Stieg Larsson lebt! - Didier Desmerveilles - E-Book
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Stieg Larsson lebt! E-Book

Didier Desmerveilles

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Beschreibung

DER ROMAN: Ein mysteriöser Knochenfund, ein lange verdrängtes, ungesühntes Verbrechen und die tragische Geschichte dreier Freunde, die in ihrer Jugend Schlimmes erlebt haben – das sind die Zutaten von ENTFREMDUNG, der stimmungsvollen Krimi-Hommage von Didier Desmerveilles, dessen E-Book-Fassung rasch zum Geheimtipp avancierte und viele professionell betreute Titel von Großverlagen hinter sich ließ! Nachdem Tim Rasmussen in ENTFREMDUNG I dem Mörder (oder der Mörderin?) auf die Spur gekommen ist, wird er im zweiten Teil nun selbst zum Gejagten. Was der Freizeitermittler nicht ahnen kann: Wenn er das letzte Puzzleteil in diesem mysteriösen Mordfall gefunden hat, ist sein Todesurteil komplett! --- DIE LEGENDE: Im Mai 1998 äußerte Stieg Larsson seinem Kollegen Henrik Kristiansson gegenüber die Idee zu einem Buch, in dem er ein traumatisches Erlebnis aus seiner Jugend verarbeiten wollte. Die beiden Journalisten saßen in Stockholm bei einem Bier zusammen und spannen gemeinsam die Fäden für einen komplexen 2-teiligen Roman, dessen Kern das von Larsson selbst erlebte Verbrechen bilden sollte. 2004 verstarb Larsson, ohne dass aus der Idee für den Roman mehr geworden wäre. Auch Aufzeichnungen gab es keine. Lediglich für den Arbeitstitel (auf Deutsch etwa: "Die Pyramide, die in sich zusammenfiel") hatte Larsson noch Verwendung: Er ging auf in dem Originaltitel des dritten Millennium-Bandes (auf Deutsch etwa: "Das Luftschloss, das in die Luft gesprengt wurde"). Auf einer Germanisten-Fachtagung im italienischen Bozen 2013 traf Kristiansson im Anschluss an eine Autorenlesung den in deutscher Sprache schreibenden Westschweizer Independent-Autor Didier Desmerveilles, der ihm von seiner Hommage-Reihe "Die Legende lebt" erzählte, die sich damals noch im Planungsstadium befand. Desmerveilles zeigte sich von der Plot-Idee zu "Die Pyramide, die in sich zusammenfiel" sofort angetan und versprach ein Exposee zu verfassen, das er Kristiansson im Dezember 2013 vorlegte. Uneinigkeit herrschte im Anfangsstadium vor allem über den Schauplatz der Geschichte: Desmerveilles, der Schweden nie bereist hatte, bestand darauf, die Handlung des Romans in Schleswig-Holstein anzusiedeln, um authentisch bleiben zu können. (Der Autor hatte mehrere Jahre in Kiel und Hamburg gelebt.) Nach langen Diskussionen gab Kristiansson nach. Wenig später erschien eine Leseprobe des Romans als deutschsprachige Kindle-Edition. Im Frühjahr 2016 war der erste Teil des Romans nach mehreren umfangreichen Korrekturdurchgängen druckfertig. Mit Blick auf die komplizierte Rechtelage und die Streitigkeiten um den Nachlass von Stieg Larsson verzichtete Kristiansson darauf, sich mit seinem Projekt an Eva Gabrielsson oder den schwedischen Norstedts-Verlag, den Inhaber der internationalen Rechte am Werk Stieg Larssons, zu wenden, um es stattdessen als Indie-Produktion zunächst als E-Book zu vertreiben. Der Rest ist Geschichte.

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Seitenzahl: 318

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Didier Desmerveilles

Stieg Larsson lebt!

Entfremdung II

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Zweites Buch: Hasso

1 Edelgard Kruses Tabakladen

2 Die Pyramide

3 Die Gebrüder Moor

4 Kino

5 Kronshagen

6 Am Scheideweg

7 Der Mann in der Mansarde

8 Ein Bild an der Wand

9 Das Ende einer Ära

10 Der Adler

11 Nachricht aus dem Totenreich

12 Der Friedhof

13 Blutrot und schneeweiß

14 Nächtlicher Anschlag

15 Blödmann

16 Küpper

17 Original und Fälschung

18 Heuchler

19 Enthüllung

20 Ein Abend in der Disco

Drittes Buch: Regina

1 Köpfchen

2 Getrennte Wege

3 Schwestern

4 Die Brücke

5 Herr und Hund

6 Advent

Didier Desmerveilles ist mit diesem Buch seinem ehrgeizi­gen Ziel wieder einen Schritt näher ge­kommen: Der mehr­sprachige Globetrotter, Autor und Journalist, der vor Jahren vom malerischen Genfer See in die pulsierende Großstadt Hamburg zog, möchte zehn Autoren völlig unter­schiedlicher literarischer Gattungen und Genres ein Denkmal setzen – durch jeweils ein in der Manier des Vorbilds vollständig neu erschaffenes Werk. Zehn Autoren, ohne die die Welt der Bücher eine andere wäre. Zehn literarische Vorbilder, deren Geist Desmer­veilles neu beschwört und einzufangen versucht. Zehn literari­sche Huldigungen, spannend und unterhaltsam, als hätte da etwas überlebt und der Tod über Legenden wie Heinz Er­hardt, Enid Blyton oder eben Stieg Larsson keine Macht. Denn Geschichten sind unsterblich.

DER AUTOR

Impressum neobooks

Vorwort

Mit Entfremdung II liegt nun, als Band vier der Reihe Die Legende lebt, der zweite Teil einer Hommage an den legendären Krimi-Autor Stieg Larsson vor. Und die wichtigste Information steht gleich hier am Anfang: Dieses Buch erschließt sich auch ohne Kenntnis des als Entfremdung I vorgelegten ersten Bandes. Der Anfang erzählt eine komplett neue Geschichte, und erst am Schluss werden alle Fäden zusammen­geführt.

Karl Stig-Erland Larsson (1954-2004), wie der Bestseller-Autor mit bürgerlichem Namen hieß, verbrachte seine Kindheit im dörflichen Bjursele, einer entlegenen Gemeinde Nordschwedens, in der Obhut seiner Großeltern. Wie mag ihn dieses ländliche Leben, diese Ruhe und Abgeschiedenheit, beeinflusst haben? Müssen da, unter dem Eindruck eisiger Nächte und langer Winter, nicht schon früh düstere Gespinste den Geist des fantasie­begabten Heranwachsenden belauert haben? Haben die einsame Hütte, die Blomkvist bei seinen Recherchen zum Verschwinden von Harriet Vanger bezieht, oder die Schüsse im Wald nicht möglicherweise genau da ihren Ursprung? Wer Stieg Larsson ein literarisches Denkmal setzen möchte, muss da ansetzen. So entstand Tim Rasmussen, der Einsiedler, ein Blomkvist gewisser­maßen, der aus dem Hüttenexil nicht mehr herauskommt.

Das zweite Charakteristikum, an dem ich mich für meine Hommage orientieren konnte, ja musste, waren die unglaublich guten Plots des Schweden. Sie machen ja in maßgeblicher Weise den Erfolg der drei Millennium-Romane aus. Wie im Fall der verschwundenen Harriet langsam, Schritt für Schritt die Wahrheit ans Licht kommt, das Graben in der Vergangenheit, die Art und Weise, wie der Autor seine Leser bei den Recherchen von Blomkvist und Salander selbst zu kleinen Co-Detektiven macht und sie so in seine Geschichte hineinzieht, hineinsaugt, das war und ist meisterhaft, fesselnd, spektakulär und diente als Vorbild vor allem für den ersten Teil von Stieg Larsson lebt!, der im März 2016 erschien.

Es liegt nahe, dass Larsson, wenn er nicht auf so schicksalhafte Weise vorzeitig aus diesem Leben abberufen worden wäre, weiter literarisch von den Bildern langer Winternächte und grimmiger nordischer Kälte zehren würde. Die Idee, einen schrägen Einsiedler zu kreieren, kam auf, einen Menschen, der, aus welchem verborgenen Grund auch immer, sich von der Gesellschaft abgewendet hat, der von seinen Mitmenschen nichts mehr erwartet, der seinem Hund mehr vertraut als jedem menschlichen Wesen: Tim Rasmussen. In bester Verblendung-Manier musste es danach darum gehen, diesen jungen Mann, etwas jünger als Mikael Blomkvist, mit einer finsteren, lange zurück­liegenden Geschichte zu konfrontieren. Diese Geschichte musste viel größer sein, als es Tim sich in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können, und sie musste ihm derart über den Kopf wachsen, dass er, genau wie Blomkvist, am Ende selbst in Lebensgefahr geraten würde.

Wer sich mit Stieg Larssons Lebensgeschichte ein bisschen besser auskennt, etwa weil er die Biografie von Kurdo Baksi gelesen hat, weiß außerdem, dass der Autor als Jugendlicher mit einem grässlichen Gewalt­verbrechen konfrontiert wurde, das sich auf seine spätere Motivwahl als Literat sicherlich ausgewirkt hat. Auch diesem Befund versucht Stieg Larsson lebt! auf die diesem Werk eigene Weise Rechnung zu tragen. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten, denn besonders gut informierten Lesern und vor allem den pfiffigen Kombinierern unter ihnen habe ich damit vielleicht schon zu viel verraten.

Ich gebe es auch in dieser Vorrede zu Teil II noch einmal unumwunden zu: Ich kann Stieg Larsson nicht das Wasser reichen. Insbesondere eine Figur, die auch nur annähernd die Komplexität und Faszination einer Lisbeth Salander erreicht, sucht man hier vergebens. Jeder Versuch, sie zu kopieren oder zu plagiieren, wäre auch unklug. Die kritische Aufnahme des vierten Millennium-Bandes und das Urteil vieler unzufriedener Larsson-Fans beweisen, dass die Leser originäre Geschichten mehr zu schätzen wissen als Plots, die in ein vorgegebenes Korsett gezwängt werden, weil Marketing-Strategen es so wollen. Der Zuspruch, den Entfremdung I seitens seines kleinen Nischen­publikums erfahren hat, nachdem das Buch im Winter 2016 ohne Werbe-Etat, ohne Marketing-Maßnahmen und vor allem auch ohne die geringste Nutzung sozialer Medien und Netzwerke, nur mit den bescheidenen Mitteln der DIEBMA-Agentur als Kindle-Edition veröffentlicht wurde, nähren jedenfalls die Hoffnung, dass der eine oder andere Leser, die eine oder andere Leserin Freude auch an dem zweiten Teil dieses sicherlich unvollkommenen Versuchs haben wird, dem großen Schweden ein kleines Denkmal zu setzen.

Didier Desmerveilles

1. Juni 2016

Das Recht ist wie ein Paar Hosen, die man letztes Jahr für einen heranwachsenden Jungen gekauft hat, aber es ist immer dieses Jahr, und die Nähte sind geplatzt, und die Unterschenkel schauen heraus.

Robert Penn Warren

Zweites Buch: Hasso

Prolog

Sie waren unzertrennlich. Sie gehörten zusammen wie die drei Seiten einer Pyramide.

»Wenn einer von 'ner Pyramide eine Seite wegnimmt, gibt's keine Pyramide mehr.« Wer von ihnen den grandiosen Vergleich aufgebracht hatte, wusste keiner mehr. Aber er wurde von allen gern wiederholt, und er leuchtete jedem ein.

Wie immer nahmen sie das Mittagessen an ihrem Stammtisch am äußersten Ende des Speisesaals gemeinsam ein.

»Wisst ihr schon das Neuste?«

»Nö.«

»Kunikowski muss gehen.«

»Wieso das denn? Weil er Michael Stoephasius in der Reli-Stunde versaute Witze erzählen lässt?«

»Dafür sollte man lieber Stoephasius rausschmeißen, den Penner.«

»Ach was, und du hast nicht mitgelacht, oder was?«»Natürlich nicht.«

»Is' doch egal jetzt. Es geht da um was ganz anderes.«

»Nämlich?«

»Ihr lacht euch tot: Winkemann hat erzählt –«

»Wer ist denn jetzt schon wieder Winkemann?«

»Die rechte Hand von Kutbach, dem Schülersprecher. Also, Winkemann hat erzählt: Kunikowski hat jedem Lehrer 'ne Rolle Klopapier auf seinen Platz im Lehrerzimmer gelegt und dazu ein Plakat aufgehängt mit der Aufschrift – hahaha!«

»Nun mach's nicht so spannend, Hasso!«

»Das hältst du im Kopf nicht aus!«

»Mann, du Ärrer. Entweder hast du jetzt was Spannendes zu erzählen, oder du hältst gleich die Klappe!«

»Reg dich ab, Dicker. Also, auf dem Plakat stand: In einem sauberen Hintern fühlen sich Arschkriecher am wohlsten!«

»Nee, nä?«

»Im Ernst?«

»Im Ernst.«

»Ärre.«

»Ach komm, das hat Winkemann sich ausgedacht.«

»So was denkt sich keiner aus.«

»Wen hat er denn damit gemeint?«

»Das wüsste ich auch gern.«

»Plöner Schlossgeheimnis.«

»Wahrscheinlich hat er sich über irgendwen aus dem Kollegium aufgeregt, der nach der alten Schloss-Devise verfahren ist: Wer kriecht, kann nicht stolpern.«

»Hahaha.«

»Sagt mal Jungs, mal was ganz anderes: Was essen wir hier eigentlich gerade?«

»Auf dem Speiseplan steht Königsberger Klopse.«

»Wenn das Klopse sind, ist 'n Mops kein Mops, sondern 'ne Wüstenspringmaus.«

»Er nun wieder.«

»Voll der schillernde Verlgleich.«

»Ma' ganz im Ernst jetzt, Leute: Die gehen mit Müh' und Not als Hackbällchen Größe Z durch!«

»Z wie Zwergengröße.«

»Genau. Und außerdem sieht das Ganze hier sowieso aus wie schon mal gegessen.«

»Stimmt, jetzt, wo du's sagst... Für Klopse sind die viel zu klein. Und dann dieser Braunstich. Ist das wirklich Hackfleisch? Wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich sagen, die Dinger, die kommen direkt aus –«

»Halt! Ich weiß, was du sagen willst: Die kommen nicht aus 'ner Küchenschüssel, die kommen direkt aus der Klosch–«

»Hallo? Ich esse vielleicht gerade?«

»Nee, ma' ganz im Ernst jetzt! Und diese kleinen Dinger hier, was soll das sein?«

»Kapern.«

»Genau. Die ganze Kombüse sollte man kapern. Wenn ihr mich fragt, sind das Hammelküttel!«

»Herr Kirstein!«

»Wenn er dich so nennt, wird es ernst. Und ich muss dir da auch ganz klar widersprechen. Das sind keine Hammelküttel. Für Hammelküttel sind die viel zu groß. Mich erinnern die lütten Dinger eher an Karnickelküttel.«

»Aufhören!«

»Und die Soße, guckt euch das Zeug doch mal genau an, Jungs. Das ist gar keine Soße, das ist Kotze! Kotze vom Koch. Koch-Kotze.«

»Ist gut jetzt!!!«

»Nee, ma' ganz im Ernst: Unser Kombüsenchef hat die Hammelküttel zubereitet, und dabei ist ihm selber schlecht geworden, und er hat auf den Küchenboden gekotzt und dann die ganze Scheiße zusammengefegt, die Hammelküttel dazugegeben und das Ergebnis serviert man uns jetzt als –«

»Ich hau ab, ihr Arschlöcher. Mir ist der Appetit vergangen.«

»Hasso? Komm jetzt, sei kein Spielverderber.«

»Spielverderber? Ihr könnt mich mal!«

»Nun setz dich wieder hin. War nur Spaß!«

»Dein Essen wird kalt.«

Mit demonstrativ erhobenem Haupt und hyänenhaften Schritt stolzierte Hasso Richtung Ausgang. Bevor er den Saal verließ, drehte er sich noch einmal zu seinen Mitschülern um, die am Esstisch sitzend damit beschäftigt waren, ihre Königsberger Klopse zu sezieren. »Arschlöcher«, rief er. »Beide.«

Drei Freunde. Die drei Seiten einer Pyramide. Genau genommen haben Pyramiden vier Seiten.

1 Edelgard Kruses Tabakladen

Still lag Kruses Tabakladen im winterlich-trüben Licht des Vormittags. Eher schmucklos, trat das alte und unmoderne Geschäft zwischen den auf weihnachtlichen Hochglanz polierten übrigen Geschäften der belebten Hauptstraße kaum in Erscheinung, zumal eine alte Linde am Rand des Bürgersteigs den Blick darauf zusätzlich versperrte. Edelgard Kruse, eine etwas untersetzte Dame mit trotz ihres Alters noch in keiner Weise ergrautem, dunklem Haar, hatte nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemannes vor über zehn Jahren beschlossen, den Laden bis zum Erreichen des Rentenalters – nunmehr noch zwei Jahre – alleine weiterzuführen, doch dies erwies sich gerade in jüngster Zeit als immer schwerere Aufgabe. Das Geschäft ging schlecht. Langsam starben ihm die Kunden weg, zumeist Zigarre rauchende und Tabak kauende Veteranen der letzten beiden Weltkriege, die nichts mehr umhauen zu können schien; doch der Schein trog. Die Leuchtreklame an der ungepflegten Fassade, auf der neben dem Namen des verstorbenen Inhabers Kruse in Schreibschrift der einer Zigarrenmarke namens Rössli prangte, wobei das I von einer brennenden Zigarre mit der glimmenden Asche als I-Punkt verkörpert wurde, leuchtete des Nachts schon lange nicht mehr. Und es hätte auch wenig Sinn gehabt, sie zum Leuchten zu bringen, denn wer kennt heute noch die Firma Rössli? Auch ihr waren die Kunden nämlich längst weggestorben – als wollten sie der Warnung des Bundes­gesundheits­ministers, die heute auf jeder Packung steht, posthum einen Sinn geben. In den gemeinsamen Tagen von Edelgard und Walter Kruse hatte es solche gut gemeinten Ratschläge noch nicht gegeben. Nun aber ging das Geschäft, wie gesagt, schlecht. Man hätte renovieren müssen, doch das lohnte sich nicht mehr. Die verstaubten Zigarrenkisten auf dem Hintergrund grauer Gardinen in den zwei Schaufenstern links und rechts von der grün gerahmten Ladentür, die hinter ihrem Glas ebenfalls graue Gardinen aufwies, vermochten eine potentielle Kundenschar aus der nachwachsenden Generation nicht mehr in ihren Bann zu ziehen. Für diese war die neue Videothek zwei Häuser weiter eher ein Blickfang.

Aber es gab Ausnahmen. Hin und wieder verirrten sich doch ein paar Halbwüchsige in Kruses Tabakladen. Das war schon immer so gewesen. Es war freilich nicht der Duft von Tabak, der die meisten von ihnen anlockte, sondern mehr ein Anflug kindlicher Pyromanie, wie sie alljährlich um die Silvesterzeit unter Schülern – Schülerinnen selbstverständlich ausgenommen – besonders weit verbreitet und nicht unerheblich ausgeprägt ist. Ja, zu dem reichen Sortiment hinter Edelgard Kruses Ladentheke gehörten – zur Silvesterzeit – notgedrungen auch alle erdenklichen Arten von Feuerwerkskörpern: Knaller, Böller, Raketen und andere explosive Überraschungen. Einige harmlose Artikel dieser Art hielt Frau Kruse sogar das ganze Jahr über vorrätig. Hier sind vor allem die papiernen Ufo-Attrappen mit einem Durchmesser von maximal fünf Zentimetern und einem das Ufo-Deck darstellenden Etikett zu nennen, unter dem ein Drahtgestell mit einer Schwarzpulverdüse einschließlich einer kurzen Lunte verborgen war. Wenn man die anzündete, flutschte dieses Ding aus einer scheinbar anderen Welt, das eindeutig den Abenteuern des Raumschiffs Enterprise nachempfunden war, in sieben von zehn Fällen zirka zehn Sekunden lang durch Raum und Zeit, ehe es verkohlt aus seiner Flugbahn fiel, wie von einem Klingonenkreuzer tödlich getroffen. In den anderen drei Fällen zischte die Antriebsdüse und sprühte mächtig Funken – ebenfalls für die Dauer von rund zehn Sekunden –, bewegte das Ufo dabei allerdings nicht einen Zentimeter von der Stelle. Es handelte sich um so genannte Blindgänger. Bei einem Verkaufspreis von unter einer Mark pro Ufo konnte man aber schon mal so einen Blindgänger verkraften, auch wenn's das spärlich bemessene Taschengeld eines Zwölf- bis Dreizehnjährigen war, das dabei draufging. Das war nämlich jahrelang das Durchschnittsalter der Hauptabnehmer dieser gut identifizierbaren Flugobjekte gewesen. Doch es kann und darf nicht verschwiegen werden: Sorgen hatten Edelgard Kruse angesichts dieser begeisterten, aber eben minderjährigen Klientel lange Zeit geplagt. Wie die Geier hatten sie sich damals, zu Spitzenzeiten, mindestens ein Mal pro Woche in einer Gruppe von drei bis fünf Leuten in ihren Laden und auf die Ufos gestürzt. Einerseits war ihr natürlich jeder Umsatz willkommen, vor allem im Falle einer so gewaltigen Gewinnspanne wie bei diesen Ufos. Andererseits gab es da diese Vorschrift bezüglich des Verkaufs von Feuerwerkskörpern an Jugendliche unter achtzehn Jahren. Und jene ebenso harmlosen wie begehrten Ufos fielen nun einmal in keine andere als die Produktgruppe Feuerwerkskörper, so unbedenklich sie ihres Erachtens auch sein mochten. An Paragrafen konnte man nicht rütteln. Ach, das Leben war doch voller Fallstricke und stellte einen immer wieder auf die Probe. Wer konnte da schon immer anständig bleiben? Edelgard gab also die Ufos in die begierigen Hände der zahlenden Minderjährigen ab und steigerte so ihren Monatsumsatz. Niemals aber ließ sie die leise, aber klar vernehmbare und nie verstummende Stimme ihres Gewissens damit so recht zu Seelenfrieden finden, und nachdem sie eines Abends – es muss wohl im Dezember gewesen sein – im Fernsehen eine Ausgabe des Gesundheitsmagazins Praxis mit Hans Mohl verfolgt hatte, in der über tragische Unfälle von Kindern im schulpflichtigen Alter auf Grund unsachgemäßen Umgangs mit Feuerwerkskörpern berichtet wurde, nachdem sie Bilder von verbrannten Kinderhänden und -gesichtern und von erblindeten Halbwüchsigen gesehen hatte, die ihr des Nachts als alptraumhaft entstellte, anklagende Fratzen von lebenden Mumien wiederbegegnet waren, da stand ihr Entschluss, einen radikalen Schlussstrich unter diese ihre halblegale Praxis zu ziehen, ein für allemal fest.

Zwei Tage später sah sie sich den fragenden, zweifelnden, enttäuschten, aber auch künftig unversehrten Gesichtern ihrer Stammkunden auf der anderen Seite des Ladentisches gegenüber. Ihr Entschluss war unverrückbar. Eisern wies sie alles Bitten und Flehen mit einem resoluten Kopfschütteln zurück. Es gab keine faulen Kompromisse mehr.

Ihr Umsatz an Ufos war seit damals sprunghaft zurückgegangen. Drei Jahre mochten seither vergangen sein, vielleicht auch vier. Und nun saß Edelgard Kruse also an diesem Wintermorgen eine Woche vor Weihnachten missmutig auf dem gepolsterten Stuhl hinter ihrer Theke, harrte ihrer spärlichen Kundschaft und sagte sich: »Zwei Jahre noch, dann ist Feierabend.« Gegen halb zehn kamen plötzlich drei merkwürdige jugendliche Gestalten hereingeschneit, buchstäblich, denn durch die aufgerissene Ladentür wehte der Wind ein paar von den Schneeflocken mit herein, die seit ein paar Minuten leise vom bewölkten Himmel herabrieselten. Andere fielen von den Winterjacken der Eintretenden auf den uralten Holzfußboden in Kruses Tabakladen. Mit Unwillen dachte Edelgard an die durch solches Wetter am Ende eines Geschäftstages vervielfachte Reinigungsarbeit. Dann aber galt ihre Aufmerksamkeit den seltsamen Kunden. Hatte sie diese Gesichter nicht schon mal gesehen? Sie konnte sich nicht erinnern. Die Jugendlichen mochten so um die fünfzehn Jahre alt sein. Zwei von ihnen trugen offenbar weiße Kittel unter ihren Jacken. In ihrer Mitte stand auf etwas wackeligen Beinen ein dunkelhaariger Junge in ziviler Kleidung, dessen Erscheinung sie auf unbestimmte Weise beunruhigte. Es war etwas in seinem Blick, das nicht stimmte. Seine Augen waren weit aufgerissen, blickten starr und stupide, zwischendurch zwinkerten sie nervös. Und sein Mund! Eine amorphe Öffnung, eigenartig verzerrt, mit einem weit vorstehenden Unterkiefer. Den Kopf hielt der Junge die ganze Zeit sonderbar schräg. Überhaupt schien er kein bewegliches Organ recht kontrollieren zu können. Ein... Irrer? Hoffentlich kein Irrer, dachte Edelgard Kruse, die in ihrem langen Geschäftsleben schon so manche Kuriosität erlebt hatte. Offenbar gegen den Willen der anderen beiden, von denen einer, der größere, ihn vergeblich zurückzuhalten versuchte, trat der Irre forsch zu ihr an die Theke. »Ich will 'ne rote Silvesterrakete!«, gab er mit Nachdruck zu verstehen, obwohl er beim Sprechen die Zähne von Ober- und Unterkiefer keinen Millimeter auseinanderbekam.

Oh Gott, dachte Edelgard. Vor Jahren war sie zum bisher letzten Mal einem Verrückten in ihrem Laden gegenübergestanden. Unwillkürlich fiel ihr die Geschichte ein. Der Verrückte hatte darauf bestanden, verschiedene Zigarrenmarken zu probieren. Er hatte gegen ihren Willen fünf Zigarren aus fünf verschiedenen Schachteln herausgenommen, sie sich alle zusammen in den Mund gestopft und angezündet. Noch heute sah sie das Gesicht mit den fünf qualmenden Zigarren vor sich. Edelgard hatte draußen um Hilfe gerufen, und als man ihn entfernen wollte, hatte der Zigarrenirre, wie sie ihn später immer nannte, zu randalieren begonnen und zahllose Tabakwaren vom Regal gerissen. Man war als Geschäftsfrau solchen Situationen einfach hilflos ausgeliefert.

Nun traten auch die anderen beiden jungen Männer vor, und der links Stehende, ein großer, kräftiger Bursche mit kurz geschorenem, mittelblondem, pomadigem Haar und kalten, stahlblauen, eng zusammen­liegenden Augen, richtete das Wort an die Ladeninhaberin, die sich, Böses ahnend, hinter ihrer Theke erhoben hatte. »Entschuldigen Sie bitte«, begann er in ernstem Ton und mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er ihr das Ableben eines nahen Verwandten mitzuteilen, »aber das ist Jim. Könnten Sie ihm wohl eine rote Silvesterrakete verkaufen?« Seine Stimme war rau und fest, aber Edelgard beruhigte sie in keiner Weise.

»Ist er denn schon achtzehn?«, erkundigte sie sich mit bröckliger Stimme.

»Ich will 'ne rote Silvesterrakete«, wiederholte der Irre. Hilfesuchend blickte sie die andern beiden an.

»Tut mir leid, er ist aus der Anstalt weggelaufen«, erklärte der große Blonde. »Ich soll eigentlich auf ihn aufpassen, aber er ist mir einfach durchgebrannt, und jetzt muss ich ihn zurückbringen. Wissen Sie, er leidet nämlich an Quinde­cimviri­orumque, und immer zur Adventszeit ist es dasselbe mit ihm: Die Tage werden kürzer, es gibt Frost, und der erste Schnee fällt, und da denkt er immer gleich an Weihnachten und an Silvester – und an rote Silvesterraketen. Die hat er so gern. Und jedes Mal, wenn wir dann an Ihrem Tabakladen vorbeikommen, dann kann ich ihn einfach nicht mehr halten. Er weiß, hier gibt's die Raketen, und dann wird er jedes Mal ganz wild und quengelt rum.«

Der andere Junge, der etwas untersetzt war, fügte hinzu: »Er hat sogar extra ein Weihnachtsgedicht für Sie auswendig gelernt.«

»Mmmh«, nickte der Irre, sichtlich von Stolz übermannt.

»Na los, Jimmi!«, befahl der Große.

»Advent, Advent, ein Lichtlein brennt«, stammelte der Irre und sah Edelgard treuherzig an, »erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann stehn Raketen vor der Tür!«

»Und dann gibt's noch viel mehr Lichter«, ergänzte der Große, »all die schönen Silvesterraketen, die explodieren, nicht, Jimmi?«

Jim sagte Ja und klatschte vor Begeisterung in die Hände, was ziemlich ungelenk wirkte. Die Tabakhändlerin, die ein gutes Herz hatte, sah bereits all ihre guten Vorsätze und Prinzipien sich in Luft auflösen, aber sie durfte ganz einfach ihre Pflicht nicht verletzen, nein, sie musste jetzt stark sein, und deshalb sagte sie, von Mitgefühl ergriffen, dass es ihr leid tue, aber: »Ich kann ihm die nicht verkaufen.«

»Ich will aber 'ne rote Silvester­rakete!«, quengelte Jim inzwischen beinahe weinerlich.

»Nun sei nicht so stur, du hörst doch, dass das nicht geht. Die Dame kann dir keine rote Silvesterrakete verkaufen. Komm jetzt, wir müssen gehen.«

»Ich will aber nicht gehen.«

»Wirst du schon wieder ungezogen?«

»Ich will 'ne rote Silvesterrakete!«, sprach Jim und setzte sich entschlossen auf einen Stuhl neben der Ladentür.

Frau Kruse zugewandt, erklärte der Große: »Es tut mir leid, er ist manchmal ein bisschen bockig.« Und zu Jim sagte er zornig: »Du kommst jetzt mit!« und packte ihn mit Gewalt.

»Nee!«, rief Jim, sträubte sich und riss sich von dem Großen los, der nun zu resignieren schien: »Also gut, wie du willst. Du kannst ja von mir aus hierbleiben, aber wir gehen jetzt!«

Tatsächlich verließen die beiden mutmaßlichen Aufseher abrupt den Laden. Sie ließen ihren Schützling einfach zurück. Der blieb mit verschränkten Armen beleidigt auf dem Stuhl sitzen, während Edelgard Kruse unschlüssig hinter der Ladentheke stehen blieb und ihn beobachtete.

»Mensch, die können mich doch nicht mit dem hier alleine lassen!«, sprach sie spürbar entrüstet vor sich hin.

Nach einer Weile geschah etwas Sonderbares: Jim rutschte erst langsam vom Stuhl auf den Boden, dann begann er plötzlich zu zucken wie unter elektrischen Schlägen und wälzte sich unter erbärmlichen Blöklauten auf dem Boden hin und her.

»Du meine Güte! Was mach' ich denn jetzt?«, schrie Edelgard Kruse. Man merkte ihr an, dass sie mit dieser Situation hoffnungslos überfordert war. Minuten verharrte sie ratlos vor dem Zuckenden, der schaumigen Speichel auf ihren Holzfußboden sabberte ehe, zu ihrer Erleichterung und Erlösung, die beiden anderen Jungen zurückkamen.

»Ach du Schande«, rief der Große sofort aus, als er das Unglück sah, »er hat wieder einen Anfall! Und Sie stehen da einfach so rum? Hätten Sie ihm nur seine verdammte Silvester­rakete gegeben!«

»Das darf ich doch nicht!«, verteidigte Edelgard sich verzweifelt.

»Hat er das schon lange?«, erkundigte sich der Große mit sachver­ständiger Miene.

»Vielleicht eine Minute, das fing gleich an, nachdem Sie weg waren.«

Der Große beugte sich nieder zu Jim, nahm ihn in den Arm. Der Untersetzte eilte ihm zu Hilfe, und gemeinsam stellten sie Jim wieder auf die Beine. »Ganz ruhig, Jimmi, ganz ruhig!«, redeten sie ihm zu.

Während der Untersetzte sich weiter um Jimmi kümmerte, klärte der Große Frau Kruse auf: »Wissen Sie, das kann bei Quindecim­viriorumque schon mal vorkommen. Er ist sehr labil. Sobald ihn irgendetwas zu sehr aufregt...«

»Komm jetzt«, sagte der Untersetzte zu Jimmi. »Was wolltest du denn auch nicht auf uns hören! Das hast du nun davon.« Endlich verließen sie, Jim gemeinsam stützend, den Laden. »Äh ja, also dann auf Wiedersehen!«

Lieber nicht, dachte Edelgard Kruse und atmete auf, als die drei aus ihrem Geschäft verschwunden waren. Zwei Jahre, sagte sie sich, zwei Jahre noch.

Was sich anschließend draußen auf der Straße abspielte, sollte Edelgard Kruse zum Glück nie erfahren. Wenige Meter von ihrem Tabakladen entfernt, brachen die drei seltsamen Genossen lauthals in Gelächter aus. »Auf Wiedersehen! Wenn die uns noch mal wiedersieht, bricht die tot zusammen! Das war echt die Härte!«, rief der Große. Sein Name war Hasso.

»Das Gesicht von der Alten, wie ich mich da vor ihr am Boden gewälzt hab', vergess' ich nie«, keuchte der wundersam genesene Quindecim­viriorumque-Patient, der in Wirklichkeit Tim und nicht Jim hieß.

»Die arme Frau, die hat bestimmt 'n Schock fürs Leben! Jungs, wir sind Schweine!«, brach es aus Hasso heraus.

»Stimmt. Aber dein ›Entschuldigen Sie bitte, aber das ist Jim!‹ war einfach zu genial! Dafür hat sich das Ganze schon gelohnt.«

Jetzt meldete sich auch der Dritte im Bunde zu Wort, der, obschon er in Wirklichkeit natürlich anders hieß, auf den Namen Kirri hörte: »Wir müssen ächt ärre sein, hier so'n Scheiß zu veranstalten. Aber auf der andern Seite hat die Alte auch selber schuld. Sie hätte uns eben damals in der Fünften die Ufos verkaufen sollen, anstatt sich so anzustellen, von wegen minderjährig und so.«

»Quindecimviriorumque! Ich lach mich tot!«, brüllte Hasso. »Bin nur froh, dass ich das ohne Versprecher hingekriegt hab'. Und ohne Lachkrampf!«

»Du Dödel, das muss Quinde­cimvirorumque heißen«, verbesserte ihn Tim, »ohne i; vir ist doch normale O-Deklination, also muss der Genitiv Plural virorum heißen, oder liege ich falsch?«

»Das wird mir jetzt zu vir, äh, wirr«, kam die Antwort. »Und außerdem Scheiß drauf, meinst du, die Alte kennt sich aus mit unsern Lateinvokabeln?«

»Naja, eine hat sie jedenfalls heute gelernt!«

»Und dann war sie mit ihrem Latein am Ende, hihi!«, schloss Kirri mit seiner kauzig-hellen, vom einsetzenden Stimmbruch zusätzlich entstellten Stimme.

»Ich fürchte, das sind wir gleich auch«, nahm Tim nach einem Blick auf seine Armbanduhr den Faden wieder auf, »sofern das für Mathe die richtige Formulierung sein kann.«

»In Mathe war ich mit meinem Latein schon immer am Ende«, meinte Kirri, der nun seinerseits zur Uhr blickte und sogleich mit Schrecken feststellte: »Oh Mann, Scheiße, jetzt versteh' ich, was du meinst. Wir kommen zu spät! Wir kommen zu spät zur Mathestunde!«

»Ein Blitzmerker eben!«, sagte Hasso zu Tim und klimperte ironisch mit den Augenlidern.

»Ich glaube, Jungs«, meinte Tim, »wir haben diese Freistunde zur Genüge ausgereizt. Los jetzt, dalli!«

»Nur noch fünf Minuten. Scheiße, das schaffen wir nie!«, seufzte Kirri.

»Oh, Kirri! Halt die Klappe«, erwiderte Hasso, »und verlier' nicht immer gleich die Nerven. Das schaffen wir locker.« Sprach's und preschte im Laufschritt nach vorn, drehte sich nach zehn Metern um und fügte, während er rückwärts weiter durch das Schnee­gestöber trabte, hinzu: »Wir müssen uns nur 'n bisschen beeilen!«, womit für die andern beiden ebenfalls das Startkommando gefallen war.

Dummerweise lag das Internat auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Stadtgebiets. Nun ist eine Anhöhe im hohen Norden Deutschlands natürlich etwas völlig anderes als etwa im Harz oder im Schwarzwald, eben eine norddeutsche Anhöhe, eine Erhebung, die – sagen wir mal – einfach etwas weniger flach ist als das Flachland, das sie umgibt. Aber wenn man es eilig hat wie Hasso, Tim und Kirri an diesem Vormittag, wenn einem der kalte Wind auch noch eisige Schneeflocken ins Gesicht bläst, während man sich vorwärtszukommen bemüht, dann spürt man in den Beinen schon die leichte Steigung der Wegstrecke. Vor allem galt dies für Kirri, der kein besonders sportlicher Typ und außerdem leicht – aber wirklich nur leicht, darauf legte er Wert – übergewichtig war. Wie immer, wenn es schnell gehen sollte, hing er hinterher. »Nicht so schnell«, keuchte er ängstlich, weil er sich bereits ganz allein zu spät zum Unterricht erscheinen sah. »Wartet!«

»Lass uns auf Kirri warten«, schlug Tim atemlos vor, als er hinter Hasso den Eingang zum Internatsgelände passiert hatte, dessen Schulhof menschenleer vor ihnen lag und auf dem lediglich der Wind, der die vereinzelten Schneeflocken auf- und niederfegte, für Bewegung sorgte.

»Na gut, jetzt ist's sowieso egal. Bin ja kein Kameraden­schwein«, grunzte Hasso.

»Ihr Ärren«, ächzte der Nachzügler, als er endlich zu ihnen stieß, »wieso lasst ihr mich so hängen?« Kirri hatte die Angewohnheit, seine beiden Lieblingswörter irre und Irrer »ärre und »Ärrer« auszusprechen. Hätte jemand versucht, ihn auf diesen Sprachfehler aufmerksam zu machen, er hätte nicht einmal verstanden, wovon die Rede war.

»Du lässt dich doch selber auch immer hängen«, entgegnete Hasso bissig. Geschlossen stiegen sie schließlich die letzten Meter auf der steinernen Treppe des Schlosses zum Klassenraum der Untertertia hinauf.

»Ich hab' ja gleich gesagt, das schaffen wir nicht«, murrte Kirri weiter. Hasso übernahm die Verantwortung, klopfte an die geschlossene Tür des Klassenzimmers und entschuldigte sich bei Herrn Meyer ausdrücklich für die Verspätung. Der Mathematiklehrer quittierte Hassos ungewohnt demütige Ausführungen mit einem spöttischen Grinsen und sagte: »Ach nee, Hasso Hawermann und seine Spießgesellen mal wieder! Ihr habt doch bestimmt wieder irgendwelchen Heckmeck vorgehabt, hm?« Hasso fühlte sich nun auf sicherem Terrain, die Einladung zu einem ironischen Schlagabtausch mit dem Lehrer nahm er dankbar an. Seine Stimme nahm wieder ihren gewohnt festen, sicheren Klang an, als er antwortete: »Heckmeck? Aber Herr Meyer, Sie kennen mich doch...«

»Eben, Hawermann, eben.« Die Klasse lachte entspannt. Inzwischen wanderten die drei Zuspätkommer unauffällig auf ihre Plätze. »Aber du weißt gar nicht, was ich meine, hm?«

»Sie sagen es. Ich weiß nämlich gar nicht, was Heckmeck ist. Wenn Sie Mecki meinen, den kenn' ich aus der Hörzu. Das ist so ein Igel mit Menschenkopf, der –«

Die Klasse lachte. »Danke, Hawermann, reicht!«, würgte Meyer ihn ab. »Treib's nicht auf die Spitze, Hawermann. Mein Geduldsfaden ist heute nicht lang.«

»Na, umso besser«, kam sogleich der Konter, »physikalisch gesehen ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass er reißt, viel geringer.« Ein Gelächter wie ein Sturm. Meyer brauchte eine Weile, um die Klasse wieder zur Ruhe zu bringen. Er sah ein, dass er besser das Thema wechselte. »Gut. Vom Rhetorik-Kurs für Anfänger zu den Mathe-Hausaufgaben für Fortgeschrittene. Was sagst du denn dazu, mir deine mal zu zeigen, Hawermann?«

»Ich sage dazu: Das versteht sich doch von selbst, dass ein Schüler seinem Lehrer die Hausaufgaben zeigt, und sollte insbesondere für einen Schüler wie mich kein Problem darstellen.«

»Am besten an der Tafel hier«, schlug Meyer vor.

»Wenn Sie meinen, dass ich an der Tafel besser bin als Sie...«

Dieser Hawermann war doch ein verflixt ausgekochtes Schlitzohr. So leicht, merkte Meyer immer wieder, war dem nicht beizukommen. Aber Schüler wie er sorgten wenigstens dafür, dass der Unterricht nicht langweilig wurde.

2 Die Pyramide

Hasso Hawermann, Tim Rasmussen und Arnold Kirstein oder schlicht Hasso, Timmi und Kirri, wie sie sich selbst riefen, das waren Freunde, wie man sie nicht alle Tage findet. Freunde fürs Leben, hätte man meinen können, wenn man sie damals miteinander sah. Die gingen gemeinsam durch dick und dünn, und faustdick hatten sie's hinter den Ohren. Die besonderen Lebensumstände im Internat schweißten die Kinder enger zusammen, als es vielleicht ohnedies der Fall gewesen wäre. Keiner der drei Freunde vergaß je die Geburtsstunde der Pyramide, wie sie selbst sich später nannten. Es war eine schwere Geburt. Hasso und Kirri kannten sich schon seit der Fünften und hatten zunächst eines der seltenen Zweibettzimmer im obersten Stockwerk des Schlosses bewohnt, mit einer fabelhaften Sicht auf das Städtchen unter ihnen und den großen See, an dem es lag. Ihre Begeisterung hielt sich ziemlich in Grenzen, als ihnen die Internatsleitung an einem eisigen Februartag durch die Hausmeisterin Frau Bleiweiß mitteilen ließ, dass man einen neuen Schüler bei ihnen einzuquartieren gedachte und, indem man eines der Einzelbetten durch ein Etagenbett austauschte, aus dem Zwei-Mann- ein Drei-Mann-Zimmer machen würde. Freiräume, hieß es schon beinahe sarkastisch, habe man ja draußen an der freien Luft genug.

Einsilbig und miesepetrig behandelten Hasso und Kirri, wie abgesprochen, den Neuankömmling, als er in seinem übergroßen braunen Wintermantel, schwere Koffer links und rechts, etwas scheu zum ersten Mal sein neues und ihr altes Zimmer betrat. Der Neue durfte ruhig merken, dass er nicht willkommen war. Hasso und Kirri gaben sich sichtlich Mühe, die gewünschte Wirkung zu erzielen. Als Tim sich ihnen vorstellte, blickten sie nicht auf, nickten nur einmal kurz, und als er anfing, Bücher in das für ihn eigens neu befestigte Regal zu räumen, blieben die anderen beiden stumm wie Fische im Aquarium an ihren Schreibtischen kleben und taten, als ob es für sie nie im Leben etwas Wichtigeres geben könne als die gewissenhafte Erledigung der Hausaufgaben, in die sie vertieft zu sein vorgaben. Dabei schielten sie aus ihren Augenwinkeln immer wieder verstohlen zu dem Neuen hinüber, der am anderen Ende des Saals weiter seiner Umpack­arbeit nachging. »Ich nehme an, das hier ist mein Bett?«, sagte er schließlich, mehr weil ihm das konsequente Schweigen im Raume Unbehagen bereitete, als aus echter Unwissenheit.

»Mmh, das obere«, gab Kirri kurz angebunden zurück. »Ich kann nämlich nicht oben schlafen, weil ich Angst hab', ich fall' da raus.« Zu seinem Glück war Tim vorsichtig genug, nicht zu lachen. Kirri hatte eine dünne Haut, auch wenn man es ihm nicht unbedingt ansah. Er war ja auch sonst kein dünner Mensch. Kirri hatte schon mehr geredet, als Hasso lieb war. Ein Blick von Hasso – und wieder herrschte eisiges Schweigen.

Nach einer Weile brach es plötzlich aus Tim heraus: »Stellt euch mal vor, ihr wäret neu an einem Ort, von dem ihr jetzt schon wisst, dass ihr lange Zeit dort bleiben werdet. Ihr kennt keine Menschenseele, und ihr seid allein. Dann begegnet ihr zwei Leuten, die schon länger an dem Ort wohnen und mit denen ihr eng zusammenleben werdet. Was würdet ihr von denen erwarten?«

»Weiß nicht«, meinte Kirri, der am Überlegen war, aber noch nicht ganz durchschaut hatte, worauf Tim hinauswollte.

»Ich würde froh sein, in Ruhe gelassen zu werden, so, wie ich's jetzt auch wäre«, fuhr Hasso ihn an.

»Entschuldigung«, fauchte Tim zurück, »ich wusste ja nicht, dass ich in ein Heiligtum eingedrungen bin.«

»Wenn du hier rumstänkern willst, kannst du dich lieber gleich verpissen«, donnerte Hasso. »So was könn' wir hier nicht brauchen. Hast du hier vielleicht schon was geleistet? Wer Ansprüche erhebt, muss sich erst mal beweisen.«

»Du meine Güte, was denn für Ansprüche? Man wird doch noch mal 'ne Frage stellen dürfen!«

Hasso war es gewohnt, den Ton anzugeben, sich als Chef zu profilieren. Mit Kirri gab es damit naturgemäß keine Schwierigkeiten. Schon seine Bequemlichkeit schloss jegliche Auflehnung aus. Doch der scheinbar so scheue und schmächtige dunkelhaarige Bubi, der da in sein Leben getreten war, das war einer, der nicht beliebig nach seiner Pfeife tanzen würde. Er war mit Sicherheit nicht blöd, auf den Mund gefallen auch nicht und ansonsten offenbar gar nicht so leicht auszu­rechnen. Hasso spürte das, und seine Eitelkeit rebellierte mächtig dagegen. Er wollte das Zimmer verlassen, weil er merkte, dass die Atmosphäre bis auf weiteres vergiftet war. Als er an Tim vorbeiging, der immer noch Bücher aus seinen Koffern herauskramte, fiel diesem bei einem unwillkürlichen Blick auf Hasso ein Buch aus der Hand. Rasch griff Tim danach. Für Hasso hatte die Zeit jedoch gelangt, um den Titel auf dem Buchrücken zu entziffern. Und dazu konnte er nicht schweigen. »Die Bibel?«, fragte er. »Bist du 'n Heiliger?«

»Wenn das hier kein Heiligtum ist, bin ich auch kein Heiliger.«

»Sag bloß, die hast du schon gelesen.«

»Noch nicht«, erwiderte Tim, jetzt nicht mehr ganz so feindselig, »aber ich hab' mir's fest vorgenommen. Ich will nicht sterben, ohne gelesen zu haben, was da drinsteht. Könnte ja wichtig sein.« Hasso hörte gespannt zu. Das war mal was Neues. »Glaubst du, dass du nach deinem Tod wie durch eine Falltür ins Leere fällst und einfach nichts mehr mitkriegst?«, redete Tim weiter.

Da bekam das Eis erste Risse. Endlich jemand, der sich ähnliche Fragen stellte wie er, Hasso, grundlegende Fragen, Fragen, die sich nicht nur auf der Oberfläche bewegten. Endlich jemand, der sich nicht damit begnügte, die Dinge einfach hinzunehmen, sondern der nachdachte und wie er anstrebte, einen Blick hinter die Fassaden des Daseins zu werfen. Endlich jemand, mit dem man reden, diskutieren und nicht bloß ab und zu ein nichtssagendes Schwätzchen halten konnte. »Ist interessant, was du da sagst«, brachte Hasso langsam hervor. »Eigentlich kann man sich ja gar nicht vorstellen, nicht mehr da zu sein und einfach nichts mehr mitzukriegen. Das übersteigt einfach unser... Fassungs­vermögen. Ich hab's versucht. Es ist wie mit der Unendlichkeit des Universums. Hast du dir das schon mal vorgestellt? Wenn man sich das mal ganz genau vorzustellen versucht, dann merkt man, dass man das eigentlich gar nicht kann.«

»Oder es wird einem schwindlig.«

»Ja...«

»Weil man als Mensch nur in endlichen Dimensionen denken kann, logisch.«

»Logisch?«

»Auf der ganzen Erde gibt es nichts, das völlig unvergänglich, ewig, unendlich wäre. Selbst die Sandkörner am Strand kommen uns nur unendlich vor, weil wir in unseren Möglichkeiten so begrenzt sind.«

»Und weil wir keine Lust zum Zählen haben«, lachte Hasso.

»Ja, aber ihre Zahl muss endlich sein, weil der Planet Erde nicht unendlich ist.«

»Und doch gibt es das Unendliche«, spann Hasso den Gedanken weiter, »in das die Erde eingebettet ist. Denn wenn das Universum ein Ende hätte, was wäre dann hinter diesem Ende? Irgendwas muss da ja sein. Vielleicht 'n schwarzes Loch?«

»Vielleicht das Himmelreich? Oder Gott?«

»Das erklärt deine Bibel. Aber was kommt hinter dem Himmelreich und Gott? Das muss ja auch irgendwo zu Ende sein, oder?« Tim zuckte mit den Achseln. »Na jedenfalls, wenn dahinter noch was kommt, dann steht man wieder vor dem gleichen Problem wie vorher: Was kommt dann? Und dann? Und dann? So geht das immer weiter.«

»Unendlich«, lachte Tim, und auch Hasso musste lachen. Das Eis war längst zerronnen. »Hast du dir mal vorgestellt, wie das ist, wenn du tot bist?«, fuhr Tim angeregt fort.

»Das ist es ja eben«, meinte Hasso. »Wie soll man sich das vorstellen können? Dass ich selbst es bin, der sich das vorstellt, schließt ja schon aus, dass ich mir eine Welt ohne mich, ohne Ich vorstelle. Man kann genauso gut versuchen, nicht oder nichts zu denken. Das wird auch nicht klappen. Selbst im Schlaf nicht, denn da träumt man, und Träumen kann man verstehen als Denken ohne Bewusstsein. Und selbst im Traum... Kann man träumen, nicht mehr zu existieren, ich meine, überhaupt nicht mehr, auch nicht als Geist oder körperloses Ich?«

»Man kann vielleicht träumen, dass man stirbt, aber dann wird man vermutlich auch träumen, dass man in irgendeiner Form anders weiterlebt.«

»Oder aufwachen. Meistens wacht man ja auf, bevor man im Traum stirbt.«

»Oder man ist wirklich tot«, gab Tim zu bedenken.

»Oder man wechselt einfach das Thema und träumt was anderes. Plötzlich tot zu sein ist ja auch ganz schön beschissen.«

»Ich glaub', ich träume! Was labert ihr da eigentlich, ihr armen Ärren?«, schaltete sich schließlich Kirri in die Unterhaltung ein, der nur halb und halb mitbekommen hatte, worum es dort am andern Ende des großen Schlafsaals ging.

»Das macht man wahrscheinlich automatisch«, fuhr Hasso fort und blieb Kirri in einer spontanen Entente cordiale mit seinem Gegenüber die Antwort schuldig.

»Aber was schließt man jetzt aus diesen Beobachtungen?«, wollte Tim wissen. »Dass der Mensch – seine Seele oder wie man das nennen will – unsterblich ist und dass es Gott gibt? Oder dass man nur dieses eine Leben hat und dass der Tod so furchtbar, ein so furchtbares, endgültiges Nichts und Ende und Aus ist, dass man sich das nicht mal vorstellen kann und dass man deshalb zusehen muss, dass man so viel wie möglich von dem, was einem wichtig und erstrebenswert erscheint, in dieses eine und einzige Leben reinpackt?«

»Gute Frage«, erwiderte Hasso. »Aber ist es überhaupt möglich, darauf eine einzige verbindliche Antwort zu finden? Glaubst du, du findest in der Bibel eine?«

»Die Bibel?«, meldete sich Kirri wieder zu Wort. »Kenn' ich. Ist das nicht die Geschichte vom Latten-Jupp?« Hasso rollte mit den Augen. Sein Blick schien sagen zu wollen: Von Kirri darf man nicht zu viel verlangen.