Systemaufbruch - Martin Kornberger - E-Book

Systemaufbruch E-Book

Martin Kornberger

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Beschreibung

Angesichts geopolitischer Verwerfungen (Afghanistan), gesellschaftlicher Krisen (Covid, Klima) und disruptiver Wirtschaftsentwicklungen (Digitalisierung) stoßen wir an die Grenzen unserer planerischen Vernunft. Was sich Jahrzehnte lang durch Zielsetzung, Planung und Implementierung meistern ließ, erscheint unbeherrschbar. Pläne scheitern, Strategien versagen. Warum aber versagt Strategie, trotz ungeheurem Ressourceneinsatz, trotz geballter Beraterexpertise, trotz politischer Priorisierung? Dieses Buch offeriert eine Antwort: Strategie scheitert nicht etwa, weil wir sie nicht gut genug formulieren oder sie nur halbherzig implementieren. Strategie scheitert, weil wir sie von Anfang an falsch denken und falsch machen. Wir glauben, ein zukünftiges Ziel definieren und alle Schritte vorausschauend planen zu können. Unter radikaler Unsicherheit funktioniert dieses Model allerdings nicht. Wie kann man trotzdem strategisch denken, Zukunft gestalten? Der Philosoph, Managementprofessor und internationale Bestsellerautor Martin Kornberger plädiert für ein neues Denken und Handeln, das lokales, dezentrales und agiles Handeln für kollektive Zwecke in den Mittelpunkt rückt. Große Systeme aufbrechen, dezentrales Experimentieren, kleine Brücken bauen, das ist sein Credo. Dafür holt er sich Impulse aus Clausewitz' Meisterwerk "Vom Kriege" und findet zeitgemäße Antworten auf die Frage, die uns derzeit am meisten auf den Nägeln brennt: Wie kann man in einer Zeit extremer Unsicherheit Strategie wirksam machen?

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Strategie in Zeiten radikaler Unsicherheit

Die Wieder-entdeckung von Clausewitz

SYSTEMAUFBRUCH

Martin Kornberger

Inhalt

EinleitungSystemabsturz

01Auf der Suche nach dem verlorenen archimedischen Punkt: Kritik der strategischen Vernunft

02Eine neue Denkfigur: Strategie als Brücke

03Orientierung im Denken, Haltung im Handeln: der Nordstern

04Am Anfang war die Tat: ein Lob der Taktik

SchlussDrei Strategeme

Danke

Über den Autor

Vor vielen Jahren starb ein armer Mann im fernen Orient. Er hatte drei Söhne und hinterließ ihnen 17 Kamele. In seinem Testament verfügte er, wie sie aufgeteilt werden sollten. Der älteste Sohn solle die Hälfte der Kamele, der zweitälteste ein Drittel und der Jüngste solle ein Neuntel der Kamele erhalten. Die Söhne saßen am Lagerfeuer und beratschlagten sich, wie sie den Willen des Vaters umsetzen sollten. Sie sahen keinen Weg, 17 Kamele in eine Hälfte, ein Drittel und ein Neuntel zu teilen. Da kam ein weiser Mann auf einem Kamel des Weges und setzte sich zu ihnen ans Lagerfeuer. Der Weise hörte sich ihr Problem an und machte folgenden Vorschlag: »Ich gebe Euch mein Kamel, dann habt ihr 18.« Die drei Brüder schauten sich an und verstanden nicht. Der alte Mann fuhr fort: »Nun bekommt der Älteste von Euch neun, der Zweitälteste sechs und der Jüngste zwei Kamele.« Nach dieser Aufteilung blieb ein Kamel übrig, auf dem der Weise fortritt.

Geschichte des 18. Kamels, Ursprung ungewiss

Einleitung

Systemabsturz

Kein Manager, kein Politiker, kein Unternehmer kann es sich leisten, keinen Plan oder, noch schlimmer, keine Strategie zu haben. Ohne Plan lässt sich kein Führungsanspruch begründen und ohne Strategie kann sich keine Entscheidung legitimieren. In unserer zukunftsorientierten Gesellschaft ist Strategie das Nadelöhr, durch das alle, die entscheiden, hindurch müssen, wollen sie ihren Vorstellungen Ausdruck und ihrem Willen Nachdruck verleihen. Diese Omnipräsenz von Strategie und ihr Herrschaftsanspruch in der Gegenwart, abgeleitet aus der Deutungshoheit über die Zukunft, stellen die Frage nach der Effektivität von Strategie. Hierbei öffnet sich ein breiter Graben zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Wie der Strategieforscher Richard Rumelt lamentiert, ist »gute Strategie« die seltene Ausnahme.1 Und Richard Whittington, Strategieprofessor in Oxford, fragt nicht ohne Ironie, warum man die Geheimnisse erfolgreicher Strategie für ein paar Euro in Buchform kaufen kann, während doch in der Praxis täglich Strategien kläglich scheitern.2 Man nehme nur die folgenden Beispiele als Illustration für das Scheitern von strategischer Vernunft.

Erstens: Afghanistan. Nach 20 Jahren Krieg, Hunderttausenden an (zivilen) Opfern und über 2000 Milliarden Dollar an Ausgaben 3 hat sich am Status quo wenig geändert, geschweige denn verbessert. Diese traurige Bilanz ist aber keineswegs das Resultat eines Mangels an Strategie – vielmehr ist sie die Ausgeburt eines Überschusses an Strategie. Rory Stewart hat in seinem provokanten Aufsatz zum Thema Intervention in Afghanistan penibel aufgelistet, wie jeder neue General, jede neue politische Führungspersönlichkeit, die sich mit Afghanistan über die Jahre hin befasste, eine neue Strategie verkündete.4 Mit Schaufeln, nicht Schwertern, wurde der Kampf um die Herzen der Bevölkerung geführt. Nation Building war das Gebot der Stunde, Thinktanks wie RAND, Beratungsunternehmen und globale NGOs schlugen Institutionen aus der Retorte vor, die sich vor Ort installieren lassen sollten. Immer mehr Ressourcen, immer neuere Technologien wurden eingesetzt, um Rechtsstaatlichkeit, Good Governance und kritische Infrastrukturen zu etablieren. Und trotz dieses gewaltigen, zwei Dekaden andauernden Kraftakts, für den jeden Tag 300 Millionen Dollar nach Afghanistan gepumpt wurden 5, zerschellte eine Strategie nach der anderen an den schroffen Felsen der afghanischen Realität.

Die entscheidenden knappen Ressourcen waren keineswegs militärischer, noch waren sie finanzieller Natur. Woran es am Ende mangelte, war klares, strategisches Denken. Wie Rory Stewart schreibt: »at the heart of the tragedy was an obsession with universal plans and extensive resources, which stymied the modest but meaningful progress that could have been achieved with far fewer troops and at a lower cost«.6 Der Plan, Nation Building nach einer Blaupause zu organisieren, war im Ansatz verfehlt. Und als das Scheitern der Strategie nicht mehr zu ignorieren war, wurde die gesamte Operation verworfen und das Land seinem Schicksal überlassen. Naive, grandiose Pläne schlagen in Realitätsverweigerung und Solipsismus um.

Zweitens: Covid. Anfang 2020 wurden so gut wie alle Länder von dem neuen Virus und seiner rasanten Ausbreitung überrascht. Das Vereinigte Königreich wurde regelrecht überrumpelt. Erst als der Anfang März 2020 immer noch demonstrativ händeschüttelnde Prime Minister wenig später auf der Intensivstation landete, wurde der Ernst der Lage erkannt. Ein harter, aber zu spät einsetzender Lockdown resultierte in einem starken Wirtschaftseinbruch bei gleichzeitig enorm hoher Sterberate. Der Sommer 2020 brachte eine Verschnaufpause – und Zeit, den Herbst strategisch anzugehen. Milliardenverträge an über 70 verschiedene Beratungsunternehmen (mit Beratertagessätzen von teils über 6000 Pfund) sollten helfen, den an und für sich nicht besonders strategischen Virus auszumanövrieren.7 Unter der Leitung einer erfahrenen Managerin wurde ein Test-and-Trace-Budget von 37 Milliarden Pfund auf zwei Jahre bewilligt. Ziel war es, weitere Lockdowns zu vermeiden sowie die Bevölkerung bestmöglich zu schützen. Doch das Resultat der Covid-Strategie war katastrophal. Eine parlamentarische Untersuchungskommission stellte fest, dass »despite the unimaginable resources thrown at this project Test and Trace cannot point to a measurable difference to the progress of the pandemic, and the promise on which this huge expense was justified – avoiding another lockdown – has been broken, twice«.8

Ein (vorläufiger) Kumulationspunkt des Strategieversagens findet sich im Covid-Winterplan 2020/2021 der Johnson-Regierung.9 Diese Strategie sollte helfen, die ominöse R-Zahl unter 1 zu halten, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Ein Ampelsystem sollte Einschränkungen lokal dosierbar machen. An Weihnachten war vom Prime Minister ein einseitiger Waffenstillstand verkündet worden, der soziale Beschränkungen über die Feiertage aufzuheben versprach. Nun kam freilich alles anders: Die zweite Welle überrollte die Insel, ein monatelanger, harter Lockdown folgte und Weihnachten wurde am Abend des 18. Dezember von Boris Johnson kurzerhand abgesagt. Was hier geschah, war Strategieversagen par excellence. Ein berechenbarer Virus, der sich gleichbleibend stur verhält und als solcher keinen besonders ernst zu nehmenden strategischen Gegner darstellt, hebelt die vereinten Kräfte und scheinbar endlosen Ressourcen des Vereinigten Königreichs aus. Oder wie es Anthony Costello, Professor of Global Health and Sustainable Development am University College London, schon zu Beginn der Pandemie in einem Interview mit der Financial Times ausdrückte: »We’ve been running this epidemic like Robert McNamara, the US defence secretary in the Vietnam war, who collected vast quantities of data to assess the war’s progress. We should have been more like the other side, fighting a guerrilla war against the virus.« 10 Wiederum waren die entscheidenden knappen Ressourcen nicht finanzieller Natur und auch an strategischer Beratung haperte es nicht. Woran es am Ende mangelte, waren wirkungsvolles Denken und Handeln, die das Attribut strategisch verdienen würden.

Drittens: das mannigfache Scheitern unternehmerischer Strategien. Wie schon erwähnt, sind die Geheimnisse des strategischen Managements für ein paar Euro online zu haben. Und trotzdem scheitern die meisten Organisationen mit oder an ihren Strategien, siehe den rasanten Aufstieg und noch rasanteren Absturz von BlackBerry.11 Die zwei kanadischen Gründer Mike Lazaridis und Jim Balsillie setzten mit ihrer Firma Research in Motion (RIM) schon Anfang der 1990er-Jahre auf mobile Kommunikation. Als sie in ihrem Start-up in der verschlafenen Kleinstadt Waterloo in der Provinz Ontario BlackBerry entwickeln, machen sie vieles richtig. »Success lies in paradox«, schreibt Lazaridis: »We must maximize adoption by minimizing complexity.« 12 Der resultierende Fokus auf E-Mail-Kommunikation macht das Gerät elegant und benutzerfreundlich. Dem Keyboard geben sie eine besondere Form und einen Touch, der die einzigartige User Experience unterstreicht. Der Name BlackBerry setzt sich gegen die in der Tech-Branche üblichen Bezeichnungen (und gegen Fokusgruppen) durch und avanciert zum Branchenliebling. Marketing und Verkauf werden wortwörtlich auf den Kopf gestellt: CEOs werden mit BlackBerries ausgestattet, die sie schnell danach süchtig machen, jederzeit und überall im Loop zu sein (daher der bald aufkommende Spitzname »CrackBerry«). Allerdings funktioniert der Loop nur, wenn auch ihre Untergebenen BlackBerries benutzen und mit ihren Chefs jederzeit und überall kommunizieren können. Damit wird BlackBerry das »first IT product ever sold from the top down, pushed by senior management onto their IT organizations«.13

Der Erfolg gibt der Firma recht: Reviews nennen BlackBerry das »close to perfect pocket Email«, »ground-breaking, genre-killing, trend-setting«. BlackBerry wird neben Nike, Ben & Jerry’s und anderen zur Kultmarke. Oprah Winfrey verrät ihrem Millionenpublikum live im Fernsehen: »I love this so much. I cannot live without this. It’s with me everywhere I go. It’s called a BlackBerry. It’s literally changed my life.« Die beiden Gründer werden, nebst Steve Jobs und anderen Gurus, in die Liste der besten CEOs aufgenommen und als »underappreciated northern lights« gefeiert.14 Der MENS Club (so das Kürzel für die Mitbewerber Motorola, Erickson, Nokia und Siemens) hinkt BlackBerrys Innovationen hoffnungslos hinterher. Der Aktienkurs spiegelt den Erfolg in ungeheuren Wachstumszahlen wider: War eine Aktie im Sommer 2002 1,77 US-Dollar wert, so stieg der Kurs sechs Jahre später auf 131 Dollar. Das Fazit der Unternehmensbiografen Jacquie McNish und Sean Silcoff:

»In fourteen short years Lazaridis and Balsillie had steered RIM from the obscurity of a small Ontario city to claim the title as the new kings of technology with an inventive smartphone that was a must-have status symbol for professionals. Through a mix of innovation and brazen tactics the duo had outsmarted bigger competitors and skated around wolfish carriers.« 15

Auf dem Höhepunkt des Erfolgs 2008 ist Apple mit dem ersten iPhone erst sechs Monate am Markt und Google beginnt (nach missglückten Experimenten mit einem eigenen Mobilgerät) zögerlich, Android als Open Source Software anzubieten. Gleichzeitig ziehen jedoch erste dunkle Wolken am Horizont auf. Kunden finden das iPhone unwiderstehlich – trotz fehlendem Keyboard, schlechter Akkulaufzeit und stetigen Netzwerkproblemen. RIM ist sich der Herausforderung bewusst und reagiert strategisch, schmiedet Pläne. Das Unternehmen kauft Start-ups, die neue Technologien einbringen, und heuert erfahrene Manager an, wie etwa den Harvard-MBA und McKinsey-Berater Jim Tobin, »the first guy to come in and talk vision and strategy«.16 Ein ehemaliger Marketing Manager von Coca-Cola wird damit betraut, BlackBerry als Lifestyle Brand zu positionieren. Beratungsunternehmen halten in die bis dato sehr beratungsresistenten Chefetagen Einzug und verfassen detaillierte Pläne. Das BlackBerry PlayBook wird als Gegenstück zum iPad entwickelt und soll neue Wachstumsmärkte erschließen. Aber was auch immer BlackBerry unternimmt, kann die Talfahrt nicht aufhalten. So verläuft die im letzten Moment verordnete »strategische Chemotherapie« schmerzvoll und doch ergebnislos.17

Die Geschichte BlackBerrys ist die Parabel einer Unternehmung, die, am Zenit angekommen, auf große Pläne setzt, Strategien entwickelt – und mit und an ihnen scheitert. Mit wenig Strategie, wenigen Topmanagern und wenig Geld schaffte es RIM an die Spitze. Mit viel Strategie, vielen Topmanagern und viel Geld stürzte RIM ab. Aber nicht, weil sie Strategie ignorierten, sondern weil sie sie praktizierten, stürzte die Firma ab. Ironie der Geschichte ist, dass Lazaridis ein großer Anhänger des Harvard-Strategie-Gurus Clayton Christensen war, der in seinem Buch Innovator’s Dilemma eindrücklich beschrieb, wie Unternehmen, die sich ans Lehrbuch halten, unweigerlich scheitern. Lazaridis verwendete das Prinzip des von Christensen propagierten Prinzips des Innovator’s Dilemma als Blueprint für RIMs Zukunft.18 Und hier versagte der strategische Plan, obwohl er – die Möglichkeit seines Scheiterns antizipierend – besonders strategisch vorging.

Diagnose

Warum versagt Strategie, trotz ungeheurem Ressourceneinsatz, trotz geballter Beraterexpertise, trotz politischer Priorisierung? Mit diesem Buch möchte ich folgende Antwort vorschlagen: Strategie scheitert nicht etwa, weil wir sie nicht gut genug formulieren oder sie nur halbherzig implementieren. Strategie scheitert, weil wir sie von Anfang an falsch denken und falsch umsetzen. Der Fehler liegt darin, dass wir glauben, wir könnten ein zukünftiges Ziel definieren und dann all jene Schritte vorausschauend planen, die zu dessen Erreichung notwendig sind. Dabei schaffen wir uns im Kopf ein vereinfachtes, vereinfachendes Modell der Wirklichkeit, in dem sich Ursachen und Wirkungen fein säuberlich trennen lassen. Wir definieren einen erwünschten Soll-Zustand und identifizieren dann diejenigen Faktoren (key success factors im Management Speak), die zum Ziel führen. Daraus leitet sich die Strategie ab, definiert als Plan, der Ziele festsetzt und Schritte zu deren Implementierung vorgibt.

Doch sobald die so geplante Strategie auf die Wirklichkeit trifft, tritt ein, was das Modell außen vor lässt. Es sind die Umstände, das, was wortwörtlich umhersteht, die der Strategie einen Strich durch die Rechnung machen. All das, was das Modell ausblendet, spielt eine mal kleinere, mal größere Rolle, wirkt auf die geplante Strategie ein, zwingt zu Anpassungen, Auslassungen und manchmal kompletten U-Turns. Im Fachjargon des Strategen ist es die Implementierung, die Umsetzung, der die Probleme geschuldet sind. Man scheitert nicht im Strategieworkshop und noch seltener am Papier oder dessen Präsentation. Scheitern tritt auf, wenn das zweidimensionale Modell den Wiedereintritt in die Realität versucht. Das Ziel weicht in die Ferne zurück, die Umsetzungsschritte führen in die Irre. Warum? Weil strategisches Denken in linearen Kausalketten auf eine nicht lineare, vernetzte, rekursive Wirklichkeit trifft, in der kleinste Abweichungen größte Auswirkungen haben.

Illustriert an den genannten Beispielen: Hinter dem Namen Afghanistan verbirgt sich eine so komplexe Realität, ein so weit verzweigtes, tief verästeltes Netzwerk an Beziehungen zwischen Menschen und Stämmen, Worten und Geschichte(n), Traditionen und Erwartungen, dass der Beginner’s Guide to Nation-Building aus der RAND Corporation nicht greifen, nicht eingreifen kann.19 Dasselbe lässt sich in Bezug auf das Covid-Beispiel zeigen: Der Virus ist ein fataler Netzwerker, der sich nicht nur die sozialen Beziehungen zwischen Menschen zunutze macht, sondern seine letale Wirkung in Rückkoppelung mit anderen Krankheiten (Diabetes etc.), sozioökonomischen Strukturen, baulichen Gegebenheiten und allzu menschlichen Gewohnheiten entfaltet.20 Und jede Organisation ist wie BlackBerry ein reflexives, selbstbezügliches System, das im Wettbewerb mit anderen Firmen die Eindimensionalität des Plans transzendiert. Pikanterweise haben selbst das Wissen um das Dilemma des erfolgreichen Unternehmens (ChristensensInnovator’s Dilemma) und die Erkenntnis, dass Erfolg paradox ist, BlackBerry nicht vor dem Absturz bewahren können. Von wegen Gefahr erkannt, Gefahr gebannt: Es waren die großen Pläne, die, am Zenit verfasst, den Untergang einläuteten.

Die Beispiele verweisen auf das zentrale Denkmuster, das dem Strategieversagen zugrunde liegt: Der Stratege spielt eine Partie Schach gegen einen identifizierbaren Gegner, auf einem Brett mit bekannten Größen, vorab definierten Fähigkeiten, kalkulierbaren Interessen und einem klaren Ziel. Aber längst ist die Welt nicht mehr wie ein Schachbrett, sondern vielmehr wie ein Netzwerk organisiert.21 Strategie, wie sie vor allem in Wirtschaftshochschulen gelehrt wird, ist ein Sammelsurium von Modellen, mittels derer schachbrettartig angelegte Interventionen gelingen sollen. In der Tat lässt sich die kurze Geschichte der Managementstrategie als fortgesetzte Suche nach dem archimedischen Punkt (dem Modell) verstehen, mit dem wir die Welt aus den Angeln heben wollen. Das Scheitern eines Modells führt jedoch nicht zur Kritik an der Idee des Modells an sich, sondern im Gegenteil zur hektischen Erforschung eines neueren, besseren Modells. Die Suche nach dem archimedischen Punkt wird nicht aufgegeben.

Auftritt Clausewitz

Eine Strategie nach Clausewitz beginnt mit dem Ende dieser Suche nach dem archimedischen Punkt. Wohlweislich heißt das nicht, resignierend festzustellen, dass die Welt ein unentwirrbarer gordischer Knoten und zukunftsorientiertes Handeln ohnehin vergeblich ist. Vielmehr möchte ich der Illusion des archimedischen Punkts und der Frustration des gordischen Knotens einen reduzierten, radikal entschlackten Strategiebegriff entgegenstellen. Für dieses Unterfangen steht Clausewitz Pate.

Nietzsches Diktum, wonach manche Autoren posthum geboren werden, trifft wohl auf niemanden besser zu als auf Carl von Clausewitz. Sein unvollendetes Hauptwerk Vom Kriege wurde nach seinem Tod (1831) von seiner Frau zwischen 1832 und 1837 herausgegeben. Es ist ein Sammelsurium unabgeschlossener – manche würden sagen: unabschließbarer – Gedankengänge zur Frage, wie, nein: ob Strategie überhaupt möglich ist. Die Radikalität der Frage ist der Historie geschuldet, in die sich Clausewitz geworfen fand. Sein Denken ist von Napoleons disruptiver Kriegsführung überschattet. Dessen Maxime, wonach ein guter Soldat ein marschierender Soldat sei, bringt die Dynamik und das Ethos der neuen Art der Kriegsführung auf den Punkt. Clausewitz, geschult in der alten statischen Kriegskunst, steht Napoleon mehrmals chancenlos auf dem Schlachtfeld gegenüber. Erschüttert schreibt er in einem Brief an den Philosophen Fichte, er habe »alle die hergebrachten militärischen Meinungen und Formen, unter denen ich groß geworden bin, nun in dem schnellen Strom der Ereignisse in ihren morschen Fugen […] zusammenbrechen sehen«.22 Der Formalismus der militärischen Strategielehre mit seiner geometrischen Kriegsführung, der bis Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschte, wird nebst halb Europa von Napoleons Heer zerstört.23

Clausewitz zieht sich zurück, wird 1818 zum Direktor der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin berufen, allerdings ohne Erteilung der Lehrerlaubnis, sodass er von nun an Zeit hat, sich mit all seiner Erfahrung auf die eine kritische Frage zu konzentrieren: Gesetzt, dass eine »systematische Kriegsführung«, die aus vorab geplanten Zügen besteht, zum Scheitern verurteilt ist, wie lässt sich Krieg trotzdem strategisch denken? Wie kann strategisches Denken im »schnellen Strom der Ereignisse«, der alles mit sich reißt, einen Ausgangspunkt, einen Anhaltspunkt, einen Endpunkt finden? Wenn der »Nebel des Krieges« kein vorausplanendes Handeln oder, wie Clausewitz sagt, »keine Algebra des Handelns« erlaubt, wie kann Strategie dann überhaupt eine Orientierung im Denken und eine Haltung im Handeln vermitteln? Oder philosophischer, mit Clausewitz’ Zeitgenossen Immanuel Kant, gewendet: Was ist die Bedingung der Möglichkeit von Strategie in einer Zeit geprägt von radikaler Unsicherheit?

In seinen verbleibenden Jahren versucht Clausewitz, diesem Fragenkomplex eine Antwort abzuringen. Das posthum herausgegebene Werk Vom Kriege bleibt jedoch Fragment, zersplittert in Gedanken, die verschiedenste Ideen verfolgen, um vergeblich, geschlagen oder als Deserteure im Hunderte Seiten langen Manuskript immer wieder aufzutauchen. Trotzdem gilt Vom Kriege dem führenden Militärhistoriker Hew Strachan und vielen anderen als »the most important book on strategy ever written«.24 Warum? Weil Clausewitz der Wegbereiter eines Strategiebegriffs ist, der Strategie und radikale Unsicherheit zusammenbringt. Sein Buch ist ein Suchen nach Wegen, Agilität und Zielgerichtetheit, Dezentralisierung und Orientierung, individuelle Autonomie und kollektives Handeln miteinander zu verbinden. Die Prämisse meines Arguments ist, dass die Tür zur Zukunft nach innen aufgeht: Wer durchgehen will, muss zuerst einen Schritt zurücktreten. Strategie nach Clausewitz setzt weder auf einen neuen (und damit doch wiederum alten) archimedischen Punkt, noch bleibt sie in den Wirren des gordischen Knotens hängen. Vielmehr schlägt sie eine Denkfigur vor, die Orientierung im Denken und Haltung im Handeln unter radikaler Unsicherheit erlaubt.

Wohlgemerkt geht es dabei nicht darum, den Krieg zum Maß gesellschaftlicher Realitäten zu machen. Ganz im Gegenteil – Krieg ist Grenzerfahrung, wie Michael Walzer in seinem Buch Just and Unjust Wars schreibt: »For war is the hardest place: if comprehensive and consistent moral judgments are possible there, they are possible everywhere.« 25 Clausewitz’ Reflexionen sind dem Krieg als Extremsituation geschuldet. Was sich in den Wirren des Kriegs als Strategie behauptet, so die These, muss auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen bestehen können.

Aufbruch