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Kurz nach der epischen Schlacht des Raumschiffs Enterprise gegen Shinzon nahmen viele langjährige Besatzungsmitglieder von Captain Jean-Luc Picard neue Posten und neue Herausforderungen an. Unter den vielen Veränderungen war auch William Rikers Beförderung zum Captain und sein neues Kommando, Rikers Hochzeit mit Counselor Deanna Troi und Dr. Beverly Crushers neue Karriere beim Medizinischen Korps der Sternenflotte. Doch die Geschichte, wie es dazu kam, wurde nie erzählt … BIS JETZT. Der Rashanar-Sektor, einst Schauplatz einer der brutalsten Schlachten des Dominion-Kriegs, gleicht inzwischen einem riesigen interstellaren Friedhof voller zerstörter Schiffe. Die explosive Zerstörung so vieler unterschiedlicher Warpantriebe hat das Raum-Zeit-Kontinuum in dieser Region verzerrt, was zu gefährlichen Energieansammlungen und bizarren Gravitationsanomalien führt. Die Enterprise wurde damit beauftragt, diese Gefahrenzone zu überwachen, während andere Schiffe die schwierige und hochriskante Aufgabe übernehmen, die Toten aus den Wracks zu bergen. Einigen Spezies gilt das ehemalige Schlachtfeld als heiliger Boden. Für andere, darunter die habgierigen Androssi, ist es ein Paradies für Plünderer. Niemand erwartet, dass dieser Schiffsfriedhof ein tödliches Geheimnis birgt, das den Androiden Data dazu drängen wird, über den weiteren Verlauf seines Lebens zu entscheiden – und das nicht nur die Enterprise, sondern auch Picards Zukunft in der Sternenflotte gefährdet.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für Penny
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
In der Schlucht kniete eine hagere Frau. Sie trug ein zerlumptes Kleid und Schuhe, zusammengeflickt aus alten Dämmstoffen. Mit bloßen Händen grub sie in der versengten Erde. Die Sonne brannte erbarmungslos auf sie herab, doch sie grub, bis sie eine verschrumpelte Wurzel fand. Eifrig kaute sie sie weich und schluckte sie dann endlich hinunter. So konzentriert war die alte Frau, dass sie kaum bemerkte, wie in einer Wolke aus aufwirbelndem Sand keine fünfzig Meter von ihr entfernt ein Shuttle landete. Die Manövrierdüsen schalteten sich ab, dann öffnete sich eine Luke. Selbst als drei humanoide Gestalten in Raumanzügen das Schiff verließen und auf sie zukamen, setzte sie ihre verzweifelte Suche nach etwas Essbarem fort.
Die Szene wurde von einem unscheinbaren Mann ihrer eigenen Spezies beobachtet, der nicht weit entfernt auf einer Bank saß. Auch er trug Lumpen und selbst gefertigte Schuhe, war jedoch nicht hungrig – zumindest nicht nach Nahrung. Hinter ihm konnte man einige verlassene Gebäude erkennen, die einst als Geschäfte, Wohnhäuser, Freizeiteinrichtungen und Gebetsstätten gedient hatten. Die meisten dieser staubbedeckten Bauwerke waren eingestürzt oder standen kurz davor. Türen und Fenster ächzten im Wind. Eine Geisterstadt hätte man diesen Ort auf einer anderen, weit entfernten Welt genannt, dachte der Mann bei sich.
Die drei Fremden näherten sich der Frau. Freundlich erklärte einer: »Gute Frau, wir kommen von der Abteilung für Umsiedlung. Sind Sie bereit aufzubrechen?«
Sie blickte mit unverhohlener Feindseligkeit zu den Männern auf und spuckte aus, obwohl sie kaum genug Speichel übrig hatte, um ihre Fingerspitze zu befeuchten. »Das ist mein Zuhause!«, knurrte sie. »Wer sagt, dass ich irgendwo hingehe?« Dann buddelte sie weiter.
Die drei Fremden blickten sich unbehaglich an. Einer sagte: »Sehen Sie sich um, gute Frau. Dieser Planet ist am Ende. Nichts wird in diesem Boden mehr wachsen. Ihre Oberhäupter haben einer Umsiedlung zugestimmt. All Ihre Nachbarn sind bereits fort.« Einen Moment lang fiel sein Blick auf den Mann auf der Bank. »Sie beide sind die Einzigen, die sich noch auf diesem Kontinent befinden.«
»Zur Hölle mit der Föderation! Zur Hölle mit dem Dominion! Zur Hölle mit euch allen!«, schrie die Frau. Sie schluchzte und schlug mit den Fäusten auf den dürren Boden ein. »Warum musstet ihr hier Krieg führen? Warum ausgerechnet auf unserer Welt? Wir haben doch niemandem was getan! Wir wollten nur in Frieden leben – unsere Kinder aufziehen, unser Land bestellen. Jetzt ist alles weg … alles.« Sie vergrub ihr Gesicht in der verbrannten Erde und weinte mitleiderregend.
Die drei Männer wollten ihr aufhelfen, doch sie wehrte sich heftig, schrie und schlug um sich. Der Beobachter auf der Bank hatte genug gesehen. Er erhob sich langsam und ging auf das Grüppchen zu. Sein schwerfälliger Gang wollte jedoch nicht recht zu seinem jugendlichen Aussehen passen. Keiner der drei Männer konnte einschätzen, wie alt er wohl war. Auch ihre Beschreibungen von ihm sollten später deutlich voneinander abweichen.
Auf seinen Wink traten sie widerspruchslos beiseite. Der Mann mit dem unauffälligen Äußeren kniete nieder und legte einen Arm um die hagere Frau. »Mütterchen«, sagte er warm, »diese Männer sind nicht schuld an dem, was hier passiert ist. Niemand wünscht sich einen Krieg und kaum jemand hat Einfluss darauf, wo er geführt wird. Unsere geliebte Welt war einst gut zu uns, doch nun hat sie uns nichts mehr zu geben. Sie soll ein Mahnmal der Toten und Versprengten sein. Es ist das Beste, jetzt fortzugehen, Mütterchen. Mit diesen Männern. Sie werden dich gut behandeln und dir zu essen geben. Dein Wohlergehen liegt ihnen am Herzen. Bitte geh mit ihnen.«
Liebevoll blickte sie ihn an und tätschelte seinen Arm mit ihrer knorrigen Hand. »Kenne ich dich?«
Er lächelte. »Ja, du kennst mich. Du hast es nur vergessen. Das macht nichts. Komm, ich helfe dir auf.«
Behutsam stellte er die alte Frau auf die Füße und übergab sie ihren Rettern. »Danke für Ihre Hilfe«, sagte einer von ihnen. »Hat sie Gepäck?«
»Gepäck?«, fragte der Einheimische beinahe belustigt. »Der Dominion-Krieg hat ihr alles genommen. Nehmen Sie sie einfach mit.«
Sie führten die alte Frau auf das Shuttle zu. Als sie merkten, dass der Mann ihnen nicht folgte, drehte sich einer der Offiziere um. »Sie müssen uns ebenfalls begleiten, Sir.«
»Ich habe meine eigene Transportmöglichkeit.«
Skeptisch schüttelte der Offizier den Kopf. »Was meinen Sie damit? Hier gibt es doch nichts mehr …« Er drehte sich zu den verfallenen Gebäuden und den dürren, unfruchtbaren Feldern um. »Das ist Ihre letzte Chance, Sir. Heute Abend sind Sie auf diesem Planeten ganz allein. Sie unterschreiben Ihr eigenes Todesurteil.«
»Ich werde hier nicht sterben«, versicherte der Einheimische mit einem Lächeln. »Sie leisten hier wirklich gute Arbeit… notwendige Arbeit. Aber Sie haben Ihre Aufgabe erledigt. Gehen Sie nach Hause.«
Der Offizier sah nicht überzeugt aus, doch er drehte sich um und eilte seinen Begleitern nach, denen es gelungen war, die Frau ins Shuttle zu führen. Der kleine Raumgleiter hob in einer Staubwolke ab und stieg rasch in den blassen Himmel.
Der Mann am Boden seufzte und nun sah man ihm sein wahres Alter von neunundzwanzig Erdenjahren an. »Dieser Planet ist zu früh gestorben.«
»Ich weiß«, antwortete eine sanfte Stimme neben ihm. »Das ist das Wesen des Krieges – er bringt zu vielen den vorzeitigen Tod. Es wird viele Generationen dauern, bis sich der Alpha-Quadrant vom Dominion-Krieg erholt hat. Du hast deine Aufgabe hier sehr gut erfüllt, Wesley. Allerdings hättest du dich beinahe in das Leben dieser Frau eingemischt.«
Wes wandte sich seinem dünnen, glatzköpfigen und ebenso unauffälligen Freund zu. Zwar kannte er dieses Wesen nun schon seit vierzehn Jahren, doch seinen Namen hatte er nie erfahren. Dieses außergewöhnliche Individuum war für ihn immer nur der Reisende gewesen.
»Als du mir geholfen hast, das Leben meiner Mutter zu retten, hast du dich da nicht auch ein klein wenig eingemischt?«, fragte Wesley.
»Ein klein wenig«, stimmte der Reisende zu. »Wir zahlen immer einen Preis, wenn wir uns einmischen. Damals musste ich jemanden zu meinem Schützling machen.«
Nachdenklich betrachtete Wesley die öde Landschaft. »Es hat weh getan, diese Leute und diesen Planeten so leiden zu sehen … bis alles verwelkt und gestorben war. Sie haben so hart darum gekämpft, ihre Welt zu retten.«
»Ich weiß«, erwiderte der Reisende mit ehrlichem Mitgefühl. »Vergiss nicht: Wir alle haben deine Erlebnisse geteilt. Ihr Leid wird nie vergessen werden. Du hast dich in dieser Prüfung bewährt.«
»Prüfung?«, fragte der junge Mann verärgert. »Wie oft habe ich in den letzten sechs Jahren solchen Totenwachen beigewohnt? Immer nur Training, nicht ein einziges Mal konnte ich meine Mutter besuchen, nie unter meinesgleichen sein. Ich war nie auch nur ich selbst! Ich empfinde einfach nicht dasselbe wie ihr. So viel Leid zu sehen und nicht helfen zu können … entmutigt mich.«
»Du musst dich darauf einlassen«, sagte sein Begleiter ernst. »Doch bald schon wirst du fühlen, was jeder Reisende fühlt. Dies war deine letzte Prüfung, Wesley. Ich kann dich nicht mehr bei diesem Namen rufen, denn deine Identität wird mit unserer verschmelzen. Du wirst als Reisender wiedergeboren.«
Überrascht starrte Wes seinen Mentor an. Wie er auf diesen Moment gewartet hatte – er hatte ihn gefürchtet und gleichzeitig herbeigesehnt. Und nun war er endlich gekommen. »Werde ich in der Lage sein, überall hinzugehen?«, fragte er. »Ganz allein?«
»Ja«, antwortete der Reisende und senkte den Blick seiner blassen Augen. »Jeder Ort, jede Dimension, jede Zeit steht dir offen. Unsere gebündelte Konzentration ermöglicht es dir, dich frei zu bewegen. Allerdings wird die Verlockung groß sein, nicht nur zu beobachten und Aufzeichnungen anzufertigen. Bedenke: Du wirst keine Erfahrung mehr allein für dich machen, sondern sie mit uns allen teilen. Du kannst die Enterprise zwar besuchen, sie aber nie wieder so sehen wie damals. Ich glaube, es war ein Mensch, der einst sagte: ›Es führt kein Weg zurück.‹«
»Thomas Wolfe«, sagte Wesley mit einem Nicken. »Nach dem langen Training und den vielen Totenwachen fühle ich mich alt … aber nicht weiser.«
Nun lächelte der Reisende. »Weil du dir über all das im Klaren bist, was du nicht weißt. Auf Außenstehende wirkt das, was wir tun, wie Zauberei. Doch in Wahrheit ist es so: Wenn wir mehr über das Leben herausfinden und unsere Konzentrationsfähigkeit immer weiter schulen, verstärkt sich im selben Maße unser Gefühl der Unzulänglichkeit. Und alles, was wir beobachten, steigert nur unser Verlangen, noch mehr zu sehen.«
Zwar widersprach der junge Mann seinem Freund nicht, doch er sehnte sich nach etwas anderem: nach Wärme und Vertrautheit. Eine Pokerpartie, eine freundliche Berührung, eine Geburtstagskarte … Die Erfolge und das Leid anderer zu bezeugen war nicht mit eigenen Erlebnissen zu vergleichen. Daran änderten auch die gottgleichen Kräfte nichts, durch Dimensionen reisen und so vollkommen in der Menge untertauchen zu können, dass ihn kaum jemand bemerkte. Ein Leben frei von Gefahren und Leid – das fühlte sich zugleich berauschend und ernüchternd an. Er hatte immer geglaubt, seine intensiven Studien und einsamen Totenwachen würden sich auszahlen, wenn die Reisenden ihn in ihrer Mitte aufnahmen. Sollte es nun wirklich so weit sein, stand er am Ende seiner Suche, war sich allerdings unsicher, ob er mehr gelernt hatte, als dass er im Kern immer noch ein Mensch war.
Was, wenn ich sechs Jahre mit einer sinnlosen Suche nach Perfektion und Wissen verbracht habe, die in Wirklichkeit nur eine Illusion sind?
Mitfühlend legte ihm der Reisende die Hand auf die Schulter. So etwas tat er selten. »Du erweiterst dein Bewusstsein, Wesley. Das zeichnet dich unter deinesgleichen aus. Es beweist aber auch, dass die Menschen ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Du hast dich immer darauf vorbereitet, ein Pionier zu sein, ein Entdecker. Wir haben deine Ausbildung nur fortgesetzt. Bist du bereit, neu geboren zu werden?«
Wes nickte vorsichtig. Denn der Reisende fragte ihn noch etwas anderes: War er bereit, sein Menschsein aufzugeben? Als er sich auf diesen Pfad begeben hatte, hatte er gewusst, wenn er sein Ziel erreichte, wenn er die Grenze überschritt, würde er nicht mehr derselbe sein.
»Werde ich mich sehr verändern?«, fragte Wesley.
»Du veränderst uns«, sagte sein Lehrer, »und wir dich. Und vielleicht ist deine Transformation weniger groß, als du jetzt glaubst.«
Wesley erinnerte sich daran, was er gelernt hatte. Mein Geist wird sich wandeln. Bisher ungenutzte Hirnareale werden aktiviert. Mein Unterbewusstsein wird mit dem der anderen Reisenden verschmelzen. Und wenn sich mein Potenzial voll entfaltet hat, kann ich reisen.
Die Totenwache, die er hier gehalten hatte, hatte länger als ein Jahr gedauert. Seit der Ankunft auf dem Planeten hatte er keine großen Entfernungen mehr zurückgelegt. Für Wes war das Reisen nie so einfach gewesen wie für seinen Lehrer.
»Sollen wir aufbrechen?«, fragte dieser nun. »Ich helfe dir.«
»In Ordnung«, sagte Wesley erleichtert. Sein Mentor ließ die Hand auf seiner Schulter. Der junge Mann leerte seinen Geist und konzentrierte sich. Zwar wirkte es wie Magie, doch tatsächlich basierte das Reisen auf einer gemeinsamen Manipulation von Gehirnströmen, zu der die meisten Spezies nicht fähig waren. Es war also weniger eine physische Angelegenheit als eine mentale, selbst wenn das Resultat ein physischer Ortswechsel war.
Kannte er den Ort, den er besuchen wollte, konnte Wesley ihn sich vergegenwärtigen und so dort hinfinden. War er ihm fremd oder wollten ihn die Reisenden auf eine Totenwache entsenden, konnten sie ihn dort hinschicken. Das fühlte sich immer so an, als würde die Flut ihn mitreißen – auch an diesem staubigen Nachmittag in der letzten Geisterstadt auf einem toten Planeten.
Zu Wesleys Überraschung fand er sich auf der Heimatwelt der Reisenden wieder. Er war in den vergangenen acht Jahren nur einmal hier gewesen, wusste aber dennoch sofort, wo er sich befand: Er sah ein Kind jener unscheinbaren grauhäutigen Spezies über ein Feld rennen. Es jagte einer Seifenblase nach, die größer war als es selbst. Nicht jeder Angehörige dieser Spezies wurde zu einem Reisenden. Wenn Wes sich richtig erinnerte, machten sie kaum ein Prozent aus. Nicht viele waren in der Lage, das harte Training durchzustehen, und nur die wenigsten waren für ein derart forderndes Leben geschaffen. Zu den Reisenden gehörten auch Bewohner anderer Planeten wie er selbst. Doch die Gemeinschaft der Reisenden bildete stets auch Angehörige ihres eigenen Volks aus.
Erstaunlicherweise taten die Reisenden nichts, um ihre Lebenspanne zu verlängern – Wesley war ziemlich sicher, dass sie das könnten, wenn sie es wollten. Doch da ihre Gefühle und Erlebnisse in allen anderen Reisenden fortbestanden, kam es ihnen wohl nicht notwendig vor, unsterblich zu sein.
Wes sah sich nach seinem Mentor um, war jedoch mit dem Kind allein auf dem Feld, einem kleinen Mädchen, das plötzlich anhielt und die Fäuste schüttelte. Dann kam es zu ihm herübergeschlurft. »Sie ist kaputtgegangen«, beschwerte es sich. »Meine Seifenblase ist kaputt!«
»Vielleicht kannst du eine neue machen«, schlug Wesley vor und bückte sich, um das Kind genauer zu betrachten. Das Mädchen sah aus, als könnte es sechs Erdenjahre alt sein, und wies dezente Stirnhöcker und einen einzelnen Haarzopf am Hinterkopf auf.
Kokett lächelte es ihn an. »Du siehst gut aus und hast volles Haar. Du bist nicht aus Dell, oder?«
»Nein«, gab er zu und blickte über die im Wind wogenden Felder und die orangen und purpurnen Wildblumen. »Aber ich fühle mich hier zu Hause.«
»Lendal!« Die Stimme schien mit der Brise herüberzuwehen. Wes fragte sich, ob der Ruf vielleicht eher telepathisch als real war.
»Sie rufen nach mir«, sagte das Mädchen traurig. Es rannte los, drehte sich jedoch im letzten Moment noch einmal um und winkte ihm zu. Sein Schmollen verwandelte sich in ein Lächeln und es rief: »Bis morgen!«
»Bis morgen!«, erwiderte Wesley und wusste, dass es sich dabei nicht nur um ein leeres Versprechen handelte. Er spürte eine ihm vertraute Präsenz an seiner Seite und fragte: »Wer ist das?«
»Deine Mutter«, antwortete der Reisende. »Selbstverständlich ist es ihre Vergangenheit. Sie hat den Pfad noch nicht beschritten, der euch beide zusammenführen wird.«
Wes wollte einwenden, dass er bereits eine Mutter hatte. Er verzichtete jedoch darauf, da er kaum etwas über diesen Geburtsprozess wusste. Diese Ungewissheit trug nur zu seinem Unbehagen bei.
Der Reisende blickte dem Kind hinterher. »Wir wollten dir zeigen, dass sie ganz normal ist. Ihre Herkunft ist nichts Besonderes. Nichts an ihr ist außergewöhnlich, abgesehen davon, was aus ihr später einmal wird. Doch wir wollen hier nicht länger verweilen oder zu viel interagieren …«
»Ich weiß«, sagte Wesley. Er kannte die Tabus, die Besuche in der Vergangenheit für Reisende mit sich brachten. Sie versuchten ja schon, die Leben derjenigen, die sie in der Gegenwart studierten, nicht zu beeinflussen. Nur im äußersten Notfall wurde diese Grenze der Nichteinmischung überschritten. Vergangene Ereignisse zu verändern war unentschuldbar, da man die Konsequenzen nicht vorhersagen konnte. So wie Reisende auch keinen Mord begehen würden, würden sie ihre Fähigkeiten niemals einsetzen, um die Vergangenheit zu ändern. Große Macht zu besitzen und zu lernen, sie sparsam einzusetzen, stellte das größte Ziel ihrer Existenz dar.
»Du siehst verwirrt aus«, sagte sein Begleiter mitfühlend. Der Wind wirbelte Blütenblätter über das üppige Grasland, während der Reisende vollkommen uncharakteristisch nach Worten rang. »Würdest du zu meiner Spezies gehören, wüsste ich, wie ich dich vorbereiten soll. Dieses Kind zu sehen wäre tröstlich für uns.«
»Das ist schon in Ordnung«, entgegnete Wesley. Auch sein Mentor schien angesichts der ungewohnten Situation ein wenig nervös zu sein und tat, was er konnte.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin eben ein Mensch. Uns schmeißt man am besten ins kalte Wasser, schubst uns aus dem Flugzeug … Man wirft uns einfach mitten rein und lässt uns nicht zu viel darüber nachdenken.«
»Natürlich«, sagte der Reisende mit einem wissenden Lächeln. »Doch ich muss dich warnen. Wenn du der Gemeinschaft beigetreten bist, folgt noch eine letzte Prüfung. Erst hinterher ist der Prozess abgeschlossen. Es mag trivial oder auch angsteinflößend sein – wir haben keine Kontrolle darüber, was du siehst. Wenn du zum Reisenden geworden bist, musst du in den Pfuhl der Prophezeiung blicken.«
»Das werde ich«, versicherte Wesley, ohne zu zögern. Er wusste wenig über diesen heiligen Ort – nur dass er aus geteilten Eindrücken von der Zukunft bestand, die nur demjenigen etwas sagten, der die entsprechende Erfahrung gemacht hatte.
»Du bist also so weit?«, fragte sein Freund. »Oder benötigst du mehr Zeit, um dich vorzubereiten?«
»Ich wollte immer auf unbekannten Pfaden wandeln«, antwortete der junge Mann. »Ich habe nur nie genau gewusst, wohin ich mich wenden sollte, bis du mich auf Visionssuche geschickt hast … Seit ich dich kenne, bereite ich mich nun schon vor. Es war nicht einfach. Ich habe mich oft einsam und entmutigt gefühlt und wollte aufgeben. Aber aufgegeben habe ich in meinem Leben schon oft genug. Das ziehe ich jetzt durch. Lass mich nur nicht allzu lange darüber nachdenken …«
»Mehr brauchst du nicht zu sagen«, antwortete sein Mentor und legte Wes eine warme Hand auf die Schulter. »Die Gemeinschaft hat sich versammelt.«
Wieder war es, als würde er davongetragen. Die vereinten Hirnströme aller Reisenden krümmten Zeit und Raum und holten ihn an einen vertrauten Ort. Wes war sich nie sicher, ob er real war oder ob es sich um eine andere Dimension handelte. Die Reisenden fühlten sich hier jedoch sicher. Auf Wes wirkte die Höhle wie das schwerelose Zentrum eines hohlen Asteroiden – die Sache konnte aber auch viel komplizierter sein. Hundert oder mehr Reisende schwebten in der Dunkelheit, beleuchtet nur vom Schein der mit einer Nährflüssigkeit gefüllten Kugeln, die sie mittels Telekinese zwischen sich kreisen ließen. Niemals zuvor hatte er so viele Reisende versammelt gesehen. Hinzu kam, dass sie ihn alle beobachteten. Bei vergangenen Besuchen hatten ihm jene, die sich hier ausruhten, nur wenig Beachtung geschenkt. Doch diesmal lächelten sie und nickten ihm zu: Er war eindeutig der Ehrengast.
Wesley bewegte sich langsam durch die Menge. Dabei ließ er sich von seinem Unterbewusstsein leiten, eine Technik zur Stressreduktion, die er schon früh erlernt hatte. So konnte er sich physisch und mental auf das Geschehen einlassen, ohne Furcht zu empfinden. Unter den gegebenen Umständen schien ihm das ratsam. Es dauerte nicht lange, bis er sein Ziel vor Augen sah: eine trübe Blase im Zentrum des hohlen Asteroiden. Abgesehen von ihrer immensen Größe unterschied sie sich nicht von der Seifenblase, der das kleine Mädchen über das Feld nachgelaufen war.
Die Kugel schimmerte in der Dunkelheit. Jede noch so kleine Luftbewegung in der Höhle ließ die dünne Membran erzittern. Als Wes sich ihr näherte, musste er schockiert feststellen, dass die riesige Blase mit dem Schädel einer alten Frau verbunden war. Ihr zerbrechlicher Körper schwebte darunter. Sie trug ein leichtes Kleid, das verdorrte Gliedmaße und violette Venen enthüllte. Bei dem Gedanken, dass es sich bei der elastischen Blase vielleicht um ihr Gehirn handelte, musste Wesley ein Schaudern unterdrücken. Es sah allerdings ganz danach aus. War sie überhaupt am Leben? Oder sah er einen mumifizierten Leichnam vor sich, der auf merkwürdige Art und Weise aufgebahrt wurde?
Immer näher kam er der vertrockneten Alten. Sie schlug die Augen auf und blickte ihn an. Ihre Pupillen leuchteten türkis. Da erkannte er, dass es sich um das kleine Mädchen handelte, das er auf dem Feld getroffen hatte – wenigstens ein Jahrhundert musste das her sein.
Die Alte betrachtete seine sorgenvolle Miene und flüsterte heiser: »Die Blase gleicht einem Dämpfungsfeld … Sie fasst unser gesamtes Wissen. Ich beschwöre es für dich herauf, damit du hineintauchen kannst. So können wir all unsere Erfahrungen und unser Wissen mit dir teilen. Das wird die letzten Regionen deines Gehirns öffnen, die du kontrollieren musst, um zu einem wahren Reisenden zu werden. Ist dieser Prozess abgeschlossen, wirst du neu geboren.«
Wes seufzte erleichtert. Die Membran war doch kein Teil des Kopfs der Frau, sondern eine Erweiterung ihres Geists. Ohne ein weiteres Wort schloss die Alte die Augen wieder. Schwache Lichtstrahlen gingen mit einem Mal von der Blase aus und verbanden die Blase mit jedem der Reisenden in der gewaltigen Höhle. Wes staunte. Hunderte dieser dünnen Lichtstrahlen durchkreuzten nun die Dunkelheit. Sie besaßen kaum mehr Substanz als Staubpartikel, die im Licht tanzten.
Ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, setzte er sich wieder in Bewegung und drang durch die dünne Barriere ins Herz des Daseins der Reisenden. Eine unfassbare Masse an Bildern, Gefühlen, Eindrücken und Gedanken stürmte auf ihn ein – in einer Nanosekunde durchlebte er Kriege, Freude, Fehlschläge und Triumphe, die Eintönigkeit des Alltags und die außergewöhnlichen Momente, die das Leben eines jeden Lebewesens definierten. Die großen Momente der Geschichte, eintausend düstere Zeitalter, der unaufhaltsame Fortschritt und die Entbehrungen unter grausamer Herrschaft … all das brach über ihn herein. Nichts schien einer Erklärung zu bedürfen. Nur Akzeptanz.
Wesley hatte geglaubt, im Laufe seiner sechsjährigen Lehrzeit wären ihm die Augen geöffnet worden. Doch nun erkannte er: Das tatsächliche Ausmaß dessen, was die Reisenden gesehen hatten, war ihm erspart geblieben. Nur an einem einzigen Gedanken konnte er sich festhalten: Man muss das Gute mit dem Schlechten nehmen … Er versank in einem erbarmungslosen Morast aus schmerzhaften Bildern und Emotionen. So verging eine Ewigkeit – oder vielleicht waren es auch nur Sekunden. Er fühlte sich erschlagen, überwältigt und außerstande, noch mehr aufzunehmen. Dennoch konnte er den Blick nicht abwenden, als würde er Zeuge eines schrecklichen Unfalls. Er schrie vor Qual, doch es verschaffte ihm keine Erleichterung. Es war, als zeige man einem Neugeborenen im Moment seiner Geburt all das, was es in seinem Leben jemals sehen würde.
Verzweifelt versuchte Wesley, sich zu befreien. Er riss Vergangenheit und Zukunft ein und sprengte die Vorstellung, dass alles irgendeinen Sinn ergeben könnte. Es war Irrsinn … Spinnen, die bei Tag Netze webten und sie des Nachts wieder zerstörten … der Tod in unfassbaren Ausmaßen, gefolgt von den Schreien Neugeborener … das Protoplasma einer Zelle, die so groß und tief wie ein Ozean schien. Ausgelaugt von der Anstrengung brach der junge Reisende durch die hauchdünne Membran und tauchte in ein grelles Licht – blendende weiße Strahlen, die ihn wärmten wie Sonnenlicht. Er hatte die kollektive Erfahrung mit den anderen Reisenden verlassen, nur um nun in ihrer unbändigen Liebe zu baden. Auf diese Weise hießen sie ihn in ihrer Gemeinschaft willkommen.
Das Licht wurde zunehmend schwächer und Wes fühlte echte Hände, die seinen Rücken tätschelten, seine Haare verwuschelten und die Tränen von seinen Wangen wischten. Er fühlte sich vollständig und doch verloren, zu weise für sein menschliches Alter und doch so erschreckend unwissend. Der neue Reisende berührte nun selbst seine Wange und war schockiert darüber, wie stark sein Bart gewachsen war. Wie lange war ich da drin?, dachte er bei sich, als er die guten Wünsche der anderen entgegennahm. Wie sehr habe ich mich verändert?
»Du benötigst Schlaf«, flüsterte eine vertraute Stimme. Er drehte sich um und sah seinen Mentor, der stolz und glücklich wie ein Vater aussah.
Die anderen waren nicht mehr bei ihnen, nicht einmal seine alterslose Mutter. Wesley und sein Mentor standen nun in einer bewaldeten Senke auf einem goldenen Planeten, von dem er wusste, dass er sich in einer anderen Dimension befand. Eine einfache Hütte aus Blättern und schlichten Materialien wartete im Schatten auf ihn. Es war offensichtlich, dass die Kissen und die Schlafmatte für ihn gedacht waren. Der junge Reisende fühlte sich erschöpft und doch auf wundersame Weise voller Energie, wie es so oft nach einer Tortur wie dieser der Fall war. Ihm war bewusst, dass er jederzeit hierher zurückkehren konnte, um so lange wie nötig zu verweilen. In der Realität, die er einst gekannt hatte, würde er dabei keine Zeit verlieren.
Ich kann in einem Augenblick zur Erde reisen, dachte er. Zur Enterprise, zu meinem Zuhause, in meine Kindheit … Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft … an jeden Ort, den ich mir auswähle.
Er gähnte zufrieden. »Ich bin sehr müde«, gab er zu. »Danke, mein Freund. Ich werde mich etwas hinlegen.«
»Warte noch«, sagte sein Mentor und hielt ihn am Arm fest. »Denk daran, dass du noch eine Aufgabe zu erledigen hast, bevor du dich ausruhen kannst. Du musst in den Pfuhl der Prophezeiung blicken, der dir eine Begebenheit aus der Zukunft zeigen wird. Auch wenn wir alle gemeinsam diesen Pfuhl erschaffen haben, können wir nicht kontrollieren, was du sehen wirst. Sei versichert, diese Vision wird für dich, und nur für dich, eine Bedeutung haben.«
»Ich will sie sehen«, antwortete der junge Reisende selbstsicher. Nach allem, was er bereits durchlebt hatte, würde er eine weitere Vision ertragen können, ganz egal woher sie stammte.
Sein Mentor hielt ihn beruhigend am Ellbogen und führte ihn einen bewaldeten Pfad entlang, der in goldenes Licht getaucht war. Überall blühten orange und violette Blüten von der Größe seiner Hand. Ihr Duft war beinah überwältigend. Fast glaubte er, Vögel in den schlanken Bäumen zwitschern zu hören. Doch dann bemerkte er, dass es vertraute Stimmen waren. Der Wald summte mit den Stimmen aller dort lebenden Kreaturen. Einen Moment später hatte er sich bereits an die Kakophonie dieser Unterhaltung gewöhnt und empfand sie wie das Flüstern in einem angrenzenden Zimmer.
Der Pfad führte sie zu einem Teich, der von zerklüfteten Felsen gesäumt war und viel zu schwarz für das sonnendurchflutete Tal wirkte. Blätter und Spuren von grünem Schlamm trieben auf der Strömung. Die trüben Tiefen erweckten den Eindruck, als würden sie nichts als Frösche beherbergen. Als Wesley sich seinem Mentor zuwenden wollte, bemerkte er, dass er allein war.
Mit einem Schulterzucken lehnte sich der junge Reisende über den Pfuhl der Prophezeiung und blickte in die tiefschwarze Oberfläche. Er bewegte sich nicht physisch, vielmehr sah er ein Bild, das auf der Wasseroberfläche tanzte und zunehmend schärfer wurde, bis es so deutlich war wie etwas auf dem Sichtschirm der Enterprise. An einigen Sternenflottenkennzeichnungen erkannte er, dass es wirklich ein Sichtschirm war. Es war der der Enterprise-E, eines Schiffs, das er nie selbst besucht hatte. In einer Ecke des Bildschirms lief ein Countdown. Die grellroten Ziffern tickten schnell herunter. Langsam fühlte es sich an, als würde der Reisende die Kontrolle über die Vision erlangen. Er konnte seine Perspektive verändern und befand sich nun außerhalb der Schiffshülle. Das riesige Raumschiff trieb umringt von Wrackteilen im All. Die neueste Enterprise war ein markantes Schiff, wunderschön auf eine ganz eigene Art und doch eindeutig Erbe einer langen Reihe edler Vorgänger.
Als er weitere Trümmer und die flackernden Positionslichter bemerkte, wurde seine Freude über das Wiedersehen mit dem Schiff seiner Mutter getrübt. Es wirkte angeschlagen. Dann vernahm er eine Stimme, die das Summens des Waldes überlagerte. Es war keine Stimme eines Lebewesens, es war eine künstliche.
»Selbstzerstörungssequenz aktiv. Abbruch in fünf Sekunden unmöglich«, sagte der Computer. »Zehn, neun, acht …«
»Mom!«, rief Wesley. Er wusste, dass sie sich an Bord befand. Es stand außer Frage: All seine Mannschaftskameraden befanden sich in diesem Moment auf der Enterprise. Und ihnen lief die Zeit davon.
»Fünf, vier, drei«, meldete der Computer emotionslos. Es kann nicht mehr aufgehalten werden!
»Stopp!«, schrie er hilflos.
Wes griff nach der Enterprise, als wäre sie ein Spielzeugschiff, das auf dem schwarzen Wasser trieb. Doch bevor er sie retten konnte, explodierte sie in einem gigantischen Feuerball und schleuderte schimmernde Bruchstücke in alle Ecken seiner Vision. Der Pfuhl der Prophezeiung brannte wie eine Sonne, die zur Nova wurde. Dann war alles dunkel. Nur eine verirrte glitzernde Wolke breitete sich aus. Dieser schimmernde Staub war alles, das vom mächtigen Raumschiff Enterprise noch übrig geblieben war.
Der Reisende weinte bittere Tränen und tauchte seine Hände ins Wasser. Mit einem Mal zerfiel die Vision in eine Million leuchtende Aale, die in alle Richtungen davonstoben.
»Was soll ich tun?«, jammerte er und suchte nach seinem Mentor … oder irgendjemandem. Doch er war allein in diesem goldenen Wald und kniete am Rand eines trüben Teichs. »Wie kann ich sie retten?«, flehte er den Himmel an.
Die Frage hätte auch »Was ist null minus null?« lauten können. Es gab nichts, was er zu ihrer Rettung tun könnte. Er war nur ein Zeuge. Erschüttert begriff er, dass jede Totenwache, alles, was er während seines Trainings hatte durchleiden müssen, ihn einzig auf diesen Moment hatte vorbereiten sollen. War er jetzt in der Lage, seine Kräfte nicht zu missbrauchen, würde er zu einem angesehenen Mitglied dieser einzigartigen Gesellschaft werden. Wenn er ehrlich war, fühlte sich das allerdings eher wie ein Fluch an und in keiner Weise beruhigend.
So kauerte der neugeborene Reisende in tiefer Trauer um seine tote Mutter, die gefallenen Kameraden und seine verlorene Unschuld am Teich und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Wir verlassen Warpgeschwindigkeit«, meldete Lieutenant Kell Perim an der Steuerkonsole der Enterprise. »Fünftausend Kilometer bis Zugangspunkt 3.«
»Vorsichtig weiter, halber Impuls«, befahl Captain Jean-Luc Picard, während er seinen Kommandosessel verließ und Richtung Sichtschirm ging. Er hatte viel über die Schlacht von Rashanar und den riesigen Friedhof gehört, den sie hinterlassen hatte. Obwohl dies sein erster Besuch war, fühlte es sich an, als wäre er schon einmal hier gewesen. Was er auf dem Sichtschirm erkennen konnte, sah wie ein Nebel aus, allerdings ohne Sterne, Planeten oder Himmelskörper. Es war vielmehr ein Wirbel der Zerstörung. »Vergrößern, Mr. Data.«
»Ja, Sir«, antwortete der Androide von der Ops-Station.
Seine Finger huschten über die Konsole, während die Bilder auf dem Sichtschirm immer größer und verstörender wurden.
Zerstörte, mit Brandspuren übersäte Kriegsschiffe aus Dutzenden Welten trieben im All, als hätte ein Kind achtlos den Inhalt seiner Spielzeugkiste ausgeschüttet. Energiestrahlen kräuselten sich über die stummen Wracks, was sie funktionsfähig und vor allem bedrohlich wirken ließ. Um sie herum glitzerten kleinere Trümmer der Schlacht im Schein einer fernen Sonne. Tief im Inneren des ehemaligen Kampfgebiets konnte man helle Energieblitze und gigantische Entladungen erkennen, die durch die zerstörten Überlichtantriebe verursacht wurden. Die Wrackteile trieben Berichten zufolge im Orbit einer mysteriösen Schwerkraftsenke im Zentrum des Friedhofs. Im äußeren Bereich bewegten sich die meisten Teile langsam und stetig auf ihrer Kreisbahn, einige jedoch auch schnell und unvorhersehbar. Zudem befanden sich die meisten umherfliegenden Fragmente auf Kollisionskurs.
Ein paar große Trümmer prallten von den größeren Schiffsteilen ab wie Flipperkugeln. Picard konnte gefährliche Plasmawolken in der Ferne erkennen. Auch einen Antimaterie-Asteroiden vermutete man irgendwo innerhalb des kugelförmigen Areals. Auf Picard wirkte die Szenerie wie eine riesige Schneekugel, die man mit Konfetti, Lichtblitzen und aufgerissenen Schiffsminiaturen gefüllt hatte.
»Und das hier soll einer der sicheren Zugangspunkte sein?«, fragte Commander Riker, der direkt hinter seinem Captain stand. »Wäre es nicht besser, hierzubleiben und Shuttles zur Untersuchung einzusetzen?«
»Sehe ich genauso, Sir«, kam eine Stimme von der taktischen Station im hinteren Bereich der Brücke. Lieutenant Christine Vale war eine wortkarge Frau, die dazu tendierte, ihrem Captain ungebetene Ratschläge zu erteilen.
Picards Lippen wurden zunehmend schmaler, als er das größtenteils unerforschte Trümmerfeld betrachtete, die Überreste der tödlichsten Schlacht des Dominion-Krieges. Jedes Schiff, das an ihr teilgenommen hatte, war zerstört worden. Nicht eins hatte angeschlagen zurückkehren können, um die wahre Geschichte zu erzählen. Mythen und Aberglaube umgaben diesen Ort und die Legende war in den Jahren seit Kriegsende immer weiter ausgeschmückt worden. Trotz der Gefahren lockten die Wracks und Geheimnisse oft die falschen Besucher an. Militärische Historiker waren immer noch damit beschäftigt, zu ergründen, was genau hier passiert war. Dieser Teil war auch für Captain Picard das einzig Reizvolle an diesem Auftrag. Im Normalfall hätte er kein Interesse daran gehabt, ein solches Ausmaß an Tod und Zerstörung zu studieren.
»Dieser Zugangspunkt ist genau untersucht und von unmittelbaren Gefahren geräumt worden«, erläuterte Data. »Die Enterprise befindet sich innerhalb der Eintrittsparameter und kann bis zu den Warnbaken der Ebene 3 vordringen. Die Sensordaten werden allerdings nicht zuverlässig sein. Ich empfehle, die Schilde zu aktivieren.«
»Machen Sie es so«, sagte Picard mit einem kurzen Blick in Richtung von Lieutenant Vale. »Wenn wir schon drei Monate damit verbringen müssen, ein Massengrab zu untersuchen, sollten wir besser ins kalte Wasser springen und nicht zimperlich sein.«
»Schilde hoch«, rief Vale von ihrer Station.
»Eintritt in einer Minute«, berichtete Lieutenant Perim von der Steuerkonsole. »Ich folge den vorgeschlagenen Koordinaten und dem vorgegebenen Kurs. Die Trümmerteile haben sich allerdings bewegt.«
Der Captain ging zu ihr hinüber. »Das war zu erwarten. Bringen Sie uns rein.«
»Ja, Sir«, antwortete die unvereinigte Trill.
»Captain«, sagte Riker, »wie viele Außenteams und Shuttles sollen wir vorbereiten?«
»Alles, was nötig ist, um die Leichen einzusammeln, für Sicherheit zu sorgen und die Forschungsaufträge zu erfüllen«, antwortete Picard. »Wir werden vermutlich nicht in der Lage sein, die Transporter zu benutzen, also …«
»Entschuldigen Sie, Captain«, schaltete sich Vale ein, »wir werden gerufen. Captain Leeden von der Juno.«
»Oh«, antwortete Picard und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Niemand hatte so lange hier im ehemaligen Kampfgebiet von Rashanar gedient wie Captain Leeden. »Auf den Schirm.«
Sein Lächeln wurde von dem Gesicht auf dem Bildschirm nicht erwidert. »Ich schlage vor, dass Sie Ihr Schiff sofort anhalten, Captain. Fliegen Sie nicht in den Friedhof«, sagte Jill Leeden, die dunkelhaarige, dunkelhäutige Kommandantin der Juno.
Obwohl er sichtlich verwirrt war, hob Captain Picard die Hand und befahl: »Antrieb stoppen.«
»Aye, Captain«, erwiderte Perim.
Picard versuchte weiterhin, charmant zu sein. »Mir war nicht bewusst, dass es ein Empfangskomitee geben würde. Irgendwelche Gefahren, von denen wir wissen sollten?«
»Es gibt hier Tausende Gefahren, von denen Sie nichts wissen. Wir wissen auch nichts davon, und wir sind schon ein Jahr hier.« Die Übertragung stockte. Die nächsten paar Worte waren unverständlich.
Der Captain drehte sich zu Christine Vale um. »Können Sie das Signal verstärken?«
»Zu viele Interferenzen«, sagte sie und schüttelte den Kopf mit dem kurzen braunen Haar. »Die Juno hat die Verbindung unterbrochen. Ich habe sie aber auf den Sensoren. Sie bewegt sich aus dem Feld heraus und fliegt in unsere Richtung.«
Riker sah Picard mit gerunzelter Stirn an. »Was sollte das?«
»Ich bin mir sicher, dass wir das schon bald herausfinden werden«, antwortete der Captain und wandte sich wieder der grausigen Realität ihrer Umgebung auf dem Sichtschirm zu. »Sie hat es Friedhof genannt.«
»Für mich sieht das eher wie ein Spukhaus aus«, bemerkte Riker.
Ein Blitz zuckte zwischen zwei Wracks hin und her. Eins war Klingonisch, das andere hatte einst den Jem’Hadar gehört. Sekunden später kollidierten sie in einem Funkenregen. Kurz sah es so aus, als würden die beiden Geisterschiffe sich immer noch bekämpfen. Die Wracks wurden langsamer, als sich ein Fragment einer großen Warpgondel zwischen sie schob. Es wurde herumgeschleudert wie in einem Stockcarrennen. Es zog seine Bahn und wurde jedes Mal, wenn es auf etwas traf, vom Kurs abgebracht.
»Wo kam diese Warpgondel plötzlich her?«, wollte Riker wissen.
Data schüttelte den Kopf und runzelte leicht die Stirn. »Unbekannt, Sir. Die Sensoren haben nichts aufgezeichnet, bis sie in visuelle Reichweite kam. Alle Trümmerteile scheinen von der Schwerkraftsenke im Zentrum beeinträchtigt zu werden. Sie ist offenbar instabil. Das gilt allerdings nur, sofern unsere Sensordaten korrekt sind, was keinesfalls gesichert ist.«
»Captain, die Juno befindet sich in Transporterreichweite«, meldete Vale von der taktischen Station.
Ein stattliches Schiff der Excelsior-Klasse schob sich an den aufgerissenen Schiffshüllen vorbei und erntete neugierige Blicke der Brückenbesatzung. Es bewegte sich langsam voran, bis es direkt vor der größeren Enterprise Halt machte.
»Sir«, ergänzte Vale, »Captain Leeden bittet um Erlaubnis, für ein kurzes Treffen mit Ihnen herüberzubeamen.«
»Wir treffen sie im Besprechungsraum neben Transporterraum 3«, sagte Picard, nickte Riker zu und steuerte den Turbolift an. »Mr. Data, Sie haben die Brücke.«
Die beiden Offiziere trafen kurz vor ihren Gästen im Besprechungsraum ein. Der Captain hoffte, dass seine Kollegin ihnen nach einem Jahr an diesem Ort wichtige Einblicke für ihre Nachforschungen geben könnte.
Die beiden mussten nicht lange warten. Ein Ensign führte eine große, schlaksige Frau in den Besprechungsraum. Ihre Haut und ihr Haar waren staubig. In ihrer schwarz-grauen Uniform wirkte sie dennoch fast majestätisch, auch wenn Picard sie aufgrund der Videoübertragung zuvor nicht so jung eingeschätzt hätte.
»Captain Leeden«, sagte er herzlich und trat vor, um ihr die Hand zu schütteln. Sie hatte einen festen Händedruck, doch ihre Miene war völlig ausdruckslos. »Das ist mein Erster Offizier, Commander Will Riker.«
»Freut mich«, entgegnete sie tonlos. Picard bat die kleine Gruppe mit einer knappen Geste an den Besprechungstisch. Captain Leeden steuerte einen Sessel an und nahm gegenüber von Riker und Picard Platz.
»Ich bin neugierig. Warum haben Sie uns aufgehalten? Unsere Schilde waren voll funktionstüchtig und das Protokoll wurde eingehalten. Gibt es andere Probleme?«
»Es ist eigentlich sehr einfach, Capain«, sagte Leeden. »Kein Schiff betritt den Friedhof ohne Erlaubnis. Das heißt, ohne meine Erlaubnis. Wenn Sie Ihre Befehle lesen, werden Sie bemerken, dass ich für diesen entlegenen Außenposten zuständig bin. Meistens sind ein halbes Dutzend autorisierte Schiffe mitsamt ihren Shuttles gleichzeitig hier im Einsatz und wir können unsere Augen nicht überall haben. Wir schlagen uns mit Dieben und Plünderern herum, sogar mit Schiffen, die so tun, als gehörten sie zur Sternenflotte.«
Sie hob ihre Hand und zählte mit, während sie weitersprach. »Wir hatten Pakleds, Androssi, Orioner, Hok’Tar, Ferengi, Kreel und ein Dutzend andere, die alle versucht haben, diesen Friedhof zu plündern. Wie Sie sich vorstellen können, werden alle magisch von den Schiffen des Dominion angezogen. Allein in den letzten zwei Monaten mussten wir vier Schiffe zerstören. Dabei wurden auch zwei unserer eigenen Flotte beschädigt.«
»Wenn wir nun schon hier sind«, setzte Picard an, »können wir doch einen Teil Ihrer Arbeit übernehmen. Sicherheit ist also Ihr größtes Problem?«
»Unsere wichtigste Mission ist es, die Toten zu bergen. Für mich ist das nicht einfach ein Auftrag. Es ist eine heilige Verantwortung. Meine Familie folgt einer langen militärischen Tradition. Für uns gilt, dass niemand zurückgelassen wird. Für die meisten dieser Besatzungen ist es zu spät, aber wir geben unser Bestes. Die Plünderer interessiert das alles nicht. Sie stören uns bei unserer Pflicht.«
Riker räusperte sich und fragte: »Wie wurden diese Schiffe zerstört?«
»Commander«, sagte Leeden müde, »hier in Rashanar gibt es viele Möglichkeiten, den Tod zu finden. Das werden Sie in Ihren drei Monaten hier schon noch merken. Dann haben Sie auch gelernt, wie es hier zugeht. Das heißt, wenn Ihr Schiff bis dahin nicht schon zu stark beschädigt ist, um nützlich zu sein.«
»Wir waren schon vorher in einigen schwierigen Situationen«, sagte Picard. »Ich gebe gern zu, dass Sie hier deutlich mehr Erfahrung haben als wir, aber auch wir haben unsere Befehle. Dazu gehören einige wissenschaftliche Forschungsaufträge, die direkt von der Admiralität genehmigt wurden.«
Er sah Riker an und erhielt ein kurzes Nicken als Antwort.
»Wissenschaftliche Forschungsaufträge«, wiederholte Leeden. »Nun ja, für die Galaxis da draußen mag das wichtig sein, aber wenn Sie mir helfen wollen, halten Sie mir diese Plünderer vom Hals. Ich kümmere mich um die Leichen, was unter diesen Umständen keine leichte Aufgabe ist. Es würde zu lange dauern, Sie in der sicheren Bergung zu unterweisen. Mir ist bewusst, dass die Enterprise kämpfen kann. Also kämpfen Sie für uns. Aber ich warne Sie. Die verschwinden nicht immer, wenn man nur freundlich bittet. Nicht mal wenn man ihnen einen Warnschuss vor den Bug setzt.«
Sie seufzte, bevor sie fortfuhr: »Es tut mir leid, das abzukürzen, aber wir haben gerade erst ein vulkanisches Schiff aufgebrochen und es hängt an unserem Traktorstrahl. Da gibt es einige äußerst komplexe Protokolle im Hinblick auf die Leichen zu beachten. In zweiundzwanzig Stunden sollten wir fertig sein … sofern wir keine Plünderer jagen müssen. Willkommen in Rashanar.« Damit erhob sich Captain Leeden in dem Glauben, sie wäre hier fertig.
Commander Riker richtete sich auf seinem Platz auf und sagte: »Captain, bevor Sie gehen, lassen Sie uns noch über die Anomalien sprechen. Erforschen Sie die Schwerkraftsenke, den Antimaterie-Asteroiden oder diese willkürlichen Energieentladungen?«
»Ob wir sie erforschen?«, fragte Leeden. »Wir versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Die Senke wird stärker und erzeugt einen Wirbel. Und glauben Sie mir, dieser mobilen Antimaterieblase wollen Sie nicht begegnen. Wenn Sie es doch tun – viel Glück.«
»Diese Phänomene müssen aber bestimmt und erklärt werden«, beharrte Picard.
Captain Leeden schüttelte energisch den Kopf. »Wir hatten hier einige Schiffe mit Forschungsteams und die meisten von ihnen sind schreiend wieder weggeflogen. Ich glaube wirklich, dass Sie beide das nicht verstehen. In diesem Kampfgebiet gibt es Dinge, die in keinem Physikbuch stehen und die sich von einer Sekunde auf die nächste ändern können. Es ist kein normaler Schrottplatz … er ist fast schon verflucht. Ich hoffe, dass Sie Ihr Kommen nicht bereuen werden.«
Mit dieser Warnung ging der Captain der Juno schnurstracks Richtung Ausgang und verließ den Besprechungsraum. Picard und Riker folgten ihr den Korridor entlang und in den Transporterraum.
»Captain, nur noch eine Frage, wenn Sie erlauben«, meinte Picard, als Leeden bereits auf der Plattform stand. »Wie konnte jedes Schiff, das an der Schlacht von Rashanar teilgenommen hat, zerstört werden? Wissen Sie das?«
Leeden seufzte kurz. Ihr Gesicht spiegelte den Schmerz all der Dinge wider, die sie in den vergangenen Monaten gesehen hatte. »Auf jedem Schiff fanden wir Hinweise darauf, dass bis zum Tod gekämpft wurde. Die Waffenbänke leer, die Schilde zerstört, die Lebenserhaltung ausgefallen. Offenbar kam für niemanden Kapitulation infrage. Seien Sie vorsichtig, Captain Picard, und halten Sie Kontakt. Die meisten der Baken sind Subraumrelais. Oft funktionieren innerhalb des Areals verzögerte Subraumübertragungen trotz der relativen Nähe zueinander besser als die Funkfrequenzen.«
Die beeindruckende Frau gab dem diensthabenden Transportertechniker ein Zeichen. »Energie.«
Picard und Riker beobachteten, wie der Captain der Juno sich in einem Wirbel aus kristallinen Partikeln auflöste.
»Hm«, murmelte Captain Picard und presste die Lippen zusammen. »Das lief anders als geplant, was? Aber es ist ihr Revier und wir können mehr von ihr lernen als sie von uns.«
»Ich denke trotzdem, dass sie dringend eine Pause von dieser Mission braucht«, kommentierte Riker. »Ich würde gern ein Treffen zwischen Deanna und Captain Leeden arrangieren. Nichts Offizielles, vielleicht eher ungezwungen. Mich würde ihre Meinung interessieren. Wenn wir das machen wollen, was ihr nach eigener Aussage am meisten hilft, sollten wir nach Plünderern scannen und die Shuttles zum Schutz der Grenzen einsetzen.«
»Machen Sie das. Und auch alles andere, was wir ohnehin vorhatten«, antwortete Picard. »Wir nutzen alle Ressourcen der Enterprise. Alle Schichten, jedes Shuttle. Lassen Sie uns so schnell wie möglich alles in Erfahrung bringen, was wir wissen müssen.«
Als die Tür aufglitt, erlaubte der Captain sich ein leichtes Schmunzeln. »Bringen Sie uns so nah wie möglich an Warnbake 6. Bis dahin soll meine neue Jacht startbereit sein.«
Riker mahlte mit den Zähnen, als er den Korridor betrat. »Captain, ich muss Ihnen vermutlich nicht sagen, wie gefährlich es da draußen ist. Während Sie nicht auf dem Schiff sind, könnte es zu Problemen mit diesen Plünderern kommen.«
»Ich habe vollstes Vertrauen in Sie, Nummer Eins«, sagte Picard mit Nachdruck. »Keine Sorge. Ich lasse die Schilde aktiviert. Irgendjemand muss sich diese Schwerkraftsenke ansehen und ein paar Werte bekommen. Außerdem treibt da irgendwo ein anderes Schiff der Galaxy-Klasse.«
»Die Asgard