Stolps Reisen: Damals und heute, von den Anfängen bis zum Massentourismus - Jürgen Dittberner - E-Book

Stolps Reisen: Damals und heute, von den Anfängen bis zum Massentourismus E-Book

Jürgen Dittberner

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Beschreibung

Menschen haben einen Urdrang zur Mobilität. Die alten Römer zog es nach Germanien, Goethe nach Italien, Humboldt nach Südamerika – und Handwerkergesellen walzten in neue Gegenden. In der modernen Zeit wurde daraus das „Reisen“. Anfangs ging es aufs Land: Beschürzte Omas, Piepe rauchende Opas, Vieh, Landluft und Donnerbalken erwarteten ihre Gäste. Dann kam der „Jahresurlaub“: Familien verbrachten drei arbeitsfreie Wochen an der Nordsee oder in Bayern, später in Österreich oder Spanien, schließlich in Vietnam oder den USA. Der „Zweiturlaub“ kam hinzu: Menschen machten Kurztrips, beispielsweise Städtereisen nach London, Paris oder Rom. Alles mündete im Massentourismus. Vorproduzierte Reisen wurden in Katalogen von Reiseagenturen angeboten: Anreise, Unterkunft, Essen und Trinken, Unterhaltung und Rückreise gab es in „Paketen“, und diese wurden von Reisebüros verkauft. Auf der ganzen Welt zogen bald Mengen – meist älterer Menschen – an die Strände, in die Kirchen und Moscheen, in die Berge, in die Einkaufsstraßen. Doch wie soll die Zukunft des Reisens aussehen, angesichts der Klimaveränderungen und in Zeiten des Coronavirus, das die Reiseindustrie schon jetzt massiv verändert hat? Jürgen Dittberner hält Szenen aus der Vor-Corona-Zeit fest. Familie Stolp reist durch die Welt, und mit ihnen die Leser, die launige, manchmal nachdenkliche und immer lesenswerte Eindrücke erhalten, etwa über das Leben der feinen Leute im schönen Bad Reichenhall, über das postsowjetische Russland zwischen Moskau und St. Petersburg, alte Kulturen in Asien, Holocaust-Museen in den USA, geheimnisvolle Sitten in Japan, Pyramiden in Ägypten, großartige Landschaften in Neuseeland sowie im Westen Amerikas oder Europas Vielfalt. So war es! Diese Erinnerungen sollten bewahrt werden.

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Seitenzahl: 733

Veröffentlichungsjahr: 2020

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Vorwort

Waren das Zeiten: Im kalten Winter Deutschlands kletterten wir die Gangway hinauf, wurden von uniformierten Damen freundlich begrüßt, setzten uns in einen fliegenden Bus, bekamen warme Speisen, Säfte und alkoholische Getränke serviert, nickten ein und schritten Stunden später in Bangkok die Gangway wieder hinunter. Wir befanden uns nun im tropischen Thailand! Und wenn wir beispielsweise nach Sydney wollten, flogen wir eben dahin: „Down under“: Kein Problem!

Reisen war schließlich ein Wirtschaftszweig geworden. Eine „Tourismusindustrie“ war entstanden. Reisebüros, Veranstalter, Beförderungsunternehmen, Hotels und Versicherungen arbeiteten Hand in Hand und umsorgten uns Kunden, die bei ihnen „Touristen“ hießen. Wir Arbeiter in Fabriken, wir Angestellte in Büros, wir Beamte in Verwaltungen, wir großen und kleinen Selbständige – wir alle waren auch Touristen – erst einmal im Jahr und dann immer öfter. Rentner und Pensionäre kamen hinzu – auch sie wurden „Touristen“.

Plumpsklos auf dem Lande wurden Vergangenheit; jetzt kamen schwimmende Hochhäuser auf, die über die Weltmeere schipperten. Tausende von Menschen aßen, tranken, tanzten und schliefen über den Ozeanen. Dort genossen sie „Shows“, Theater und Kinos. Kam Land in Sicht, strömten sie mit Bussen in die Küstenregionen und kamen bald wieder zurück in die Riesenschiffe, denn dort ging „Freizeitleben“ weiter.

War das herrlich, war das schrecklich! – Den Touristen gefiel das „Produkt“: Ägypten, Griechenland, Italien und Spanien nahmen sie bei ihren „Rundreisen“ mit. Sie kamen herum. – Die Einheimischen hingegen schlugen die Hände über den Köpfen zusammen. Ankerten die Riesenschiffe in ihren Häfen, zerstörten sie als fahrende Hochhäuser jede Kulisse. Die Häfen wurden abgeriegelt, und Fremde strömten in Hundertschaften durch Straßen und Gassen.

Die Bürgermeister aber freuten sich, dass die „Pötte“ erhebliche Liegegebühren einfuhren. Endlich kam Geld in die Stadtsäckel.

Dann kam Corona, und plötzlich war Schluss.

Ferienziele erschienen den Touristen als Horrororte, Traumschiffe mutierten zu schwimmenden Gefängnissen, Flugzeugflotten blieben auf der Erde, Reisebüros verödeten, und Reiseveranstalter feilschten mit ihren Kunden ums Geld.

War nun alles vorbei?

Wer weiß das schon?

Einmal war es aber doch schön gewesen. Die ganze Welt lag den Reisenden zu Füßen, und sie konnten dabei so viel lernen.

Im Sommer 2020 unternahmen manche wieder die gewohnten Schritte in den Urlaub, oder sie statteten ihrer alten Heimat die üblichen jährlichen Besuche ab. Aber es war alles anders als zuvor: Bei Aus- oder Einreisen drohten Tests oder Quarantänen, Flugzeuge verkehrten spärlich, und Fahrpläne wurden unberechenbar. Die allgemeine Akzeptanz der Sommerreisen sank.

Der Wunsch, so etwas wieder zu erleben, bleibt. Es ist offen, auf welchem Wege sich das Bahn bricht. Wird es gute Kompromisse geben zwischen Einheimischen und Touristen der Zukunft?

Wie es war, wissen wir immerhin. Wie es wird, nicht. Es lohnt sich, an das Vergangene zu erinnern. Vielleicht vernichtet Corona nicht alles.

Meiner lieben Frau Elke danke ich für mannigfache Hilfe und Unterstützung. Allen Mitreisenden von einst danke ich für die gewährte Gesellschaft. Frau Valerie Lange vom ibidem-Verlag danke ich für die Hilfen beim Erstellen dieses Werkes.

Berlin 2020, Jürgen Dittberner

 

Inhalt

Vorwort

I. Vom Reisen

1. Mobilität

2. Immobilität

3. Kommerzialisierung

4. CO2-Bilanz

5. Tabula Rasa durch Corona

6. Zwangsreisen

7. „Grenzüberschreitende“ Reisen

8. Erholung

9. Massentourismus

10. Ende des Reisens?

II. Alte Heimat

III. Vor Ort

1. Minister in der Lüneburger Heide

2. Dackel zwischen Hamburg und Bremen

3. Ins Schulhaus

4. Besamer auf der Alm

IV.In den Hauptstrom

1. Spitze Buben am Vesuv

2. Kalimera: Der Hase Augustin

3. „It’s for you boys!” auf Teneriffa

4. Sandalen auf Lanzarote

5. Mit „Buffke“ nach Gran Canaria

V.Offizielle Reisen

1. Israel

2. USA

3. Türkei: Der Imam ist fort

4. Japan: „Plost!“

VI. Europäische Regionen

1. Athen: Küsschen für die deutsche Regierung

2.Kos: Kein Kloster!

3. Kreta: Der kleine Zeus

4. Zypern: Wie in der DDR?

5. Malta: Gottes Wille?

6. Rom: Wo ist der „Heilige Geist“?

7. Apulien: „Nationale Schande“ in Matera

8.Apulien da Capo, weil es so schön war

9.Kastilien-León, Extremadura und ein wenig Andalusien: „Wie bei Aldi“?

10. Andalusien: Wo sind die Mauren geblieben?

11. Lissabon: Sturm im Süden

12. Douro: Nur schiffbar in Portugal

13. Paris und Loire: Vive la France!

14. Aquitanien: Frankreich oder England?

15. Burgund und Provence: Das wahre Frankreich

16. Holland und Belgien: Geizig oder doof?

17. Irland: Whiskey in alten Wein- und Sherryfässern

18. Rumänien: Land der vielen Kirchen

19. Ukraine: U-Boote und Maschinengewehre

20. Baltikum: Sängerland

21. Kroatien: Wo der Kaiser Urlaub machte

22. Norwegen: Eine Flasche Wein für siebzig Euro

23. Island: Trolle, Zwerge und Engel

24. Passau: Wien – Bratislava – Budapest

VII. Weltweite Regionen

1. Die Weltreise: Berlin – Singapur – Sydney – Neuseeland – Rarotonga – Los Angeles – Frankfurt/M. – Berlin

2.Ägypten

3.Cuba

4.Indien

5. Arabische Tage

6. Oman

7. Sri Lanka

8. Vietnam und Kambodscha

VIII. Mythische Staaten

1. USA 1

2. USA 2

3. Russland: Arm und Reich

4. China: Schlappi, Schlappi

IX. Favoriten

1. Die Schweiz

2. Samos

3. Bad Reichenhall

X. Alltagsreisen

1. An der Ostsee

2. Holm-Seppensen

3. Leipzig

4.Oberwiesenthal

5. Warmensteinach

6. Rheinsberg und Weber B

XI. Reisen ohne Zukunft?

I. Vom Reisen

1. Mobilität

Warum wechseln Menschen ihre Standorte? Warum reisen sie?

Oft ist es Neugier auf Unbekanntes: Alexander von Humboldt reiste nach Südamerika, um eine fremde Welt auszumessen.

Oder es ist Gier? Christoph Columbus wollte Spanien den vermuteten Reichtum aus Indien zugänglich machen. Und er gab das Startsignal zur Ausplünderung Südamerikas.

Immer wieder treibt pure Lust Menschen an: „Das Wandern ist des Müllers Lust.“

Für bestimmte Berufsgruppen gehört die Mobilität zur Pflicht: Fahrende Gesellen zogen von Ort zu Ort, Geschäftsreisende drängt es zu ihren Kunden, und wer Professor werden will, wird seine Alma Mater verlassen müssen, wenn er eine „Hausberufung“ umschiffen muss.

Manchmal ist es ist Forscherdrang: Ferdinand Magellan wollte im Auftrag des Königs von Portugal aus einen Seeweg nach Westen finden, da man erkannt hatte, dass die Erde eine Kugel war.

Auch Herrschsucht ist ein Motiv: Napoleon zog nach Osten, weil er ganz Europa beherrschen wollte.

Nicht selten steckt Gewinnstreben dahinter: Englands führende Klasse erschloss sich ein Weltreich, um auf Kosten fremder Völker reich zu werden.

Gerne zieht Romantik Menschen hinaus in die Welt: Johann Wolfgang von Goethe tourte durch Italien, um das Land zu sehen, „wo die Zitronen blühen“.

Auch das Verbrechen bewirkt oft Mobilität: Adolf Hitler fiel in fremde Länder ein, um seine Schreckensherrschaft auszuweiten.

Mobilität kann unfreiwillig erfolgen: Viel zu oft werden Menschen verbannt – manchmal in Lager, manchmal in ein vermeintliches Nirwana wie nach Australien oder Grönland.

Religion kann zum Motiv werden: Hugenotten verließen die Heimat, um ihren Glauben zu leben.

Nach Kriegen werden Verlierer nicht selten aus ihrer Heimat vertrieben: Diese Menschen hätten sich andernfalls niemals „auf die Reise“ begeben.

Gegen ihren Willen verändern auch diejenigen ihren Ort, die verschleppt werden: So erging es den „Sklaven“, die von Afrika nach Amerika gebracht wurden; so kann es noch heute politisch Missliebigen geschehen, wenn sie widerrechtlich entführt werden.

Ständig treibt tatsächliche oder empfundene Not daheim Menschen in die Ferne: Sie werden so zu Flüchtlingen.

Künstler (auch Sportler, Schriftsteller und andere) müssen in der Regel „auf Tournee“, um ihre Leistungen überall zu verkaufen.

Politiker reisen hin und her, um die Interessen ihrer Länder (und auch ihre eigenen) zu vertreten.

Das scheinbar Edelste zu Schluss: Wissenschaftler, Propheten, Freigeister und Missionare überschreiten Grenzen, um ihre Ideen zu verbreiten. Oder wollen sie Andersdenkende unterdrücken?

2. Immobilität

Warum bleiben andere Menschen wiederum dort, wo sie sind? Warum reisen sie nicht?

Sie kennen sich in ihrem Umfeld aus. Alles ist ihnen vertraut. Warum sollten sie das aufgeben? Ihre Freunde und Verwandten sind vor Ort. Sie haben ihr Auskommen und wissen nicht, was sie anderswo erwartet. Dort herrschen womöglich Sodom und Gomorra. Sie bleiben lieber. Alle Ahnen haben es vor Ort ausgehalten; also gehören auch sie hierher.

„Heimische Krisen muss man durchstehen, ‚Fahnenflucht‘ wäre feige“, denken die Sesshaften. Viele von ihnen haben zudem Angst vor dem Fremden, vor den anderen Speisen, Bräuchen, Sitten, Dialekten oder gar Sprachen. Wer weiß außerdem, was reisen oder gar auswandern kostet: Wer soll das bezahlen? – Viele sind sich sicher: „Ob Ost, ob West: To Hus is‘ am best!“

Aus China hörte man einst, dass die Menschen stolz waren, im „Reich der Mitte“ zu leben. Wer in der Mitte ist, glaubt sich am Ziel. Doch in neuerer Zeit wurden immer mehr Schichten des Riesenvolkes neugierig auf das, was an den Rändern dieser Erde geschieht: Globalisierung aus Fernost!

3. Kommerzialisierung

Das industrielle Zeitalter hat das Reisen kommerzialisiert: Der „Tourismus“ wurde erfunden.

Vorsichtig schnupperten die ersten Reisenden ganz früh an einem beliebigen Dorf, etwa in der „Lüneburger Heide“. Dann entdeckten sie Gegenden wie den „Westerwald“, „Büsum“, „Oberbayern“ oder „Amrum“. Sie reisten in Bussen an. Später fuhren die meisten Deutschen ins Sehnsuchtsland Italien, – im „VW“ über den „Brenner“. Es folgten „Paris“, „London“ oder „Kopenhagen“. Manchmal brachte sie auch die Bahn ans Ziel. Dann wechselten sie die Automarken. Im „Opel“ ging es womöglich nach Spanien und im „Daimler“ vielleicht sogar nach Griechenland. Schließlich wurden Inseln modern: „Lesbos“, „Mallorca“ oder die „Kanaren“. Das ging natürlich nur mit dem Flieger.

Geschäftsleute machten sich jetzt über die Sache her. Es entstanden Firmen wie „TUI“, „Neckermann Reisen“ oder „Studiosus“. Die Pauschalreise wurde erfunden. Anfangs galt das Fliegen als elitär, dann schossen Billigflieger wie Pilze aus dem Boden. Die ganze Welt lag vor der Haustür, bis hin nach Neuseeland. Autos mietete man mittlerweile vor Ort.

Früher galt die Regel: „Einmal im Jahr machen wir Urlaub.“: Die ganze Familie zog los. Drei Wochen dauerte der Spaß. Die ersten vierzehn Tage dienten der Regeneration, die letzten sieben der puren Freude. Dafür gab es den „Jahresurlaub“, dafür wurde gespart.

Später kam der „Zweiturlaub“ hinzu: „Nur weg hier!“, lautete die neue Devise.

Die Flugzeuge flogen in die ganze Welt. Unterschiedliche „Terroristen“ aber fingen an zu stänkern. Seitdem gab es Sicherheitskontrollen auf allen Flughäfen. Das dauerte: Zwei Stunden vor Abflug mussten sich die Reisenden – (nun allgemein „Touristen“ genannt) - einfinden. Es wurde immer voller – auf den Flughäfen und auch an den Reisezielen.

Das war die schöne neue Welt: Von Süd nach Nord kamen immer mehr Flüchtlinge. Junge Menschen wollten ihr Elend verlassen. Immer mehr Touristen aber flogen unbeeindruckt nach Süden. Sie hatten ihre von den Flüchtlingen so angehimmelten Wohlstandsgesellschaften satt, wollten ‘mal „Ursprüngliches“ sehen. Wohlgenährte „Touris“ aus dem Norden kamen in den Süden, und Elendsgestalten aus dem Süden landeten zur gleichen Zeit im Norden.

Doch damit nicht genug: Nach dem Auto und dem Flieger kam das Schiff. Es gab Flussfahrtschiffe, die schippern auf dem Rhein oder auf der Wolga.

Es kamen aber auch Ozeanriesen auf (schwimmende Hotels); die fuhren über die Weltmeere bis nach Fernost oder bis in die Karibik. Wenn so ein Schiffsriese in den Hafen von Venedig fuhr, überragte er jeden Palazzo, brachte Menschenmassen herbei, die schnell weiterzogen.

Auf so ein „Schiff“ aber gingen viele nicht rauf: Der Tourismus war schon ein mächtiger und rücksichtsloser Wirtschaftszweig geworden, überall auf der Erde.

4. CO2-Bilanz

Da traten Umweltschützer auf. Sie sagten, Flugzeuge und Schiffe stießen zu viel CO2 aus und versauten das Klima. Es werde immer wärmer auf der Erde. Die Polkappen würden abschmelzen, Eisbären hopsten von einer verbliebenen Eisscholle zur nächsten, die Malediven und Holland würden bald im Meer versinken, und Brandenburg würde zur Wüste.

Das sei „menschengemacht“, und es müsse gegengesteuert werden: Der Flugverkehr sollte eingeschränkt werden. Inlandsflüge gehörten verboten. Wer dennoch über Landesgrenzen hinweg flöge, sollte Ablass an Umweltorganisationen leisten müssen. Die Ozeanriesen sollten umweltfreundlicheren Treibstoff verwenden oder am besten überhaupt nicht mehr gebaut werden.

Nahte das Ende des Massentourismus?

Es sah nicht so aus. Die Zahl wohlhabender Rentner im Norden dieser Erde nahm zu. Ihre Arbeitgeber und die Zentralbanken versorgen sie reichlich mit Geld. Wenn auch die Welt zu Scherben brach: Sehr, sehr viele wollten sie vorher noch sehen. Also flogen sie möglichst nicht im Inland; bis zur Landesgrenze schaffte es ja der Bus allemal. Einige zahlten sogar den Umweltablass; das machte ein gutes Gewissen. Und wenn die Reedereien weiterhin große Schiffe vom Stapel lassen: Wer konnte das schon beeinflussen?

5. Tabula Rasa durch Corona

Plötzlich setzte ein bislang vollkommen unbekannter „Gegentourismus“ ein. Neuartige und unerforschte „Wesen“ eroberten ihrerseits die Erde. Für ihre „Reisen“ benutzten sie Schiffe, Bahnen, Flugzeuge. Doch diese „Wesen“ zogen nicht von West nach Ost, sondern in die entgegengesetzte Richtung von Ost nach West. Sie waren Viren, und bildeten eine tödliche Gefahr für die Menschen. Ihr Name war „Corona“, und sie lösten eine Pandemie aus. Gekommen waren sie aus dem Tierreich.

Die Welt der Menschen zerfiel in die alten Nationalstaaten. Die meisten dieser Staaten verordneten einen „Lockdown“. Fast alle Menschen gingen in Quarantäne und fanden den staatlich angeordneten Stillstand richtig.

Da war die Blase des Massentourismus jäh geplatzt. „Urlaubsländer“ wie Italien waren plötzlich dicht. Airlines (gestern noch mit stolzen „Vögeln“) starben wie die Fliegen. Veranstalter und Agenturen des Tourismus brachen zusammen, Hotels schlossen, Reisebüros machten zu, „Einheimische“ Helfer des Tourismus wurden arbeitslos, Traumstrände verwaisten.

Ein bis dahin stets wachsender Industriezweig brach zusammen. Niemand reiste mehr: Wie gewonnen, so zerronnen.

Geschädigte forderten, der jeweilige Staat sollte für die Einbußen einstehen. Können die das leisten? Es ging um Milliarden, Millionen waren nur noch Peanuts.

Schon nach wenigen Wochen holte sich die Natur einiges von dem zurück, was der Tourismus ihnen genommen hatte: Delphine tobten wieder am Strand, Rehe kamen in die Städte, sogar die Lagunen in Venedig erholten sich, und leere Strände wurden sauber.

Niemand wusste, wie es weiter gehen würde.

6. Zwangsreisen

Im Zweiten Weltkrieg wurde lieber „verlegt“ als verreist. Truppen der Wehrmacht wurden von der Ost- zur Westfront geschoben. Die Soldaten (meist blutjunge Männer) wurden von zu Hause „eingezogen“. Viele kamen dabei früh ums Leben, starben den „Heldentod“ und liegen seitdem begraben, oft in fremder Erde.

Kindern ging es in dieser Zeit etwas besser. Viele, die in bombengefährdeten Städten wohnten, wurden aufs Land „verschickt“ oder „evakuiert“. Andere fuhren zu ihren Verwandten, meist zu den Großeltern. Transportmittel war fast immer die Bahn. Am Zielort atmeten Großstadtkinder zum ersten Mal den Duft frischen Brotes, wenn der zentrale Backofen angefeuert war. Oder sie vernahmen ihnen bis dahin fremde Laute, wenn im Dorf ein anderer Dialekt als daheim gesprochen wurde.

Später waren abertausende „Prisoners of War“ („PW“) von Amerikanern, Russen, Engländern, Franzosen und anderen in „Kriegsgefangenenlager“ transportiert worden. Die lagen in Neapel, am Rhein, in Sibirien und waren sehr unterschiedlich. In der „Heimat“ hatten derweil Sieger das Kommando übernommen, und Fortbewegungen Deutscher erfolgten meist per Pedes oder mithilfe von Pferden. Tauchten Trupps fremder Soldaten auf, schienen die Kinder gefährdet zu sein. Doch wenn man Glück hatte, entpuppten sich die „Fremden“ als Einheit, die deutsche Kinder mit Bonbons beglückte.

Transporte, Flucht, Vertreibung: Zwangsreisen waren das.

7. „Grenzüberschreitende“ Reisen

Lange hielt sich das nicht. Wer in Städten wohnte, schaute vorsichtig im Nachbarbezirk nach. Auf dem Lande wurden Kreisgrenzen überschritten. Hauptsächliche Transportmittel waren Fahrräder, auch U-, S- und Straßenbahnen waren im Einsatz. Dann kamen Busse wieder, und für längere Strecken gab es noch immer die „Reichsbahn“.

Als sich zwei deutsche Staaten entwickelten, kam es zu „innerdeutschen“ Reisen, erst zaghaft, dann immer heftiger. Bis zum Bau der Mauer 1961 in „Berlin“ flüchteten viele Ostdeutsche in den „Westen“. Dann machte die DDR die Grenzen dicht, und die Wege in den Westen waren versperrt. Spätere Passierscheinabkommen durchlöcherten diese Grenzen nach Osten ein wenig. Bürokratisch registriert von Ost-Behörden durften „Wessis“ in die DDR „einreisen“. West-Berliner und „Bürger der BRD“ wurden dabei sorgfältig getrennt.

Kuriositäten taten sich auf: „HieristeineBRD-MuttermiteinemWB-Kind!“, schallte es durch die „Übergangsstelle“ am Bahnhof Friedrichstraße in „Berlin“. Eine Mutter aus (vielleicht) Hamburg wollte mit ihrem Berliner Kind „in den Osten“ fahren. Das störte den Ordnungssinn der „Staatsorgane“ der DDR.

Reisevehikel im anwachsenden „innerdeutschen Verkehr“ wurde mehr und mehr das Auto („‘s heiligs Blechle“ der westdeutschen Familien): „Sollen die Zonis ruhig sehen, wie gut es uns im Westen geht!“ Im Kofferraum lagen Schokolade, Bananen und „Jacobs-Kaffee“ – Mitbringsel für die „Brüder und Schwestern von drüben“. Die nahmen es gerne und revanchierten sich mit „Bückware“, speziell „organisiertes“ Rindfleisch beispielsweise. Bei der Rückreise („Achtung: Geschwindigkeitsbegrenzung!“) in die „BRD“ hieß es dann: „Machen Sie mal den Kofferraum auf!“ Aber da war nichts drin.

8. Erholung

Allmählich wurde die DDR als alleiniges Reiseziel zu poplig. Dort machte man mehr und mehr nur noch Verwandtenbesuche. Auch in die nun leider zum „Ostblock“ gehörende alte Heimat zog es manche

Erholt jedoch hatte man sich woanders. Zuerst ging es in die Lüneburger Heide, nach Bayern oder schon nach Sylt. „Hotelkästen“ gab es noch nicht. Man logierte während der Ferien in Schulgebäuden oder bei „privaten“ Vermietern. Das Auto musste Unmengen von Gepäck transportieren. Am Zielort ging es wacker zu: Am Meer lechzten nun aufkommende „Touristen“ tagelang nach Sonne, um zu „bräunen“, damit die Nachbarn neidisch wurden.

Oft ging’s auf die Wanderschaft mit Hut, Rucksack und Stock. Die „Sommerfrischler“ freuten sich, zu einer privilegierten Schicht zu gehören, und bedauerten Daheimgebliebene. Urlaub wurde zum Wohlstandssymbol.

Da der Druck groß, die Möglichkeiten aber manchmal begrenzt waren, kam eine neue Art des Reisens auf: Das „Trampen“. Das war freilich nicht jedermanns Sache, aber besonders für Schüler und Studenten ideal. Trampend lernten sie Deutschland, Länder Europas, ja sogar die USA, kennen. Klar war dabei: Mädchen sollten nicht alleine trampen, und Luxus war nicht unbedingt zu erwarten. Man konnte auf Last- oder Viehwagen landen, aber auch in Edellimousinen. Unter Kennern galten die USA als gutes Tramperland. Den Ostblock aber mieden die meisten Tramper lieber.

Als die Tramper älter geworden waren, mutierten einige von ihnen zu „Campern“. Das Rustikale und die Illusion der Naturnähe wollten sie nicht missen. Außerdem ersparte man sich das Hotel. Dafür musste ein geeignetes Vehikel her. Die Automobilindustrie half: Auf gängige PKW-Modelle wurden Blechkästen montiert. Man bestückte diese mit Betten, Tischen, Schränkchen und Stühlen, alles festmontiert, und fertig waren die „Camper“.

Pfiffige richteten „Campingplätze“ mit „Stellplätzen“ zum Übernachten ein: Eine spezielle Variante des Tourismus war entstanden. Natürlich konnte man bald auch Camper mieten, um vorübergehend zum fahrenden Volk zu gehören.

Wem der „Camper“ schon zu zivilisatorisch war, konnte das „Zelt“ als Alternative wählen, naturverbunden, meist mit PKW daneben.

Deutschland war mittlerweile touristisch gerüstet: In- und Ausland öffneten sich bis zum Ende der Welt. Ein Begriff machte die Runde: Die Deutschen wären nicht nur Fußball-, sondern auch „Reiseweltmeister“! Sie hatten alle anderen überholt. Engländer beispielsweise kannten Pauschalreisen schon aus dem 19. Jahrhundert. Da hatten Abenteurer mit dem weltweit ersten Platzhirschen „Thomas Cook“ die Schweizer Alpen mühsam erschlossen. Doch nun, zur Zeit des Wirtschaftswunders, kamen die Deutschen, nicht unbedingt mit Qualität, dafür aber mit immer erdrückenderer Quantität.

9. Massentourismus

Schließlich wurde das Reisen diversifiziert und spezialisiert. Auf den Flughäfen machten sich Urlaubsflieger breit. Billigflieger traten auf den Plan. Die Flughäfen (von vermeintlichen Kennern „Airports“ genannt) platzten aus allen Nähten. Die „Abfertigung“ von Touristen wurde immer weiter rationalisiert, Speisen und Getränke wurden selbst auf Langstrecken selten. Manche Passagiere fragten sich schon, ob sie demnächst selber steuern und fliegen müssten. Derweil ergaben sich Menschen, die sonst für ihre Persönlichkeitsrechte kämpften, in immer peinlicher werdende „Sicherheitskontrollen“. Der „Massentourismus“ war entstanden.

Würde es immer so weitergehen, oder war die Spitze erreicht? „Thomas Cook“ und „Air Berlin“ waren Vorboten: Auch der kapitalistisch organisierte Massentourismus war vor Krisen und Insolvenzen nicht gefeit.

Doch in Deutschland gab immer noch genügend viele Menschen im Rentenalter, die nun endlich die Welt sehen wollten, um daheim nachher wieder ihr Elend zu bejammern.

Darüber hinaus wuchsen stets neue Generationen heran. Auch sie wollten fremde Orte und Landschaften kennen lernen, auch sie wollten nach Sevilla, New York und auf die Kanaren sowieso.

In „Frankfurt“ am Main druckte die Europäische Bank derweil unentwegt Frischgeld, das man bei Reisen besonders leicht verprassen konnte.

Der Tourismus boomte. Doch das zerstörerische Corona lauerte schon.

10. Ende des Reisens?

„Otto Normalverbraucher“ reiste einst (wenn auch selten) selbst in dunkelsten Zeiten. Die Nazis hatten eine eigene Tourismusorganisation: „KdF“ („Kraft durch Freude!“). Der Urlaub der „Volksgenossen“ sollte reguliert und überwacht werden. Bei Kriegsbeginn 1939 musste man das allerdings reduzieren.

„Private“ Reisen gab es dennoch. Menschen reisten mit vollgestopften Pappkoffern, Leiterwagen, trugen lange Mäntel und verzichteten niemals auf ihre Schlapphüte oder Kopftücher. Zur Bahnfahrt berechtigten diejenigen, die es sich leisten konnten, kleine Pappkärtchen, auf denen Ausgang und Ziel der Reise vermerkt waren. Diese „Fahrkarten“ konnten am „Schalter“ der Bahn erworben werden, und ein Schaffner im Zug knipste sie ab.

Ziel der Fahrt waren oft einsame und kleine Bahnhöfe, von denen aus es zu Familienangehörigen ging. Manchmal marschierten die Reisenden endlose Alleen entlang. Rechts und links davon waren Felder, die abgegrenzt waren durch Straßengräben. Irgendwann tauchte am Horizont schließlich ein kleiner Ort auf: ein Dorf oder gar ein Städtchen. Im Winter lagen die Häuschen im Schnee; im Sommer flatterte Federvieh über den Anger. Die Alten beäugten die angekommenen Fremden misstrauisch.

Die Besucher schliefen meistens bei ihren Verwandten (wo denn sonst?). Unter den Gästebetten standen Nachttöpfe oder Schüsseln, und wer größeres verrichten wollte, musste im Nachthemd über einen Hof gehen und das „Plumpsklo“ aufsuchen. Das war eine Bretterbude, in der ein Querbalken angebracht war, in dessen Mitte sich ein großes Loch befand. Die Holztür vor diesem „Donnerbalken“ war mit einem neckisch eingeschnitzten Herz verziert.

Im „Gästezimmer“ gab es kein Radio, kein TV, kein Telefon, keine Dusche, kein Safe – nichts dergleichen. Stattdessen stand auf einem Schränkchen eine weiße Emaille-Schüssel mit dunkelblauem Rand und daneben eine ebensolche Kanne, die mit Wasser gefüllt war. Hier konnte der Gast seine Morgentoilette verrichten, und wenn er Glück hatte, waren auch Handtuch, Seife und ein Spiegel da.

Angereist kamen die Besucher meist aus größeren Städten, und nach drei Tagen reisten sie wieder ab, denn: „Besuch und Fisch fängt vom dritten Tag an zu stinken.“ Für die Abreise war wichtig, den Fahrplan der Bahn zu kennen und die Umsteigebahnhöfe im Kopf zu haben.

So reisten Menschen vor Erfindung des modernen Tourismus. Das war der industrielle Massentourismus, dem Corona ein jähes Ende setzte.

Ist das Reisen damit am Ende?

Die Gründe zu reisen sind vielfältig. Es wird wiederkommen. Aber wer weiß, in welcher Form?

Wie immer: „Der Vorhang geht zu und alle Fragen bleiben offen.“

II. Alte Heimat

23 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besuchte Andor Stolp1 die Heimat seiner Vorfahren. Als Kind war er hier gewesen; nun gehörte das pommersche Dorf zu Polen. Andor war schon in der großen Stadt zur Welt gekommen. Diese Reise war ein Geschenk an Andors Vater.

Der hatte Pommern zwischen den Weltkriegen verlassen. Als fünfter Sohn hatte er keine Chance für sich in der alten Heimat gesehen. In der großen Stadt schaffte er es zum Kriminalbeamten.

Bei Familientreffen war aber immer die Rede von der alten Heimat – oft sehr direkt. Kaufte sich eine Schwester des Vaters neue Schuhe, hieß es:

„Pommersche Beene passen nicht in Pariser Schuhe!“

Erinnert wurde an die Zwergschule, in der alle den Spruch gelernt hatten:

„Der Kaiser ist ein guter Mann.

Er wohnet in Berlin.

Und wär das nicht so weit vor hier,

So führ’ ich heute noch hin.“

Auch dass man Ostern sehr früh aufstand, um Osterwasser vom See zu holen, wurde erinnert. Die fauleren Familienmitglieder bekamen es zu spüren:

„Stiep, stiep Osterei,

Gibst Du mir kein Osterei,

Stiep ich Dir das Hemd entzwei!“

Der Tanz der „Mudder Witsch“ war unvergessen:

„Bald up de Hacken,

Bald up de Teihn,

Oh, Mudder Witsch,

Wie geiht dat wunderschön.“

Mittags gab es Pellkartoffeln. Für ihre elf Kinder und ihren Ehemann stellte die alte Mutter eine dampfende Schüssel auf den Tisch. Jeder piekte, und wer schnell mit der ersten Portion fertig war, konnte „Nachschlag fassen“. Die Langsamen schauten in die Röhre. Es galt in der Familie als sicher, dass alle ihre Mitglieder hierbei das schnelle Essen (fast Verschlingen) gelernt hätten.

Kamen „Zigeuner“ ins Dorf, flohen die Menschen aus ihren Häusern, denn sie hatten Angst vor den Fremden.

Strom gab es nicht, und die schönste Zeit war die „Schummerstunde“, wenn der Tag in die Nacht überging. Da saßen alle vor dem Haus, um sich gegenseitig Schauergeschichten zu erzählen.

Vom Reisen hatte man offensichtlich nicht viel gehalten, denn dies war klar;

„Ob Ost, ob West,

Tu Huus is am best.“

Dieses alte Pommern gab es nicht mehr. Das deutsche „Rackow“ – das Dorf – hieß nun „Rakowo“, und die Stadt „Lubow“war in „Lubowo“ umgetauft worden.

 

In Pommern

Mit seiner Ehefrau Silke und seinem Vater fuhr der 39-jährige Andor in die alte Heimat.

Der Vater schrieb das „Protokoll“:

„Um 15:00 Uhr sind wir am 22. 9. in Andors PKW über den Kontrollpunkt Dreilinden in Richtung Transitbahn gefahren, um den Berliner Ring zu erreichen. Es ist Vorschrift, diesen Weg zu nehmen. Man hat dadurch einen Umweg von ca. 90 km – zuerst Richtung Westen, dann nach Süden, um endlich nach Osten zu kommen. Es regnete stark und es blieb auch so, bis wir gegen 22:30 Uhr in Neustettin ankamen.

Die Einreisepapiere hatte Andor in einem Reisebüro in Berlin beschafft und dafür Visa, Zwangsumtausch in Zloty pp. pro Person ca. 120,- DM bezahlt. Auch Benzingutscheine waren darunter. Dann mussten wir für die Fahrt durch die DDR noch pro Person 5,- DM für die Ostvisa und 15,- DM für Autobahngebühren bezahlen.

Die Grenzkontrollen Dreilinden und Stettin – diesen Übergang wollten wir benutzen – verliefen ohne Schwierigkeiten. Ich nahm noch einen Geldumtausch von 50,- DM vor. Wir brauchten es aber nicht und konnten diesen Betrag wieder in DM zurücktauschen. Den Zwangsumtausch kann man nicht zurücktauschen. Das Geld muss man also ausgeben oder verschenken, da eine Ausfuhr verboten ist.

Am Kontrollpunkt Stettin versehen polnische und ostzonale Zöllner gemeinsam Dienst. Es wurde nun schon dämmrig, der Regen hörte nicht auf und nahm nachher noch an Heftigkeit zu. Hinter der Grenze wurden die ersten Benzingutscheine eingetauscht, und dann ging es über die Autobahn in Richtung Stargard/Pom. – so heißt es auch auf Polnisch. Andor saß die ganze Zeit am Steuer, Silke war ein guter Lotse, und so erreichten wir durch viele dunkle Wälder fahrend (keine Autos auf den Straßen, alles dunkel) den Stadtrand von Tempelburg – „Czaplinek“ – in Höhe des Bahnhofs. Von dort führt eine gute Straße – alle Straßen sind gut in Polen und gut beschildert – in Richtung Neustettin – „Sczecinek“.

Überall sind viele Fichten angepflanzt worden, und in Höhe von Schwarzsee sahen wir ein Schild ‚Rakowo 6 km‘. Also ist hier eine neue Straße, auch diese durch Fichten führend. Dann kamen Lubow – „Lubowo“, Pielburg – ‚Pilo‘, Jellin – ‚Jellino‘ – und schließlich Neustettin. Wir fuhren die Bahnhofstraße in Richtung Stadt, fragten dort in einem Hotel nach unserem Hotel, das uns in Berlin zugewiesen worden war und in dem wir nur Übernachtungskosten entrichtet hatten und fanden es auch bald. Ich meine, dass es an der Warschauer Straße lag und ‚Pomorski‘ hieß, sicher früher mal ‚Pommern‘. Bis zum See und zu den Parkanlagen waren es von hier ca. 100 m. In unmittelbarer Nähe war auch das Rathaus. Dies waren alles die alten Gebäude von früher. Ich kenne Neustettin nicht so genau von früher. Aber außer von ganz wenigen öffentlichen Gebäuden ist die Stadt wohl die alte. Es gibt eine Fußgängerzone, kleine unbedeutende Geschäfte, einen Laden, in dem man für DM Alkohol, Zigaretten, Parfüms kaufen kann. Für unser Geld ist dies billig (eine Flasche Wodka 2,50 DM). Die Ausfuhr ist natürlich, wie überall, beschränkt.

Am Sonnabend, 23.9., sind wir morgens über Jellin, Pielburg zunächst nach Lubow gefahren und hier zum Bahnhof. In Lubow stehen die Häuser wohl alle wie früher, keine Neubauten mit Ausnahme einer Gaststätte, schräg rüber vom früheren Gasthof. Als wir den Wagen dort parkten, sprach uns ein Mann in fließendem Deutsch an. Er hatte lange in Danzig und auch in Rackow gelebt. Durch ihn ließen wir uns Mittag bestellen – eine Tomatensuppe, Quetschkartoffeln, ganz wenig Fleisch (kleine Stücke wie Gulasch) und etwas Weißkohl. Dazu drei halbe Bier, ein Sodawasser: 85 Zloty. Umtausch in Polen ist 1:15. Ein Essen mit Getränken für uns kostet 2 DM; es hat aber auch nicht geschmeckt, und Fleisch soll es in Polen wohl selten geben. Das hat man auch in den Fleischgeschäften gesehen, wo die Leute lange anstanden und manche sich Strickzeug mitgebracht hatten, um vermutlich die Wartezeit zu überbrücken. Der Danziger erzählte uns u.a., dass es in Tempelburg und Neustettin keine Brauereien gibt, nur in Polzin ist eine, dass es in zwei Kasernen in Neustettin je eine polnische und eine russische Einheit gibt und dass in Groß-Born die Russen stationiert sind. Wir sahen in Lubow auch Russen.

In der Gaststätte Kratzke ist ein Kino. Der Bahnhof ist in allem unverändert: Im Warteraum ist ein defekter Kachelofen von früher, die Toiletten mit den Holzsitzen sind noch da, auch der Bahnsteig. Ich stelle mich vor den Wartesaal, Silke macht eine Aufnahme, und plötzlich waren ein Polizist und der Bahnvorsteher bei uns: „Dokumente!“ Der Vorsteher sprach deutsch: „Objekte fotografieren verboten, Film herausnehmen!“ Derweil notierte der Polizist unsere Personalien und ließ sich auch die Autopapiere zeigen. Ich wurde gefragt, wo ich früher gearbeitet hatte und so haben wir versucht, klarzumachen, dass wir nur eine Erinnerung an den Bahnhof mitnehmen wollten, von welchem wir früher nach Berlin gefahren sind und auch Andor sei als kleines Kind dort mehrmals abgefahren. ‚Fotografieren verboten, Film muss raus!‘ Immer wieder versuchten wir, das zu verhindern und dann meinten wir, dass wir ja das Bild nur vom Bahnhof ungültig machen könnten. Ich knipste in die Luft, darauf: Gut, Film kann drin bleiben! Ich glaube aber, die Polen haben bemerkt, dass wir sie übers Ohr gehauen haben, denn ich habe ja nur weitergedreht und mein Bild behalten. Als wir zum Wagen kamen, sprach uns wieder ein Mann in gutem Deutsch an und meinte, dass dort alles verboten sei.

Dann ging es nach Rackow. Bis zu den Fichten beidseitig Ackerland, dann bis zu Dohnichts Fichten. Dohnichts Gehöft steht nicht, auch die Mühle ist weg. Erste Aufnahmen am Transformatorenhaus: jetzt die Gehöfte Ost, Weier, Jahn, Radke, Passoth, Stolp links und rechts. Passoth ist ein Kaufmannsladen. Bei Erichs Haus fehlt vorn die Treppe, die Tür ist zugemauert. Dahinter hatte sich der Polizist, der dort wohnt, ein Bad eingebaut. Vorn an der Straße hier ist ein Lattenzaun.

Wir schauten hinüber und sahen einige Personen. Unser Haus, in dem ich geboren wurde, kam mir unscheinbar vor. Ich hatte es kaum erkannt. Eine ältere Frau holte aus dem Brunnen Wasser. Einen Zaun oder eine Mauer gibt es nicht. Ich konnte mit in die Küche kommen. Die Treppe nach hinten fehlt. Das Haus hat von außen kaum Farbe, auch die Tordurchfahrt ist ohne Farbe. Auf dem Hof sind dicker Morast und keine Wiese mehr – kein Blumengarten vor der Tür. Der Kirschbaum ist weg. Nichts ist erneuert. Es kam später noch der Großvater, und ich sollte mir alles genau ansehen.

Da wir uns nicht gut verständigen konnten, führte uns die Großmutter zur Bürgermeisterin in Meiers Haus. Sie vermittelte uns noch eine Besichtigung des Grundstückes Erich, und dort fragte man mich, ob wir Stolps seien und was Martha macht. Bei Meiers wurde ich nach Martha Bäskow-Hinterbrich – befragt. Die Scheune ist abgerissen, ca. 5 m weiter hinten neu aufgebaut. Der dicke Baum ist weg.

Alle Räume werden gezeigt. Rechts wohnen die alten Leute, links die jungen mit zwei Kindern. Die Böden sind alle ausgelegt – Fernseher, Zentralheizung. Alles ist sehr gut in Ordnung. Als wir fotografieren, baten sie um ein Bild. Wir haben die Adresse aufgeschrieben und werden eins schicken.

Erich war vor drei Wochen dort gewesen, auch andere Familienmitglieder.

Die Schule steht. Unterricht findet in Lubow statt. In der Schule ist ein Kaufmann, Maurers Gaststätte ein Kindergarten und gegenüber von Ost Fritz, Schaukeln, Klettergerüste pp.

An der Straße nach Bewerdick stehen alle Häuser. Bei Ferdinand Bäskow ist das Haus neu überholt – Stall pp wie früher. Auf einem Starkstrommast ist ein Storchennest zwischen Mauerers und Ziesemers, direkt an der Straße.

Der Friedhof ist bewaldet. Wir haben beim Absuchen keine alten Kreuze oder Tafeln gefunden. Der Weg zum Karzsee und Rackow Mühle ist beidseitig mit ca. 3 m hohen Fichten bewachsen. Golz‘ Grundstück ist weg. Der Karzsee ist ringsum mit Schilf und Fichten bewachsen, gen auso der Rackow- und der Kämmerersee. Ans Wasser kommt man kaum. Nur am Kämmerersee in der Kurve nach Bewerdick kann man ans Wasser. ....“

Hier endet der Bericht leider.

Nachtrag: An dem Abend nach dem Besuch in „Rackow“ gingen sie ins Hotel zu einer Tanzveranstaltung. Es gab gekochten Weißfisch in Aspik. Alkohol floss reichlich. Am nächsten Tag waren vor allem Vater und Sohn etwas duhn, aber mithilfe knallroter und saftiger Äpfel von „Meiers“ legte sich das allmählich. Alle kamen heil im heutigen zu Hause wieder an.

(1978)

 

1 Statt der tatsächlichen Namen wurden Pseudonyme eingeführt.

III. Vor Ort

1. Minister in der Lüneburger Heide

Seine allererste Reise machte Andor als 16-Jähriger mit einer Gruppe Gleichaltriger in die Lüneburger Heide. Das Jugendamt hatte das eingefädelt. Die Jugendlichen kamen in ein „Lager“, das aus Baracken bestand und von einer Dame geleitet wurde, die als „Tante“ anzusprechen war. Irgendwie war das Jugendamt politisch motiviert, denn kaum angekommen, mussten sie eine „Lagerregierung“ bilden, die den Urlaub regeln sollte. Die „Regierung“ wurde ganz demokratisch gewählt, und Andor erhielt so das Amt eines Ministers. Er war der Minister für Ernährung, musste also den Speiseplan mit der Lagerleitung abstimmen, die Essenszeiten an- und durchsetzen und dafür sorgen, dass genügend viele „Lunchpakete“ zur Verfügung standen, wenn ein Ausflug vorgesehen war. – Das war die erste und letzte Reise, auf der Andor ein „Regierungsamt“ ergatterte.

2. Dackel zwischen Hamburg und Bremen

Als Andor Student war, kannte er seine Silke schon. Sie studierte an derselben Universität wie er, allerdings ein anderes Fach.

Eines Tages entschlossen sich die beiden, eine Reise zu machen: Hamburg-Bremen und zurück. Aber wie? Die beiden hatten kein Auto, und Bahn oder Bus erschienen ihnen viel zu teuer. Was blieb übrig? –Trampen.

Am Ortsausgang von Hamburg standen zwei Studenten und winkten stadtauswärtsfahrenden Autos zu. Hielten welche, ging die Frage an den Fahrer: „KönnenSie uns einStückmitnehmenRichtungBremen?“ Einige konnten, aber immer nur ein Stückchen, nicht gleich ganz bis Bremen. Stück für Stück kamen Silke und Andor Richtung Westen voran, und wieder standen sie an der Landstraße. Da hielt ein Dreiradauto mit einer offenen Ladefläche hinten. „Da könnt Ihr rauf; ich fahre bis Bremen!“ Beglückt sprangen die beiden auf den Minilaster, da entdeckten sie, dass sie bei weitem nicht die einzigen Passagiere waren. Unendlich viele junge Dackel reisten mit. Und jeder von ihnen wollte den beiden Menschen die Ohren ablecken. Die ließen es schließlich geschehen, denn der Wagen sauste strickt nach Bremen, und an einen vorzeitigen Stopp war gar nicht zu denken.

Gründlich abgeschleckt kamen die Nachwuchswissenschaftler in der Weserstadt an. Als sie ihr Domizil, eine Jugendherberge, erreicht hatten, fragten sie sogleich, wo man sich das Gesicht waschen könne.

Der „Herbergsvater“ zeigte alles: die Waschräume, die Schlafsäle und die große Küche. Hier mussten die beiden Unmengen von Kartoffeln schälen, bevor es Abendessen gab.

Am nächsten Abend waren Silke und Andor wieder in Hamburg und wieder in einer Jugendherberge. Hier partizipierten sie am öffentlichen Nahverkehr der Hansestadt, denn alle zwei, drei Minuten schallte es vom nahe gelegenen Bahnhof herüber: „Landungsbrücken“, „Landungsbrücken“…

3. Ins Schulhaus

Andor und Silke Stolp wurden Kern einer richtigen kleinen Familie. Bald nach der Eheschließung kam Töchterlein Maria zur Welt; vier Jahre später war Johann da. Von nun an reisten sie zur viert. Sie fuhren im PKW über Land, Bundesstraßen und Autobahnen entlang. Vorne saßen die Eltern Silke und Andor – der Vater fuhr „den Wagen“– und im Fonds waren die lieben Kleinen. Spätestens nach fünfzehn Minuten Fahrzeit kam von hinten die Anfrage: „Sind wir bald da?“ Oder der Hilferuf: „Ich hab‘ Hunger!“ Oder: „Ich muss mal!“ Auch „Hör auf zu stänkern!“, war oft zu hören. Die Mutter versorgte den Nachwuchs mit psychischer oder physischer Zuwendung. Der Vater hatte das Radio eingestellt, hörte Nachrichten oder summte die Melodien des Senders mit.

Es ging hinaus in die Welt. Das Auto fraß Kilometer der Bundesstraßen. Fort war der heimatliche Ort, und neue Gegenden tauchten auf. Immer neues „Futter“ (Benzin) floss in den Schlund des Autos, und Tankwarte sprachen unbekannte Dialekte. „Wie weit wir schon sind! Das ist Freiheit!“ Vater Andor drehte das Radio noch lauter auf und sang bei allen Schlagern mit. Dann sendeten sie Kindergeschichten, und die Kleinen waren ganz Ohr. Die Route war auf der papiernen Landkarte vorgeplant. Nun waren die auf der Karte roten Linien graue Straßen, und was zu Hause Sekunden gedauert hatte – die Reise von A nach B – beanspruchteStunden. An manchen Kreuzungen wurde es knifflig: Wo sollte man fahren: „Rechts, links oder geradeaus?“ Die Mutter setzte die Brille auf, studierte die Karte, (das „verdammte Ding“!) und entschied über die weitere Route. Meist lag sie richtig. Die Gastgeber hatten die Betten schon gemacht.

Dann tauchten sie auf: das Meer oder die Berge. Unendlich weit zog sich der Ozean dahin, und im anderen Fall lockten die Gipfel. Die Hänge waren gefleckt – weite Wälder wechselten sich mit weißen Schneefeldern ab. Je höher die Berge waren, desto häufiger waren Schneefelder zu sehen, und statt des dunklen Grüns der Wälder waren nun immer mehr nackte graue Felsen zu sehen.

Andor und Silke verließen das Gefährt, schauten in die Runde, genossen die „ganz andere Luft“ und waren überglücklich, am Ziel zu sein: „Am Meer“ oder „In den Bergen“. Die Kinder indes maulten und waren müde geworden von der langen Fahrt.

„Nun aber ab zur Unterkunft!“ Ein altes Schulhaus war leer und wartete, oder die „Gasteltern“ in der „Privatpension“ warteten. Wo aber waren sie? Andor und Silke studierten die Zettel mit den Adressen, fuhren Straßen und Gässchen in den erwählten Orten ab, fragten nach dem Weg und erreichten schließlich das gewünschte Haus.

Im Schulhaus lag der Schlüssel unter dem Fußabtreter des Portals. Silke war es eingefallen, dass ihnen das zu Hause mitgeteilt worden war. Die Klassenzimmer waren zu Gästezimmern umgewandelt. Jeder Familie stand ein ehemaliger Klassenraum zur Verfügung. Die Gästefamilien stammten von überall her: Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern, und sogar Österreicher waren da. In den Klassenräumen standen keine Stühle, Bänke und auch kein Lehrerpult mehr, dafür Doppelstockbetten. Die Klassenschränke waren ausgeräumt und warteten auf die Garderoben und Wäsche der Gäste. Alle Schultafeln hingen noch, und zur Freude der Gästekinder waren die Kreidekästchen gefüllt. Die ehemaligen Jungentoiletten waren zu Badezimmern für männliche Feriengäste umfunktioniert worden – egal, ob groß oder klein. Für die weiblichen Besucher gab es die früheren Mädchentoiletten. Das Lehrerzimmer war geteilt, und wer wollte und es sich leisten konnte, mietete hier einen Aufenthaltsraum zusätzlich zum Schlafzimmer in den Klassenräumen.

Das Portal zum Schulhaus hatte stets geschlossen zu sein; alle Räume im Innern blieben dagegen unverschlossen – auch nachts. Den Schlüssel fürs Haus holte sich Familie Stolp anderntags im Rathaus beim Schulamt; dort war auch die Miete zu begleichen.

Vorher hatten die Stolps ihnen notwendig erscheinende Informationen bei Urlaubern eingeholt, die schon ein paar Tage vor ihnen gekommen waren und nun als Experten galten. Dazu saßen alle in dem ehemaligen Hausmeisterzimmer, das zum „Gemeinschaftsraum“ umfunktioniert war. Dort befanden sich auch Gläser für Saft, Wasser, Wein, Bier oder Schnaps, und manche „becherten“ nicht unerheblich. Badestellen und -zeiten wurden erkundet, Tipps für Ausflugsziele herumgereicht, und auch, wo der günstigste und nächstgelegene Einkaufsladen war, wurde hier mitgeteilt.

Silke und Andor fanden die anderen Urlauber sehr nett, nur zwei ältere Ehepaare saßen für sich und schienen aus der Reihe zu tanzen. Während die „Alten“ so dasaßen und den Abend genossen, tobten die Kinder in den Etagenbetten, stritten um ihre Schlafplätze: „Oben oder unten?“ Bald jedoch waren sie müde und schliefen ein.

Fürs Frühstück holte der Vater Milch, frische Butter und Brötchen aus dem annoncierten Laden, dazu kamen Teile des mitgebrachten Proviants, die Mutter entnahm dem Schulschrank das bereit stehende Plastikgeschirr und dann wurde das Frühstück an dem Tisch eingenommen, den das Schulamt in die Mitte des Raumes gestellt hatte. Abgewaschen schließlich wurde in der ehemaligen Mädchentoilette.

Dann begann der Urlaub!

Um zehn Uhr zog die ganze Familie zum Strand, bepackt mit allerhand Utensilien: Decken, Mützen, Schirm, Crémes, Essen, Getränke, Kofferradio und Buddelzeug. Die „Alten“ fläzten sich im Badedress auf eine Decke, und die „Jungen“ buddelten im weißen Sand, schleppten Wasser herbei und hielten Ausschau nach Altersgenossen. Immer wieder gingen besorgte Blicke der Eltern zum Himmel hin mit der bangen Frage im Hinterkopf: „Wie wird das Wetter?“

Das Wetter war das „A“ und „O“ der gesamten Reise. In Mitteleuropa regnet es bekanntlich oft, und dann ist an Baden oder Wandern nicht zu denken. Solche Tage können sehr lang und langweilig werden. Alle sind dann drinnen – im Schulhaus, in einer Kneipe oder in Geschäften. Spiele wie „Mensch ärgre Dich nicht“, „Scrabble“ oder „Uno, uno“ sollen die Zeit vertreiben. Aber die Ferienwilligen werden trotz allem allmählich griesgrämig. Hinterher, wenn der Urlaub vorbei ist, wird zu Hause dennoch stets verkündet: „Wir hatten herrliches Wetter!“

Wanderungen in den Bergen waren stets ein zwiespältiges Vergnügen. Anfangs war die Wanderausrüstung noch ziemlich dürftig, dann kamen Wanderschuhe und –socken, Flanellhemden, Filzhüte, Stöcke und bei einigen sogar Lederhosen. Es ging hinauf in die Berge, je früher desto besser, denn „Am Morgen sind die Berge am schönsten.“ Aber zunächst kam der Anstieg durch Wälder, an Gehöften und Almen vorbei, über Geröllhalden und schließlich an Felswänden entlang. War das anstrengend! Lustig wurde es bei der Sennerin, wenn sie beim Anblick eines einsamen Bergsteigers ausrief: „Da kommt der Besamer!“ Dann protestierten die „Kleinen“, wenn dieselbe Dame erklärte: „Großstadtkinder denken, Milch kommt aus der Fabrik.“: „Wir sind doch nicht blöd!“

Schließlich war der Gipfel da. Rundum waren Berge, Wolken und blauer Himmel zu sehen. „Ist das schön!“, jubelte die Mutter, während der Vater anfing, mit seinem Wanderstock in verschiedene Richtungen zu zeigen: „Da ist der ‚Rist-Höhenzug‘, hier der ‚Piz Luis‘, und das hier ist das ‚Elefantenhorn‘.“ Der Rest der Familie war beeindruckt.

Am schönsten jedoch war es später in Berghütte unter dem Gipfel. Hier gab es Nudeln, Schweinswürstel, Rösti, Wein für die Mutter, Bier für den Vater und Säfte oder sogar Cola für die Kinder. Andor hatte gute Laune und spendierte hinterher für alle Eisbecher. So gestärkt konnte es weitergehen – nun bergab.

„Bergab ist schwerer als bergauf“, hatten Miturlauber behauptet. Andor fand, das sei nicht wahr. Je näher sie jedoch ihrem Ziel im Tal kamen, desto häufiger richteten sie ihren Blick gen Himmel. Es zog sich etwas zusammen, und in irgendeiner Ferne konnte man das Grummeln eines Gewitters vernehmen. Gerade, als die Stolps ihre Unterkunft betraten, begann es zu schütten. Später in der Heimat aber versicherten die Urlauber: „Wir hatten herrliches Wetter!“

Am Meer hatten die vier einmal einen Ausflug zur Insel „Helgoland“ gemacht. Die lag einsam etwa achtzig Seemeilen entfernt und hatte eine eigene Geschichte hinter sich: Eine fremde Macht – ihre Nachfahren wurden später „Freunde“, dann aber wieder nicht mehr – hatte diese Insel, die eigentlich ein Felsen im Meer war – okkupiert und als Abschussort für Fliegerbomben genutzt. Dann war die kriegerische Konjunktur vorbei, und das Eiland kehrte zurück in den Schoß des alten Heimatlandes. Es wurde hergerichtet mit Wegen, Auen, schönen Aussichten und entwickelte sich zum Magnet für Tagesausflügler, die mal nicht als halbnackte Touristen am Strand liegen mochten. Um neun Uhr fuhr das Schiff, vollbesetzt, mit „Kurs Helgoland“ los und dümpelte bald vor der Insel. Dann kamen kleinere Boote. Die Passagiere mussten umsteigen, bevor sie das Land betreten konnten, denn richtige Hafenanlagen hatte die Insel nicht. Nun kam der Gang „rund um die Insel“ und alle kehrten schließlich in einem Fischrestaurant ein, wo es „Scholle Finkenwerder Art“ oder „fangfrischen Seelachs“ gab. Dazu wurde entweder ein Glas Bier, ein Schoppen sauren Weins oder ein Glas Wasser angeboten. Nach diesem frugalen Mahl wanderten die Schiffsreisenden wieder zu den Booten, setzten über aufs größere Schiff über und gingen um sechszehn Uhr wieder von Bord. In der Heimat später hieß es: „Das war ein tolles Abenteuer!“

So war der Urlaub. Und er war viel zu schnell vorbei.

Wieder packten die Stolps ihr Auto voll. Wieder saßen die Eltern vorne und die Kinder im Fonds. Die drängelten allerdings nicht mehr, denn sie wussten nun: Solche Reisen dauern Stunden. Dafür beschäftigten sie sich mit den Spielsachen, die sie im Urlaub geschenkt bekommen hatten. Der Junge blätterte in einem Bilderbuch ihrer Urlaubsregion, das Mädchen spielte mit einer Stoffpuppe im Trachtenkleid.

Zu Hause dann schrieb Silke einen Brief an die „netten“ Leute aus Hessen, die sie im Urlaub kennengelernt hatte und mit denen sich die Stolps angefreundet hatten. Sie sollten doch einmal in ihre Stadt kommen und könnten auch bei ihnen übernachten.

Andor gab drei Filme zum Entwickeln im Fotogeschäft ab und bestellte die Bilder als Dias. Alle waren sehr gespannt, ob und wie sie „werden“ würden. Eine Woche später holte Andor die entwickelten Aufnahmen ab, und die ganze Familie fand, die Fotos seien großartig geworden. Sie waren in Farbe und zeigten Landschaften, Landschaften und Urlauber, Urlauber.

Der „Diaabend“ konnte stattfinden.

4. Besamer auf der Alm

Schwestern, Brüder, Freundinnen und Freunde kamen mit ihren Angetrauten. Als erstes bekamen sie zur Einstimmung ein nachgekochtes, aber typisches Regionalgericht aus der Urlaubsregion vorgesetzt. Danach ging es in den Vorführraum, wo ein Projektor und eine Leinwand aufgebaut waren. Andor schaltete den Projektor an, legte den ersten Diakasten ein, jeder Gast wurde mit einem Getränk nach Wahl versehen, suchte sich ein Plätzchen und dann schaltete der Vorführer das Licht aus. Im Vorführraum war es schummrig wie im Kino. Auf der Leinwand erschien ein Fotobild des Schulhauses mit einem Baum davor. „Das ist das alte Schulhaus. Da haben wir gewohnt. War ganz praktisch.“, erklärte Silke.

„Und so sah‘s am Strand aus.“ – „Wir beim Aufstieg.“ – „Bootsfahrt nach ‚Helgoland‘.“ – „Unsere Sennerin, die war lustig.“ (EsfolgtedieGeschichtevomBesamer.) – „Wir mit Babbels zu Hause beim Brettspiel“: Jedes Foto wurde kommentiert, derweil die Zuschauer nach und nach einschlummerten.

„Das war’s!“, kamen schließlich die erlösenden Worte. Manche Gäste baten um ein weiteres Gläschen, und endlich sagte eine Tante: „Das muss ein schöner Urlaub gewesen sein!“„Ja.“, erwiderte Silke und fügte hinzu: „Wir hatten aber auch herrliches Wetter!“

(1960 und 1980)

 

IV. In den Hauptstrom

1. Spitze Buben am Vesuv

Nun zog es sie dorthin, wo so viele schon lange Urlaub machten: Nach Italien. Sie reisten per PKW und mit noch gleich drei befreundeten Ehepaaren nebst deren Nachwuchs. Die Reisegesellschaft verabredete ein allgemeines Treffen in Hall in Tirol, bevor es über den sagenumwobenen „Brenner“ in das Land, „wo die Zitronen blüh’n“, gehen sollte. Im Hotel sagte die Wirtin, aus Italien sei noch nie jemand zurückgekommen, ohne bestohlen worden zu sein. Ein Ehepaar unserer Reisegesellschaft war mit einem „Porsche“ angereist und hatte nun eine Heidenangst, dass etwas von ihrem Auto oder gleich das ganze Gefährt abhandenkommen könnte. Sie sicherten das Auto ab: Ein Knopfdruck genügte, und der Motor hatte kein Benzin mehr. – Auf der Autobahn im Sonnenland geschah es: Die Frau drückte vor Langeweile auf den Knopf, und das Edelgefährt blockierte sich und die Straße. Rufe plötzlich behinderter Italiener dahinter erklangen gar nicht so südländisch-charmant. Dann fuhr der Wagen wieder los, und alles war vorbei. Sonst geschah dem „Porsche“ auf der ganzen Reise nichts.

Vorher hatten sie den „Brenner“ passiert: Welche Befreiung! – Doch da näherte sich schon ein italienisches Polizeiauto und stoppte das Auto der Stolps. Andors Ausweis-Foto wurde wieder und wieder überprüft –sehr ernsthaft und stumm! Andor musste wohl ähnlich ausgesehen haben wie ein südlicher Gangster, doch die Polizisten schwiegen, setzten sich in ihren „Fiat“ und fuhren davon.

„Salute, bella Italia!“

In der ersten Tankstelle auf italienischem Boden war es voll. Jede Familie füllte ihren Tank mit „italienischem“ Sprit und stellte hinterher fest, dass der Tankwart keiner Familie korrekt Geld herausgegeben hatte. Alle bekamen etwas weniger als ihnen zustand. Keine Familie bekam mehr Geld zurück. Die Sache mit den vielen Lira war ja auch kompliziert für „DM-Menschen“ aus dem Norden!

Dann kamen alle nach „San Gimignano“. Welche eine Stadt! Auf einem Berg standen „Geschlechtertürme“, hohe Häuser, mit denen einst reiche Familien ihren Mitmenschen imponieren wollten. Die Reisenden fragten sich, ob mittlerweile die Banken die Stellung der alten Familien eingenommen hatten. Nach „San Gimignano“ in Italien wuchs nun „Frankfurt“ am Main in Deutschland in die Höhe. Aber die Schönheit war auf der Strecke geblieben.

San Gimignano

Dann ging es nach „Rom“. Es gibt große Aufregung wegen der Autos, denn das Hotel dort hatte keinen Parkplatz. Alle vier Autos mussten durch halb „Rom“ kutschieren und kamen zu einer Garage, in der die Autos Stoßstange an Stoßstange standen. Die Schlüssel blieben in den Autos. Bedenken wegen eines möglichen Diebstahls baute der Garagenwärter ab: „Die Autos hier sind so sicher, dass ich sogar das Auto meiner Mama abstellen würde.“ Alle waren überzeugt.

Nach dem Abklappern aller Sehenswürdigkeiten „Roms“ und dem „Genuss“ unendlicher Mengen „Frascatis“, bewegte sich die ganze Truppe bei großer Hitze nach Süden. Die Autos waren noch da – auch der „Porsche“. Schließlich kamen alle in „Casa Vellino“ (dem Zielort) an. Dort suchten sie eine geeignete Wohnung, die sie dann auch fanden.

Nach einem Eingewöhnungs- und Ruhetag kamen die Südlandfahrer so langsam in Urlaubsstimmung. Anderntags fuhren einige nach „Paestum“ und bestaunten viele interessante und imposante Tempel.

Dann erfuhr der italienische Wirt, dass einer seiner Gäste zu Hause politisch aktiv war. Der Italiener war ganz begeistert, einen „Politiker“ unter seinen Gästen zu haben: Sein Bruder sei ebenfalls in Neapel politisch aktiv.

Dann ging es nach „Pompeji“. Es war herrliches Wetter. An die große Katastrophe von einst erinnerten nur noch die alten – mittlerweile romantisch wirkenden- Ruinen. Aus Schutt und Asche war eine Touristenattraktion geworden.

Der Urlaub verging unter Faulenzen, Ausflügen und immer wieder Weintrinken. Beim Selbstgemachten aus „Casa Vellino“ stellte sich am nächsten Morgen fast immer Kopfschmerz ein. Dann genossen die Urlauber das milde Meer, und bei einem Besuch des Vesuvs warnte ein Einheimischer: „Vorsicht, spitze Buben!“

Schon ging es über „Rovereto“ zurück in die Heimat. Noch einmal aßen alle gut und tranken zu viel, fuhren dennoch am nächsten Tag wieder über den „Brenner“ und kamen unversehrt wieder in Deutschland an.

Von nun an gehörten vier weitere Familien aus dem Norden Europas zu der großen Schar der Italienkenner. Beim Brettern über deutsche Autobahnen Richtung Heimat grübelte Andor Stolp: „Wo waren denn die spitzen Buben gewesen? Haben wir etwas versäumt?“

(1982)

2. Kalimera: Der Hase Augustin

Im ganz großen Mainstream der kommenden Reiseweltmeister waren die Stolps aber noch längst nicht angekommen. Es fehlten vor allem Griechenland und Spanien.

Also ging es erst einmal auf nach „Methoni“ in Griechenland.

Aber vorerst fuhren sie auf die Schwäbische Alp.

Die Reise begann früh mit dem PKW. Auf der Fahrt gab es viele Umleitungen. Erst abends waren Silke und Andor – die Kinder waren schon nicht mehr mitgekommen – in „Lonsingen“ auf der Schwäbischen Alp und trafen sich mit Freunden. Dort wanderten sie unter Anleitung eines echten Schwaben, der erzählte, dass an einer Stelle hier Vieh weide, welches im Frühjahr aus dem Allgäu geholt würde. Als die angereisten Großstädter darüber nicht staunten, staunte der Schwabe umso mehr.

Danach fuhren die Stolps so richtig in den Süden. Es ging über „Ravensburg“ und „Bregenz“, über den „San Bernardino“, vorbei an „Lugano“, „Como“ und „Mailand“. Sie rasteten schließlich in „Salso-maggiore Terme“ in der Nähe „Parmas“. Dort fanden sie ein kultiviertes kleines Hotel mit einem witzigen Patron und „1a-Speisen“. Es hatten gerade Bridge-Weltmeisterschaften stattgefunden; Stolps konten noch Damen in Nerzmänteln und Ferraris bewundern. Sie waren eben wieder in Italien! Die Beiden bestaunten eine alte Therme und freuten sich, dass sie diese Sommerfrische der Italiener in den Bergen entdeckt hatten. In diesem „Nest“ ließ es sich gut schlummern.

Morgens ging es aber (noch immer per PKW) fix nach „Ancona“. Pünktlich um einundzwanzig Uhr verließen sie auf einer Fähre den Stiefel und waren am folgenden Abend in Griechenland in „Igoumenitsa“. Am Ende stiegen sie im Hafen von „Patras“ aus. Er war größer als der von „Igoumenitsa“, und Silke fand ihn „hässlich“. Nun kam das Auto wieder zum Einsatz.

Die Fahrt wurde wegen ständig steigender Temperaturen unangenehm. Klimaanlagen in Autos waren in Europa noch unüblich. Schließlich erreichten die beiden aber doch „Methoni“ (ihr Ziel) und nahmen „ihr“ Ferienhaus in „Besitz“. Sie gingen sofort baden.

Griechenland erwies sich von Anfang an als sehr, sehr heiß!

Da wechselten Silke und Andor Strandgänge mit Besichtigungen ab. Sie besuchten eine Venezianische Festung sowie einen kleinen Ort am Meer namens „Finikoudas“. Dort machten sie Bekanntschaft mit der umstrittenen griechischen Küche: Es gab mit Reis gefüllte Tomaten und weiße Bohnen, dazu kaltes Wasser.

Das Essen war die eine Sache – die andere war, dass in der Taverne brüllend laute Musik plärrte. Überall (Das merkten die Stolps bald.) quoll diese Musik aus allgegenwärtigen Lautsprechern. Besonders beliebt war die griechische Version des deutschen Kinderliedes vom „Hasen Agustin“. „Schrecklich!“ fanden Silke und Andor das.

Blieb die Flucht nach „Kovoni“, wo die beiden eine alte Burg sahen. Im Innern derselben waren ein Kloster sowie Gärten und ein weites, offenes Feld. Alles war sehr geruhsam unter dieser brütenden Hitze. Da tauchte ein Gärtner auf und verschenkte an die Gäste reife Tomaten – die schmeckten so wunderbar, dass aller Groll der Stolps erlosch: Hitze und Lärm waren vergessen.

Langsam fuhren die Besucher durch Berge zurück zum Ferienhaus.

Später ging die Fahrt nach „Olympia“. Ein Mythos stand auf dem Programm! Für die zweihundertzehn Kilometer brauchten sie viereinhalb Stunden. Aber so hatte sich Ihnen die Bergwelt der „Peloponnes“ erschlossen. Jetzt waren sie im berühmten „Arkadien“. Alles schien verklärt zu sein, und in „Olympia“ selberschien es noch heißer zu sein als im Umfeld. Beim Besichtigen der Reste des Stadions und der Tempel sannen die Stolps darüber nach, wie es wohl in der Antike gewesen sein mag, als Athleten aus „Athen“ und „Kreta“ hier ihre Kräfte maßen. Die Sportstätte war umstanden von alten Pinien und Olivenbäumen, die Schatten warfen. Alles erschien so unspektakulär: Doch das war der Ort, wo vor zweitausend Jahren eine mittlerweile aktuelle Weltidee geboren wurde!

Einige moderne Griechen grüßten die Besucher mit „Kalimera“ und warfen einen mitleidigen Blick auf das Auto ohne Klimaanlage, so als wollten sie sagen: „Und damit seid Ihr aus Deutschland hierhergekommen? – Ihr Armen!“

Bei „Methoni“ liegt ein Berg namens „Likódlinmon“. Er ist 959 Meter hoch, und von ihm aus kann man das stillgelegte Kloster „Chrissokellarias“ erreichen. Hier entdeckten Silke und Andor wahrhaft arkadische Landschaften. Auch Nestors Palast nördlich von „Pilos“ war in der Nähe. Dort sahen die Stolps eifrigen Ausgrabungen zu. Zu Hause wurde schon Alarm geschlagen, wenn ein dreihundertjähriger Stein in der Erde lag; hier aber ging es um dreitausend Jahre.

Nach so viel Gestein und Geschichte fanden sie neben ihrem Ferienhaus eine einsame Bucht, wo sie sogar ohne Textilien baden konnten. Sie schwammen hinein in die Bucht und waren plötzlich weit vom Ufer entfernt. Ein Flüsschen, das sie ursprünglich nicht gesehen hatten, hatte sie hinaus gespült. Nun mussten sie schwimmen, was das Zeug hielt und erreichten auch das Ufer, aber sehr erschöpft.

In einem Holzboot und einem „Fischer“ als Piloten wagten sich die Urlauber danach vermeintlich gesicherter auf’s Meer hinaus. Das Boot hatte einen Außerbordmotor, und da dieser nicht recht gehorchte, füllte der „Fischer“ (brennende Zigarette stets im Mund) ständig Benzin aus einem Plastikkanister nach. Der Motor sprang dadurch nicht an, das Boot flog aber auch nicht in die Luft.

Schließlich fuhren Silke und Andor in Richtung „Patras“. Es ging wieder nach Hause. Im Hafen suchten sie die „Talos“ und schipperten über die „Adria“. Die Fähre war fast leer, und so konnten sie alles (die Kabine mit Klimaanlage, die Abwesenheit von Mücken und anderem Geziefer) in Ruhe genießen.

Wieder in Italien, in „Ancona“, tauschten sie Lira ein, und dann ging es auf die „Autostrada“: „Rimini“, „Bologna“, „Modena“, „Verona“ lagen an der Route. Es folgten „Bozen“ und „Kaltern“. Dann kam wieder der „Brenner“. Es blieb heiß. Aber, was war das? Selbst im nördlichen gelegenen Bayern war es auch heiß. Danach erst kam Regen: Die Heimat grüßte.

(1995)

3. „It’s for you boys!” auf Teneriffa

Italien und Griechenland waren „abgehakt“. Aber um richtig mithalten zu können im großen Reisestrom der Zeit, fehlte noch ein Land: Spanien. Andor Stolp hatte von den „Kanarischen Inseln“ gehört. Dahin machten sich mehr und mehr Urlauber auf. Wie man hörte, lagen diese geheimnisvollen Inseln weit außerhalb des spanischen Festlandes irgendwo im Atlantik. Diese Inseln hatten exotisch klingende Namen wie „Lanzarote“, „Teneriffa“, „La Gomera“, „La Palma“, „Fuerteventura“ oder „Gran Canaria“. Dass diese Inseln nicht mit dem Auto erreichbar waren, war klar. Mit dem Schiff zu fahren, würde aber den ganzen Urlaub in Anspruch nehmen: Also kam das Flugzeug ins Spiel. Die Massenfliegerei war entstanden. Entsetzte Flugbegleiter lästerten über das „Palma-Pack“.

Andor Stolp betrat in einem Januar ein Reisebüro mit Namen „Teneriffa-Reisen“: Er wolle mit seiner Frau in Urlaub reisen, jetzt im Februar, und er habe gehört, es gäbe Gegenden, in denen da jetzt Sommer sei. „Ja, auf Teneriffa zum Beispiel!“, erwiderte die Verkäuferin. „Da blühen jetzt die Rosen, und Sie können in kurzen Hosen gehen.“ – „Ja, da will ich hin!“: Die Reise war gebucht.

Zu Hause kramte Vater Stolp den alten Schulatlas hervor und studierte ihn mit seiner Frau. „Wo liegt denn eigentlich dieses Teneriffa?“ – „Da, vor der Westküste Afrikas!“ – Sie hatten ein neues Stück von der Welt entdeckt.

Dann wurde es ernst. Punkt 6:30 Uhr kam die Taxe und um 9:15 Uhr startete der Flieger einer Urlaubsgesellschaft. Er war voll. Eine Flugkapitänin erklärte gleich nach dem Start, „Teneriffa“ hätte dreiundzwanzig Grad. Der Flieger musste einen „Zwischenstopp“ in „Malaga“ zum Auftanken machen, dann währte der Flug weitere Stunden. Beim Anflug erkannten die Urlauber den 3718 Meter hohen „Teide“, dessen Spitze weiß und weiter unten wolkenumkränzt war. Sie wussten bereits: „Das ist der höchste Berg Spaniens“, denn auf diese Reise hatten sie sich vorbereitet. Ein wenig staunten sie schon über den Schnee auf dem Gipfel – so viel näher am Äquator als zu Hause!

Vom Rollfeld aus konnte man tatsächlich kurzbehoste Männer und blühende Rosenhecken sehen. Der Bus fuhr durch das seit Alexander von Humboldt so berühmte grüne „Orotava-Tal“ nach „Santa Cruz de Tenerife“, wo auf einem mit gelb und rot leuchtender Kresse bewachsenen Hügel das Hotel „Taoro“ thronte. Silke und Andor kamen sich vor wie im Paradies. Vor ihrem Zimmer lag ein Pool, dahinter war der „Teide“ zu sehen und unter dem Fenster lustwandelten Pfauen. Es musste ein Paradies sein, und beim Öffnen eines Schrankes entdeckten sie einen dezenten Hinweis: „Unsere Gäste werden gebeten, den Speisesaal mit Krawatte zu betreten.“

Flugs eilten die Stolps den Kresseberg wieder hinunter, tauchten in die schmalen Gassen des Fischerdörfchens ein und erwarben eine Krawatte –eine seidene! Als sie wieder zurück hinauf in ihr Zimmer stiegen, schnellte an ihnen ein großer schlanker Herr im dunklen Anzug vorbei. Silke und Andor machten sich fein. Andor legte die neu erworbene Krawatte an.

Als sie den Speisesaal betreten wollten, öffne ihnen ein eleganter Herr die Flügeltür und wünschte „buena sierra!“. Die Besucher erkannten sofort: Das war der Signor vom Kressenberg. Hier war er „Maitre de Salle“, öffnete Flügeltüren, rückte Gästestühle zurecht, nahm aber keine Bestellung auf – servierte auch weder Getränke noch Speisen. Dazu hatte er die Unterkellner, 1. welche, die die Bestellungen für die Menues aufnahmen, 2. welche, die die Menues servierten und schließlich 3. welche, mit denen die Gäste Getränke auswählten, die von denselben Kellnern dann auch kredenzt wurden. Damit die Gäste immer durchblickten, war jede Art von Kellnern anders gewandet: Frackmäßig der Maitre de Salle, schwarze Straßenanzüge die übrigen Kellner – die Notierer der Menues allerding mit schwarzen und die eigentlichen Kellner mit roten Krawatten, und knallrote Jacketts trugen die Herren der Getränke. Alles geschah in einem großen, hell erleuchteten Raum mit kleinen Tischen für zwei, vier oder sechs Personen. Die Stolps genossen das sehr.

Da erschien ein älterer Herr im dunklen Anzug, Frisur schwarzhaarig. „Ein typischer Spanier.“, dachte Silke. Er schien in Eile zu sein und hier bekannt. Fix aß er den ersten Gang und auch den zweiten, dann stand er auf, warf die Stoffserviette über seinen Stuhl, legte einen Geldschein auf den Tisch und sagte im Gehen zu den ihn beobachtenden Kellnern:

„Its for you, boys!“

Das waren Ausläufer der Kolonialzeit. Aus dem „Taoro“ wurde später ein Spielkasino, und das einstige Fischerdorf „Santa Cruz de Tenerife“ wuchs zu einer Touristenstadt heran. Pfauen vor dem „Teide“ gab es nicht mehr. Bald war das „Orotava“-Tal weitgehend zubetoniert. Es fuhren Linienbusse hin und her: Es war wie in einer deutschen Großstadt.