Supernatural SWAT - Abteilung LOL - Sandra Busch - E-Book

Supernatural SWAT - Abteilung LOL E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Endlich hat er die furchtbare Zeit auf der Akademie überstanden und kann nun seinen ersten Posten als Chief Petty Officer einer militärischen Sondereinheit antreten. Holden Sawyer sieht der Zukunft in Baton Rouge mit einiger Aufregung entgegen und stellt sich mehr als einmal die Frage, mit was für Gestaltwandlern er es in seiner Abteilung zu tun bekommt. Als er es endlich erfährt, hält ihn lediglich sein Stolz davon ab, sofort seine Kündigung einzureichen. Obwohl ihr erster Einsatz völlig unspektakulär erscheint, stellt ihn seine Truppe vor eine ziemliche Herausforderung. Die nennt sich Jaxton …

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Sandra Busch

Supernatural SWAT – Abteilung LOL

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2022

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Flipser – shutterstock.com

krisnass – shutterstock.com

Grzegorz Zdziarski – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-518-3

ISBN 978-3-96089-519-0 (epub)

Inhalt

Endlich hat er die furchtbare Zeit auf der Akademie überstanden und kann nun seinen ersten Posten als Chief Petty Officer einer militärischen Sondereinheit antreten. Holden Sawyer sieht der Zukunft in Baton Rouge mit einiger Aufregung entgegen und stellt sich mehr als einmal die Frage, mit was für Gestaltwandlern er es in seiner Abteilung zu tun bekommt.

Als er es endlich erfährt, hält ihn lediglich sein Stolz davon ab, sofort seine Kündigung einzureichen. Obwohl ihr erster Einsatz völlig unspektakulär erscheint, stellt ihn seine Truppe vor eine ziemliche Herausforderung. Die nennt sich Jaxton  …

Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug.

Problematisch sind nur die Lenker, die Fahrgäste und die Straße.

- Franz Kafka -

Abteilung LOL - Willkommen in Baton Rouge

HOLDEN

Das Taxi kutschierte ihn vom Metropolitan Airway auf den Veterans Memorial Boulevard. Das Wageninnere roch aufdringlich nach Vanille, was an den sieben Wunderbäumen liegen musste, die strategisch im Fahrzeug verteilt worden waren. Der Fahrer gab sich wortkarg, worüber Holden nicht böse war. Er hatte eine schlaflose Nacht, einen anstrengenden Vormittag und einen dreieinhalbstündigen Flug von North Dakota nach Baton Rouge hinter sich. Als Alternative zu einem geschwätzigen Chauffeur dudelten Dixieland-Songs unanständig laut aus dem Radio. Holden konnte mit dieser Art Musik nichts anfangen, ahnte aber, dass er sie in Louisiana häufiger hören würde. Er stand auf Rock, insbesondere auf die Red Hot Chili Peppers oder Extreme.

Ein Straßenschild zeigte an, dass sie nun auf den Highway 190 abbogen.

Holdens Nervosität wuchs, je mehr er sich seinem Ziel näherte. Frisch von der Ausbildung kommend, sollte er den Posten als Chief Petty Officer und damit die Leitung einer Sonderheit des Militärs, die Supernatural SWAT Abteilung 101, übernehmen. Wobei er darauf durchaus vorbereitet war. Sein Problem bestand eher darin, dass es ihm meistens schwerfiel, sich in ein bestehendes Team zu integrieren. Einen Großteil der Nacht hatte er mit der Frage zugebracht, ob man ihn akzeptieren würde und wie er am besten auftreten sollte. Auf keinen Fall wollte er sich die eigenen Ausbilder zum Vorbild nehmen. Er war froh, dass dieser Lebensabschnitt hinter ihm lag.

Ab und an warf ihm der Fahrer über den Spiegel neugierige Blicke zu. Sicherlich fragte sich der Chauffeur, was für eine Bestie in diesem Moment auf dem Rücksitz hockte. Doch Holden gehörte nicht zu den Wandlern, sondern war ein ganz normaler Mensch. Zumindest was die Ansicht der meisten Amerikaner betraf. Für einige, zum Teil leider sehr einflussreiche Personen, war er nichts weiter als eine verdammte Rothaut. Scheiß drauf! Das vertraute Magenbrennen setzte ein, das ihn bereits während der Ausbildung begleitet hatte. Aus der Tasche seines Mantels, den er über einem grauen Anzug trug, kramte er ein Päckchen Famotidin gegen Sodbrennen hervor und schluckte eine der Tabletten trocken herunter. Unendlich langsam wanderte sie die Speiseröhre hinab.

Aus dem Radio plärrte Toot! Toot! Tootsie! als der Wagen über die Huey P. Long Bridge fuhr, die das schlammigbraune Wasser des Mississippis überspannte. Ein Nachbau der typischen Schaufelraddampfer ritt auf den strudelnden Fluten und beförderte Touristen nach New Orleans. Die Klimaanlage des Wagens kämpfte gegen die schwülwarme Luft an.

Sie erreichten die West Service Road und hielten wenig später vor einem weitläufigen Gelände, das von einem hohen Metallzaun gesichert wurde. Der Fahrer war immerhin so freundlich, die Gepäckstücke aus dem Kofferraum zu wuchten und sie Holden vor die Füße zu stellen. Nach der schweigsamen Fahrt bedankte er sich überraschend höflich für das Trinkgeld und ließ ihn danach allein vor seinem neuen Zuhause stehen. Ein unauffälliges, kleines Schild deutete darauf hin, dass sich hinter dem Zaun die Basis der Supernatural SWAT von Baton Rouge befand.

Holden trat zum Rolltor und bemerkte eine auf dem Torpfeiler installierte Kamera. Im Pfeiler selbst war ein Ziffernblock eingelassen, allerdings war ihm der Code unbekannt, der ihm Zutritt gewährt hätte. Aus diesem Grund drückte er die Klingel. Die Kamera bewegte sich und nahm ihn aufs Korn. Verkniffen lächelte er in ihre Richtung.

„Ja?“, meldete sich eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher.

„CPO Holden Sawyer.“

Er konnte regelrecht spüren, wie er durch die Kamera angeglotzt wurde. Wahrscheinlich war sogar mehr als ein Augenpaar auf ihn gerichtet. Und ja, die Neugier war verständlich. Sein Team wollte bestimmt erfahren, nach wessen Pfeife es zukünftig tanzen durfte. Das Tor geriet in Bewegung und glitt ein Stückchen zur Seite, um ihm Einlass zu gewähren. Holden atmete tief ein, packte die beiden Koffer und marschierte mit energischen Schritten aufs Gelände. Die dreihundert Meter lange Einfahrt führte ihn direkt zu einem Platz, auf dem mehrere Geländewagen und ein Bus mit getönten Scheiben abgestellt waren. Verschiedene Gebäude rahmten die Parkfläche ein. Da jede SWAT-Basis gleich aufgebaut war, wusste Holden, dass er ein Wohngebäude, eine Schießanlage, eine Sportstätte, ein Lager und eine Einsatzzentrale vorfinden würde. Zur Zentrale schleppte er nun die Koffer. Ein weiteres Mal holte er tief Luft, bevor er die Tür öffnete, sich samt Gepäck hindurchzwängte und positiv überrascht innehielt. Das Gebäude musste einst eine Produktionshalle gewesen sein. Die Wände waren unverputzt und zeigten blankes rotes Mauerwerk. Die offenliegenden Stahlträger waren dunkelgrün gestrichen und es gab einen beinahe spielerisch gestalteten Eisenbogen, der den riesigen Raum in der Breite überspannte. Das Dach war komplett aus Glas und erweckte den Eindruck, dass man unter freiem Himmel stand, sofern man nicht den elektronisch gesteuerten Sonnenschutz nutzte. Eine ebenfalls stählerne, grüne Treppe führte zu einer Galerie empor, wo sich hinter einer gläsernen Front ein Büro befand. Sicherlich war das früher das Domizil der Werksaufsicht gewesen. Das Gebäude war hell, luftig, ein Mix aus Moderne und Nostalgie … Holden fühlte sich sofort wohl. Schließlich richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den gewaltigen Schreibtisch, der ihm den weiteren Weg versperrte. Gleich vier große Bildschirme wurden dort genutzt. Inhaberin dieses Arbeitsplatzes war eine Frau, deren Gesicht einen kleinen Schönheitsfehler in Form einer operierten Lippen-Kiefer-Gaumenspalte aufwies. Eine riesige, kreisrunde Brille und eine Menge silberblonder, extrem krauser Locken versuchten von dem unbedeutenden Manko abzulenken. Die Rundungen ihres Körpers waren etwas üppiger, was ihr hervorragend stand. Allerdings trug sie ein quietschegelbes Shirt, das sich mit den viel zu großen, pinkfarbenen Ohrringen aus billigem Plastik biss, und ihm beinahe die Netzhäute ablöste. Fünf große, breitschultrige Männer flankierten sie und scannten Holden mit den Blicken regelrecht ab. Prompt wurde sein Mund völlig trocken. Es gab Tage, da war es kein Geschenk, als schwuler Mann zwischen lauter zur Perfektion trainierten Bodys herumlaufen zu müssen. Heute war so einer. Angespannt wartete er ab. Natürlich registrierten die Kerle sein scharf geschnittenes Gesicht, die Tönung der Haut, die Adlernase und das lackschwarze Haar, das er kurz hatte schneiden lassen, nachdem man ihm während der Ausbildung gewaltsam Federn hineingesteckt hatte. Dass seine leuchtend blauen Augen einer rein indianischen Abstammung widersprachen, übersahen die meisten. Ergeben wartete er auf eine abfällige Bemerkung über seine Herkunft – die jedoch ausblieb. Vorerst ...

„Chief Petty Officer Holden Sawyer“, stellte er sich erneut vor, da niemand den Mund aufmachte. „Ich nehme an, dass ich die Supernatural SWAT Abteilung 101 gefunden habe.“

Die Worte riefen einen Mix aus Grimassen, verzogenen Lippen und resignierten Mienen hervor.

Einer der Männer trat vor und stand im nächsten Moment stramm. „Tanner Hobbs, Petty Officer First Class. Korrekt ist Abteilung 48, Sir.“ Er schien der Älteste der Truppe zu sein. Hellbraunes Haar war akkurat und militärisch kurz geschnitten und er trug wie seine Kameraden einen khakifarbenen Feldanzug. Die dazugehörigen Mützen steckten zusammengerollt in den Gürteln.

48? Holden runzelte die Stirn und zog aus der Seitentasche des Koffers den Einsatzbefehl hervor.

„Nein, es stand dort eindeutig IOI geschrieben“, murmelte er. Sollte er sich in der Adresse geirrt haben? Gab es in Baton Rouge etwa mehr als eine Basis?

Einer der Kerle kam um den Schreibtisch herum und spähte ihm über die Schulter. „Da steht lol, nicht 101. Laughing out loud. Abteilung LOL, unter der charmanten Bezeichnung sind wir im Allgemeinen bekannt.“

„Wie bitte?“ Irritiert blinzelte Holden in die frechsten Augen, die er je gesehen hatte. Dunkelbraun mit winzigen goldenen Sprenkeln unter wirren, straßenköterbraunen Haarfransen. Ein Drei-Tage-Bart verlieh dem Gesicht des Mannes etwas Schurkisches. Mit Rasieren und dem Verlangen nach einem der SWAT angemessenen Erscheinungsbild hatte der Wandler es wohl nicht so.

„Eine Art Spitzname.“

„Sie sind an der richtigen Adresse, Sir“, sagte der erste Sprecher schnell. Tanner Hobbs, wie sich Holden erinnerte.

„Darf ich vorstellen? Der vorwitzige Typ an Ihrer Seite ist Jaxton Parker. Dort drüben sind Reed Shoemaker, Sage Malone und Prince Palao. Unsere Perle am Schreibtisch ist Olivia West.“

„Wellman P. Palao.“ Der Mann mit einer schönen hellbraunen Hautfarbe sowie schwarzem Kraushaar, das seine kreolische Abstammung nicht verheimlichen konnte, reichte Holden freundlich die Hand, die er automatisch schüttelte. „Ich werde allerdings Prince genannt.“

„Prince“, wiederholte er perplex.

Der Kreole mit der Statur eines trainierten Schwimmers trat nickend zurück. „Genau, Sir.“

Okay, also von ihm aus ein Prince. Nacheinander musterte Holden die beiden übrigen Männer, die sich bisher zurückgehalten hatten.

Reed Shoemaker war der Kleinste aus der Runde. Die dunkelbraunen Haare hatte er nach hinten gegelt und zu einem kurzen Zopf gebunden. Die seitlichen Kopfpartien waren rasiert. Zur Begrüßung hob er lässig die Hand. Korrektes militärisches Verhalten gegenüber einem Vorgesetzten schien in dieser Abteilung eher Nebensache zu sein. Holden beschloss es zu tolerieren, solange die Männer nicht übertrieben.

Sage Malone war blond, seine Nase womöglich ein bisschen zu spitz und er bewegte sich unruhig von einem Fuß auf den anderen. Direkt an seinem Mundwinkel befand sich ein kleiner Leberfleck.

„Sir“, grüßte er knapp und Holden nickte ihm zu, wobei er zu erraten versuchte, in welches Tier sich Sage verwandeln konnte. Schon während des Fluges hatte er herumgerätselt, ob er es mit Löwen-, Tiger-, Jaguar- oder Bärenwandlern zu tun bekam. Und wenn er die fünf Männer betrachtete, die allesamt gut bemuskelt, zäh und sehnig wirkten, hatte er offenbar den Jackpot gezogen. Auf einmal wurde er sich der Stille bewusst. Der drahtige Jaxton hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sich auf eine Schreibtischkante gesetzt und studierte ihn wie ein seltenes Insekt. Wie die anderen schien er auf etwas zu warten. Vielleicht wäre es angebracht, ein paar Worte zur Begrüßung zu sagen, anstatt wie ein Idiot aus der Wäsche zu glotzen.

„Mir ist klar, dass ich jung und unerfahren bin“, begann er seine Ansprache. „Sicherlich haben Sie sich einen Teamleiter mit praktischer Erfahrung gewünscht und keinen Neuling, der direkt von der Ausbildung kommt. Ich kann lediglich versprechen, dass ich mir die größte Mühe geben werde, Ihnen als Vorgesetzter gerecht zu werden. Daher würde ich mich über eine gute Zusammenarbeit freuen. Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich zunächst mein Quartier beziehen und mich ein wenig frischmachen. Danach wäre ich für ein weiteres Gespräch zum besseren Kennenlernen bereit.“

„Ich bringe Sie hin, Sir.“ Ohne viel Federlesens packte Tanner einen der Koffer und marschierte drauflos. Diese übereifrige Dienstbeflissenheit wirkte nach dem ersten Eindruck des Teams ein wenig seltsam. Beinahe wie ein willkommenes Ablenkungsmanöver. Eilig folgte ihm Holden mit dem zweiten Gepäckstück, bevor er den Anschluss verpasste. Und nach einem kurzen Zögern schloss sich ihnen Jaxton an.

TANNER

Tanner hatte große Mühe, ein Pokerface beizubehalten. Einen Grünschnabel hatte man ihnen geschickt. Das war nicht zu fassen! Der Typ hatte ja noch Eierschalen hinter den Ohren. Entweder war Sawyer der Überflieger oder die obersten Bosse wollten ernsthaft, dass sie mit fliegenden Fahnen untergingen. Bereits der letzte Teamleiter hatte sich als eine Katastrophe erwiesen. Sie hatten ihren Einsatz gründlich vermasselt, sodass der Auftrag von einer anderen in Louisiana ansässigen SWAT übernommen werden musste. Der Chief Warrent Officer und Schwarzbärwandler Barber hatte ihnen widerwillig eine letzte Chance eingeräumt, bevor er das Team auflösen und sie auf irgendwelche öden Schreibtischposten verteilen würde. Eine letzte Chance mit einem neuen Teamleiter. Und jetzt schrieben die Witzbolde tatsächlich Abteilung LOL auf Sawyers Einsatzplan. Als würde der nicht ohnehin früh genug merken, was man ihm für eine krude Truppe untergeschoben hatte.

„Was für eine gequirlte Kacke! Die wollen Sitting Bull genauso loswerden wie uns“, wurde ihm von Jaxton zugeflüstert, der inzwischen aufgeholt hatte.

Er stieß dem Gefährten den Ellenbogen in die Rippen, damit der die Klappe hielt. Sawyer brauchte nicht mitbekommen, wie Jaxton ihn bezeichnete. Selbst ohne Beleidigungen würden sie es sich früh genug mit ihm verderben. Spätestens, wenn er herausfand, in was für eine Trümmertruppe er geraten war. Tanners Kumpel drehte sich zu ihrem neuen Teamleiter um, der mit müdem Gesicht hinter ihnen herschlappte.

„Hier unten befinden sich der Gemeinschafts- sowie der Speiseraum mit angrenzender Küche. Darüber liegen drei Etagen mit jeweils zwei Wohneinheiten“, erklärte Jaxton, während Tanner die Tür per Fingerscan öffnete. „Sie kommen als Letzter und müssen darum ganz nach oben.“

„Kein Problem. Treppensteigen hält ja angeblich fit.“

Davonrennen auch, dachte Tanner. Und genau das würde ihr Neuzugang tun, sobald der checkte, was sich hinter LOL verbarg. Im Gänsemarsch stapften sie die Stufen hinauf.

„Speed … Ich meine PO Reed Shoemaker und ich wohnen direkt über den Gemeinschaftsräumen“, fuhr nun er mit den Erklärungen fort. „Prince und Jaxton sind in der Mitte untergebracht und Sie teilen sich mit Sage die luftige Höhe. Sämtliche Zimmer lassen sich mit Fingerscan öffnen. Das bedeutet, dass jeder zu jedem Raum Zugang hat, damit man einen Kameraden retten kann, falls der hinter einer verschlossenen Tür zusammenbrechen sollte.“ Er öffnete den Eingang zu Sawyers Zimmer mit angrenzendem Bad und trat hindurch. Den schweren Koffer stellte er mitten im Raum ab. Schweigend standen sie einen Moment da.

Der Sitting-Bull-Verschnitt räusperte sich. „Sehr hübsch. Gibt es einen Trick, wie man die Möbel sichtbar macht?“

„Mit Hilfe einer Kreditkarte“, antwortete Jaxton wenig hilfreich.

„Sir, man hat Ihnen gegenüber offenbar nicht erwähnt, dass Sie für die Einrichtung selbst verantwortlich sind“, murmelte Tanner.

Der Neue lächelte schmal. „Das ist sicherlich untergegangen, als Abteilung LOL auf meinen Befehl geschrieben wurde. Wollen Sie mir nicht endlich …“

„Einen Vorschlag, Sir “, unterbrach Tanner ihn schnell. „Stellen Sie die Koffer einfach in eine Ecke und machen Sie sich ein bisschen mit dem Stützpunkt vertraut. Ms. West kann auf die genauen Raummaße zurückgreifen und wird Ihnen sicherlich gern behilflich sein, verschiedene Angebote für die Einrichtung herauszusuchen. Und wir kümmern uns in der Zwischenzeit um eine Übergangslösung.“

„Wo befindet sich eigentlich Ms. Wests Quartier?“

„Sie wohnt nicht auf dem Stützpunkt, sondern in der Stadt. Offiziell ist sie als Sekretärin eingestellt worden und kein Mitglied des Teams“, berichtete Tanner.

„Und inoffiziell?“

„Sie ist eine Kameradin“, sagte Jaxton knapp und ein wenig patzig, woraufhin Tanner ihn wieder mahnend anstieß. Sein sturer Gefährte war offenbar nicht gewillt, sein Verhalten zu ändern. Das mochte einerseits bewundernswert sein, brachte ihnen aber auf der anderen Seite möglicherweise Sanktionen ein – je nach Laune des Vorgesetzten.

„Jaxton will damit sagen, dass wir Ms. West als vollwertiges Teammitglied betrachten. Sie leistet hervorragende Arbeit im EDV-Bereich und ist ein wahres Organisationstalent. Sie kann deutlich mehr als nur Briefe tippen“, erklärte er schnell.

Nickend nahm ihr neuer Chef diese Information zur Kenntnis, während er an die Fensterfront trat. „Sind alle Zimmer mit einem Balkon ausgestattet?“ Sawyer öffnete die Tür und trat ins Freie, um über die Brüstung zu schauen.

„Jawohl, Sir. Und der Gemeinschaftsraum hat eine Terrasse.“

„Jawohl, Sir“, äffte ihn Jaxton leise nach. „Hör auf, dich lieb Kind machen zu wollen.“

„Und du? Willst du gleich am ersten Tag Ärger?“, zischte er. Sein Freund wurde einer Antwort enthoben, weil Sawyer ins Zimmer zurückkehrte.

„Ich würde Ihr freundliches Angebot einer Notlösung gerne annehmen“, sagte er, „und wäre sehr froh, wenn mich Ms. West in der Zwischenzeit bei der Auswahl eigener Möbel unterstützt.“

„Vielleicht warten Sie mit der Bestellung lieber ein oder zwei Tage“, brummte Jaxton.

„Äh ... Warum?“

„Länger ...“

„Bis Sie richtig angekommen sind“, warf Tanner hastig ein, packte Jaxton am Arm und zog ihn mit sich. „Wir legen unverzüglich los.“ Eilig schloss er die Tür und versperrte ihnen damit die Sicht auf Sawyers verdutztes Gesicht.

„Verdammt, Jaxton! Halt endlich die große Klappe.“

„Ich hab doch recht“, entgegnete der bockig.

„Halt sie trotzdem.“

HOLDEN

Müde und ein wenig planlos lag Holden auf dem provisorischen Nachtlager. Mondlicht schien fahl durchs Fenster, da er keine Rollos besaß, um das Zimmer abzudunkeln. Es herrschte Stille und er lauschte den eigenen Atemzügen. Eine Hand hatte er wie schützend auf einer sensiblen Stelle seiner Leiste liegen. Bei jeder Bewegung knarrte das Feldbett, das Jaxton und Tanner zusammen mit dem Schlafsack aus dem Materiallager geholt hatten. Von irgendeinem Balkon war zudem ein kleiner runder Tisch und ein Klappstuhl in seine vier Wände gewandert und der Spind für die Kleidung hatte sicherlich den Weg aus der Sportumkleide hierher gefunden. Eine Bürotischlampe diente als Lichtquelle. Für eine Weile würde es gehen, bis die Möbel eintrafen, die er mit Hilfe von Olivia West nebst Bettwäsche, Handtüchern und ähnlich notwendigen Dingen bestellt hatte. Obendrein war er verifiziert und sein Fingerscan für sämtliche Räume auf dem Gelände freigeschaltet worden. Nun konnte er sich eigentlich als Herr des Stützpunktes fühlen. Komischerweise war er aber davon weit entfernt.

Inzwischen hatte er erfahren, dass ein Mann namens Elmore Capote und seine Frau Bonnie täglich für eine warme Mahlzeit sorgten und sich um die notwendigen Einkäufe kümmerten. Wenn das Team länger unterwegs war, stellten die Küchenfeen die Portionen in den Kühlschrank. Frühstück und Abendessen bereitete sich die Einheit selbst zu. Die Truppe, das Regiment … Holden hatte immer noch nicht erfahren, in welche Tiere sich die Männer verwandeln konnten. Jedes Mal, wenn er die Sprache darauf bringen wollte, hatten sie herumgedruckst und das Gespräch mehr oder minder geschickt in eine andere Richtung gelenkt. Er war nicht dumm und merkte durchaus, wenn er mit unsinnigen Informationen über die Basis und Baton Rouge im Allgemeinen abgespeist wurde. Für ein paar Sekunden hatte er mit dem Gedanken gespielt, streng aufzutreten und einfach zu befehlen, dass man ihm endlich reinen Wein einschenkte, welche Fähigkeiten sie besaßen und weshalb man sie verächtlich Abteilung LOL nannte. Entgegen seiner brennenden Neugierde hatte er sich schließlich dagegen entschieden und beschlossen, zunächst abzuwarten. Es reichte, wenn er am Tag seiner Ankunft der Indianer und erst am nächsten Tag das indianische Arschloch war.

Seufzend verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Decke hinauf, wo das Mondlicht seltsame Schatten malte. Vielleicht hatte er es ja gar nicht mit Raubkatzen, Bären und Wölfen zu tun, sondern es war ein Affe oder ein Krokodil unter den Männern. Womöglich wurden sie deshalb Abteilung LOL genannt. Gegen einen Gorilla hätte er definitiv keine Einwände und gerade in Louisiana könnte ein Alligator recht nützlich sein. In einem Magazin hatte er gelesen, dass es nirgendwo auf der Welt so viele Alligatoren wie in diesem Bundesstaat gab. Auf zwei bis drei Einwohner kam nämlich ein bis zu sechs Meter langes Krokodil. Willkommen in den Swamps und Bayous von Louisiana, dem nassen Vorhof zur Hölle.

„Hm …“, murmelte Holden schläfrig. „Gorillas sind auf diesem Kontinent eher untypisch. Und wohl kaum unter einem LOL einzuordnen. Womöglich bekomme ich es mit einem Skunk zu tun. Dann allerdings hätte ich einen völlig anderen Spitznamen für die Einheit gefunden.“ Ein Stinktier wäre ebenfalls nicht schlimm. In der Regel nahmen Menschen vor ihnen genauso Reißaus wie vor einem Bären. Und eigentlich war es ja egal, in welche Tiere sich sein Team verwandeln konnte. Sie würden ihre Einsätze schon meistern. Über diesen beruhigenden Gedanken schlief Holden endlich ein.

Abteilung LOL - Nicht witzig

HOLDEN

„Fuck!“ Er sah grausam aus. Blauschwarze Stoppeln verunzierten sein zerknittertes Gesicht. Die Haare standen in sämtliche Himmelsrichtungen ab und der Reißverschluss des Schlafsacks hatte ein wenig dekoratives Muster auf seiner Wange hinterlassen. Dunkle Schatten unter den Augen betonten das leuchtende Blau der Iriden, ein Erbe, das Holden seinem skandinavischen Vater verdankte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bereits nach acht war. Hastig duschte er und absolvierte danach ein eiliges Rasier- und Zähneputzprogramm. Hinterher wirkte er wenigstens nicht mehr wie ein Penner, sondern wie ein Penner im Anzug.

Das Knurren seines Magens trieb ihn hinunter in den Speiseraum. Kaffeeduft und das Aroma von gebratenem Schinken und Rührei drang ihm lockend in die Nase und eine muntere Unterhaltung ans Ohr. Am liebsten wäre er im Schweinsgalopp an den Tisch gerannt. Stattdessen blieb er an der Tür stehen und machte mit einem „Guten Morgen“ auf sich aufmerksam. Olivia, Jaxton, Tanner, Prince und Reed wandten sich zu ihm um und erwiderten den Gruß, Olivia sogar mit einem winzigen Lächeln. Nur Sage bemerkte sein Auftauchen nicht. Er trug In-Ear-Stöpsel, sein Kopf nickte rhythmisch im Takt irgendeines Beats und er las konzentriert ein Comicheft, während Honig von einer Brötchenhälfte in seiner Hand auf die Tischplatte tropfte. Tanner trat ihm wenig verstohlen unter dem Tisch gegen das Schienbein, woraufhin Sage aufschaute. Sein Kamerad deutete mit dem Kinn in Holdens Richtung. Sage folgte dem Hinweis, entdeckte ihn und sprang erschrocken in die Höhe.

„Jawohl, Sir!“, brüllte er, dass alle zusammenzuckten.

Seine Kameraden versuchten erfolglos, ein amüsiertes Schmunzeln zu unterdrücken, und warteten gleichzeitig auf Holdens Reaktion. Auf die Art, wie sie sich duckten, fürchteten sie offenbar ein Donnerwetter.

„In Ordnung“, sagte er bloß. „Setzen.“

Sage wirkte irritiert und nahm langsam wieder Platz. Endlich kam er auf die Idee, die Musik abzustellen und die Kopfhörer herauszunehmen.

„Verzeihen Sie bitte die Verspätung. Ich habe nicht daran gedacht, einen Wecker zu stellen.“ Seine Entschuldigung rief sichtliche Verwirrung hervor.

„Kaffee?“, fragte Olivia und schwenkte die Kanne.

„Dafür würde ich morden.“

„Das ist nicht notwendig, Sir. Sie bekommen so viel Koffein, wie Sie wollen. Eine Leiche benötigen Sie dafür nicht. Sie wäre ohnehin recht unhandlich, um den Kaffee damit umzurühren.“

Er schmunzelte und sie deutete einladend auf den freien Platz am Kopfende des Tisches, wo ihn ein unbenutztes Gedeck erwartete. Gleich darauf hatte er einen Becher mit starkem Kaffee in der Hand und nippte selig daran. Das Einzige, was ihm Unbehagen bereitete, war die plötzliche Ruhe. Er kam sich wie ein Störenfried vor.

„Ich habe eine Bitte“, sagte er in die stille Runde. „Ich mag es nicht so furchtbar förmlich. Es wäre mir lieb, wenn wir du zueinander sagen und das Sir vergessen. Immerhin arbeiten, wohnen und essen wir zusammen.“

„Es wird dich aber keiner heiraten wollen“, knurrte Jaxton unverschämt von der Seite her. In diesem Moment hätte man eine Stecknadel fallen hören können.

„Das ist sehr erleichternd, denn ich fühle mich für eine Ehe auch noch nicht bereit.“ Gelassen nahm sich Holden eine Scheibe Toast und belegte sie mit Käse. Dabei tat er so, als würde er das mahnende Kopfschütteln und die Grimassen nicht bemerken, mit denen Tanner seinen Kameraden zurechtwies.

„Tut mir leid, Sir. Jaxton hat mitunter eine große Klappe“, murmelte Tanner.

„Mein Name ist Holden.“

„Holden, Sir“, wiederholte der Mann.

„Nein, Tanner. Nicht ganz richtig. Nur Holden, ohne Sir.“

Warum starrten die sich ständig verwundert an?

„Lies ruhig deinen Comic weiter.“ Er deutete auf das Mickey-Maus-Heft. „Es lag mir fern, dich darin zu unterbrechen.“

Prompt wandte sich Sage Hilfe suchend an sein Team.

„Wollen Sie ...“ Tanner verstummte und begann nach einer Sekunde Pause von vorn: „Willst du nichts Dienstliches mit uns besprechen?“

„Später. Wir sitzen schließlich beim Frühstück, oder? War das etwa bei eurem letzten Teamleiter anders?“

„Hopper war ein Wichser.“

„Danke, Jaxton, damit habe ich wenigstens eine klare Vorstellung von dem Herrn.“

„Das sollte nicht despektierlich sein, Sir“, warf Tanner hastig ein.

„Tanner?“

„Ja, Sir?“

„Ist das Duzen nicht erwünscht?“, erkundigte sich Holden mit einem Anflug von Verzweiflung. Sein Start als kumpelhafter Vorgesetzter holperte extrem.

„Sir … Holden … Gerne. Es kommt bloß … unerwartet.“

„Okay, das habe ich begriffen. Magst du mir als Nächstes mitteilen, wieso du dich verpflichtet fühlst, ständig Jaxtons Bemerkungen zu entschuldigen? Wenn’s mir nicht passt, wie er mit mir redet, stauche ich ihn zusammen, ohne gleich einen Staatsakt daraus zu machen. Ich bin niemand, der sofort Akteneinträge über unangemessene Ausdrücke vornimmt.“

„Sag mal, Häuptling, willst du dich etwa bei uns einschleimen?“ Herausfordernd hob Jaxton das Kinn. Innerlich erstarrte Holden. Er hatte es befürchtet. Sein indianisches Erbe wurde ihm auch hier unter die Nase gerieben. Das war ja wie in der verdammten Ausbildung. Langsam legte er den halb gegessenen Toast auf dem Teller ab.

„Das ist bestimmt nicht meine Absicht. Entschuldigt mich, bitte.“ Er erhob sich und verließ mit einem letzten Rest von Würde den Raum.

„Jax …“, hörte er Olivia im tadelnden Ton sagen, dann fiel die Tür hinter ihm zu. Erst jetzt merkte Holden, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. In den Eingeweiden spürte er ein unangenehmes leichtes Brennen und tastete unwillkürlich die Taschen nach dem Famotidin ab. Der Griff zu den Tabletten gegen Sodbrennen war in den letzten zwei Jahren zur Gewohnheit geworden.

Mit hängenden Schultern betrat Holden die Zentrale und stieg die eiserne Treppe zur Galerie hinauf, auf der sein Büro lag. Dank der bodentiefen Fensterscheiben entlang der gesamten Front konnte er die komplette Halle überblicken. Dafür brauchte er nicht einmal vom Schreibtischstuhl aufzustehen. Durch das gläserne Dach war er hier oben dem Himmel besonders nah. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und versuchte einen inneren Punkt der Ruhe zu finden. Was hatte er erwartet? Einen Empfang mit offenen Armen? Er schnaufte verächtlich. Im Gegensatz zu den Begriffen, die sein Ausbilder für ihn in petto gehabt hatte, waren Häuptling und Rothaut geradezu nette Bezeichnungen. Warum traf es ihn trotzdem wie ein Fausthieb in den Magen?

Um sich abzulenken, inspizierte er das Büro. Die Möbel waren kein Privateigentum, daher hatte sie sein Vorgänger stehen lassen müssen. Weiß und Chrom herrschten vor. Die Wände waren kahl, wenn man von einem großen Whiteboard absah. An der Längswand reihten sich Schränke aneinander, die mit weißen Aktenordnern gefüllt waren. Diese waren bis auf einen alle leer. Und selbst der enthielt lediglich ein paar Seiten mit dem Bericht des letzten Einsatzes. Holden nahm den Ordner mit zum Schreibtisch und setzte sich. Bevor er jedoch zu lesen anfangen konnte, klopfte es leise an der Tür. Olivia schaute herein und lächelte entschuldigend.

„Hey, Chief“, sagte sie sanft.

„Hey“, entgegnete Holden.

„Ein beschissener Start, hmm?“ Sie stellte einen Teller mit Sandwiches und einen frischen Becher Kaffee vor ihm ab. Ihre Stimme klang rau, beinahe sexy. Das war ihm bereits gestern Abend aufgefallen. Unverbindlich zuckte er mit den Schultern.

„Jaxton kann sich wie ein Arsch benehmen. Er provoziert gerne und hat eine große Klappe. Trotzdem ist er ein guter Kerl.“

Was sollte er dazu sagen? Am besten nichts. Es war sinnvoller, dienstlich zu werden.

„Dieser verpatzte Einsatz … War das der erste des Teams?“ Holden deutete auf die leeren Aktenordner.

„Der erste richtige, ja. Zuvor gab es zwei gestellte Einsätze, damit sich die Jungs als Team zusammenfinden können.“

„Und wie haben die geendet?“, erkundigte er sich mit einer gewissen Ahnung.

Olivia schnitt eine Grimasse. „Katastrophal.“

„Deswegen also Abteilung LOL.“

„Ja, auch.“

„Und was bedeutet dieses auch?“

„Ich halte es für besser, wenn die Jungs dir selbst davon erzählen, Holden. Als sie dich gesehen haben, war es für sie wie ein Schlag ins Genick. Sie haben eine gewisse Ahnung, warum man ausgerechnet dich zu uns geschickt hat. Und das begeistert sie nicht.“

„Wegen meiner indianischen Abstammung, stimmt’s?“, fragte er bitter und hielt sich regelrecht am Aktenordner fest.

„Ich fürchte ja. Und wegen deiner Homosexualität, die man uns gleich mit unter die Nase gerieben hat. Allerdings hat es nicht wirklich etwas mit deiner Person zu tun, sondern eher, wie das Team mit dir aufgestellt ist. Damit möchte ich sagen, dass du diese spezielle Truppe äußerst originell abrundest.“

Er seufzte. „Jetzt muss ich nur herausfinden, was du mit deinen Worten andeutest.“

Olivia tätschelte ihm freundlich den Arm. „Gib den Jungs Zeit. Du bist gerade den zweiten Tag da und sie müssen sich erst an dich gewöhnen. Dein Vorgänger, Bradley Hopper, war ein alter Sack und selbstverliebter Hund. Total oldschool. Der wäre im Leben nicht darauf gekommen, sich duzen zu lassen oder sich ins Team zu integrieren. Der wollte, dass man salutiert, wenn er auf dem Klo furzte. Ich fürchte, du überforderst unsere Truppe mit deiner offenen Art.“

„Verstehe“, murmelte er, ohne es wirklich zu begreifen. Müssten sie denn in diesem Fall nicht erleichtert sein, wenn er einen lockeren Umgang pflegen wollte?

„Ich will zunächst den Bericht lesen und mir Klarheit verschaffen, aus welchem Grund der Einsatz scheiterte. Es wäre dumm, wenn sich der Fehler wiederholt“, sagte Holden, damit Olivia nicht auf die Idee kam, dass er sich innerhalb der nächsten fünf Minuten erneut der Truppe stellte.

„Oh! Okay …“

Er runzelte die Stirn. „Gibt es ein Problem?“

Olivia schüttelte den Kopf, dass die winzigen Löckchen wackelten, wobei sie gleichzeitig eine Grimasse schnitt. „Nö, nö! Kein Problem. Ach, ehe ich es vergesse … Dort an der Seite habe ich dir eine Liste mit Passwörtern für die Computerdateien hingelegt. Nach dem ersten Einloggen musst du dann neue vergeben.“

„Prima.“

Olivia dachte mit, das gefiel ihm. Sie schien wirklich kompetent zu sein und gestern Abend hatte er erleben dürfen, wie ihre Finger geradezu über die Tastatur flogen. Zudem hatte sie Geschmack bewiesen, als sie ihn bei der Möbelauswahl beraten hatte. Warum sie sich selbst bloß dermaßen schrill anzog? Zu pinkfarbenen Leggings trug sie heute eine mintgrüne Tunika mit Flamingodruck. Ihre wirre Mähne bändigte sie mit einem lilafarbenen Glitzertuch. Der Ohrschmuck bestand aus etlichen ineinander verschlungenen Goldringen und klimperte bei jeder Bewegung. Dunkler Lippenstift in derselben Farbe wie das Tuch betonte ihre Lippen. Cowboyboots rundeten das Bild ab, ob nun zu ihrem Vorteil oder nicht.

„Ich bin unten, falls du Fragen hast.“

„Okay“, entgegnete er. „Ach, Olivia?“

Sie drehte sich nochmals um. „Olli reicht, Chief.“

„Danke für die Sandwiches.“

Sie lächelte, was wunderschön aussah, trotz der Hasenscharte und des Lippenstifts. Gleich darauf war sie verschwunden und Holden saß allein in seinem nostalgisch-modernen Büro.

HOLDEN

Abteilung 48, besser bekannt als LOL, hatte einen Terroristen festnehmen sollen. Der Mann irakischer Abstammung war keiner der großen Fische, gehörte allerdings auch nicht zur Kategorie der Zwergkärpflinge. In kurzen, knappen Sätzen verkündete der Bericht, wie das Team die Festnahme versaut hatte. Es war beinahe lachhaft, aber auf dem umweltfreundlichen Papier stand tatsächlich geschrieben, dass Reed Shoemaker fast gefressen worden wäre. Anstatt sich auf den Terroristen zu konzentrieren, hatten seine Kameraden ihren Auftrag geschmissen, um Reed, der die Gestalt einer … Ab hier hatte sich jemand die größte Mühe gegeben, den Bericht mit einem schwarzen Edding unleserlich zu machen.

Holden lehnte sich im Stuhl zurück, schaute über den Schreibtisch hinweg und hinunter in die Halle. Seine Männer hatten sich an Ollis Arbeitsplatz versammelt und schienen eine heftige Diskussion zu führen. Ab und an spähte einer zu ihm hinauf.

Zum Teufel!

Er wollte endlich wissen, was los war. Diese Andeutungen, Ablenkungen und zu guter Letzt der geschwärzte Bericht … Seine Männer verheimlichten etwas vor ihm. Es war total albern. Was immer sie verbargen, er würde es ja doch herausfinden. Wenn sie es ihm nicht selbst erzählten, brauchte er nur den Rechner starten und die Personalakten studieren. Was also sollte diese Zeitschinderei?

Holden trat aus dem Büro und ans Geländer. Bei seinem Erscheinen verstummte die Diskussion unten in der Halle abrupt.

„Gibt es etwas, dass ihr mir mitteilen wollt?“, erkundigte er sich bemüht ruhig.

Schweigen.

„Zum Beispiel, wer den Einsatzbericht unleserlich gemacht hat?“

Die Stille hielt an.

Holden seufzte. „Ich würde gerne erfahren, was passiert ist, dass Reed um ein Haar gefressen worden wäre.“

Warum jetzt jedermann seine Schuhspitzen studierte, erschloss sich ihm nicht.

Ein Schuss ins Blaue. „Hat das etwas mit euren Wandlergestalten zu tun?“

Erneut erhielt er keine Antwort.

„Olivia ... Olli, sei bitte so freundlich und teile mir mit, in was du dich verwandeln kannst.“

„In eine Furie, wenn mein Gehaltsscheck zu spät kommt.“

Verhaltenes Grinsen folgte auf den flapsigen Spruch.

„Olli, bitte. Ich bin im Moment nicht zum Scherzen aufgelegt.“

„Ich bin rein menschlich, Holden. Da steckt kein Tier in mir, außer du willst abends mit mir in eine Bar gehen.“

„Oh! Okay. Sage, was ist mit dir?“

Sage scharrte mit dem Fuß über den Boden und warf Tanner einen hilfesuchenden Blick zu. „Ich gehöre quasi zur Luftüberwachung, Sir.“

Ständig dieses Sir. Er hatte Mühe, keine Grimasse zu schneiden.

„Soll ich raten? Du bist ein Falke? Oder ein Sperber?“

„Spatz, Sir.“

Das Flüstern konnte er kaum verstehen.

„Sorry, ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden.“ Holden lächelte. „Geht das ein bisschen lauter?“

Sage hob den Kopf, starrte ihn fest an und wiederholte: „Ich bin ein Spatz, Sir. Ein Haussperling.“

Spatz!

Er hatte sich nicht verhört. Und er wurde sich der aufmerksamen Gesichter bewusst. Jeder starrte ihn an und schien auf seine Reaktion zu warten. Niemand lachte. Dieses Mal handelte sich anscheinend nicht um einen blöden Witz.

Fuck!

Holden bemühte sich um ein Pokerface. Was, zur Hölle, sollte ein Sperling bei der SWAT? Er stieg die Treppen hinunter, damit er sich mit seinem Team auf Augenhöhe befand und nicht länger auf sie hinabstarrte.

„Reed? Überraschst du mich ebenfalls?“

„Oh, Sir, sag ruhig Speed zu mir. Das tut jeder.“

Erleichtert atmete Holden auf. Speed klang nach einem außerordentlich schnellen Tier. Vielleicht ein Gepard? Andererseits stellte sich die Frage, wie ein solches Geschöpf in die Gefahr geraten konnte, gefressen zu werden.

„Ich bin eine Cepaea hortensis.“

„Sehr schön. Würdest du mir das freundlicherweise übersetzen? Mein Latein ist ein bisschen eingerostet.“

„Eine Garten-Bänderschnecke, Sir.“

Na bitte, er wurde verarscht.

„Prince, bist du womöglich ähnlich kreativ?“ Seine Stimme wurde schärfer, was spürbaren Trotz in der Truppe hervorrief.

„Ein Karolina-Laubfrosch, Sir.“

„Machen wir es kurz“, mischte Jaxton vorlaut ein. „Ich bin eine Ratte und Tanner ein Bichon Frisé.“

„Kann man das essen?“, erkundigte sich Holden überfordert.

„Eine Hunderasse, Sir“, wurde ihm von Tanner leise erklärt.

„Hoffentlich etwas, das einer Bulldogge nahekommt.“

„Ja, so ähnlich, Holden, Sir.“

„Genug der Witze. Ich würde gerne wissen, womit ich es verdient habe, dass ihr mir einen derartigen Unsinn auftischt. Ich hatte auf einen besseren Start in dieser Abteilung gehofft.“

„Holden, Sir. Wir machen keine Witze. Dein Team besteht aus einem Hund, einem Frosch, einer Ratte, einem Spatz und einer Schnecke. Warum sonst sollte man unsere Abteilung LOL nennen? Und warum hat man wohl ausgerechnet dich für unser Team ausgewählt?“

Holden spannte sich an. „Möchtest du mir deine Vermutung mitteilen, Tanner?“

„In deinem Stammbaum tanzen Indianer herum. Das ist der Grund, Sir.“

Frechheit!

Aber wahr. Und die Ursache, warum sein Ausbilder Carlton Newman ihn während der Lehrzeit wie Dreck behandelt und gnadenlos drangsaliert hatte. Der war nämlich bekennender Rassist und leider in so hoher Position und mit wichtigen Stammtischbrüdern gesegnet, dass man ihn wegen seines Verhaltens nicht drankriegen konnte. Obendrein der beste Kumpel des Chief Warrent Officers, der der Supernatural SWAT vorstand. Holden punktete mit guter Leistung und tadellosem Benehmen, daher fand niemand einen Grund, um ihn hinauszuwerfen. Und da er die Abschlussprüfungen sogar mit Bravour meisterte, war ihm nie in den Sinn gekommen, dass jemand irgendwelche Strippen zog, damit er ausgerechnet zu einer solchen Truppe versetzt wurde. Als sich Sage demonstrativ den Feldanzug auszog, sich verwandelte und ein Sperling neben der am Boden zurückbleibenden Kleidung emporflatterte, wurde ihm allmählich bewusst, warum seine Mitkommilitonen hämisch gegrinst hatten, als die Einsatzpläne verteilt wurden. Im Gegensatz zu ihm waren sie im Bilde gewesen, wohin man ihn schickte.

„Wir werden auch die Supernatural Loser genannt“, vernahm er durch das plötzlich auftretende Rauschen in seinen Ohren.

Verdammt!

Er hatte sich echt gefreut …

„Einen Stuhl für den Sir! Schnell!“

Er plumpste auf die Sitzgelegenheit nieder, die ihm förmlich in die Kniekehlen geschoben wurde.

„Ziemlich fieser Schlag in die Fresse, was?“ Jaxton hockte sich mit verschränkten Armen auf Ollis Schreibtisch, direkt neben eine Tischlampe, auf der ein Spatz kauerte.

„Trink erst einmal einen Schluck.“ Olivia reichte ihm ein Glas und er wühlte den Blister aus seiner Tasche hervor. Gleich darauf drückte er sich eine Tablette heraus, schluckte sie und spülte mit dem Mineralwasser nach. Aufmerksam wurde er dabei von seinem Team beobachtet.

„Ich muss telefonieren“, sagte er und gab das Glas an Prince weiter, bevor er sich erhob.

„Damit haben wir gerechnet“, murmelte Tanner resigniert.

Holden drängte sich durch den Wall aus khakifarbenen Feldanzügen und stürzte förmlich in sein Büro zurück.

„Der bleibt nicht lange“, hörte er Jaxton orakeln, bevor er die Tür schloss.

Hrrrgs!

Den Kerl hasste er schon jetzt.

HOLDEN

Holden saß vor einem riesigen Bildschirm, auf dem ein übergewichtiger Mann sichtbar war, der ein weißes, leicht vergilbtes Hemd mit feinen Streifen trug. Das Kleidungsstück war nachlässig geknöpft, daher präsentierte sich dem Betrachter eine Menge wucherndes Brusthaar. Weitere Haarbüschel wuchsen ihm aus den Ohren, dafür waren sie am Kopf lediglich als Kranz vorhanden. Der Skype-Teilnehmer war Seamus Downey, der zuständige Senior Chief Petty Officer, kurz SCPO, der Supernatural SWAT-Einheiten für Louisiana.

„Hab mich bereits gefragt, wann Sie sich bei mir melden“, brummte es aus den Lautsprechern.

„Dann haben Sie bestimmt eine Ahnung, aus welchem Grund ich mich an Sie wende.“

„Sie haben das LOL-Quintett kennengelernt.“ Downey lachte rau und holte von irgendwoher eine Zigarre hervor, deren Spitze er kurzerhand mit den nikotingelben Fingernägeln abzwickte. „Tja … Fakt ist, dass diese Trottel ihre Prüfung genau wie Sie bestanden haben und nun ein Team bilden, das einen Vortänzer benötigt.“

„Und da hat man freundlicherweise an mich gedacht?“

„Sie passen da gut rein, Sawyer. Ein Indianer hat den Kameraden noch als Sahnehäubchen gefehlt. Finden Sie nicht?“

„Was soll ich mit einer Schnecke anfangen?“, fragte Holden sauer und bemühte sich, den Indianer zu überhören. „Die anderen nennen ihn Speed. Den bekommt er höchstens, wenn ihn jemand wirft.“

„Mhm, Shoemaker war tatsächlich der Grund, warum der letzte Auftrag geplatzt ist.“ Downey paffte dicke Wolken in Richtung seines Bildschirms. „Wäre beinahe von einer Krähe verspeist worden.“

Holden stöhnte.

„Auf den werden Sie ein Auge haben müssen.“

„Wie soll das funktionieren?“

„Denken Sie sich etwas aus“, lautete die lässige Antwort.

Na klar. Diese Einheit war ein Problem, das hübsch von oben nach unten delegiert wurde.

„Ich habe Tanners Wandlertier gegoogelt, Sir. Dabei bin ich auf das Rasseprofil eines kaum kniehohen, schneeweißen Hundes mit der Optik eines Teddybären gestoßen. Das Fell wird ähnlich wie Buchsbäume auf kugelrund getrimmt. Damit will ich ausdrücken, dass Tanner ein Nuttenfiffi ist. Wie soll ich ihn in einem Ernstfall einsetzen?“

„Das können Sie gleich herausfinden, Sawyer. Es gibt nämlich einen Auftrag für Sie. Allerdings befürchte ich, dass Sie darüber wenig erfreut sein werden.“

Holden gab es auf, seinen Unwillen verbergen zu wollen. „Ich höre.“

„Ist Ihnen der Name Jude Norris geläufig?“

„Kandidiert der nicht auf den Posten des Gouverneurs?“

„Ganz recht. Seine Frau wurde entführt. Das ist Ihr Job.“ Downey paffte dicke Wolken und ließ seine Worte wirken.

„Seit wann ist die Supernatural SWAT für Entführungen zuständig?“, erkundigte sich Holden und runzelte die Stirn.

„Seitdem mir Chief Warrent Officer Barber eine schwule Rothaut als Einsatzleiter geschickt hat, um mir ans Bein zu pissen. Ich rauche und trinke zu viel, um ein Aushängeschild für die SWAT zu sein. Und ich neige dazu, den Schnöseln in den oberen Etagen unverblümt die Meinung zu geigen. Sie sehen also, dass ich nicht einmal eine Pocahontas im Stammbaum benötige, um gehörig anzuecken.“

„Mit Verlaub, Sir, üblicherweise wird bei einer Entführung die Polizei gerufen. Mr. Norris ist nicht gerade für die nationale Sicherheit von Bedeutung, um den Einsatz von Wandlern zu rechtfertigen.“ Das hatte er hoffentlich schön ausgedrückt, oder?

„Hören Sie zu, mein Junge.“ Die Zigarre deutete auf ihn. „Jude Norris hat sich mit dem Anliegen an Ian Barber gewandt, weil er denkt, sie seien weiß der Teufel was für gute Freunde. CWO Barber kann ihn jedoch nicht ausstehen und obendrein hasst er Indianer. Seine gesamte Familie hasst Indianer. Und Nigger. Und Latinos. Genau wie Kreolen, Mexikaner und Chinesen. Seinen Schwager kennen Sie ja.“

„Nicht dass ich wüsste.“ Holden kratzte sich ratlos am Kopf.

„Na, Ihr Ausbilder. Carlton Newman. Wären Sie sehr überrascht, wenn ich Ihnen erzähle, dass von ihm die Empfehlung kam, Sie der LOL zuzuteilen?“ Downey lachte hässlich. Sein Gesicht verschwand erneut hinter einer Rauchwolke.

Holden lehnte sich im Stuhl zurück. „So ist das also. Der Schweinepriester ist mit seinem Mobbing längst nicht am Ende.“

„Jetzt haben Sie’s kapiert.“ Downey nickte ihm zu.

„Ein Umsetzungsgesuch wird sicherlich abgelehnt werden?“

„Aber selbstverständlich.“

Es war einfach herrlich zu erfahren, dass die Obersten ihn verabscheuten, weil er von den Ureinwohnern dieses angeblich ach so wunderbaren Landes abstammte.

„Der Fall wäre besser bei der Polizei aufgehoben und nicht …“

„Verdammt, Sawyer! Hören Sie auf, herumzuflennen. Aus der Nummer kommen Sie nämlich nicht heraus.“

„Wir sollen scheitern“, murmelte Holden.

„Richtig. Ein weiterer vermasselter Auftrag und Abteilung LOL wird aufgelöst und ich in die Arktis versetzt. Verflucht! Ich sitze bereits inmitten einer Menge Wasser fest und habe mich an den vielen Matsch, die Hitze und die schwirrenden Insekten gewöhnt. Das will ich nicht gegen eine Basis im Packeis tauschen. Es bestehen nämlich meinerseits Zweifel, dass ich dort an meine Zigarren gelange.“

„Ich fürchte, Sie werden sich auf ein Dasein als Nichtraucher einstellen müssen, Sir.“

„Och, Sawyer. Lassen Sie die Ohren nicht hängen, sondern kneifen Sie Ihre roten Arschbacken zusammen. Gehen Sie auf den Kriegspfad, fahren Sie in den North Lakeview Drive und zeigen es den Arschlöchern.“ Der Kontakt brach ab. Seamus Downey hatte die Sitzung abgebrochen.

Nachdenklich hockte Holden da und rieb sich das Kinn. Es gab genau zwei Optionen. Er konnte seine Koffer packen, nach North Dakota zurückkehren und ins Truckerunternehmen seiner Eltern einsteigen. Das würde natürlich bedeuten, dass er umsonst fünf Jahre Mobbing durchgestanden hatte. Unabhängig davon würde er seine Ausbildung und seinen Traum wegwerfen. Die Alternative bestand darin, den Entführungsfall erfolgreich abzuschließen. Holden starrte auf den PC-Bildschirm, über den inzwischen der Schriftzug Supernatural SWAT flimmerte. Man hatte ihn herausgefordert und ihm den Fehdehandschuh zugeworfen. Sollte er ihn aufheben?

„Mein allererster Einsatz.“ Er erhob sich und trat an die Glasfront. Unten in der Halle jagte Jaxton gerade Prince rund um Olivias Schreibtisch und Tanner hielt den zappelnden Speed im Schwitzkasten. Es sah nach freundschaftlicher Kabbelei aus. Kameradschaft … So etwas hatte sich Holden stets gewünscht. Irgendwie gab der Anblick der miteinander rangelnden Männer den Ausschlag. Dieses Team bestand aus Wandlern. Wenn sie bisher gescheitert waren, dann nur, weil sie nicht optimal eingesetzt worden waren. Holden verließ das Büro und eilte die Treppe hinab. Sein Team stellte das Kräftemessen untereinander unverzüglich ein und schaute ihm abwartend entgegen. Sicherlich vermuteten sie, dass er nun seinen Abschied nahm.

„Wir haben einen Einsatz“, sagte Holden knapp. „Hat jemand von euch Ahnung, wer außer Jude Norris scharf auf den Gouverneursposten ist?“

„Sein Gegenkandidat, Morten Ashcroft“, antwortete Olivia.

„Prima. Ich will Infos über diesen Ashcroft. Tanner, du fährst mich. Der Rest bereitet sich auf eine Entführung vor.“

„Hä? Entführung?“, hörte er Speed sagen. „Wen sollen wir entführen?“

Holden stieß die Tür ins Freie auf und registrierte zufrieden, dass Tanner ihm nachlief.

„North Lakeview Drive“, kommandierte er und folgte dem Wandler zu einem der SUVs.

„Okay.“ Tanner stieg ein, startete den Wagen und Holden gurtete sich eilig auf dem Beifahrersitz an. Im flotten Tempo ging es voran, das Tor gab ihnen den Weg zur Straße frei und gleich darauf rauschten sie durch den Verkehr.

„Du wirst es also mit uns versuchen, Sir?“

„Ja, warum nicht?“

„Abteilung LOL“, sagte Tanner bloß.

„Wie konnte es eigentlich zu einer solchen Abteilung kommen?“

„Wir Jungs kennen uns schon seit Ewigkeiten. Und eines Tages haben wir beschlossen, uns bei der Supernatural SWAT zu bewerben. Ablehnen konnten die uns da nicht, immerhin sind wir ja tatsächlich Wandler. Ich nehme an, dass man inzwischen dabei ist, die Statuten zu ändern. Wer nicht gerade ein Raubtier oder Greifvogel ist, wird bei der SWAT zukünftig keinen Fuß mehr in die Tür bekommen. Ich fürchte, dein erster Einsatz mit uns wird auch dein letzter sein.“

„Das lass getrost meine Sorge sein. Wenn euer vorheriger Einsatzleiter nicht imstande war, eure Wandlergestalten zweckdienlich einzusetzen, darf man nicht euch die Schuld an einem verpatzten Auftrag geben.“

Tanner schwieg.

„Sehe ich das etwa falsch? Der Bericht war schließlich unleserlich. Ich muss daher raten“, sagte Holden mit einer Spur von Unsicherheit.

„Du überraschst mich, Sir. Wir dachten, du würdest dein Pferd satteln und nach North Dakota zurückreiten.“

„So schnell gebe ich nicht auf.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Warum nimmst du jetzt mich mit?“, erkundigte sich Tanner und bog nach links ab.

„Irgendjemanden musste ich doch mitnehmen.“

„Ja, aber warum ausgerechnet mich?“

„Du bist der Gruppensprecher.“

„Das hat sich so ergeben.“ Tanner warf ihm einen raschen Blick zu. „Ich will damit sagen, dass ich nicht dazu gewählt wurde.“

„Manche Dinge regelt das Schicksal. Du wirst etwas an dir haben, worauf die anderen unbewusst reagieren und deswegen ordnen sie sich dir instinktiv unter.“

Tanner schnaufte. „Ist das so?“

„Ja.“

„Klingt nach Medizinmanngeschwafel.“

„Oder nach einer Skalden-Mär.“

„Verstehe ich nicht.“

„Mein Dad ist Skandinavier. Er stammt aus Norwegen.“

„Ah.“ Tanner hupte einen Taxifahrer an, der sie beinahe rammte. „Daher die blauen Augen.“

„Schön zu wissen, dass euch Bleichgesichtern noch etwas anderes als meine Skalpsammlung auffällt.“

„Oh, unsere Vorgesetzten checken wir immer gründlich ab.“ Tanner schmunzelte.

„Und wie war das Arschloch Bradley Hopper?“

„Klein, runzlig und gelegentlich entwich ihm ein feuchter Furz. Er war ein richtiger Idiot. Damit hat Jaxton recht.“

„Also halte ich mich mit Blähungen besser zurück?“

Tanner fuhr auf ein Grundstück und parkte den Wagen vor einem verwinkelten Bungalow aus Beton, Stahl und Glas. Zwei spiralförmig gewachsene Buchsbäume flankierten eine rote Haustür.

„Es ist frustrierend, wenn man die Lachnummer der SWAT ist und niemand uns eine Chance geben will, einzig aus dem Grund, weil wir keine zähnestarrenden Raubtiere sind. Speed, Prince und Sage sind kurz vorm Resignieren und Jaxton macht es wütend.“

„Was ist mit dir?“

„Mich stimmt es traurig, Sir.“

„Ich weiß nur zu gut, wovon du sprichst“, sagte Holden leise, bevor er ausstieg. Er schlug die Wagentür hinter sich zu und richtete sein Jackett. Jetzt wurde es ernst.

TANNER

Wie festgeklebt saß Jude Norris in dem wuchtigen Ohrensessel aus hornhautfarbenem Leder. Seine Finger bohrten sich förmlich in die Armlehnen. Eine attraktive Erscheinung war der Mann nicht und Tanner fragte sich, wieso eine Frau auf die Idee kam, ihn zu heiraten.

Als hätte man ein Ei auf eine Säule gesetzt, die mit einem großkarierten Sakko verkleidet wurde, dachte er. Norris’ kahlköpfiger Schädel glänzte speckig im Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel. Der leicht säuerliche Geruch des Mannes drang ihm unangenehm in die Nase. Am kleinen Finger der linken Hand präsentierte Norris einen protzigen goldenen Siegelring. Daneben einen schlichter gestalteten Goldreif mit einem Brilli, offenbar der Ehering. Die Fingernägel waren für Tanners Geschmack eine Spur zu lang.

„Woher wissen Sie, dass Ihre Frau entführt wurde?“

Norris gegenüber saß sein neuer Chief mit einem Notizbuch in der Hand auf einer Chaiselongue, während sich Tanner an der Tür zu dem pompös eingerichteten Wohnzimmer, vollgestopft mit allerlei Tand, postiert hatte.

„Der Poolboy hat es beobachtet“, antwortete Norris und leckte sich über die fleischigen Lippen. „Meine Frau kam vom Joggen zurück. Da hielt ein Woody vor ihr. Sie musste einsteigen und dann brauste der Wagen die Straße hinunter.“

„Also ein Chevrolet Caprice?“

„Ganz recht.“

„Wann war das?“

„Vor drei Stunden. Ich habe geschlafen und Mike hat mich geweckt. Er stand plötzlich vor meinem Bett. Stellen Sie sich das vor!“

„Wer ist Mike?“, erkundigte sich Tanner dazwischen. Für einen kleinen Moment gruben sich die Finger des Möchtegernpolitikers tiefer in die gepolsterten Armlehnen.

„Mike Anderson, der Poolboy“, antwortete Norris. „Er ist in der Küche und trinkt Eistee, falls sie ihn sprechen wollen.“

„Wollen wir. Hat sich der oder die Entführer bereits gemeldet?“ Der Chief machte sich eifrig Notizen.

„Nein. Mr. Sawyer, wie viele Fragen wollen Sie mir noch stellen, bevor Sie endlich meine Frau suchen?“

„So viele wie nötig.“

Holden wurde ungehalten, was Tanner nicht entging. Daher mischte er sich erneut ins Gespräch ein. „Hat Ihre Frau Feinde? Gab es Drohungen? Womöglich auch Ihnen gegenüber?“

Norris drehte den Kopf in seine Richtung und zog eine überraschte Miene, als wäre es unter seiner Würde, dass ihn ein einfacher PO anquatschte. Dagegen nickte ihm Holden wohlwollend zu.

„Rachel hat Neider. Missgünstige Ratten, die ihr den Erfolg nicht gönnen.“

„Was für einen Erfolg?“, fragte Holden nach.

„Na, Norrisette! Was? Sagt Ihnen das nichts? Rachel designt Handtaschen. Sie hat ein eigenes, sehr gut florierendes Label.“

„Handtaschen“, murmelte Holden und schaute hilfesuchend zu ihm herüber. Tanner zuckte ratlos mit den Schultern.

„Diese Dinger, die die Weibsbilder gerne am Arm tragen.“ Norris’ Stimme wurde herablassend.

„Wer könnten diese Neider sein?“, wollte Tanner wissen.

„Morten Ashcroft, zum Beispiel. Mein Rivale bei der Wahl zum Gouverneur“, erläuterte Norris finster.

„Welchen Grund hätte der, Ihre Frau zu entführen?“, fragte Holden ratlos.

„Es liegt doch auf der Hand“, knurrte Norris. „Rachel finanziert meinen Wahlkampf.“

„Aha.“

„Sollte sie mich nicht länger unterstützen können, kann ich einpacken. Wenn das kein gutes Motiv ist …“

„Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie am Hungertuch nagen?“ Holden deutete auf diverse Statuetten, Ölschinken und Porzellangedöns auf den Kommoden.

„Die meisten Kunstgegenstände gehören meiner Rachel“, gestand Norris. „Und die übrigen sind nicht viel wert.“

„Sie sind also von Ihrer Frau finanziell abhängig?“

„Sagen wir mal, dass Sie die Besserverdienende ist.“

„Mr. Norris, ich wünsche keine Schönrederei, sondern Fakten.“

„Ja, verdammt! Sie ist der Esel, der goldene Dukaten scheißt.“

Holden zog eine Braue in die Höhe und räusperte sich. „Nachdem das geklärt ist, möchte ich Ihnen mitteilen, dass wir Morten Ashcroft bereits überprüfen. Darf ich fragen, ob Sie irgendwo Schulden haben?“

„Im Elysium und bei der First National Bank of Louisiana“, flüsterte Norris kaum hörbar. „Ich habe mir vor drei Monaten einen Maserati bestellt. Ich musste tatsächlich einen Kredit für den Wagen aufnehmen, damit ich mich bei WitherspoonAutomobiles nicht lächerlich mache, indem ich die Bestellung storniere.“

Mit anderen Worten: Seine Frau hatte nicht bezahlt.

„Und das Elysium hat mir einen Zahlungsaufschub gewährt.“

„Was ist das Elysium?“

Norris wurde rot. „Sie wollen es aber genau wissen.“

„Ich muss es genau wissen. Schließlich gilt es abzuchecken, ob jemand ein Motiv für die Entführung hat. Was ist eigentlich mit Ihnen?“

„Mit mir?“

„Ja. Haben Sie ein Motiv? Ich kann mir vorstellen, dass ein Wahlkampf sicherlich teuer ist.“

„Mr. Sawyer, meine Frau unterstützt mich großzügig. Der Rest finanziert sich über Sponsoren.“

„Gut. Kommen wir auf das Elysium zurück.“ Auffordernd sah er Norris an.

Der druckste verlegen herum. „Ein Bordell. Ich war dort mit einigen Wahlkampfhelfern feiern.“

„Und das wollte Ihre Frau nicht finanzieren?“

Ihn traf ein säuerlicher Blick.

„Weiß Ihre Frau, dass Sie fremdgehen?“

„Ich gehe nicht fremd!“, empörte sich Norris.

„Dann war Ihre Frau mit dabei?“

„Natürlich nicht! Sie weiß nichts von dem Elysium. Es ist ja ohnehin kein Fremdgehen, wenn man ein Bordell besucht, um ein bisschen Spaß zu haben.“

„Hat Ihre Frau ähnlichen Spaß?“

„Wie bitte?“

„Hat Sie einen Liebhaber oder ordert Sie sich einen Callboy?“

„Mr. Sawyer, meine Frau ist mir treu.“

„Im Sinne Ihrer Moral?“

„Wie?“ Verwirrt glotzte Norris aus der Wäsche, bevor er verstand. „Ich habe dort mit niemandem geschlafen, sondern lediglich die Vergnügungen der anderen bezahlt.“

Holden winkte ab, las kurz in seinen Notizen und bohrte gleich darauf weiter: „Was haben Sie für Einkünfte?“

„Ich bin Mitinhaber einer kleinen Firma. Bochcol & Norris. Mein Geschäftspartner und ich stellen Papierkörbe her. Man kann davon leben, allerdings keine großen Sprünge machen.“ Norris’ Hand löste sich kurz von der Armlehne und vollführte eine alles umfassende Geste. „Das Haus, der Schwimmteich, die Autos, der Garten … Das gesamte Grundstück ist Eigentum meiner Frau. Mir gehört ein Appartement in der Stadt.“ Der Mann lächelte schmal. „Ich hätte genau wie die tausend Neider ein Motiv, um sie zu entführen.“

„Und? Haben Sie das?“

„Glauben Sie ernsthaft, ich würde meine eigene Wahl torpedieren?“ Er ließ die Hand auf die Lehne zurücksinken, um sie erneut hineinzukrallen. „Die Medien dürfen nichts davon erfahren.“

„Auf gar keinen Fall“, stimmte ihm Holden zu und Tanner nickte leicht. Das fehlte noch, dass Reporter das Grundstück belagerten und ihre Arbeit behinderten.

„Nicht auszudenken, was passiert, wenn … tja … wenn es zum Schlimmsten kommt“, murmelte Norris.

„Darüber wollen wir überhaupt nicht erst nachdenken.“

„Ich MUSS aber darüber nachdenken“, brüllte der Möchtegern-Politiker, bevor er den Kopf in den Händen vergrub.

„Mr. Norris, wie kamen Sie eigentlich auf den Gedanken, sich an die SWAT zu wenden?“

„Ich will, dass die fähigsten Leute nach Rachel suchen. Ian Barber ist ein alter Bekannter von mir und hat mir einiges von seinen Wandlern erzählt.“ Er lächelte schmal. „Sind Wandler nicht perfekt dafür geeignet, vermisste Personen zu finden, Mr. Sawyer?“

Holden erhob sich, ohne die Frage zu beantworten. „Wir werden Ihr Telefon anzapfen. Sollte sich der Entführer melden, werden wir das Gespräch aufzeichnen. Tanner?“

„Ich rufe sofort Sage an. Er ist für solche Fälle unser Fachmann.“ Tanner zog sein Handy hervor. Währenddessen stemmte sich Norris aus dem Sessel.

„Sie benötigen mich nicht weiter, Mr. Sawyer?“

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Na, ins Wahlbüro.“

In diesem Moment meldete sich Sage und Tanner informierte ihn rasch über den Stand der Dinge. Sein Kamerad versprach, sofort mit dem benötigten Equipment vorbeizukommen. Als ihr Telefonat endete, befand er sich mit seinem Chief alleine im Wohnzimmer.

„Norris hält sich für einen Freund von Barber“, murmelte Holden nachdenklich. „Und wendet sich aus diesem Grund an die Supernatural SWAT. Er will eine Eliteeinheit, um seine Frau zurückzubekommen.“

„Der Chief Warrent Officer hat keine Freunde, Sir.“

„Exakt das ist der Punkt. Und Norris hat keine Ahnung, dass die Abteilung 48 in Wirklichkeit eine Abteilung LOL ist.“

„Was willst du damit sagen?“, erkundigte sich Tanner.

„Ian Barber nimmt ein Kollateralopfer, hier Rachel Norris, in Kauf, um uns scheitern zu sehen. Ein so guter Freund ist er.“ Holden verzog verächtlich das Gesicht.

„Was jetzt, Sir?“

„Reden wir mit Mike.“

HOLDEN

Die Küche war riesig und mit lilafarbenen und türkisen Kacheln gefliest. Der Rest bestand aus blankgewienertem Edelstahl. In einer kleinen Sitzecke, in der die Haushälterin Mrs. Murphy ihre Mahlzeiten einnehmen konnte, saß ein braungebrannter Mann der Marke Sonnyboy, inklusive braunem Lockenschopf, Lederband mit Schlangenanhänger und schokobraunen Augen. Er war in dunkle Shorts, Segeltuchschuhe und ein schlichtes weißes T-Shirt gekleidet. Auf dem Tisch vor ihm stand ein halb volles Glas Eistee. Mrs. Murphy wog bestimmt über zweihundertachtzig Pfund, trug eine lachsfarbene Kittelschürze und Gesundheitsschuhe. Graues Haar war zu einem Knoten hochgebunden und an einer bunten Kette hing ihr eine Lesebrille vor dem üppigen Busen.

„Sind Sie Mike?“, wandte sich Holden an den Mann.

Der Poolboy nickte und spielte nervös mit seinem Glas.

„Mike Anderson“, teilte er mit überraschend tiefer Stimme seinen vollen Namen mit.

„CPO Holden Sawyer und PO Tanner Hobbs.“ Holden setzte sich zu dem Poolboy.

„Nehmen Sie doch auch Platz, Mr. Hobbs.“ Die Haushälterin nötigte Tanner auf einen Stuhl, schenkte ihnen ungefragt Tee ein und stellte einen Teller mit Keksen dazu.

„Ist das nicht schrecklich?“, rief sie empört und zog sich ebenfalls eine Sitzgelegenheit heran. „Noch bevor Mrs. Norris frühstücken konnte, wurde sie gekidnappt! Mit leerem Magen …“

„Sie haben Mrs. Norris heute Morgen gesehen?“, fragte Holden und klappte sein Notizbuch auf, um weitere Eintragungen vorzunehmen.

„Sicher. Sie trinkt jeden Morgen einen frischen grünen Smoothie, bevor sie zum Joggen aufbricht. Nach etwa einer Stunde ist sie wieder da, isst ein Schälchen Müsli und ein paar Cookies auf der Terrasse und duscht anschließend. Hinterher arbeitet sie für gewöhnlich.“

„Wann ist Mrs. Norris aus dem Haus gegangen?“

„Etwa um 7:00 Uhr.“

„Das kommt hin“, murmelte Anderson über seinem Getränk. „Kurz nach 8:00 Uhr habe ich sie am Tor entdeckt. Sie wollte gerade rein, da hielt ein Woody vor dem Haus und sie wurde zum Einsteigen gezwungen.“

„Der Kidnapper hat den Wagen nicht verlassen?“

„Nein, Sir.“

„Mrs. Norris ist ohne zu zögern eingestiegen?“

„Nicht ganz, Sir. Es war ihr anzumerken, dass sie nicht freiwillig mitgefahren ist. Sie drehte sich kurz zu mir um, als ob sie nach Hilfe gesucht hätte. Leider befand ich mich auf der anderen Seite des Teichs und war somit zu weit weg. Sie setzte sich daher in den Wagen, der Fahrer gab Gas und weg waren sie. Ich bin selbstverständlich hinterhergelaufen, kam aber zu spät.“

„Haben Sie das Kennzeichen erkannt?“, fragte Tanner und griff nach einem Keks.

„Nehmen Sie sich ebenfalls einen, Mr. Sawyer. Die entspannen, sagt Mrs. Norris immer.“ Die Haushälterin schob ihm den Teller zu und er langte höflichkeitshalber zu. „Ich muss sie ihr jeden Tag backen.“

Die Dinger schmeckten … ungewöhnlich. Holden spülte hastig mit Eistee nach, wobei er sich mit dem Kugelschreiber beinahe ins Auge stach. Dagegen griff sich Tanner einen zweiten.

„Der Wagen hatte kein Kennzeichen. Das wurde wohl abmontiert.“ Anderson trank sein Glas aus.

„Haben Sie den Fahrer erkannt? War eine weitere Person im Wagen? Eine Beschreibung wäre prima.“

„Ich habe bloß den Typ am Steuer gesehen. Er trug eine Ski-Maske. Wahrscheinlich wurde Mrs. Norris mit einer Waffe bedroht. Sonst wäre sie sicherlich nicht eingestiegen, oder?“

Es klingelte. Ein furchtbar lauter und schriller Ton. Mrs. Murphy stemmte ihre füllige Figur in die Höhe, um zu öffnen.

„Lassen Sie nur.“ Tanner sprang auf. „Das wird Sage sein. Wir regeln das mit dem Telefon.“ Im Hinauslaufen schnappte er sich einen dritten Keks.

„Was trug Mrs. Norris zum Zeitpunkt ihrer Entführung?“, setzte Holden seine Befragung fort und griff unwillkürlich nach einem weiteren Plätzchen. Irgendwie waren die doch gar nicht so schlecht.

„Ein rosafarbenes Funktionsshirt und dazu passende Turnschuhe in derselben Farbe“, antwortete Anderson. „Und schwarze Laufshorts. Außerdem hatte sie eine violette Bauchtasche um.“

„Etwas war allerdings komisch“, murmelte Mrs. Murphy.

Holden hob den Kopf und war ganz Ohr.

„Sie hatte heute ihre teure goldene Uhr angelegt. Und die Diamantohrringe. Das sind ihre liebsten Stücke, wissen Sie? Ich habe sie darauf angesprochen, weil sie sonst nie mit dem guten Schmuck joggen geht.“

„Und was hat sie gesagt?“

„Ihre Freundin, Mrs. Liza Welch, würde ständig etwas overdressed laufen. Sie wollte nicht hintenanstehen.“

„Ist Mrs. Welch auch eine prominente Größe in dieser Stadt?“

„Ihr Mann ist Staatsanwalt und sie führt als Hobby einen exklusiven Hutladen. Die Bauchtasche, die Mike gerade erwähnte, stammt übrigens aus Mrs. Norris’ eigener Kollektion. Das Norrisette-Logo darauf besteht aus kleinen Brillanten. Sie war sehr stolz, mit ihrem Label endlich im Sportbereich Fuß fassen zu können.“

Holden begriff. Die Entführte war erfolgreich und ihr Mann ohne sie nichts weiter als eine traurige Figur. Und sie war so reich, dass sie mit einem Vermögen durch Baton Rouge joggte.

„Gibt es eine bestimmte Strecke, die Ihre Arbeitgeberin läuft?“

Anderson und Mrs. Murphy tauschten einen Blick.

„Darüber haben wir nie gesprochen“, antwortete die Haushälterin.

„Und ich habe von ihr lediglich Anweisungen wegen des Badeteichs erhalten“, fügte Anderson hinzu.

„Aber sie ging jeden Tag laufen? Allein oder mit ihrer Freundin?“ Holden hatte Mühe, nicht mit dem Kopf auf den Tisch zu schlagen. Jede Kleinigkeit musste er diesen Leuten aus der Nase ziehen. Jede winzige Information. Dabei hatten Mrs. Murphy und Anderson große Nasen. Wenn nicht sogar gewaltige Nasen. Außerdem hatte Anderson merkwürdige, lange Vorderzähne. Es sah ein bisschen wie bei Bugs Bunny aus.

„Sir? Ist etwas nicht in Ordnung?“ Der Poolboy musterte ihn besorgt.

„Ihre Zähne …“ Holden kicherte und Anderson begann mit dem Fingernagel zwischen den Zähnen zu pulen.

„Habe ich da etwas hängen?“, nuschelte er.

Holden blinzelte. Nasen- und Mundpartie nahmen wieder eine normale Größe an.

„Sir?“

„Noch einen Eistee, Mr. Sawyer?“

Holden winkte ab. Ihm war seltsam leicht zumute und es war ausgesprochen hübsch zu betrachten, wie die Lilatöne der Fliesen mit dem Türkis verschmolzen. Ungemein schön. Er lachte leise.

„Sir? Wir sind fertig.“ Sage erschien in der Küchentür.

„Das ist …“ Holden riss glücklich die Arme in der Höhe. „…  wunderbar.“ Er bemerkte die entgeisterten Mienen der anderen und räusperte sich. Aus der Innentasche des Jacketts fischte er eine Visitenkarte heraus. Sie war brandneu und er hatte ein ganzes Päckchen in seinem Büro vorgefunden, wo eine vorausschauende Mitarbeiterin es hingelegt hatte.

„Rufen Sie an, wenn Ihnen weitere Details einfallen, egal wie belanglos sie Ihnen vorkommen mögen. Es könnte trotzdem wichtig sein.“ Er erhob sich und folgte Sage ins Freie. „Wo ist Tanner?“

„Bereits im Wagen, Sir. Wie geht es nun weiter? Sir? Sir!“

Holden schnupperte an einer weißen Rose. Wie herrlich sie roch und wie perfekt sie war. Die Blütenblätter drehten sich wie ein Karussell im Kreis.

„Sir, was machst du da?“

„Zauberhaft!“, rief Holden lachend.