Systemisches Coaching - Bernd Schmid - E-Book

Systemisches Coaching E-Book

Bernd Schmid

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Beschreibung

Coaching und Persönlichkeitsberatung erfordern, vielfältige Gesichtspunkte unter einen Hut zu bringen. Statt fester Vorgehensweisen bietet der zweite Band des Handbuchs Systemische Professionalität und Beratung wesentliche Konzepte aus jahrzehntelanger Erfahrung, die helfen, Menschen in professionellen Entwicklungen und Organisationszusammenhängen zu unterstützen und dabei zu sich selbst finden zu lassen.

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BERND SCHMID

SYSTEMISCHES COACHING

EHP – HANDBUCH SYSTEMISCHE PROFESSIONALITÄT UND BERATUNG

Hg. Bernd Schmid

Der Autor:

Dr. phil. Bernd Schmid (Jg. 1946) leitet das INSTITUT FÜR SYSTEMISCHE BERATUNG, Wiesloch/Deutschland (seit 1984). Er studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte in Erziehungswissenschaften und Psychologie; seit 1979 Lehrtrainer der europäischen und der internationalen Gesellschaften für Transaktionsanalyse; langjähriger Vorsitzender des Weiterbildungs- und Prüfungsausschusses der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse; Berufenes Mitglied der Systemischen Gesellschaft, Mitbegründer der Gesellschaft für Weiterbildung und Supervision (GWS), des NETZWERKES SYSTEMISCHE PROFESSIONALITÄT und des Deutschen Bundesverbandes Coaching e.V. – DBVC; Lehr- und Vortragstätigkeit im Bereich Psychotherapie, Coaching, Supervision, systemische Beratung sowie Organisations- und Personalentwicklung. Zahlreiche Veröffentlichungen in Schrift und Ton; Mitherausgeber der Zeitschrift Profile; gegenwärtiger Arbeitsschwerpunkt: seelische Entwicklung und berufliche Wirklichkeiten. www.systemische-professionalitaet.de

Bernd Schmid

SYSTEMISCHES COACHING

Konzepte und Vorgehensweisen

in der Persönlichkeitsberatung

E H P

– 2009 –

© 2004 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp.biz

Redaktion: Ingeborg Weidner

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

3. Auflage 2009

Umschlagentwurf: Gerd Struwe

– unter Verwendung eines Bildes von Peter Schmid (1984-2001): ›o.T. II.‹ –Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

EPUB-ISBN 978-3-89797-522-4

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

Vorwort

I.

KONZEPTE UND VORGEHENSWEISEN

1.

Antreiber-Dynamiken – Persönliche Inszenierungsstile und Coaching

1.1

Einleitende Gedanken

1.2

Antreiber 1: »Ich bin OK, wenn ich perfekt bin!«

1.3

Antreiber 2: »Ich bin OK, wenn ich stark bin!«

1.4

Antreiber 3: »Ich bin OK, wenn ich anderen gefällig bin!«

1.5

Antreiber 4: »Ich bin OK, wenn ich mich anstrenge!«

1.6

Antreiber 5: »Ich bin OK, wenn ich mich beeile!«

1.7

Beratungsstrategien bei Antreiber-Dynamiken

1.8

Wurzeln des Antreiber-Konzepts

2.

ICH-DU- und ICH-ES-Typen

2.1

Ich-Du-Typ

2.2

Ich-Es-Typ

2.3

Wenn Ich-Du-Typ und Ich-Es-Typ zusammentreffen

2.4

Ein Beispiel

2.5

Die Balance von Thema und Bezogenheit in persönlichen und professionellen Beziehungen

2.6

Zusammenfassung

3.

Symbiotische Beziehungen

3.1

Verantwortung

3.2

Symbiotische Beziehungen

3.3

Symbiotisches Verhalten

3.4

Bedeutung für die Beratungspraxis

3.5

Schuld und Würde

4.

Zwickmühlen

4.1

Definitionen und Zwickmühlenlogik

4.2

Beispiele für Zwickmühlen-Zusammenhänge

4.3

Der Dilemmazirkel

4.4

Dilemmadynamik beim Umgang mit Zwickmühlen Konstellationen

4.5

Lebensgeschichtlicher Hintergrund

4.6

Entdecken von Zwickmühlen

4.7

Therapeutischer Umgang mit der Dilemmadynamik

4.8

Der Gebrauch von Bildern und Metaphern

5.

Komplexität, Dilemmata und Sinn

5.1

Herausforderungen in Zeiten des Wandels

5.2

Effektivitätsfallen

5.3

Die Entstehung von Dilemmata durch nicht bewältigte Komplexität

5.4

Der Dilemmazirkel

5.5

Der Sinnzirkel

5.6

Kultur als Medium der Komplexitätssteuerung

5.7

Integration und Integrität als Kernbegriffe von Kulturbildung

6.

Kontrolldynamik, Treibsand und fiktive Wirklichkeiten

6.1

Kontrolldynamik

6.2

Treibsand

6.3

Fiktive Wirklichkeiten

6.4

Ein mehrdimensionales Fallbeispiel

7.

Wirklichkeitskonstruktive Traumarbeit

7.1

Einleitung

7.2

Die Relevanz von Träumen

7.3

»Wo bin ich hier eigentlich?« –

Beispiel einer Traumarbeit

7.4

Warum Traumarbeit in der Beratung?

7.5

Traumarbeit als Medium für kulturorientierte Kommunikation

7.6

Bedeutungsanreicherung am Beispiel der Traumarbeit

7.7

Der Traum als Inszenierung

8.

Zur Architektur von Traumwirklichkeit

8.1

Der Traum: eine Erzählung

8.2

Der Traumkorpus

8.3

Der Traum im Kontext

8.4

Beispiele für Wirkungen

8.5

Träume in der Professionalisierung

9.

Arbeit mit geleiteten Phantasien und Trance

9.1

Mein gegenwärtiges Verständnis von Beratung und wachstumsfördernder menschlicher Beeinflussung

9.2

Gestaltungsschema und methodische Aspekte bei der Leitung von Phantasien

9.3

Anwendungsmöglichkeiten

10.

Umgang mit einschränkenden Identitätsüberzeugungen

10.1

Identifikation einschränkender Identitätsüberzeugungen

10.2

Ein Beispiel zum Umgang mit einschränkenden Identitätsüberzeugungen

10.3

Methodischer Umgang (Passamtsarbeit)

10.4

Identität verstanden als Mosaikspiegel

11.

Geschlechtsidentität – eine seelische Perspektive

11.1

Traumserie einer Frau

11.2

Animus und Anima als Perspektive

11.3

Spiegelung

11.4

Entwicklung geschlechtlicher Identität

11.5

Homo- und Heterosexualität

11.6

Wesensschau – eine Übung

11.7

Traumserie eines Mannes

II.

COACHING

12.

Coaching im Bereich Organisationen

12.1

Coaching als Begriff

12.2

Coaching als Berufswunsch

12.3

Coaching als Markt

12.4

Horizonte für Coachingweiterbildungen

13.

Persönlichkeitscoaching

13.1

»Das ist ein weites Feld …«

13.2

Verantwortung

13.3

Orientierung

13.4

Drei Welten und Persönlichkeiten

13.5

Horizonte und Perspektiven

13.6

Persönlichkeit und Lebensqualität

13.7

Beraterqualifikation und Lebensweisheit

14.

Fünf Perspektiven für erfolgreiches Coaching

14.1

Coaching als persönliche Dienstleistung

14.2

Coaching als gemeinsame Sinnerzählung

14.3

Coaching als Medium für kulturorientierte Organisationsund Personalentwicklung

14.4

Coaching als professionelle Identität

14.5

Die systemische Perspektive im Coaching

15.

Varianten des Coachingbegriffs

15.1

Die Führungskraft als Coach

15.2

Der Berater als Coach

15.3

Konzepte für Persönlichkeitscoaching

15.4

Coaching als Perspektive

16.

Kontraktgestaltung im Coaching

16.1

Der Dreiecksvertrag im Coaching

16.2

Beispiel eines Coachingverlaufs

16.3

Häufige Fragen im Zusammenhang mit Kontrakten

17.

Coaching als Begegnung von Wirklichkeiten und Kulturen

17.1

Zweckorientierte Inhalte und Kultur der Begegnung

17.2

Kommunikation als Kulturbegegnung

17.3

Konfrontation

17.4

Vier Stufen der Übereinkunft im Bezugrahmen

18.

Seelische Leitbilder im Coaching und in der Organisationsentwicklung

18.1

Einleitung

18.2

Das Konzept der seelischen Leitbilder

18.3

Lebenserzählung und Coaching

18.4

Mein Rahmen für Coaching

18.5

Falldarstellung: Coaching und Unternehmensentwicklung

III.

ENTWICKLUNG DER PROFESSIONALITÄT

19.

Erfahrungen und Hintergründe einer Weiterbildung (1984-1989)

19.1

Vorwort: Fiktives Interview – warum?

19.2

Interview

19.3

Zwischen-(Ein)fälle

19.4

Das Traumseminar (1986/87)

19.5

Im Prozess des »Erwachsenwerdens« (1987/88)

19.6

Das letzte Ausbildungsjahr (1988/89)

19.7

Die Prüfungsvorbereitungszeit

19.8

Das Examen

19.9

Die Zeit danach

LITERATUR

INHALT HANDBUCH-BAND:

»Systemische Professionalität und Transaktionsanalyse«

VORWORT

Der erste Band dieser Reihe hat sich mit den Fragen der Beratung, der systemischen Professionalität und der Transaktionsanalyse befasst. Das Inhaltsverzeichnis von Band 1 finden Sie am Ende dieses Bandes.

In diesem zweiten Band werden nun Konzepte und Vorgehensweisen aus der Persönlichkeitsberatung und aus dem Coaching im Organisationsbereich erläutert. Dabei wurden die Konzepte ausgewählt, die sich in unserer Arbeit im Bereich Persönlichkeit und Coaching über die Jahre als entscheidend wirksam bewährt haben.

Das Spektrum reicht von vielen handwerklichen Fragen des professionellen Coachings bis hin zur Grundfrage, wie Menschen auch im Beruf das unverwechselbar Eigene finden können. Berufswege sind entscheidend wichtige Lebenswege und ihre Integration mit Karrierewegen in Organisationen und mit dem Privatleben werden in unserer »zentrifugalen Zeit« für viele Menschen zu einem immer anspruchsvolleren Kunststück.

Die vorgestellten Konzepte, Vorgehensweisen und Praxisberichte sind entsprechend vielschichtig, wie es die persönliche Auseinandersetzung mit der professionellen Persönlichkeit, mit den beruflichen Lebenswegen und Identitäten eben erfordert. Dennoch sind ihr Verständnis und ihre Nutzung nicht von einer spezifischen Vorbildung abhängig. Im Gegenteil ist es mir ein Anliegen, wertvolle Erfahrungen und Konzepte aus verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen und allen Professionellen zur Nutzung anzubieten.

Natürlich sind Weiterbildungen in diesem Metier hilfreich, insbesondere solche, die sich undogmatisch und nahe an gesellschaftlichen Wirklichkeiten und an konkreten Lebensvollzügen bewegen. Außer mit Fach- und Kontextkenntnissen sollte die Schatzkiste der Professionalität v.a. mit aufbereiteter Lebenserfahrung und mit den Stärken der eigenen unverwechselbaren Persönlichkeit bestückt sein. Inspiration, freimütiges Ausprobieren, Umsicht und Respekt vor der Expertise der Klienten sowie Eingebundensein in eine förderliche Professionskultur sind die besten Garanten für kreative Entwicklungen bei gleichzeitigem Schutz aller Beteiligten. Ganz nebenbei sind diese Haltungen vorbildlich für die Menschen, die für die Bühnen ihres Berufs- und Privatlebens aus dieser Kiste versorgt werden sollen.

Gerade deshalb sind die vorliegenden Texte nicht unbedingt leichte Kost. Es lohnt sich, wieder und wieder auf ihnen »herumzukauen«. Dabei werden sie mehr und mehr das an Geschmack und Vielfalt entfalten, was zunächst eher intuitiv begriffen wird. Auch erfahrene Berater werden vieles in Worte gefasst finden, was ihnen in ihrer Arbeit mit Menschen begegnet und wertvoll geworden ist. Das ausführliche Inhaltsverzeichnis soll zum Schmökern einladen, dort, wo die Überschriften ansprechen.

Die Darstellung eines mehrjährigen Ausbildungsprozesses von Christiane Gérard stammt aus dem Bereich der psychotherapeutischen Beratung. Solche Berichte sind seltsamerweise selten, obwohl doch Weiterbildung ein so großer Markt ist. Die dortigen Beschreibungen innerer Vorgänge und der Beziehungen zu Lehrtrainern erscheinen vielleicht aus der Perspektive der wesentlich kürzeren, dichteren und mehr auf die Außenwelt bezogenen Weiterbildungen im Organisationsbereich wie Betrachtungen durch ein Vergrößerungsglas. Doch spiegeln sie Dimensionen, die auch im Organisationsbereich – wenn auch hintergründig – Bedeutung haben.

Nur wenige Wochen nach Erscheinen dieses Bandes geht ein weiteres Manuskript an den Verlag. Im dritten Band dieser Reihe (zusammen mit Arnold Messmer) wird das Spektrum um systemische Perspektiven der Personalentwicklung, der Organisationsentwicklung und der Kulturentwicklung in Organisationen erweitert.

Ich danke denen, die an den Texten mitgewirkt haben und allen Mitarbeitern des Instituts für systemische Beratung Wiesloch, die weitertragen, was geworden ist und möglich gemacht haben, dass für diese Veröffentlichungen Kraft geblieben ist. Unsere Lektorin Ingeborg Weidner hat auch diesen Band sorgfältig und liebevoll redigiert.

Mein ganz privater Dank gilt meiner Frau Irene und meiner Tochter Judith, die meinen Lebensweg in Liebe mit mir gehen. Die Titelbilder der ersten fünf Bände dieser Reihe stammen von unserem Sohn Peter Schmid, den wir am 23.11.2001 im Alter von 17 Jahren der Ewigkeit überlassen mussten. Unsere Liebe und der Schmerz werden wohl für immer zu unserem Leben gehören.

Bernd Schmid

Wiesloch im März 2004

I.

KONZEPTE UND VORGEHENSWEISEN

1. ANTREIBER-DYNAMIKEN – PERSÖNLICHE INSZENIERUNGSSTILE UND COACHING1

1.1 Einleitende Gedanken

Jede Neurose ist ein unerlöstes Talent

Das Konzept des Antreibers ist ein wertvolles Modell zur Analyse von Persönlichkeits- und Beziehungsdynamiken. Bisher wurde das Konzept vorwiegend im therapeutischen Bereich verwendet. Es eignet sich aber durchaus auch für die beratende Arbeit in Organisationen, insbesondere im Coaching. Im Folgenden wird das Konzept um systemische und ressourcenorientierte Aspekte erweitert.

Viele Menschen fühlen sich v.a. in Stress und Belastungssituationen als Menschen nicht vollwertig, geschätzt oder liebenswert. In der Regel entwickeln Menschen Strategien, diesem »Nicht-OK-Gefühl« zu entrinnen. Solche Strategien sind meist mit illusionären Ideen verbunden: »Ich wäre (wieder) OK, wenn …«. Die Ideen, repräsentiert als verinnerlichte Anweisungen, werden als Antreiber bezeichnet. Der Name »Antreiber« weist darauf hin, dass Menschen diesen »Geboten« nahezu zwanghaft folgen. Wenn sie bei einem Vortrag unter Stress geraten, glauben sie beispielsweise, keinen Fehler machen zu dürfen, um von den Zuhörern anerkannt zu werden. Die Verheißung der Antreiber bleibt aber letztlich unerfüllt. Antreiber lösen das »Nicht-OK-Gefühl« nicht, sondern verstärken oder verwalten es nur.

Taibi Kahler (1977) unterscheidet fünf Antreiber-Dynamiken:

1. Ich bin OK, wenn ich perfekt bin.

2. Ich bin OK, wenn ich stark bin.

3. Ich bin OK, wenn ich gefällig bin.

4. Ich bin OK, wenn ich mich anstrenge.

5. Ich bin OK, wenn ich mich beeile.

Während die verschiedenen Antreiber-Dynamiken in der Literatur oft als Typen beschrieben werden, wird aus systemischer Perspektive der Kontext bedeutsam, in dem der Antreiber ausgelöst wird. Niemand steht ständig unter dem Einfluss von Antreibern. Sie steuern Menschen nur in bestimmten Situationen oder bestimmten Personen gegenüber. Diese Kontextunterschiede geben bereits wichtige Hinweise für die Diagnose und Interventionen im Coaching. Wenn wir die kontextspezifischen Antreiber-Dynamiken in dieser Arbeit zum Teil dennoch zu Prototypen verdichten, so dient dies lediglich der vereinfachten Darstellung. Die beschriebenen Dynamiken werden als Merkmale persönlicher Inszenierungsstile dargestellt. Man kann sie jedoch auch als Merkmale von Teams oder größeren Organisationen beschreiben.

Bezüglich der Diagnose von Antreibern zeigt sich, dass es nicht ausreicht, sie an Wortfloskeln oder Gesten festzumachen, wie dies gelegentlich gelehrt wird. Wichtiger scheint, ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche spezifische Atmosphäre durch Antreiberverhalten in einem sozialen Raum entsteht, welche emotionalen Dynamiken, Beziehungsmuster und Wirklichkeitslogiken aktualisiert werden. Jede der einzelnen Antreiber-Dynamiken erschafft eine Wirklichkeit, in die man als Gegenüber mit einiger Wahrscheinlichkeit eintritt. Oft denken Mitspieler, sie würden sich aus der Dynamik heraushalten oder etwas dagegen tun und merken nicht, dass sie dabei doch innerhalb der Logik agieren. Aus systemischer Sicht könnte man sagen, dass sich die Dynamik durch die kommunikativen und verhaltensmäßigen Beiträge der Beteiligten zirkulär stabilisiert und durch deren Ideen über Wirklichkeit aufrechterhalten wird.

Für die Arbeit im Coaching bedeutet dies, Antithesen zu formulieren, d.h. Beziehungsangebote und Wirklichkeitsvorschläge anzubieten, die nicht nur andere Spielarten innerhalb der Antreiber-Inszenierung sind, sondern eine andere Dynamik aktivieren bzw. Lösungen 2. Ordnung im Sinne Watzlawicks darstellen. Die Kenntnis der einzelnen Dynamiken und die Diagnose der eigenen Reaktion (soziale Diagnose) können helfen, nicht in die Logik der Antreiber-Inszenierung einzutreten, sondern Lösungen 2. Ordnung und damit antreiberfreie Inszenierungen zu aktivieren.

Diesen wirklichkeitskonstruktiven und beziehungsanalytischen Aspekten soll in der vorliegenden Arbeit nähere Beachtung geschenkt werden.

Wirklichkeitsanalytische Perspektive

• Wie entwerfen Menschen in Antreiber-dynamiken ihr Bild von der Welt?

• Welche Grundannahmen über sich und andere liegen ihrem Denken zugrunde?

Beziehungsanalytische Perspektive

• Wie reagieren Mitspieler auf die Beziehungsangebote der verschiedenen Antreiber-dynamiken?

• Welche Gefühle, Ideen und Verhaltensweisen werden bei ihnen ausgelöst?

© Schmid 2004

Abb. 1: Wirklichkeitsanalytische Perspektive

1.2 Antreiber 1: »Ich bin OK, wenn ich perfekt bin!«

1.2.1 Erkennungsmerkmale

Menschen in dieser Dynamik rechtfertigen sich häufig oder versuchen Dinge noch genauer und besser zu machen. Ergänzungen, Kritik und was noch zu erwägen wäre, wird gerne vorweggenommen, um vorsorglich zu verhindern, dass jemand sagt: »Du hast es nicht perfekt genug gesagt, begriffen oder getan.« Nonverbale Elemente sind ein ernster Blick sowie eine aufrechte und starre Haltung, verbunden mit einem angespannten Körpergefühl.

1.2.2 Soziale Diagnose

Beim Gegenüber entsteht durch diesen Antreiber der Eindruck, nicht gut genug zu sein. Den um Makellosigkeit bemühten Ausführungen des Perfektionisten lässt sich nichts mehr hinzufügen. Kommunikationspartner beginnen nach und nach ihre Aufmerksamkeit abzuziehen. Auf das ausgelöste Nicht-OK-Gefühl von der Qualität. »Das erreiche ich sowieso nie« oder »Ich bin nicht gut genug« reagieren manche Mitspieler mit Abwertung und Ausschluss des Perfektionisten. Oft wird im Umgang mit Perfektionisten wenig Kontakt, Beziehung und Austausch erlebt, weil dessen perfekter Arbeit nichts mehr hinzuzufügen ist. Oder man versucht in Kontakt zu kommen, wofür aber eher Begegnungsformen wie Unterordnung, Besserwissen, Relativieren oder Kritisieren nahe liegen.

1.2.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

Perfektionisten haben das unterschwellige Grundgefühl, als Person nicht liebenswert zu sein und niemanden zu finden, der genügend Anteil an den Interessen und Ideen nimmt, mit denen sie ihr Selbstwertgefühl verbinden. Sie versuchen dann, statt dem, was sie sind, anzubieten, was sie leisten können. »Da fraglich ist, ob ihr mich schätzen könnt, biete ich eine solche Leistung, dass man ihr die Anerkennung nicht verweigern kann.« Sie glauben von anderen Menschen nur dann anerkannt zu werden, wenn sie perfekt sind und keine Fehler machen. Ihre Hoffnung ist, dass sie dann doch noch geliebt werden.

Dieses Verhalten provoziert Widerspruch und Wettbewerb. Die immer neuen Absicherungen ziehen genau das auf sich, was sie zu vermeiden suchen: Kritik an der Person oder an der Leistung, was als gleichbedeutend empfunden wird. Der Effekt, Anerkennung für Leistung zu bekommen, tritt um so weniger auf, je perfekter es versucht wird. Die Adressaten fangen sogar an, die Leistung oder das Verhalten zu kritisieren, oft mit inhaltlich fragwürdigen Argumenten. Die Kritik gilt mehr der erlebten Beziehungsdynamik als den Inhalten. Diese kommt aber in der Perfektions-Atmosphäre nicht leicht zu Bewusstsein und zur Sprache.

In der inneren Logik des Perfektionisten bedeutet diese Kritik: »Es hat deswegen nicht dazu geführt, dass sie mich lieben, weil sie selbst unfähig sind oder weil ich es noch nicht perfekt genug gemacht habe.« Dies führt wiederum zu verächtlicher Belehrung oder erneuter Anstrengung, es noch perfekter zu machen. Ertappt sich der Perfektionist dann doch noch bei einem Fehler oder verweisen andere auf Fehler, scheint die Berechtigung auf Anerkennung absolut und schlagartig verloren.

1.2.4 Antithesen zum »Sei-perfekt-Antreiber«

In der Transaktionsanalyse wurde die Intervention der »Erlauber« entwickelt. In der Coachingbeziehung wird eine Haltung eingenommen, die es dem Gegenüber ermöglicht, bestimmte Glaubenssätze (z.B.: Ich muss Perfektes leisten) aus einer fürsorglichen Position heraus aufzulösen. Die Glaubenssätze des »Sei-perfekt-Antreibers« lauten: »Ich bin nur dann OK, wenn ich perfekt bin« oder »Ich muss perfekt sein«, statt »Ich darf mein Bestes geben und das ist OK« oder »Nur durch meine Leistung kann ich wertvoll sein«, »Ich bin wertvoll durch das, was ich bin«.

Aus systemischer Perspektive handelt es sich bei Erlaubern um Botschaften, die diese Logik und ihre Verknüpfungen umkehren. Sie stellen damit Lösungen 2. Ordnung der Antreiberlogiken dar. Für den »Sei-perfekt-Antreiber« lautet die Umkehrung der Antreiber-Glaubenssätze: »Du bist wertvoll und liebenswert und ich schätze auch, dass du etwas leistest und dich bemühst, das Beste zu geben.« Eine erleichternde Botschaft an sich selbst lautet: »Ich darf auch Fehler machen und daraus lernen.«

Ein Problem ist, dass oft Mitmenschen die »erlösende« Botschaft ahnen, aber nicht realisieren, was an Tugenden in der »Sei-perfekt«-Dynamik enthalten ist. Der Perfektionist, dem die Einstellung »Lass doch mal Fünfe gerade sein« empfohlen wird, fühlt sich in seinem Sinn für Komplexität und seinem Streben nach Vollkommenheit nicht verstanden. Beides ist für ihn aber wesensgemäß und daher wichtig für das Gefühl, angemessen anerkannt zu werden. Es zeigt sich zwar als übertriebene Tugend, die damit zum Laster wird, entspricht aber dennoch einer wesensgemäßen Haltung. Allein die Erlaubnis zu geben, »Du brauchst nicht so perfekt zu sein« wäre daher keine hilfreiche Beziehungsantwort für Perfektionisten. Leicht ankoppeln können dagegen Mitmenschen, die aus einer Wertschätzung heraus das Bemühen um Genauigkeit als Dienst am Menschen und einer besseren Welt würdigen können.

Im Kontakt mit dem Perfektionisten entsteht aber eben leicht ein Nicht-OK-Gefühl, aus dem heraus man nicht die Souveränität hat, ihn in seiner – wenn auch unerlöst erscheinenden – Tugend zu würdigen. Im eigenen OK-Gefühl angekratzt, versucht man, ihn den eigenen Vorstellungen von Beziehung zu unterwerfen oder zumindest in der vorgetragenen Überlegenheit zu demontieren. Notwendig ist aber eine liebende Haltung und die Würdigung der Wesensart des Perfektionisten.

1.2.5 Ressourcen des »Sei-perfekt-Antreibers«

Wie oben bereits angeklungen, haben Perfektionisten einen Sinn für Vollkommenheit. Sie sind in der Regel, was ihren Lebensvollzug und ihr Denken anbelangt, sehr gut organisiert und können beispielsweise leicht komplexe Systeme begreifen oder bedienen. Bei der Flugsicherung und im Operationssaal etwa wünscht man sich Personen dieses Schlages. Wichtig ist darauf zu achten, dass sie diese Tugend in Dingen leben, die ihnen wichtig sind, und in einem Maß, dass sie dabei in ihrer Menschlichkeit nicht verloren gehen.

1.2.6 Konterdynamik: »Alles egal«

Von Konterdynamik spricht man, wenn sich jemand zwar an der Logik einer Dynamik ausrichtet, aber versucht, ihr durch verneinendes Verhalten auszuweichen. Zyniker sind z.B. oft hoffnungslose Idealisten. Perfektionisten flüchten sich gelegentlich in »Alles egal«-Haltungen, wenn sie den Versuch, durch Perfektsein zu wesensgemäßer Würdigung zu kommen, aufgeben. Sie bilden dann eher Gegenpole zu »aktiven« Perfektionisten und ziehen deren »Förderung« oder Kritik bezüglich Ansprüche und Leistung auf sich. Beide sind sich jedoch ähnlich und profitieren von den gleichen Antithesen.

1.3 Antreiber 2: »Ich bin OK, wenn ich stark bin!«

1.3.1 Erkennungsmerkmale

Menschen in dieser Dynamik versuchen innere Bewegtheit zu verbergen. Sie verwenden Sprache und Sprechweise, um eigene Stärke und Unangreifbarkeit zu vermitteln. Es scheint, als gingen sie zur eigenen Empfindsamkeit und der anderer auf Distanz. Sie erwecken einen eher angespannten Eindruck, als wollten sie ihre Umgebung im Auge behalten um jederzeit »gewappnet« zu sein. Sie tun dies u.a. durch aufrechte Haltung, etwas maskenhafte Gesichtszüge, gelegentlich monotone Stimme und Gestik.

1.3.2 Soziale Diagnose

Der »Sei-stark-Antreiber« führt dazu, dass sich die Mitspieler unter Druck gesetzt fühlen, evtl. Angst bekommen oder wütend werden. Sie treten ein in eine Szene, in der es um Kampf, Kontrolle und Überlegenheit geht. Manche Mitspieler/innen kämpfen mit, antworten mit Gegenkontrolle, andere ziehen sich ängstlich zurück oder beschwichtigen. Die Beziehungswirklichkeit, in die Mitspieler/innen eingeladen werden, lautet: »Wer nicht aufpasst, wird verlieren, sich unterwerfen oder kontrollieren lassen und jede muss dafür sorgen, dass sie es nicht ist.« Es handelt sich also um ein Beziehungs-Nullsummenspiel, bei dem die eine verliert, wenn die andere gewinnt. Man fühlt sich in Konkurrenz als distanzierenden »Kampf gegeneinander« und nicht als bezogenes »Messen aneinander« hineingezogen. Um nicht zu verlieren, möchte man sich selbst stark und ungreifbar machen. Man verliert den Impuls sich in menschlicher Begegnung erreichbar zu machen oder sich den anderen zu nähern.

1.3.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

Die Angst in der »Sei-stark-Dynamik« ist es, in emotional bedeutsamen Situationen nicht stabil zu sein, wenn man sich nicht starr macht bzw. zu kollabieren, wenn man Kontrolle loslässt. Man erwartet, als Person und in den eigenen Anliegen nicht berücksichtigt zu werden, wenn man sich nicht dafür stark macht. Entsprechend schwer ist es dann, das eigene Angewiesensein auf nicht beherrschbare Menschen und Geschehnisse zu akzeptieren. Gefühlsmäßige Bezogenheit und Sich-Einlassen auf Menschen und Vorgänge ohne Kontrolle werden als Unterwerfung und Schwäche missverstanden. Von der Umwelt werden weder Verantwortung mit menschlichem Maß noch Fürsorglichkeit, sondern rücksichtloses Verhalten und harte Herausforderungen erwartet. Dies wird als (diffuse) Bedrohung erlebt, wogegen man meint, sich mit entsprechenden Haltungen schützen oder durchsetzen zu müssen.

Mit diesen Grundannahmen kann man anderen auch gar nicht erst die Chance lassen, eigene empfindsame Anliegen zu erkennen und zu berücksichtigen. Die provozierte Kampfdynamik nährt auch dann, wenn man sich in der stärkeren Position erlebt, unterschwellige Angst, es könnte mal nicht so sein. Erlebte Berücksichtigung eigener Anliegen wird nicht als freiwilliges Entgegenkommen und Friedfertigkeit erlebt, sondern als Wirkung der eigenen Sei-stark-Dynamik: »Wäre ich nicht fit gewesen, hätte der andere mich untergekriegt.« Die Sehnsucht nach Aufgehobensein, Entgegenkommen und Fürsorge bleibt ungestillt.

1.3.4 Antithesen zum »Sei-stark-Antreiber«

Das Bedürfnis, anderen zu vertrauen und durchlässig zu sein und damit gute Erfahrungen zu machen, bleibt in der Antreiber-Dynamik unversorgt. Dazu, wie diesem Bedürfnis in der Sei-stark-Dynamik begegnet werden kann, gibt es aber einige Missverständnisse. Am intensivsten reagieren gefühlvolle Menschen auf »Sei-stark-Menschen«. Sie wünschen sich von ihnen, sie mögen sich doch mal fallen lassen oder Emotionen zeigen. Dies wird jedoch oft in einem emotionalen Stil verlangt, der eher nicht ihrer Wesensart entspricht, oder sie missverstehen Wünsche in dieser Weise. Sie haben oft leisere Gefühlsregungen und diskrete Arten, sich in Beziehungen einzulassen. Sie sind sich aber der Gleichwertigkeit dieses Stils nicht gewahr und meinen »mehr« bringen oder sich an den Stilen anderer messen lassen zu müssen. »Sei-stark-Menschen« nützten Situationen, in denen ohne Anspruch konkret und mit ihrem Sicherungsbedürfnis verträglich erläutert wird, was es gerade meint, sich zu öffnen und anzuvertrauen und welche Abstufungen hier möglich und erlaubt sind. Wenn einmal eine emotionale Erschütterung geschieht, ist die Verarbeitung eines solchen Erlebnisses entscheidend. Es kann als Niederlage mit nachträglichem Katzenjammer erlebt werden. Es kann auch als erleichternd erlebt werden. Allerdings ist wichtig darauf zu achten, dass damit nicht ungeeignete Maßstäbe an Gefühlsintensität und Emotionalität in Beziehungen bestärkt werden. Nicht die Intensität von Gefühlen ist hier entscheidend, sondern deren Gehalt.

Wichtig im Kontakt ist, dass Mitspielerinnen nicht aus Schwäche weich und liebevoll sind, sondern aus Stärke. Wenn der »Sei-stark-Mensch« beim Gegenüber nur eine ängstlich-beschwichtigende Sanftheit wahrnimmt, straft er dies mit Verachtung. Das ist nicht die Art der Begegnung, die ihn interessiert.

Die Erlaubnis für die »Sei-stark-Dynamik« lautet: »Du darfst offen sein und vertrauen. Du bist mit dem zu dir passenden Gefühls- und Beziehungsstil wertvoll und liebenswert. Daneben schätze ich deine kraftvolle Art, dich für Menschen und Anliegen einzusetzen.«

1.3.5 Ressourcen des »Sei-stark-Antreibers«

»Sei-stark-Menschen« können kurzfristig situativ hohe Leistungen erbringen. Sie haben einen Sinn für kraftvollen Umgang mit Aufgaben und genügend Widerstandskraft und Kampfgeist, Dinge voranzubringen, auch wenn es schwierig ist. In dieser Sparte sind Helden und Heldinnen zu finden. In der »erlösten« Form können sie aber auch loslassen, wenn es nichts mehr zu kämpfen gibt. Sie können freundlich sein mit ihren Gegenübern und kämpfen nur, wenn es erforderlich ist.

1.3.6 Konterdynamik: »Mit mir könnt ihr’s machen!«

»Sei-stark-Menschen« suchen manchmal im Gegenbild eine Lösung. Sei es, dass sie fürchten, Kämpfen oder der Übernahme von Kontrolle nicht gewachsen zu sein und es sicherer finden, ihre Anliegen unvertreten zu lassen oder sich zu unterwerfen. Sei es, dass sie glauben, auf Stärke und Potenz verzichten zu müssen um gefühlvoll oder beziehungsfähig zu erscheinen. »Sei-stark-Frauen« spielen Kätzchen und »Sei-stark-Männer« bieten Softsein als neue Männlichkeit an.

1.4 Antreiber 3: »Ich bin OK, wenn ich anderen gefällig bin!«

1.4.1 Erkennungsmerkmale

Menschen in dieser Dynamik zeigen sich sehr bemüht, das Wohlbefinden anderer sicherzustellen und eine freundliche, niemanden beunruhigende Atmosphäre herzustellen. Allerdings wirkt dies eher als von einer Unsicherheit denn von einer in sich ruhenden Freundlichkeit getrieben. Menschen in der »Sei-gefällig-Dynamik« verwenden oft Redewendungen, die versuchen, die Wünsche und Erwartungen der Gegenüber zu erkunden oder Anpassung daran signalisieren. Nonverbal sind gewohnheitsmäßiges zustimmendes Nicken, gewinnende Gesten und irritierte Blicke, wenn nicht unmittelbar Wirkung erzielt wird, häufig.

1.4.2 Soziale Diagnose

Dieser Antreiber lässt dem Adressaten häufig keinen Spielraum, über Distanz zu entscheiden. Da der »Sei-gefällig-Mensch« Bezogenheit anbietet, aber keine oder fast keine Konturen zeigt, kommt es nicht zu echtem Kontakt. Es bleibt unklar, wo die angebotene Bezogenheit anfängt und wo sie aufhört. In Diskussionen ist es beispielsweise schwer, mit ihnen einen Standpunkt abzugleichen, weil sie unscharf formulieren, Ausflüchte suchen, irgendwie immer alles möglich ist und insgesamt keine eigene Position hindurch zu spüren ist (»Nagel mal einen Pudding an die Wand«).

Gegenüber haben Schwierigkeiten zu orten, wer dieser Mensch ist, der da Bezogenheit anbietet. Da Kontur als mögliche Kontaktfläche fehlt, wird Nähe als unangenehm erlebt. Es können sich auch Phantasien bilden, missbraucht zu werden oder nicht als Person gemeint zu sein (z.B. »Die rückt nicht wirklich damit raus, was sie von mir will«). Meist reagieren Menschen darauf mit Rückzug.

Zur Selbstdiagnose kann die Frage dienen: »Könnte ich »nein« sagen, auch wenn ich »ja« sagen könnte? Wenn »Sei-gefällig-Menschen« beispielsweise gefragt werden, ob Sie Lust haben, in die Kneipe mitzukommen, und nichts im Terminkalender steht, müssen sie »ja« sagen. Oder sie sagen »ja« und merken erst in der Kneipe, dass sie eigentlich hätten »nein« sagen müssen. Auch in beruflichen Rollen zeigt sich die Dynamik oft darin, nicht »nein« sagen zu können.

1.4.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

Das Nicht-OK-Gefühl des »Sei-gefällig-Menschen« hat damit zu tun, in emotionalen Stresssituationen nicht genau zu wissen, wer er ist und was er will. Diese Menschen haben zu wenig Konturen, Selbstvertrauen und (Rollen-)Identität ausgebildet oder halten ihre Konturen für unverträglich mit den Interessen anderer. Eigene Ansprüche und Vorstellungen werden verleugnet oder sind nicht präsent.

Der innere Glaubenssatz bei diesem Antreiber lautet: »Ich kann mich in Beziehungen aufgehoben und wertgeschätzt fühlen, wenn ich mich in andere einfühle.« Die assoziierte Grundannahme lautet: »Ich werde als Individuum nicht geschätzt. Ich habe nur eine Funktion für das Wohlbefinden anderer.« Diese Annahme wird durch eigenes Verhalten und dadurch ausgelöste Reaktionen anderer immer wieder bestärkt. »Sei-gefällig-Menschen« bieten keine Konturen, die das Gegenüber wertschätzen könnte, d.h. die Logik, mit der sie Wertschätzung suchen, hat keine Aussicht auf Erfolg. Sie bieten Gefälligkeit. Wenn sie dazu noch falsche Vorstellungen davon haben, was anderen wirklich gefällt, oder nicht-persönliche Notwendigkeiten der Situation schlecht begreifen, ernten sie leicht Abneigung, ja sogar Verachtung, was ihre Befürchtung, nicht wertgeschätzt zu werden, bestätigt. »Gefällig-Menschen« glauben häufig, keine Identität oder keine Konturen zu besitzen, die interessant sind für andere.

Häufig besteht wirklich ein Nachholbedarf darin zu lernen, wie man eigene Präferenzen und Konturen entwickelt oder in bestimmten Zusammenhängen aktualisiert. Die Anfälligkeit für diese Antreiber-dynamik kann für bestimmte Kontexte, Rollen oder Situationen spezifisch sein. Beruflicher Rollenwechsel (z.B. vom Meister zur Führungskraft) und die damit einhergehende Verunsicherung können dieses Antreiberverhalten auslösen. Menschen orientieren sich dann an ihren Phantasien, was andere wollen, und lassen eigene Konturen vermissen. So sind sie beispielsweise als Abteilungsleiter gefällig und immer um Harmonie bemüht, anstatt zu führen oder Ansprüche zu formulieren.

1.4.4 Antithesen zum »Sei-gefällig-Antreiber«

Die passende Erlaubnis für »Sei-gefällig-Menschen« lautet: »Du darfst dir selbst und anderen gefallen, du darfst eigene Maßstäbe und Konturen zeigen« und »Du darfst dich zumuten«. »Ich und die anderen sind wichtig« statt »Ich bin wichtig, indem ich rauszufinden versuche, was die anderen wollen«. Oft muss auch die Idee redefiniert werden, wie viel Gefallen notwendig ist, um angenommen zu sein. »Sei-gefällig-Menschen« neigen hier zu übertriebenen Erwartungen. Weitere implizite Erlaubnis liegt in der Aufforderung an diese Menschen, zu zeigen, wer sie sind und Identität in einer bestimmten Rolle zu entwickeln, wenn hier Nachholbedarf besteht.

Hierfür können diese Menschen bestärkt werden, zunächst nach eigenen Ansprüchen und Vorstellungen zu suchen und zu lernen, diese auszudrükken, damit andere ihren Gefallen daran prüfen und spezifisch ausdrücken können. Nachdem »Sei-gefällig-Menschen« ohnehin kaum von ihrer Ausrichtung auf Gefallen abzubringen sind, kann man ihnen klar positiv sagen, was gefallen könnte. Ansprüche können bei ihnen zwar zunächst Irritationen auslösen, weil sie unsicher sind, ob sie diese Wünsche bedienen können. Sie haben dann aber die Sicherheit zu wissen, wie sie gefallen können. Das Bedürfnis, gefällig zu sein, wird genutzt, um ihnen zu helfen, eigene Konturen auszubilden. So kann beispielsweise einer Führungskraft im Coaching Anweisung gegeben werden, wie sie eigene Zielvorstellungen gegenüber Mitarbeitern vertreten und umsetzen kann. Diese Art eines rollenspezifischen Umgangs führt zu einer deutlichen Abschwächung der Antreiber-dynamik innerhalb der Rolle. Zudem sind Streueffekte in andere Lebensbereiche zu erwarten. Konkrete Rollenanweisungen zu geben bedeutet eine effektive und schlanke Strategie im Umgang mit dem »Seigefällig-Antreiber«.

Eine Gefahr der »Sei-gefällig-Dynamik« findet sich im Kippen von einer übermäßigen Rücksicht in eine übermäßige Rücksichtslosigkeit. Diese Menschen halten ihre Interessen oft übermäßig zurück, um diese Zurückhaltung irgendwann als Rabattmarke auszuzahlen. Es besteht die Gefahr, dass dann die Schattenseite des freundlichen Entgegenkommens gelebt wird. Die Lösung für eine Polarisierung von Fremd- und Eigeninter-esse liegt in einer ausgeglichenen Kombination von Selbstbeachtung und Entgegenkommen. Wichtig ist daher, diese Menschen dazu einzuladen, auf sich und auf andere Rücksicht zu nehmen.

Bei der Entwicklung des »Sei-gefällig-Menschen« hin zur Verwirklichung eigener Ansprüche muss unter Umständen auch mit Missfallen der Umwelt gerechnet werden. Diese hat zum Teil die Gefälligkeit als durch -aus bequem erlebt und ist über das plötzliche Auftreten eigener Ansprüche des »Sei-gefällig-Menschen« nicht unbedingt erfreut. Im Coaching ist es daher um so wichtiger, systemseitige Rahmenbedingungen mitzubedenken.

1.4.5 Ressourcen des »Sei-gefällig-Antreibers«

Die Tugend des »Sei-gefällig-Menschen« ist seine soziale Wahrnehmung, die ihm ermöglicht, auf die Bedürfnisse anderer im Prozess einzugehen. Er kann sehr sensibel für Gruppenprozesse, soziale Stimmungen und Reaktionen sein. Diese Fähigkeit erleichtert ihm, sich an andere Menschen und Systeme anzukoppeln. Wichtig ist, dass er die Außenwelt auf seine eigene Welt bezieht, sie dadurch relativiert und als Information nutzen kann, damit sie nicht reflexhaft seine Steuerung beeinflusst.

1.4.6 Konterdynamik: »Besser garstig als ein Niemand!«

Menschen mit der »Sei-gefällig-Dynamik« können sich ins Gegenteil flüchten und trotzig Nichtgefallen provozieren. Mit der gleichen Mentalität und dem gleichen Eifer, aber mit verkehrten Vorzeichen wird Missfallen erweckt. Für das Aufgeben des Versuches zu gefallen, wird der scheinbare Gewinn gesucht, wenigstens Täter und nicht Opfer zu sein und so dem enttäuschten Trotz und rachsüchtiger Verachtung Ausdruck zu geben. All dies kann sehr diskret und unterschwellig mitschwingen.

1.5 Antreiber 4: »Ich bin OK, wenn ich mich anstrenge!«

1.5.1 Erkennungsmerkmale

Wenn es um Herausforderungen geht, spüren diese Menschen einen Leistungsdruck. Es entsteht eine Atmosphäre von Anstrengung mit erheblichen Zweifeln am Gelingen. Lustvolle Leistung und Freude auch am spielend erreichbaren Erfolg scheinen ausgeschlossen oder zumindest als oberflächlich. Kennzeichnende Redewendungen für diesen Antreiber sind etwa: »Ich müsste es versuchen«, »Das ist wirklich sehr schwer«, »Wenn ich mir Mühe gebe« etc. Der Sprecher verspannt z.B. die Muskeln am Hals und im Kehlkopfbereich, so dass die Stimme etwas belegt oder gequält klingt. Das wirkt oft unfrei, so als müsse der Sprecher gegen einen inneren Druck ankämpfen und sich zu jeder Silbe neu zwingen. Sie sprechen gelegentlich in hydraulischen Metaphern von Druck und Gegendruck.

1.5.2 Soziale Diagnose

Der »Streng-dich-an-Antreiber« wirkt lähmend. Man hat den Eindruck, gegen einen unsichtbaren Widerstand anzukämpfen. Die vorwiegende Intuition, die bei Mitspielern ausgelöst wird, ist: »Der/die schafft es nicht bzw. kommt nie an.« Schwere und Anstrengung scheinen nicht länger als notwendiges Mittel für Leistung und Erfolg, sondern scheinen geradezu ein Eigenleben und einen eigenen Wert zu entwickeln. Bei Mitspielern entsteht kein Zutrauen in die Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft des »Strengdich-an-Menschen«. Impulse, die Sache zunächst durch Auflockerung oder Ermunterung voranzubringen, bleiben stecken. Mitspieler geraten selbst in Anstrengung, reagieren mit Hilfsangeboten oder Ungeduld, die dann beim »Streng-dich-an-Menschen« zu noch mehr Anstrengung führen. In einer Arbeitsbeziehung erwartet man eher eine Zusatzbelastung als eine Erleichterung.

1.5.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

»Streng-dich-an-Menschen« sind erfolgreich darin, ihren Gegenübern den Glauben zu vermitteln, sie wären nur unter Mühen und mit fraglichem Ergebnis leistungsfähig. Aus einer gewohnheitsmäßigen Sorge »ich schaffe es nicht« heraus, wird die Dynamik organisiert. In Situationen, in denen eine Leistungsbewährung ansteht, taucht der Zweifel an der eigenen Leistungsfähigkeit auf. Das drohende Nicht-OK-Gefühl wird mit der Idee: »Ich schaffe es, wenn ich mich sehr anstrenge« verwaltet. Wird das Ziel nicht erreicht, bedeutet das in dieser Logik, dass man sich noch nicht genügend angestrengt hat. Lebensenergie wird damit übersetzt in Anstrengung (»Ich mühe mich, also bin ich«). Auch wenn der Vorgang nicht mit Schwere belastet erscheint, spürt man doch untergründig Zweifel am Erfolg.

Es entsteht auch leicht Besorgnis, Chancen leichtsinnig zu verspielen. Dies soll dann durch Bemühtsein abgewendet werden. Wenigstens kann niemand Vorwürfe erheben, denn man hat sich ja Mühe gegeben. Schaffen es die »Streng-dich-an-Menschen« trotz der Mühe, glauben sie aber, es wegen der Mühe geschafft zu haben. Sie anerkennen dann auch eher die Mühe als die erbrachte Leistung. Ihre Einschränkung tritt besonders bei Aufgaben in den Vordergrund, die einen »leichten Sinn« benötigen. »Streng-dich-an-Menschen« sehen in dieser Haltung Aufgaben gegenüber »Leichtsinn«.

Blickt man in die persönliche Geschichte, sind sehr oft Überforderungssituationen zu identifizieren. Es handelt sich beispielsweise um Kinder, die früh Aufgaben übernehmen mussten, für die sie eigentlich noch zu klein waren, oder um jüngere Geschwister, die Dinge so können wollten wie ihre älteren Geschwister.

Beziehungsanalytisch betrachtet, wählen sich »Streng-dich-an-Menschen« häufig Partner, die ihnen eine Leistung abverlangen. Werden diese dann hingehalten, wenden sie sich nach oben beschriebenen Zwischenstationen genervt ab, gelegentlich mit nachsichtiger oder anklagender Bestätigung der Grundannahme: »Du bringst es nicht!« »Streng-dich-an-Menschen« leben oft den Mythos der Vergeblichkeit. In Anfangsphasen von Projekten können sie sehr aktiv sein, doch wird nach und nach alles zur Mühsal. Sie ackern, solange der Boden noch gefroren ist, kommen aber nicht auf die Idee, reife Früchte zu pflücken.

1.5.4 Antithesen zum »Streng-dich-an-Antreiber«

Die Erlaubnis zu »streng-dich-an« lautet: »Du darfst es gelassen tun und vollenden. Ich habe Vertrauen in deine spontane Leistungsfähigkeit. Dabei darfst du dich auch anstrengen. Es ist aber auch wertvoll, wenn es leicht geht.« Damit wird der Glaube in die eigene Unfähigkeit, ein Ziel zu erreichen, als auch die Idee, Leistung könne nur mit Anstrengung erbracht werden, redefiniert. Die Schwierigkeit besteht darin, an die Leistungsfähigkeit des »Streng-dich-an-Menschen« zu glauben, obwohl er sich so quält. Im Coaching ist es wichtig, die Persönlichkeitsanteile anzusprechen, die das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit rechtfertigen.

Einige hilfreiche Vorgehensweisen im Umgang mit »Streng-dich-an-Menschen«:

• Es müssen Vereinbarungen über realistische Ziele getroffen werden. »Streng-dich-an-Menschen« neigen dazu, Ziele so zu stecken, dass sie nicht erreichbar sind.

• Die Zeit sollte immer mitberücksichtigt werden. »Streng-dich-an-Menschen« laden dazu ein, das eigene Zeitmanagement aus dem Auge zu verlieren.

• Menschen in der »Streng-dich-an-Dynamik« werden um so langsamer, je mehr sie sich dem Ziel nähern. Wie bei Sisyphos rollen sie den Stein immer langsamer, je weiter sie nach oben kommen, und man muss aufpassen, dass sie den Stein nicht wieder loslassen, kurz bevor sie am Ziel angekommen sind. Hier ist es wichtig, Teilziele oder Meilensteine zu definieren: »Angenommen wir erreichen heute nur dieses Teilziel, wie können wir sicherstellen, dass wir uns rechtzeitig vertagen und organisieren, wie es weitergehen soll.«

• Eine interessante Hilfestellung ist auch die Veränderung der Körperhaltung beim Umgang mit Aufgaben. In entspannten Haltungen lassen sich die »Streng-dich-an-Dynamiken« oft nicht in gleicher Weise aktivieren. Dadurch werden Erfahrungen möglich, wie es ohne Anstrengung leicht gehen kann.

• Phantasiereisen eignen sich ebenfalls, die Erfahrung zu machen, mit leichtem Sinn Wesentliches zu erreichen.

1.5.5 Ressourcen des »Streng-dich-an-Antreibers«

Tugenden der »Streng-dich-an-Menschen« sind ihr Durchhalte- und Beharrungsvermögen. Gerade in Zeiten, in denen alles »easy« gehen muss und bei der geringsten Mühe »weitergezappt« wird, können sie mit einer angemessenen Beharrlichkeit für Dinge sorgen. Sie verfolgen Aufgaben mit Beständigkeit und haben den nötigen Sinn für Gründlichkeit und Ausdauer. Sie sind nicht so stark lustgesteuert. Eine nötige Mühsal kann für sie sogar zum stillen Genuss werden. Diese Menschen stehen für die Nachhaltigkeit von Realität dort, wo sie gebraucht wird.

1.5.6 Konterdynamik: »Alles easy!«

Auf der anderen Seite vom Pferd gefallen sind »Streng-dich-an-Menschen«, die betont leichtfertig und nachlässig an Aufgaben herangehen. Sie scheuen selbst angemessene Anstrengung und verfolgen damit ebenfalls ein »Ich schaffe es nicht«-Programm, das aber weniger leicht zu identifizieren ist. Eine andere Spielart der Konterdynamik sind »Von-der-Welt-Entrückte«. Sie machen es als Gegenreaktion zum Kult, Leistung nicht zu erbringen nach dem Motto: »Ist doch alles nicht so wichtig«. Wenn diese Menschen ihre lockere Haltung gegenüber Leistung ablegen, geraten sie mit einiger Wahrscheinlichkeit in die »Streng-dich-an-Dynamik«.

1.6 Antreiber 5 »Ich bin OK, wenn ich mich beeile!«

1.6.1 Erkennungsmerkmale

In der »Beeil-dich-Dynamik« entsteht das Gefühl, dass Zeit und Raum nicht ausreichen, um etwas Wichtiges zu tun oder zu erfahren. Die entstehende Unruhe scheint sich aber zu verselbstständigen, trägt meist nicht zu einem effektiven Umgang mit knapper Zeit bei. Ruhe erscheint als Verrat an der Dringlichkeit, Entspannung wirkt wie Aufgabe von Wesentlichem.

Die dafür typische Sprechweise ist oft abgehackt und geprägt von flachem Reden ohne Punkt und Komma. Eindrücklich ist auch die enorme Geschwindigkeit mit der Worte aneinandergereiht werden. Er/Sie – auch Hektiker genannt – verwendet zudem Begriffe, die Hast und Rasanz ausdrücken wie z.B. »schnell, eben mal, kurz, voran kommen« etc. Ihre Gestik vermittelt Ungeduld.

1.6.2 Soziale Diagnose

Typischerweise ist bei Hektikern der Rhythmus zwischen Anspannung und Entspannung gestört. Es ist, als würde jemand von Anspannung zu Anspannung hüpfen. Dieses Verhalten löst bei anderen Impulse von Anhalten, Bremsen oder Begrenzen aus. Es fällt schwer, mitzuerleben, was die Hektikerin erzählt oder tut. Man kriegt leicht das Gefühl beispielsweise »keinen Platz zu haben«. Die meisten Menschen wenden sich daher irgendwann ab oder sind in der Interaktion ebenfalls nicht wirklich anwesend: »Ich lasse Sie einfach reden …«. Manche treten auch in eine Mit-Hektiker-Dynamik ein. Ihr Gefühl, im Kontakt mit dem Hektiker keinen Platz zu haben und Wichtiges nicht unterbringen zu können, führt dazu, selbst auch hektische Verhaltensmuster zu zeigen. Der Versuch, Ruhe in die Situation zu bringen, wird mit verstärkter Hektik beantwortet, da dies die Angst, etwas zu verpassen, steigert.

1.6.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

Hektikerinnen trauen sich in wichtigen Situationen nicht, ihr Wesen im Kontakt hindurchtönen zu lassen, weil sie glauben, dass dafür keine Zeit ist oder sich niemand dafür interessiert. Bietet sich dann eine Gelegenheit, versuchen sie ganz schnell ganz viel auszudrücken, weil sie davon ausgehen, dass der Adressat sowieso nicht lange zuhören wird. Die natürliche Reaktion des Gegenüber ist, das Interesse zu verlieren. Der »Beeil-dich-Mensch« wird als nicht anwesend erlebt und lädt daher nicht ein, selbst anwesend zu sein.

Grundgefühl der »Beeil-dich-Menschen« ist es, Wesentliches zu verpassen. Sie haben Angst, das Leben zerrinne oder eine Gelegenheit gehe vorbei, bevor etwas ihnen Wichtiges möglich war. Sie versuchen dann im Moment zu packen, was sie kriegen können, so viel zu erzählen wie nur möglich usw. Folglich bleibt keine Zeit, zu atmen oder im Gespräch auf die Reaktionen des Gegenüber zu achten oder gar darauf zu hören, was dieser zu sagen hat.

Wesentliches glauben sie dadurch zu erreichen, dass sie ihm nacheilen. Erfüllt-Sein wird ersetzt durch Schnell-Sein, Viel-Tun, Aufgeregt-Sein. Dort, wo »Anwesenheit« verlangt ist, um Wesentlichkeit zu spüren, führt die Art und Weise, wie sie dem nacheilen aber gerade dazu, dass sie das Wesentliche verpassen. Was ihnen fehlt ist, Wesentliches zu erleben, sich dafür die angemessene Zeit zu nehmen und andere daran teilhaben zu lassen. Je mehr Energie sie verbrauchen, um etwas nachzujagen, desto mehr schneiden sie sich von den Ressourcen, von der Ruhe ab, die eigentlich nötig wären. Das führt wiederum nicht zu einem Innehalten, sondern zu noch mehr Hektik.

Die »Beeil-dich-Dynamik« wird selbst mehr und mehr zu einer Kompensation für fehlenden Sinn und Erfüllung des Daseins. Diese Lebensform ständig erhöhter Aktivierung kann einen Suchtcharakter bekommen, so dass auch Situationen, die eigentlich mit innerer Anwesenheit in Ruhe durchlebt werden könnten, zu Hektiksituationen werden. Ihre Feuerwache ist immer in Alarmbereitschaft, auch wenn es nirgends brennt.

Hektik kann zur agitierten Depression werden, d.h. eine hektische Form, zunehmende innere Entleerung zu verwalten. Das kann bis zu abrupten Zusammenbrüchen führen. Oft wählen sich Hektiker aber kleinere Aus-stiege, werden krank, betrinken sich oder brechen sich ein Bein, damit sie entspannen müssen.

1.6.4 Antithesen zum »Beeil-dich-Antreiber«

Aus der Grundfurcht des Hektikers, Wesentliches im Leben zu verfehlen, leitet sich auch die Hauptberatungsstrategie ab. Der Coach muss eine Idee, ein Gefühl entwickeln, was dem »Beeil-dich-Menschen« wichtig ist, und mit ihm gemeinsam erfolgversprechende Wege konzipieren, dies zu verfolgen.

Diese Menschen brauchen im Kontakt das Gefühl, dass der Coach etwas von dem versteht, was ihnen wesentlich ist. Nur wenn sie die Idee haben, dass sie mehr von dem bekommen, was sie suchen, wenn sie sich führen lassen, entspannen sie sich und können ihr hektisches Agieren loslassen. So können sie die Erfahrung machen, dass – obwohl weniger gesprochen wurde – ein Gewinn entstanden ist, und diese Haltung in andere Situationen übernehmen.

»Beeil-dich-Menschen« sind auch oft mit der einfachen Intervention zu beruhigen: »Ich höre dir zu«. Das müssen sie öfter hören, um es zu glauben. »Ich höre dir gern zu, nimm dir Zeit.« Und wenn sie fürchten nicht zu Ende zu kommen »Es ist OK, jetzt einen Teil von dem zu erzählen, was dir wichtig ist und zu einem anderen Zeitpunkt wieder dranzukommen«. Demgegenüber stellen die Gesprächsstrategien, das Tempo mitzugehen, als auch Versuche, zu bremsen nach dem Motto: »Jetzt seien Sie erst mal ganz ruhig«, für den Hektiker keine annehmbaren Lösungen dar.

Eine Schwierigkeit kann sich im Coaching auch dann ergeben, wenn Hektikerinnen im Entspannungszustand beginnen, den depressiven Anteil der Dynamik zu spüren. Hier kann zum einen hilfreich sein, den »Hektik-Entzug« zu planen bzw. etwas zu suchen, was in Maßen anregend ist und doch langsam zur Ruhe kommen lässt. Zum anderen kann dieser depressive Zustand auch als normale Entlastungsreaktion gedeutet werden, ein temporärer Erschöpfungszustand, der sich mit der Zeit und bei angemessener Begleitung wieder normalisiert.

Die Erlaubnis für Hektikerinnen lautet: »Du darfst dir Raum und Zeit nehmen. Schau, was für dich lebenswerte Zeit oder eine lebenswerte Arbeitswelt ist. Du darfst herausfinden, was dir wesentlich ist, du darfst daran glauben, dass andere dir zuhören können, wenn du dich traust, anwesend zu sein, in dem, was du sagst.« Manchmal muss diese Erlaubnis auch als Anweisung gegeben werden, wenn solche Menschen auf Erlaubnisse nicht mehr reagieren.

1.6.5 Ressourcen des »Beeil-dich-Antreibers«

»Beeil-dich-Menschen« können kurzfristig auf hohem Aktivationsniveau leistungsfähig bleiben und dies auch bei hoher Situationskomplexität. Sie entwickeln sogar eine gewisse Lust, auf diesem Niveau zu leisten. Diese Menschen wünscht man sich auf der Notfallstation oder bei Crashs im EDV-System. Die Deeskalation und »Erlösung« aus der Dynamik führt zu einer reif entwickelten Tugend. Der Unterschied der erlösten Position zur Antreiberdynamik liegt darin, dass das »erlöste« Verhalten nicht mehr in der »OK, wenn«-Logik steht. Es kann vielmehr kontextspezifisch gewählt werden: »Ich kann mich entscheiden, ob und wann ich mich beeile.«

1.6.6 Konterdynamik »Jetzt erst mal langsam!«

Kontrahektiker sind Menschen, die auch fürchten, dass ihnen das Wesentliche verloren geht. Sie geraten aber v.a. im Kontakt mit Hektikern reflexhaft in eine verharrende Haltung: »Jetzt erst mal langsam«. Der Hektiker neigt zum Eilen, wenn er glaubt, Wesentliches zu verfehlen, der Kontrahektiker zum Bremsen, insbesondere wenn er fürchtet, durch die Hektik anderer angesteckt zu werden. Beide leben in der gleichen Welt, nur mit verteilten Rollen. Kontrahektiker sind am ehesten daran zu erkennen, dass man beginnt den Hektikerpart zu spielen. Beide brauchen die Zuversicht, zum Wesentlichen zu kommen, um dies in angemessener Dynamik zu tun.

1.7 Systemische Beratungsstrategien bei Antreiber-Dynamiken

Die Dienstleistung systemischer Beratung besteht darin, Unterschiede zu generieren, die für Klienten einen Unterschied machen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierfür ist aus wirklichkeitskonstruktiver Perspektive, nicht in die Antreiberwirklichkeit des Klienten einzutreten, sondern die einengenden Wirklichkeits- und Beziehungsgewohnheiten des Klienten in Frage zu stellen (Schmid 1987, siehe Lit. Kap. 1, 4) bzw. eine antreiberarme Atmosphäre zu schaffen.

Eine Art, weiterführende Wirklichkeiten zu stimulieren, wird in der systemischen Beratung durch die Art der Befragung erreicht. Dabei werden durch vielfältige Fragetechniken alte Wirklichkeitsgewohnheiten der Klienten verstört und in einem gemeinsamen Kommunikationsprozess neue schöpferische Wirklichkeiten erzeugt. So kann etwa bei einer »Sei-perfekt-Dynamik« die Idee eingeführt werden, wie Menschen anders reagieren, wenn man ihnen mit der Haltung »Du darfst Fehler machen und aus ihnen lernen« begegnet.

Eine ebenso effektive Beratungsstrategie besteht darin, auf der Ebene der Beratungsbeziehung einen Unterschied zu (er-)finden. Anknüpfend an die narrative Denkrichtung (vgl. Boeckhorst 1994, siehe Lit. Kap. 1, 1) könnte man sagen, dass sich nicht nur das »Was« der gemeinsamen Erzählung, sondern auch das »Wie« verändert. Der Coach gestaltet die Beratungsbeziehung in einer Art und Weise, die zu Beziehungs- oder Wirklichkeitsgewohnheiten des Klienten einen Unterschied macht. Er erzählt nicht nur davon, dass man Fehler machen und daraus lernen darf, sondern inszeniert diese Idee gleichzeitig in der Beratungsbeziehung.

Die Herausforderung besteht darin, dass der Klient den Coach einlädt, in seinem alten Stück, seinen gewohnten Beziehungs- oder Wirklichkeitsgewohnheiten mitzuspielen. Trete ich als Coach aber unbewusst in das Stück des Klienten ein, sind die Rollen verteilt und das Drama nimmt seinen gewohnten Gang.

Wichtigster Schritt ist also zunächst, die Einladungen zu erkennen, zu spüren, welche Gefühle wach werden und welche Beziehungswelten dadurch entstehen. Diesen Vorgang haben wir als »soziale Diagnose« bezeichnet. Ich bekomme beispielsweise bei der »Sei-stark-Dynamik« Angst und glaube, den anderen klein machen zu müssen, weil ansonsten ich in Gefahr bin, klein gemacht zu werden. Meist wird diese Diagnose der inszenierten Wirklichkeitslogik mit Hilfe der Intuition geleistet (Schmid/ Hipp/Caspari 1999, siehe Lit. Kap. 1, 5).

Der nächste Schritt ist dann, sich in eine innere Haltung zu bringen, die zu der Inszenierung des Klienten einen schöpferischen Kontrast, eine Antithese bildet. Das Einnehmen antithetischer Haltungen meint, innerlich eine antithetische Wirklichkeitslogik (eine Lösung 2. Ordnung) zu aktivieren und zu stabilisieren. Dadurch schütze ich mich davor, in die Antreiberwelt einzusteigen und habe die Möglichkeit, mich antithetisch zu verhalten, ohne dass das problematische Muster benannt werden muss. Die Umstellung der Haltung und die daraus resultierende Veränderung des Verhaltens reichen oft aus, um das problematische Antreiberverhalten des Klienten in der Beratungssituation aufzulösen. Der Coach gibt dem Klienten durch seine antithetische Haltung und das daraus motivierte Verhalten eine implizite Einladung, in seine Inszenierung überzuwechseln. Nimmt der Klient diese Einladung an, hat er die Möglichkeit, die neue Qualität im Coaching unmittelbar zu erleben und damit erste positive Erfahrungen zu sammeln.

1.8 Wurzeln des Antreiber-Konzepts

Das Konzept der Antreiber stammt aus der Transaktionsanalyse. Die erste Beschreibung der Antreiber stammt von Kahler (1977, siehe Lit. Kap. 1, 2). Sie wurden dort als Verhaltensweisen beschrieben, die Verhaltens- und Erbebensketten einleiten. Am Endpunkt dieser Ketten würden Glaubenssätze bestätigt, die zu problematischen Lebensentwürfen (Skripts) und deren Vollzug gehörten. Die Antreiber selbst wurden eher durch Verhaltensmerkmale beschrieben. In der weiteren Entwicklung der Transaktionsanalyse wurden die Antreiber in verschiedene Kontexte gestellt, z.B. als fehlgeleitete Versuche, Grundbedürfnisse zu befriedigen (Köster 1999, siehe Lit. Kap. 1, 3).

Hier werden Antreiber von solchen Überlegungen losgelöst als Stile beschrieben, die innere und äußere Wirklichkeiten charakterisieren und für die hilfreiche Varianten in normalen gesellschaftlichen Kontexten gefunden werden können.

1 Unter Mitarbeit von Joachim Hipp

2. ICH-DU- UND ICH-ES-TYPEN1

Das Modell der Ich-Du- und ICH-ES-Typen unterscheidet zwei Grundarten, wie Menschen sich selbst stimmig und wertvoll erleben und auf diesem Hintergrund Beziehungen zu Menschen und Dingen gestalten. Während dem Ich-Du-Typ in einer Beziehung der Aspekt der Bezogenheit auf den anderen wesentlich ist, ist es dem ICH-ES-Typ das Thema, auf das sich eine Beziehung hin ausrichtet. Beide Aspekte sind für das Gelingen sowohl einer Privat-, als auch einer Professionsbeziehung gleichermaßen wichtig. Um eine Beziehung zu erlösen, gehört sowohl, dass man zu dem anderen als Menschen als auch zu seinen Themen ja sagen kann. Wenn möglich sollte man auch Themen teilen, um die herum der andere sein Leben organisiert bzw. die in seinem Leben eine Rolle spielen. Nur zum anderen Menschen ja sagen zu wollen, aber seine Themen abzulehnen, ist in längerfristigen Beziehungen schwierig.

2.1 Ich-Du-Typ

Der Ich-Du-Mensch definiert sich wesentlich über seine unmittelbaren Beziehungen zu anderen Menschen. Er ist mit sich selbst im Einklang und fühlt sich wertvoll, wenn seine Beziehungen ›stimmen‹.

Begegnet ein Ich-Du-Typ einem anderen Menschen, so sind seine Grundfragen:

• Bist du für mich attraktiv?

• Interessierst du dich für mich als Person?

• Sind wir uns sympathisch?

• Können wir uns vertrauen?

Wenn wir beide in genügendem Umfang zueinander ja sagen können, wird eine Beziehung zwischen uns möglich. Ich sage ja zu dir, du sagst ja zu mir. Lass’ uns auf dieser Basis als Partner/in, Kollege/in, Kunde/in, Berater/ in, Freund/in etc. zusammen sein.

Abb. 2: Ich-Du-Menschen in Interaktion

Wenn diese Fragen für zwei Ich-Du-Menschen positiv geklärt sind, können sie in einem zweiten Schritt auch eine »gemeinsame Sache« einbeziehen: gemeinsame Unternehmungen, ein Thema oder eine gemeinsame Arbeit. Auf der Basis unserer gegenseitigen Zuneigung können wir jetzt überlegen, was wir zusammen machen wollen.

Abb. 3: Ich-Es-Menschen in Interaktion«

Dies ist für Ich-Du-Typen jedoch nicht beziehungsnotwendig, sondern eher eine willkommene Zugabe. Die Anwesenheit, Nähe und Bezogenheit auf die andere Person bleibt wesentliche Basis für die Beziehung und das eigene Selbstwertgefühl.

Ich-Du-Menschen sortieren ihre Welt nach Menschen und gruppieren entsprechende Themen um sie herum. In der Theatermetapher ausgedrückt sind es Menschen, die auf die Bühne gehen und im Miteinander-Spielen, eine zu ihnen passende Inszenierung erbasteln. Regie, Drehbuch und Sujet werden sekundär beschrieben. Kann das Sujet mit diesen Menschen nicht abgehandelt werden, geht es verloren.

Eine Beziehungsstörung erlebt der Ich-Du-Mensch in erster Linie dann, wenn er das Gefühl hat: Der andere bejaht mich nicht mehr in der Beziehung. Sobald dieses Gefühl entsteht, ist die Arbeit an einer gemeinsamen Sache in Frage gestellt. Er versucht dann als erstes zu klären: Magst du mich noch? Bedeute ich dir noch, was ich dir bisher bedeutet habe? Wenn es dem anderen gelingt, deutlich zu machen: Ja, das bedeutest du mir noch, kann der erste sagen: Gut, dann können wir auch in der Sache, die wir gerade betreiben, weitermachen.

Unter zwei Ich-Du-Menschen ist dies in der Regel kein Problem. Entweder sie bestätigen sich: Du bedeutest mir noch genug. Oder sie wissen: Wir haben einen Beziehungskonflikt und müssen unsere Ich-Du-Beziehung klären. Sie werden dann ihre Beziehungsintensität und/oder -qualität verändern. Entweder lösen sie ihre Beziehung oder sie erneuern sie in dieser Auseinandersetzung. Dann können sie diese fortsetzen, und sich anschließend den Dingen zuwenden, die aufgrund der Krise ihre Bedeutung verloren hatten.

Die Gefahr der beziehungsorientierten Typen ist, dass sich ihre Beziehung um sich selbst dreht, wenn sie sich nicht über ein Thema zum Ausdruck bringt. So wie ein Mensch sich selbst zum Schoßhündchen wird, wenn er nur sich zum Interessensgegenstand hat, so wird auch eine Beziehung sich selbst zum Schoßhündchen. Eine Beziehung kann nur konstruktiv sein, wenn sie auch ein Thema hat, das beide interessiert. Deshalb ist es wichtig, dass die beziehungsorientierten Menschen lernen, sich auf etwas auszurichten, das über »nur du bist mein Thema« hinaus reicht.

2.2 Ich-Es-Typ

Der »Ich-Es-Mensch« erlebt sich selbst stimmig und wesentlich über die Orientierung auf ein für ihn interessantes Thema oder eine herausfordernde Aufgabenstellung hin. Er fühlt sich mit sich selbst im Einklang, wenn er sich für eine Sache begeistern, ein Thema durchdringen oder eine Aufgabe meistern kann.

Trifft er auf einen anderen Menschen, so sind seine Grundfragen:

• Interessierst du dich auch für das, wofür ich mich interessiere?

• Hast du ein für mich interessantes Thema, eine Fragestellung, eine Aufgabe anzubieten?

• Können wir irgendwo ›gemeinsame Sache machen‹?

Wenn wir auf dieser Ebene der Sachorientierung genügend Gemeinsamkeiten erfinden, kann dies die Basis für unser Zusammengehen als Partner/ in, Kollege/in, Kund/in, Berater/in etc. sein.

Abb. 4: Ich-Es-Menschen in Interaktion: Thema«

Wenn unsere gemeinsamen Interessenlagen geklärt sind und tragen, kann sich daraus mit der Zeit auch eine intensivere persönliche Beziehung entwickeln. Dies ist aber für zwei ausgeprägte Ich-Es-Typen, die sich auf diese Weise treffen, nicht notwendig, sondern eher eine schöne Zugabe und Ergänzung.

Basis bleiben die gemeinsamen Interessen, seien es ein gemeinsames Projekt im Berufsfeld oder ein gemeinsam gepflegtes Hobby im Privatbereich. Wenn themenorientierte Menschen gute Begegnungen haben, wird ihre Beziehung über das Thema in einer Weise auch intim. Ohne das Thema hätte sie allerdings keine Attraktion. Andererseits kann ein themenorientierter Mensch an der Beziehung zu jemandem interessiert sein, der ihm zunächst nicht besonders sympathisch ist, wenn ihn dessen Thema interessiert.

Ich-Es-Menschen sortieren die Welt also nach Themen und die Menschen um die Themen herum. In der Theatermetapher ausgedrückt sind es Menschen, die eine Idee von einem Sujet haben, dazu ein Drehbuch schreiben und sich für die Inszenierung Menschen suchen, die dazu passen. Wenn sich die Menschen nicht mehr für die Inszenierung eignen, gehen sie allerdings verloren. Ich-Es-Typen wollen ihre Dimension in die Ich-Du-Welt tragen und sie notfalls kolonialisieren. Dagegen wollten Ich-Du-Typen Ich-Es-Typen zum Beisammensein gewinnen. Notfalls setzen sie sie dazu emotional unter Druck. Ich-Es-Typen organisieren ihr Beisammensein nach den Vorhaben. Ich-Du-Typen organisieren ihre Vorhaben aus dem Beisammensein heraus und soweit sie damit verträglich sind.

Für einen Ich-Es-Typ entsteht eine Beziehungsstörung dann, wenn er das Gefühl bekommt: Der andere interessiert sich nicht mehr für die Sache, auf die wir uns verabredet haben. Oder der andere lässt mangelndes Interesse an meinen Themen erkennen oder ich habe das Interesse an seinen Schwerpunkten verloren.

Wenn die gemeinsame Bezogenheit auf ein Thema gestört wird, ist für ihn auch schnell die Bezogenheit auf die Person gestört. Der Themenorientierte will dann zunächst sicherstellen, ob die gemeinsame Beziehung zu dem Thema weiterverfolgt werden kann. Wenn das nicht der Fall ist, dann verliert er das Interesse an der Beziehung. Denn wenn der Bezug zum Thema nicht herstellbar ist, weiß er nicht, warum er in eine Beziehung investieren sollte. Er möchte zuerst die themenorientierte Basis der Beziehung wiederherstellen. Erst dann interessiert ihn die Frage, ob sie als Personen eine Attraktion zueinander haben und wie sie damit umgehen wollen.

Wenn sich zwei Menschen mit der gleichen Präferenz treffen, gibt es gewöhnlich keine Verständigungsprobleme, sie senden und empfangen ›auf der gleichen Wellenlänge‹. Das heißt nicht, dass sie keine Probleme miteinander haben können, nur haben sie die gleiche Art, nach einer Lösung zu suchen.

Die Gefahr der themenorientierten Beziehungstypen besteht darin, dass sie dazu neigen, aufgrund mangelnder Bezogenheit im anderen ausschließlich einen Konkurrenten zu sehen. Entweder meiden sie sich deswegen oder sie eskalieren destruktiv, indem beide darum kämpfen, dass sich der andere für sein Thema interessieren möge. Denn jeder hält sein Thema für das bessere, interessantere oder relevantere. Sie müssen vor allen Dingen lernen, bei allem Interesse, das eigene Thema voranzubringen, sich auch für den anderen und seine Themen zu interessieren und sich gegenseitig darin wertzuschätzen.

2.3 Wenn Ich-Du-Typ und Ich-Es-Typ zusammentreffen

Wenn Ich-Du-Typ und Ich-Es-Typ zusammentreffen, entsteht meist eine eigenartige Mischung von Faszination und Unverständnis.

Je nachdem, zu welchem Grundtyp ich von meiner eigenen Präferenz her eher neige, finde ich die eigene Orientierung normal und selbstverständlich, den anderen Typus dagegen eher ›unangemessen‹, ›fremd‹ und ›schwer nachvollziehbar‹.

Ich-Du-Typen beschreiben Ich-Es-Typen leicht als unnahbar, kühl, ›nur im Kopf‹, sachlich, beziehungslos und im Extremfall ›Menschen verachtend‹.

Ich-Es-Typen erleben aus ihrem eigenen Bezugsrahmen heraus Ich-Du-Typen eher als ›zu nah‹, ›unsachlich‹, desinteressiert am Thema, im Extremfall ›in Beziehungsduselei verfangen‹.

Zugleich fühlt sich ein Ich-Es-Typ von der warmherzigen und zugewandten Art des Ich-Du-Menschen angezogen und ›bedrängt‹. Einem Ich-Du-Typ imponiert die aufgabenbezogene Klarheit des Ich-Es-Menschen, wobei er sich von dem ›unpersönlichen Stil‹ zugleich abgestoßen fühlt.

Jeder hat ein Gespür dafür, dass der andere für ihn eine wesentliche Ergänzung sein könnte mit der Chance, die eigene Einseitigkeit auszugleichen. Beide erleben im anderen den Pol der eigenen Persönlichkeit, der dem eigenen Bewusstsein ferner steht, damit zugleich fremd, weniger steuerbar und unheimlich. Beide sehnen sich, meist sehr unbewusst, auch danach, die andere Dimension zu entwickeln und eigenständig zu leben.

Beide Typen sind demnach gleichberechtigte und gleichwertige Präferenzen, sich selbst mit dem Zentrum der eigenen Person verbunden und stimmig bezogen auf den Rest der Welt zu fühlen. Beide können sehr gehaltvolle und wertvolle Beziehungen führen und diese gestalten. Allerdings konstituieren sie Beziehung auf unterschiedliche Weise.

Beide Präferenzen sind als Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten in jedem Menschen angelegt, werden aber mit deutlich unterschiedlicher Gewichtung erlebt und gestaltet.

Weil sich Ich-Du- und Ich-Es-Menschen oft auf eine ambivalente Art von einander angezogen und abgestoßen, fasziniert und fremd fühlen, gehen sie oft eine private oder auch eine Arbeitsbeziehung ein. Der Kontrakt, den sie meinen geschlossen zu haben, sieht allerdings aus den jeweiligen Bezugsrahmen der beiden sehr unterschiedlich aus.

Der Ich-Du-Mensch interpretiert den Kontrakt so: Du wirst dich für mich interessieren. Der Ich-Es-Mensch: Du wirst mit mir gemeinsame Sache machen. Die anfängliche Verliebtheit oder die gemeinsame Faszination von der Sache schafft den notwendigen Raum, damit die Beziehung erst einmal wachsen kann, obwohl die beiden sich eigentlich in einem »Kontraktirrtum« befinden. Irgendwann, wenn die Faszination nachlässt und Ernüchterung eintritt, wundern sich beide, dass sich der andere so ganz anders organisiert und beispielsweise in kritischen Situationen andere Themen oder Fragen in den Vordergrund rückt. Sie merken dann nicht, dass für jeden die Beziehung andere konstituierende Merkmale hat und deshalb sehr grundsätzlich neu befragt werden muss. Stattdessen beginnen sie oft, sich zu polarisieren und sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen zu fangen.

Der Ich-Du-Typ deutet eine schlichte, sachbezogene Nachfrage – zunächst vielleicht nur als Missverständnis – im Sinne von: Und wie es mir damit geht, interessiert dich gar nicht, und antwortet: Dir geht es ja immer nur um die Sache! Dabei hat schon Immanuel Kant gesagt: Der Mensch darf niemals Mittel allein sein, sondern er muss immer auch das Ziel sein. Und jetzt entdecke ich, dass du mich nur gebrauchen willst. Dich interessiert ja nur dein Thema und ich bin dir ganz egal. Dass du so wenig beziehungsfähig bist, hätte ich nicht gedacht.

Der Ich-Es-Typ kann daraufhin den Gegenpol besetzen: Ich habe gedacht, du trägst wirklich inhaltlich mit, was wir gemeinsam erarbeitet haben, und jetzt willst du immer nur gemocht werden. Du willst immer Zeit mit mir haben, aber diese Zeit wird leicht unproduktiv. Du engagierst dich in der Zusammenarbeit, wenn du mich magst, aber du kannst nicht bei der Sache bleiben, wenn es uns gerade nicht so gut miteinander geht. Das ist mir zu viel Gefühlsduselei. Du hältst dich für besonders menschlich, aber die Art und Weise wie du als Führungskraft deinen Job machst, erzeugt für so viele Menschen schlechte Verhältnisse, dass es naiver Egoismus ist, sich allein von Ich-Du-Sympathien leiten zu lassen.

Jede/r fühlt sich vom anderen verraten und geht in sein/ihr Extrem, aus dem meist nur noch schwer eine neue Begegnung möglich ist. Denn jede Seite hat eben auch andere vertrauensbildende Maßnahmen, auf deren Grundlage Interesse aneinander neu geweckt werden könnte.

Der Ich-Es-Mensch möchte zunächst sichergestellt haben, dass sie noch auf das gleiche Interessengebiet verabredet sind. Anschließend kann er auch darüber reden, was sie tun können, damit es ihnen auch beziehungsmäßig wieder gut miteinander geht und sie miteinander in Harmonie sind. Wenn das Gegenüber sich bei dieser »Interessen-Klärung« nicht gültig, gemäß dem Bezugsrahmen des Ich-Es-Menschen, positionieren kann, hat dieser auch kein Interesse an der (Neu-) Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehung.

Der Ich-Du-Mensch möchte, gemäß seiner Präferenz, als erstes geklärt wissen, dass er im Gefühlsleben des anderen einen wichtigen Platz einnimmt. Bevor das nicht gesichert ist, erscheint ihm eine Klärung der anstehenden Sache unbedeutend und nicht geeignet, das (Beziehungs-) Problem zu lösen.

Sofern solche Präferenzunterschiede in Partnerschaften vorkommen – solche Menschen heiraten sich gerne, weil jede/r mit dem ›Sinn für Ergänzung‹ gut wählt – gibt es in musterhafter Regelmäßigkeit Beziehungskrisen, in denen sich beide in ihre jeweilige Einseitigkeit zurückziehen. Irgendwie finden sie dann wieder zueinander, oft ohne wirklich Verständnis für das Geschehen zu entwickeln.