sich die demokratischen Normen verschlechtern.

In 73 Ländern ist das Demokratieniveau im zurückliegenden Jahr gesunken. Doch dieser Einbruch ist keine Ausnahme. Zum 15. Mal in Folge registriert Freedom House einen solchen Rückgang. Schon 2008 warnte Larry Diamond, einer der weltweit führenden Demokratieforscher, vor einer »Rezession der Demokratie«. Die Entwicklungen der Gegenwart aber sind keine kurze Flaute der Demokratie, die demnächst von einer Konjunktur der Demokratie abgelöst wird, sondern sie sind Ausdruck einer langfristigen und tiefgreifenden Krise.

Dabei bedroht nicht nur ein Zuviel an autoritärer Übergriffigkeit, sondern auch ein Zuwenig an Staat das Überleben der Freiheit als Grundwert. Es gibt keine Balance der Freiheit, wenn ein Staat kollabiert – egal ob sich dieser in Südamerika, Subsahara-Afrika, dem Nahen Osten oder in Zentralasien befindet.

Auch die Meinungsforschung belegt hier bedenkliche Trends. So verweisen etwa die Daten des World Values Survey aus den Jahren 2017 bis 2020 auf den schweren Stand des Ideals der Freiheit gerade in Krisenzeiten. Zu einer eindeutigen Entscheidung zwischen den Werten Freiheit und Sicherheit aufgefordert, stellen sich in Deutschland nur 43 Prozent der Befragten auf die Seite der Freiheit, in Südkorea 42 Prozent, in Japan gerade einmal 13 Prozent. Nur in drei von 50 untersuchten Ländern kann die Freiheit derzeit in einem direkten Vergleich mit dem Wert der Sicherheit bestehen: in Australien, Neuseeland und den USA.

Für extreme Krisensituation scheint eine solche Gewichtung von Prinzipien durchaus naheliegend, schließlich gibt es kein freies Leben, wenn das Leben selbst bedroht ist. Doch was folgt daraus, wenn die Krise allgegenwärtig und dauerhaft wird? Welche Rolle kann die Freiheit dann noch spielen?

»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«, lautet das Diktum des früheren Richters am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde. Eben das sei »das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist«. Auch empirisch ist dieser Satz gut belegt. Vergleichende Demokratieforscher wie Ronald Inglehart verweisen auf die Tatsache, dass »freiheitliche Aspirationen der Bevölkerung eine massiv unterschätzte Rolle in Demokratisierungsprozessen spielen«. Die Folgen des Abwendens breiter Bevölkerungsschichten von freiheitlichen Idealen sind deshalb keine Lappalie, sondern ein politischer Erdrutsch.

Spätestens seit dem Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentenwahlen 2016 – und in Deutschland mit den Erfolgen der AfD – hat die öffentliche Debatte über die Gefährdung der Demokratie massiv an Intensität gewonnen. Dabei steht immer wieder zu Recht die Frage im Fokus, wie es konservative Kräfte und das politische Establishment insgesamt über Lippenbekenntnisse hinaus mit der Herausforderung von Rechtsaußen halten. Bewähren sich konservative Parteien als Gatekeeper des demokratischen Systems – wie etwa in Belgien in den 1930er-Jahren –, oder erweisen sie sich als Steigbügelhalter des Illiberalismus und als Totengräber der Freiheit? In Zeiten, in denen sich ein abgewählter US-Präsident weigert, seine Wahlniederlage anzuerkennen, und in denen in weiten Teilen der extremen Rechten in Europa das Zerrbild einer elitär-liberalen Weltverschwörung gezeichnet wird, ist der Kampf freiheitlicher Kräfte gegen die Bedrohung von rechts unabdingbar.

Doch in aufgeklärten Kreisen gerät angesichts dieser Bedrohungsperspektive allzu häufig aus dem Blick, dass auch auf der politischen Linken fragwürdige antifreiheitliche Tendenzen zu beobachten sind, die ebenfalls eine erhebliche Gefahr für die Demokratie darstellen - aber sehr viel seltener thematisiert werden. Sicher unterscheiden sie sich in Intention und Instrumenten von der rechten Bedrohung. Doch dass sich gerade gesellschaftliche Milieus, die sich stets als Bastion der Autonomie und Selbstbestimmung verstanden haben, nun nicht mehr bedingungslos für die Idee der Freiheit engagieren, ist auf eine ganz eigene Art brisant.

Angesichts dieser vielschichtigen Bedrohungslage soll in den folgenden Kapiteln zu den Schwerpunkten Pandemiebekämpfung, Identitätspolitik, Meinungsfreiheit, Digitalisierung und Klimakrise herausgearbeitet werden, welche spezifischen politischen Herausforderungen für das Ideal der Freiheit bestehen und welche Positionsverschiebungen auf der progressiven Seite besonders schwere Hypotheken für ein Bestehen der Freiheit darstellen.

Freiheit ist die historische Ausnahme, nicht die Regel – und existiert stets in einem Spannungsfeld zwischen potenziell übergriffigem Staat und latent willfähriger Gesellschaft. Die Freiheit behauptet sich in einem Korridor, in dem sich »Staat und Gesellschaft gegenseitig ausbalancieren«, wie es Daron Acemoglu und James A. Robinson in ihrer aktuellen monumentalen Studie The Narrow Corridor über die soziale Bedingtheit von Freiheit formulieren.

Freiheit ist eben kein Wert auf einer nach oben offenen Skala. Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Idealen kann sie nicht absolut werden, ohne sich in ihr Gegenteil zu verkehren. »Freiheit ist«, wie Hans-Peter Bartels, Wolfgang Merkel und Johano Strasser vor einigen Jahren für die Grundwertekommission der SPD schrieben, »Voraussetzung wie beständiges Resultat der freiheitlichen Demokratie«. Diese Erkenntnis ist es, die die Überlegungen dieses Essays als Ausgangspunkt mitbestimmt.

Wenn nun auf den folgenden Seiten die Bedrohung durch den Rechtsautoritarismus und andere Gefährdungspotenziale – etwa durch den militanten Islamismus – hintangestellt werden, so geschieht das nicht in dem Versuch, diese Gefahren kleinzureden. Es geht auch nicht um ein Loblied auf die vermeintlich reine Lehre des Laissez-faire, in der allen geholfen ist, wenn nur jedes Individuum intensiv genug an sich selber denkt. Im Gegenteil: Die Propagierung libertärer Glaubenssätze eines schwachen Staats in einem entgrenzten Kasinokapitalismus ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems – ebenso wie der Missbrauch freiheitlicher Rhetorik durch autoritäre Agitatoren, die sich in das Gewand der Freiheit kleiden, um ein Weltbild der Ungleichheit mit dem schönen Schein einer noblen Idee zu versehen.

Wenn diese Risiken auf den folgenden Seiten nur am Rande behandelt werden, geschieht das nicht aus Missachtung, sondern auch weil breit rezipierte Analysen wie Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert, aber auch Michael J. Sandels Abrechnung Vom Ende des Gemeinwohls hier bereits den Finger in die Wunde legen, die nicht durch ein Zuwenig, sondern durch ein Zuviel an falsch verstandener »Freiheit von« geschlagen wurde.