Zwickmühlen und der Dilemma-Zirkel - Bernd Schmid - E-Book

Zwickmühlen und der Dilemma-Zirkel E-Book

Bernd Schmid

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Beschreibung

Zwickmühlen stehen für unlösbare Probleme, verzweifelte Situationen und unannehmbare Auswege. Zwischen Vermeiden, Strampeln, Verzweifeln oder erschöpftem Abschalten reiben sich Betroffene und Helfer auf. Im Dilemma-Zirkel begegnen sie seltener offenkundigen Zwickmühlen, sondern Dynamiken und Beziehungen, in die sie sich zunehmend versticken. Zwickmühlen können erkannt und der hilfreiche Umgang mit Dilemma-Dynamiken kann erlernt werden. Es werden Dilemma-Situationen, Vorgehensweisen und Wirkungen im Bereich von Berufssituationen und Organisationen wie auch im Persönlichkeits-Coaching ausführlich erläutert.

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isb GmbH - Systemische Professionalität Institut für systemische Beratung - Wiesloch www.isb-w.eu

Zwickmühlen und der Dilemma-Zirkel

© 2022 Bernd Schmid

Herausgeber: isb GmbH, Wiesloch

Autor: Bernd Schmid

Gestaltung: Bettina Gentner, isb-GmbH

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN Softcover: 978-3-347-67889-7

ISBN E-Book: 978-3-347-67890-3

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zwickmühlen und der Dilemma-Zirkel

von Bernd Schmid

Dr. phil. Bernd Schmid (Jhg. 1946)

ist Gründer und Leitfigur der isb GmbH Wiesloch (seit 1984) und der Schmid Stiftung (seit 2011). Er war international tätig als Referent, Lern- und Professionskulturentwickler sowie als Unternehmer und Gründer von Initiativen und Verbänden. Seine Expertise in der Organisationsentwicklung und im Coaching stellt er heute als Mentor und Konzeptentwickler an der Schnittstelle von Profit- und Nonprofit-Unternehmertum zur Verfügung.

Schmid ist unter anderem Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft und Ehrenvorsitzender im Präsidium des Deutschen Bundesverbandes Coaching. Er ist Preisträger des Eric Berne Memorial Awards 2007 der Internationalen TA-Gesellschaft ITAA, des Wissenschaftspreises 1988 der Europäischen TA-Gesellschaft EATA sowie des Life Achievement Awards 2014 der Weiterbildungsbranche. 2017 ehrte ihn die Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse DGTA für sein Lebenswerk.

Zahlreiche Essays zu persönlichen und professionellen Themen finden sich unter

www.isb-w.eu/campus/de/schrift/Blogarchiv-von-Bernd-Schmid-0000SY0812D

Weitere Veröffentlichungen zum kostenlosen Download sowie Videos stehen bereit unter www.isb-w.eu/campus/de und www.youtube.com/user/ISBlearning.

Kopieren, Nutzen und Weiterverbreiten aller über die isb-Website zugängigen Materialien ist unter Quellenangabe erlaubt und erwünscht.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Konzeptionelles

1. Das Dilemma-Konzept

1.1. Zwickmühlen

1.2. Der Dilemma-Zirkel

1.3. Erkennen von Dilemma-Dynamiken

1.4. Unterscheidungen

1.5. Probleme der Diagnose

1.6. Wechsel auf die Metaebene

1.7. Lösende Haltungen

1.8. Versäumnisse und Verluste

1.9. Dilemma in der Navigation

1.10. Nach dem Dilemma

1.11. Grenzen des Dilemma-Konzepts

1.12. Komplexität und Dilemma

1.13. Der Sinn-Zirkel

1.14. Vom Wesentlichen

1.15. Work in Progress

Beispiele – Erfahrungen

2. Organisationsdilemmata von Irmina Zunker

2.1. Die Ausgangssituation:

2.2. Erstes Beratungsgespräch

2.3. Elsas Dilemma

2.4. Das Organisationsdilemma

2.5. Zweites Beratungsgespräch

2.6. Drittes Beratungsgespräch

2.7. Die Folgen

3. Dilemma-Dynamiken in einem Konzernauftrag

3.1. Rahmen und Ablauf

3.2. Die Praxissituation

3.3. Kulturelle Betrachtung

3.4. Eröffnung der Learning Conversation

3.5. Lehrgespräch zu Prämissen

3.6. Parallelprozesse

3.7. Mit Wirklichkeitsbildern „spielen“

3.8. Erweiterung des persönlichen Repertoires

3.9. Nachbesprechung in der Weiterbildungsgruppe

4. Gefühlte Unlösbarkeit in einer Gruppenleitung von Cornelia von Velasco

4.1. Was war passiert?

4.2. Sich befreien – aber wie?

4.3. Die Supervision

4.4. Sprachfiguren

4.5. Auflösung und Learnings

4.6. Reflexionen zu Veränderungen und Dilemma

5. Dilemma in der Projektanbahnung – eine Persiflage

6. Dilemmata auf Top-Etagen Interview mit Volker Köhninger

7. Gerichtssaal-Dynamik und Dilemma

Metaloge

8. Berichte – Dialoge

8.1. Nichts wie raus!

8.2. Dilemma-Krise - Shortcut

8.3. Aha-Erlebnis

8.4. In Verzweiflung stürzen?

8.5. Verantwortung und Übertragung

9. Verzweifeln – eine professionelle Kompetenz? Gespräch mit Matthias Varga von Kibéd

10. Dilemmata, Ökonomie und Ökologie im Umfeld unserer Profession

11. Fallstudie Paartherapie von Angelika Glöckner

11.1. Vorbemerkung

11.2. Ausgangssituation

11.3. Beziehungsdynamiken

11.4. Fehlkoppelungen

11.5. Wünsche und Befürchtungen

11.6. Hilfreiche Botschaften und Interventionen

11.7. Vergangenheitsbezüge

11.8. Positive Konnotation

11.9. Antithetisches

11.10. Entspannung und Neuordnung

11.11. Abschlussbetrachtung

Vorwort

Dies ist ein Lesebuch, also zum Schmökern gedacht. Die Texte lassen Anteil nehmen an Konzeptdarstellungen, Gesprächen und Reflektionen über Zwickmühlen und Dilemma-Dynamiken. Situationen, Fallberichte, Vorgehensweisen und Wirkungen werden dargestellt im Bereich von Berufssituationen und Organisationen, aber auch im Persönlichkeits-Coaching. Dabei wechseln konzeptionelle Überlegungen, konkrete Beratungen, Fallberichte und persönliche Reflexionen ab. Soweit nicht andere Autoren ausdrücklich genannt werden, stammen die Texte von Bernd Schmid.

Angelika Glöckner hat schon 2009 eine Fallstudie zur Therapie von Dilemmata in einer Paarbeziehung beigetragen (Kap. 11). Diese liegt im Bereich der Psychotherapie. Doch können viele Beschreibungen des Umgangs mit den Dilemmata gut auf andere professionelle Kontexte übertragen werden.

Das Thema Dilemma begleitet das isb schon lange. Schon 1986 konnte Bernd Schmid dafür den ersten Wissenschaftspreis der europäischen TA-Gesellschaft entgegennehmen1.

Als letzten öffentlichen Auftritt seines aktiven Berufslebens stellte er den Stand seiner Erfahrungen und Überlegungen zu diesem Thema zur weiteren Entwicklung in einem Vortrag an der Universität Heidelberg zur Verfügung.2

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text das generische Maskulinum verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Ich danke allen, die zu der Entwicklung des Dilemma-Konzepts und den hier vorliegenden Texten beigetragen haben, und Bettina Gentner für die gestalterische Betreuung des Buches.

Wiesloch im April 2022

Bernd Schmid

1 B. Schmid/K. Jäger: Breaking through the Dilemma-Circle (1984), Zwickmühlen. Oder: Wege aus dem Dilemma-Zirkel (1986).

2 Dilemma-Zirkel und professionelle Kompetenz, Heidelberg, Universität Heidelberg, Abt. Medizinpsychologie, 2019. Video: www.youtube.com

Konzeptionelles

1. Das Dilemma-Konzept

Im Folgenden werden Überlegungen und Erfahrungen zum Dilemma-Konzept im Überblick dargestellt. Dabei werden die Begriffe Zwickmühle und Dilemma gleichbedeutend verwendet. Von Zwickmühle wird eher gesprochen, wenn inhaltlich beschrieben wird, worin Unlösbarkeiten bestehen. Wenn mehr Dynamiken von Erleben und Situationen beschrieben werden, wird eher der Begriff Dilemma verwendet.

1.1. Zwickmühlen

Mit Zwickmühle kann ein Problemverständnis beschrieben werden, innerhalb dessen Lösungen für das Problem oder die Gestaltung entsprechender Beziehungen aufgrund ungeeigneter Definitionen, Implikationen und Verknüpfungen unmöglich erscheinen oder Fragestellungen so angelegt sind, dass mit Antworten darauf die Befriedigung von Anliegen Lösungen unmöglich oder unannehmbar werden. (Schmid, B. und Klaus Jäger, 1986, S. 5-6).

Ein Mensch, in dessen Bezugsrahmen eine Zwickmühle konstruiert ist, gerät leicht in ein Dilemma. Innerhalb einer entsprechenden Dilemma-Dynamik fühlt er sich gefangen. (Schmid, B. 1989, S. 142). In solchen Situationen enthält der Lösungshorizont gefühlt nur Lösungen, die eigentlich nicht akzeptabel sind. Jede von außen angebotene Lösung ist daher unannehmbar oder scheint sich an einem anderen wichtigen Anliegen in einer Weise zu versündigen, dass dieser Weg nicht gegangen werden kann.

Solange dies der Fall ist, hat es wenig Sinn, innerhalb dieses Bezugsrahmens, also der vorgegebenen Wirklichkeitsbeschreibung und Lösungslogik, nach Lösungen zu suchen, sondern es müssten zunächst die Beschreibung des Problems wie auch die Versuche, das Problem zu lösen, auf die darin liegenden Unmöglichkeiten hin untersucht werden. Die Unlösbarkeit liegt bereits in der Art der Fragestellung, weshalb zunächst der Bezugsrahmen untersucht und verändert werden muss.

Beispiel: Ein Prüfungskandidat agiert, als würde er sagen: Ich möchte von Autoritäten um meiner selbst geliebt werden, auch ohne, dass ich Leistung erbringe. Die Prüfer sind Autoritäten, die ein System vertreten, dem ich wirklich zugehören möchte. Aber ich möchte als der, der ich bin, zugehören und nicht wegen meiner Leistung. Immer werde ich bloß wegen meiner Leistung geliebt. Wenn ich jetzt in die Prüfung gehe und dort meine Leistung verstecke, um zu erfahren, dass ich dieses Mal als Person geliebt werde, falle ich durch. Stelle ich meine Leistung in den Vordergrund, dann heißt das für mich, ich bestehe dann zwar, aber ich bin wieder nur wegen meiner Leistung willkommen.

Also, egal, welchen Weg der Kandidat einschlägt und wie die Prüfung ausgeht, entscheidende Bedürfnisse bleiben unerfüllt.

In diesem Beispiel sollen zwei Anliegen gleichzeitig befriedigt werden, nämlich, 'um seiner selbst willen geliebt werden' und 'durch Leistung in einer Prüfung Zugehörigkeit erwerben'. Beide sind gleichzeitig und in diesem Interpretationsrahmen nicht zu befriedigen. Bei einer Prüfung geht es darum, eine Leistung abzuprüfen, nicht einen Menschen um seiner selbst willen aufzunehmen. Der Wunsch, um seiner selbst willen geliebt zu werden, könnte z.B. von Eltern oder Freunden befriedigt werden. Ein Prüfungskomitee kann nicht gleichzeitig einen Prüfungskandidaten aufgrund von Leistungen und unabhängig von seinen professionellen Leistungen in dasselbe System aufnehmen.

Grundsätzlich besteht die logische Lösung dieser Zwickmühle darin, die Verknüpfung beider Fragestellungen, die nach verschiedenen Logiken beantwortet werden müssen, von einander zu lösen. Vielleicht muss dazu die Polarisierung von 'Leistung erbringen' und 'um seiner selbst geliebt werden' im Weltbild und Erleben über die Prüfungssituation hinaus aufgelöst werden.

Beide Anliegen sind berechtigt und müssen so definiert werden, dass sie nebeneinander bestehen können. Solange sie in parallelen aber konträren Verständnissen derselben Situation angesiedelt werden, ist dieses Problem nicht zu lösen. Der Prüfungskandidat muss eine Haltung entwickeln, in der er akzeptiert, dass in der Prüfung Leistungen entscheidend sind. Unabhängig davon kann er empfinden, dass er (oder sie) als derjenige, der er ist, angenommen wird. Dies kann aber daneben und für die Szene als Prüfung nachrangig wahr sein.

Bei Zwickmühlen-Bezugsrahmen handelt es sich dann um relativ gefestigte Wirklichkeitssysteme, und diese führen immer wieder zu ähnlichen Unlösbarkeiten, wenn Fragestellungen, Definitionen und Implikationen gewohnheitsmäßig problematisch miteinander verknüpft werden. Analysierte man die Logik dieser Unlösbarkeit, so könnte man sie bestimmen und beschreiben, in welchen Lebenssituationen sie zu Dilemma-Erleben führen. Solche Wirklichkeitsinszenierungen können durch Analyse allein meist nicht nachhaltig verändert werden, sondern eher durch gemeinsames Studieren von Dilemma-Dynamiken und durch alternative berührende Erfahrungen.

1.2. Der Dilemma-Zirkel

Einem Dilemma begegnet man meist nicht als leicht erkennbare Zwickmühle, sondern als Erleben und Verhalten, in das man sich zunehmend verstickt. Bewusst oder unbewusst ringen Betroffene und Helfer mit Dilemma-Dynamiken, ohne dass sich etwas löst. Dilemma-Dynamiken bezeichnen die emotionalen und verhaltensmäßigen Komponenten von Dilemmata. Im Folgenden werden vier Stadien solcher Dynamiken als "DilemmaZirkel" beschrieben. Längeres Verweilen in den Stadien des Dilemma-Zirkels kann zu einem allmählichen Ausbrennen führen. Depression kann sich dabei in seinen passiven Formen, aber auch in sehr aktiven Formen zeigen. Entscheidend ist die Aushöhlung innerer Lebendigkeit.

Das folgende Schaubild stellt die vier Stadien des Dilemma-Zirkels dar. Es ist nicht als Phasenschema im Sinne von Hintereinander zu verstehen, sondern als verschiedene Stadien, zwischen denen man in unterschiedlichen Reihenfolgen wechseln kann.

Abb. 1: Vier Stadien des Dilemma-Zirkels

Das unauffälligste Stadium des Dilemma-Zirkels ist das Vermeiden3. Das Anliegen und die damit verbunden Zwickmühlen werden ausgeblendet. Wenn jemand z. B. in der Beziehung zu potentiellen Partnern regelmäßig in Dilemmata gerät, versucht er z. B. über längere Zeit solche Beziehungen zu meiden. Jedoch lassen sich elementare Entwicklungsfelder oder Lebensanliegen auf Dauer nicht vermeiden. Kommen sie wieder ins Spiel, wird man wieder mit der dahinterliegenden Zwickmühle konfrontiert und gerät dann vielleicht in eine Dynamik, die mit Strampeln umschrieben werden kann, ein weiteres Stadium des Dilemma-Zirkels. Man erlebt das Gefühl, sich abzumühen und sich zu verausgaben, ohne wirklich voranzukommen. Es ist kein wesentlicher Fortschritt erkennbar oder zu verspüren. Dennoch macht man weiter, weil es nicht zu versuchen auch keine Lösung ist. Strampeln sein zu lassen hieße: Ich gebe auf, das Problem lösen zu wollen, bzw. das Entwicklungsanliegen befriedigen zu wollen.

Weiterstrampeln kann zunehmend erschöpfen, weshalb man eine Entlastungszone aufsucht. Anstatt erneut auszublenden, klinkt man sich zeitweise aus dem Strampeln aus in ein erschöpftes Abschalten, ein weiteres Stadium im Dilemma-Zirkel. Dies kann irgendeine Form der Ablenkung sein, aber auch eine Ausschweifung oder ein sich außer Gefecht setzen z. B. eine Krankheit oder ein Unfall. Für eine Zeit ist man dann von weiteren Bemühungen entbunden.

Sich bewegen innerhalb dieser drei Phasen heißt abwechseln zwischen Vermeiden, Strampeln und Resignieren. Die Menschen kämpfen intensiv und sind dann erschöpft, entbinden sich eine Weile davon, das Problem anzugehen, ohne sich zu erholen und eine neue Haltung zum Problem zu finden.

Sie bleiben innerhalb der Logik und den Dynamiken, die ihr Problem konstellieren. Dies kann in seinen aktiven und passiven Formen zu einem allmählichen Ausbrennen führen.

Ein weiteres Stadium im Dilemma-Zirkel ist das Verzweifeln. Es wird als das unangenehmste gefürchtet. Verzweiflung kann eine relativ milde Reaktion auf aktuelle Verstrickungen sein oder existentielle Dimensionen annehmen. Es wird entsprechend unterschiedlich intensiv erlebt, doch i. d. R. in jeder Ausprägung zu vermeiden gesucht. Dabei ist Verzweiflung eigentlich eine natürliche Reaktion auf eine ausweglose Situation. Sie könnte positiv als Hinweis auf Dilemma-Erleben und Unlösbarkeit gesehen und genutzt werden. Weil dies jedoch meist nicht erkannt und Verzweiflung als bedrohlich empfunden wird, möchte man sich ihr nicht stellen. Dann können Verzweiflung aber auch nicht als diagnostischer Hinweis und die Erfahrung von Verzweiflung nicht als Kompetenz genutzt werden. Deswegen neigt man dazu, diese für die Steuerung der Situation eigentlich hilfreiche Emotion zu vermeiden und stattdessen eher wieder in eines der drei anderen Stadien zu wechseln. Sich der Verzweiflung zu stellen fällt leichter, wenn als Gegenkraft Zuversicht wirkt. Die Hoffnung, dass, wenn man eine Unlösbarkeit erkennen und aufgeben kann, darin eine Chance liegen kann, hilft, die Angelegenheit ganz neu anzugehen. Man muss sich auf die Paradoxie einlassen, dass man vorbehaltlos aufgeben muss, um eventuell neu ansetzen zu können.

1.3. Erkennen von Dilemma-Dynamiken

Wenn man mit einer Person zusammen ist, die sich und andere in Dilemmata verstrickt, dann kann man bei genügender Aufmerksamkeit den Sog in eigene zunehmende Verstrickung spüren, ohne dass man zunächst versteht, womit man es zu tun hat. Aber man kann lernen, die Qualität von Dilemma-Dynamiken zu spüren sowie an sich selbst und an anderen die Anzeichen dafür wahrzunehmen: Was geschieht, wenn Lösungsmöglichkeiten, die für Außenstehende offensichtlich scheinen, nicht greifen? Wie halten sich die Beteiligten an nicht funktionierenden Lösungen fest, ohne sich spüren zu lassen, dass es so nicht vorangeht? Soweit die dilemmahaften Verknüpfungen vorwiegend im inneren Bezugsrahmen liegen, sind sie von außen schwer identifizierbar. Man kann durch Innenschau und Austausch darüber Anhaltspunkte finden und versuchen, durch Beobachtungen der Verhaltensweisen und Geschehnisse von außen Ideen zu gewinnen. Hierbei ist man oft auf Intuitionen und metaphorische Beschreibungen der eigenen Empfindungen angewiesen, z. B.: In mir entsteht das Bild eines Menschen, der festgehalten werden will und gleichzeitig alles tut, um nicht festgehalten zu werden. Ich empfinde als Gegenüber eine sehnsüchtige Einladung und daher einen starken Impuls, Dich festzuhalten und gleichzeitig Angst, damit in Verwicklungen zu geraten, daneben zu liegen und zurückgestoßen zu werden. Ich finde keine Lösung, wie mit beiden Impulsen umzugehen, was mir eine gute Distanzregulierung unmöglich erscheinen lässt.

Der deutlichste Hinweis auf eine Unlösbarkeit ist das Gefühl der Verzweiflung, das, wie bereits erwähnt, milde bis lodernde Intensitäten annehmen kann. Doch tun sich heutzutage viele Menschen schwer, Verzweifeln zu erkennen und zu beschreiben. Das hat damit zu tun, dass der Umgang mit Verzweiflung gesellschaftlich vermieden wird. Dagegen mahnen Philosophen und Psychologen an, das Ringen mit Unlösbarkeiten, Unzulänglichkeiten und Sinnlosigkeitsgefühlen als zur menschlichen Existenz gehörend zu begreifen und damit offen umgehen zu lernen. Verzweiflung ist eine bestimmte Art von Unzufriedenheit, bei der man eigentlich einerseits das dringende Bedürfnis hat, etwas zu ändern, andererseits unklar ist, in welche Richtung es wirklich gehen kann und in sich keine tragende Hoffnung spürt, dass überhaupt etwas Wesentliches geändert werden kann.

Doch man kann die Angelegenheit weder auf sich beruhen lassen noch erfolgreich etwas tun, man fühlt sich gefangen und reibt sich auf. Das ist eine ganz bestimmte Gefühlsqualität. Der Umgang mit Verzweiflung spielt eine entscheidende Rolle im Umgang mit Dilemma-Dynamiken. Er wird daher an vielen Stellen dieser Schrift behandelt.

1.4. Unterscheidungen

Wie kann man eine durch Dilemma bedingte Unzufriedenheit von allgemeiner Unzufriedenheit oder von Unzufriedenheit mit bestimmten Unzulänglichkeiten unterscheiden? Man kann ja auch unzufrieden sein, weil man bestimmte Standards hat und man selbst oder andere diesen Standards nicht genügen. Dabei handelt es sich weder um ein Dilemma noch um Verzweiflung im hier verwendeten Verständnis. In solchen Situationen muss man vielmehr lernen, ein menschliches Maß zu akzeptieren und einen angemessenen Ausgleich zwischen Ansprüchen und Erreichbarem zu finden. Richtung Unlösbarkeit ginge es, wenn Verstrickungen verhinderten, mit Unzulänglichkeit leben zu lernen.

Auch Entscheidungs- und Interessenkonflikte sowie Ambivalenzen (oft besser: Polyvalenzen) sind an sich keine Dilemmata. In solchen Fällen muss man sich entscheiden, und wenn man mehreres nicht gleichzeitig haben kann, dann muss man das eine loslassen, wenn man das andere haben will. Das ist sachlich gesehen durch Entscheidung zu lösen. Emotional kann das dennoch schwierig sein und man muss z. B. eventuell notwendige Kompromisse zu akzeptieren lernen. Dilemmata hingegen sind rational durch Entscheidungen und emotional durch Kompromissbereitschaft allein nicht zu lösen. Lösbarkeit kann aber vielleicht durch Klärung der Unlösbarkeiten und Änderung der dafür verantwortlichen Prämissen und Perspektiven wieder hergestellt werden. So werden Lösungszumutungen und Entscheidungen manchmal dadurch vermieden, dass Probleme zu Dilemmata erhoben werden. Das Dilemma ersetzt, was bei Entscheidungsbereitschaft und -kompetenz lösbar wäre. Dies kann zur automatisierten Gewohnheit werden und auch dann einrasten, wenn man eigentlich entscheiden könnte und auch will. Die Aktivierung von Dilemma-Dynamiken dient dann zur gewohnheitsmäßigen Vermeidung von Entscheidungen und Verantwortung. In diesem Fall ist es wichtig, einen Prozess einzuleiten, durch das Dilemma auch für den Betroffenen wieder zu einem Entscheidungsproblem werden kann. Sonst dient Dilemma-Arbeit eventuell dazu, Herausforderungen zu meiden.

Gelegentlich entstehen Dilemma-Situationen und -Beziehungen erst allmählich in der Therapie/Beratung.

Der Therapeut/Berater merkt, dass die Therapie/Beratung nicht fruchtbar ist. Der Klient merkt es auch. Aber, wenn dieser sagt, dass die Beratung/Therapie nicht förderlich ist, dann fühlt sich der Berater/Therapeut eventuell in seiner Kompetenz abgewertet. Er beruft sich auf seine Anstrengungen, in seiner Art das Problem lösen zu wollen und zieht nicht in Betracht, dass diese Lösung für den Klienten nicht möglich ist. Der Klient steht dann vor einem Dilemma: Sage ich, das hilft mir nichts, obwohl ich verstehe, was der Berater zu tun versucht, dann ist der Therapeut/Berater gekränkt und beendet vielleicht die Beziehung. Sage ich, ja, ich will es versuchen, vielleicht habe ich ja wirklich einen unbewussten Widerstand, und ich versuche jetzt, den zu überwinden, dann verstoße ich gegen mein Gefühl, dass das nicht die Lösung meines Problems ist, nur, um die Beziehung erhalten zu können. So kann sich beiderseitiger guter Wille in dilemmahafte Verstrickung verkehren.

Auch ist es z. B. möglich, dass Berater/Therapeuten selbst zu Dilemmata neigen. Dann kann es sein, dass sie Dilemmata des Klienten verursachen, mitkonstruieren oder deren Lösung hemmen. In einem solchen Fall wird der Beratungs- oder Therapieprozess für beide Seiten schwierig. Es ist also möglich, dass der Berater/Therapeut selbst einen Anteil daran hat, Fragestellungen des Klienten und die beraterische Beziehung ins Dilemmahafte zu ziehen. Dies kann verschiedene Ausprägungen und Quellen auf Seiten des Therapeuten/Beraters haben. Der richtige Ort für die Abklärung dieser Möglichkeiten ist die Supervision und eine vielleicht sogar darauf fokussierte Selbsterfahrung.

Zwickmühlen können überhaupt erst durch Weiterbildung und nicht hinreichend reflektierte Wirklichkeitsannahmen von Schulen hervorgerufen werden. Dies wird begünstigt, wenn Schulen mit schematischen oder dogmatischen Theorien und Vorgehensweisen identifiziert sind. Manche Therapeuten folgen chronisch der einfachen Annahme, dass für die Entstehung von Problemen verdrängte Erfahrungen mit engen Bezugspersonen aus der Biografie ursächlich sind. Sie deuten die Belastungen der Klienten und Beziehungsdynamik mit ihnen aus dieser Perspektive und können sich kaum vorstellen, damit danebenzuliegen. Dies kann aber sehr wohl der Fall sein, wenn andere Wirklichkeiten wie z. B. Berufsentwicklungen und Kontextvariablen wie etwa betriebliche Umorganisationen außer Acht gelassen werden. Klienten dürfen zumindest eine Offenheit für andere Erklärungen, Vorgehensweisen und Infragestellungen der Gewohnheiten einer Schule erwarten. Bleiben Therapeuten aber in ihrer zu einseitigen Systematik und sehen in der Ablehnung dieser Varianten nur einen Widerstand, den es zu analysieren und aufzulösen gilt, können sie Klienten und die Beziehung genau damit in eine Dilemma-Dynamik treiben:

Entweder ich passe mich an, obwohl ich nicht daran glaube oder zumindest skeptisch bin, oder ich spiele so nicht mit und verliere den Beistand des Therapeuten/Berater, werde vielleicht sogar mit schädigenden Etiketten wie „kooperationsunfähig“, oder„gestört“ belegt und mit dieser Zusatzhypothek aus der Beziehung entlassen.

1.5. Probleme der Diagnose

Ein eigenes Problem im therapeutischen und beraterischen Umgang mit Dilemmata besteht in der Diagnose. Manche Klienten konstruieren Dilemmata nur in einzelnen Lebensbereichen. Andere zeigen in vielen Lebensbereichen Dilemma-Erleben und - Verhalten. Ein Hinweis auf mögliche Zwickmühlen ist die Beobachtung von Dilemma-Dynamiken, also Erscheinungen von Verzweiflung - Wegschieben - Strampeln - Resignieren. Diese vier Phasen können dabei von Klient zu Klient in der gezeigten Symptomatik sehr unterschiedlich und daher schwer zu identifizieren sein. Hier hilft dann die Resonanz anderer Betroffener, die zunehmend zu Beteiligten geworden sind, zu identifizieren.

Diese Art, über die Analyse von Resonanzen auf Merkmale von Dynamiken zu schließen, nennt man soziale Diagnose. Man beobachtet, wohinein man sich eingeladen fühlt oder in welchem Film man bereits begonnen hat mitzuspielen. Je sicherer man sein kann, dass das nicht die eigene Dynamik ist, desto mehr darf man dies als Resonanz auf die Dynamiken des Klienten verstehen. Je erfahrener Professionelle in Selbstdiagnose sind, desto sicherer können sie ihre Resonanz zur Diagnose von Dynamiken anderer nutzen. Dilemmata anderer kann man daran erkennen, dass man als Berater oder Therapeut selbst beginnt, sich in den Stadien des Dilemma-Zirkels hin- und herzubewegen. Beispiel: Strampeln. Man interpretiert die Situation als lösbares Problem, fährt alles auf, was dieser Lösung zutragen soll, ohne wirklich voranzukommen. Lässt sich ein lösbares Problem nicht recht formulieren, versucht man es mit Erweiterungen der Betrachtungsrahmen, was ja durchaus oft zu besseren Beschreibungen führen kann. Wird aber dann doch eigentlich nichts klarer, wartet man vielleicht erst einmal ab, bis sich die Verhältnisse entwirren, und versucht, irgendwie im Nebel zu navigieren. Stutzig sollte man werden, wenn sich der Nebel nicht auflöst oder zwischenrein Deutlicheres immer wieder unklar wird.4

All das kann - sonst hilfreich und unverdächtig - auch schon Strampeln sein und als Vermeidung, die Dilemma-Dynamik daran zu empfinden, fungieren. Achtsam sollte man werden, wenn man sich immer wieder bemüht und wiederholt Reaktionen bekommt, wie z.B.: Ja, das kenne ich aber schon! Oder: Das ist mir zwar neu, aber das ist nicht mein Problem! Entstehen durch gemeinsame Klärungs- und Lernversuche weder Erfahrungen noch die innere Überzeugung, dass das gewählte Vorgehen dem Gegenüber wirklich hilft, muss man damit rechnen, dass man am Strampeln ist. Und hoffentlich möglichst früh merkt man, dass man an dieser Situation zunehmend verzweifelt. Wie schwer es sein kann, sich dies einzugestehen, aber auch wie befreiend, wird eindrücklich im Beitrag von Cornelia von Velasco in diesem Band geschildert.

1.6. Wechsel auf die Metaebene

Vielleicht ist in der Zwickmühlenarbeit das heikelste Manöver die Aufkündigung der bisherigen Bemühungen und die Einladung, die Ebene zu wechseln. Schwierig daran ist, dass dies meist nicht aus einer Position der Stärke heraus geschieht, sondern aus der eigenen Bedrängnis. Man muss also mit eigener Unsicherheit, Zweifeln, vielleicht auch Schuldgefühlen umgehen. Schwierig daran ist auch, dass die Klienten diese Strebung zunächst nicht billigen und am bisherigen Modus der Arbeit festhalten wollen. Sie müssen also gewonnen werden, den Dilemma-Ideen und - meist schwieriger - ausgeblendeten Wahrnehmungen und Gefühlen zu begegnen.

Als Hilfestellung dafür hier einige Formulierungsbeispiele, wie man aus der Dynamik aussteigen und in eine Metakommunikation über Dilemma einsteigen kann:

Wir alle haben uns nun lange bemüht, ein plausibles Verständnis Ihres Problems und der gewünschten Entwicklung zu finden bzw. Schritte gemeinsam zu gehen, die mit Zuversicht und einem Gefühl für Befreiung einhergehen. Zumindest mir hat sich nichts Erfolgversprechendes eröffnet, und ich habe mich entschlossen, ohne neue substantielle Orientierung so nicht weiterzumachen. Innerhalb der bisherigen Perspektiven und Lösungsversuche habe ich zunehmend das Gefühl, mich abzustrampeln und zu erschöpfen, ohne etwas Konstruktives beitragen zu können. Ich empfinde zunehmend Hilflosigkeit und Verzweiflung. Dieses Unbehagen ist belastend und möchte nicht durch falsch verstandenes Durchhaltevermögen zu einer Verlängerung dieser Dynamik beitragen. Vielleicht erliege ich einem Irrtum und Missverstehen, dann müssen wir auf die Situation ohnehin neu schauen.

Zumindest aus meinem Erleben sind wir in ungeeigneten Lösungsversuchen verstrickt und nicht überzeugend vorangekommen. Ich habe zunehmend das Gefühl, dass wir das, worin wir verstrickt sind, zwar spüren können, aber noch nicht zur Sprache gebracht und verstanden haben. Ich selbst kann nur beschreiben, was ich dabei erlebe, und in welchen Bildern sich unsere Situation und vielleicht Ihre Hintergrunderfahrungen dazu intuitiv beschreiben lassen, habe aber keine überzeugende Erklärung. Vielleicht könnten wir einem Verständnis unserer Situation und der sich darin zeigenden Verstrickungen näherkommen, wenn auch Sie zu solchen Selbsterforschungen und Beschreibungen bereit wären. Gerne sollen auch andere Beteiligte in diesem Sinne beitragen.