Tag des Triumphs - Christian Ditfurth - E-Book
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Tag des Triumphs E-Book

Christian Ditfurth

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Beschreibung

Karl Rabens Drahtseilakt, in einem mörderischen System anständig zu bleiben, geht weiter!

Berlin 1935: Der Rechtsstaat ist tot. Kommissar Lichtigkeit findet eine Leiche, und Karl Rabens Ritt auf der Rasierklinge wird immer riskanter. Die Tote hatte als Edel-Prostituierte gearbeitet. Auf ihrer Freierliste steht Gestapo-Chef Reinhard Heydrich. Umso erstaunlicher, dass er Raben befiehlt, sich mit dem Fall Aphrodite zu befassen. Bei den Ermittlungen stößt Raben auf den SA-Mann Werner Ehrig, der vor der NS-Machtübernahme zu den Mördern Kurt Essers gehörte, eines Redakteurs der Roten Fahne. Er war Aphrodites Chauffeur.

Der junge Kommissar hatte sich geschworen, alle Mörder Essers zur Strecke zu bringen. Aber Ehrig und seine Bande wehren sich. Raben begreift, dass er keine Wahl hat: Entweder stellt er Ehrig oder der bringt ihn um.

Der zweite Fall der packenden Krimireihe führt Kommissar Raben nach Prag und Nürnberg, zum Reichsparteitag der NSDAP.

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Zum Buch:

Berlin 1935: Der Rechtsstaat ist tot. Kommissar Lichtigkeit findet eine Leiche, und Karl Rabens Ritt auf der Rasierklinge wird immer riskanter. Die Tote hatte als Edel-Prostituierte gearbeitet. Auf ihrer Freierliste steht Gestapo-Chef Reinhard Heydrich. Umso erstaunlicher, dass er Raben befiehlt, sich mit dem Fall Aphrodite zu befassen. Bei den Ermittlungen stößt Raben auf den SA-Mann Werner Ehrig, der vor der NS-Machtübernahme zu den Mördern Kurt Essers gehörte, eines Redakteurs der Roten Fahne. Er war Aphrodites Chauffeur.

Der junge Kommissar hatte sich geschworen, alle Mörder Essers zur Strecke zu bringen. Aber Ehrig und seine Bande wehren sich. Raben begreift, dass er keine Wahl hat: Entweder stellt er Ehrig oder der bringt ihn um.

Der zweite Fall der packenden Krimireihe führt Kommissar Raben nach Prag und Nürnberg, zum Reichsparteitag der NSDAP.

Zum Autor:

Christian v. Ditfurth, geboren 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin und in der Bretagne. Neben Sachbüchern und Thrillern wie Der 21. Juli und Das Moskau-Spiel hat er die Krimiserie um den Historiker Josef Maria Stachelmann und die Eugen-de-Bodt-Serie veröffentlicht. Tag des Triumphs ist der zweite Band einer hochgelobten historischen Krimiserie um den Polizeikommissar Karl Raben, die im Berlin der 1930er Jahre beginnt und bis in die Nachkriegszeit führt.

Der erste Band der Karl-Raben-Reihe in der Presse:

»Ein Historien-Krimi in absoluter Perfektion!« literaturmarkt.info über Tanz mit dem Tod

»Kein anderer deutscher Autor knallt politische Ereignisse so packend pointiert und lakonisch zwischen zwei Buchdeckel. (...) Ditfurth liefert Spannungsliteratur vom Feinsten. (...) Historisch korrekt, formal brillant.« Günther Keil in Radio egoFM, Buchhaltung über Tanz mit dem Tod

Christian v. Ditfurth

TAG DES TRIUMPHS

Der zweite Fall für Karl Raben

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: www.buerosued.de

Redaktion: Claudia Alt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27852-6V001

www.cbertelsmann.de

Für Chantal

Wie leicht lassen sich schwache Seelen von der Gewalt verführen! Wie süß ist den Feigen die Faust!

Rudolf Olden

I. Aufbruch ins Nichts

1.

Kriminalkommissar Lichtigkeit stand im Regen. Eine Dusche im abendkühlen Berlin. Wasser dampfte auf dem Asphalt. Im Augenwinkel sah er Helmut Körber und seine Leute vom Erkennungsdienst umherwuseln. Sie suchten Spuren, aber Lichtigkeit fürchtete, es würde keine geben. Alle weggewaschen. Er nickte und löste einen Wasserfall von der Hutkrempe aus. Der Kommissar sah die Lichter des Bahnhofs Zentralviehhof an der Eldenaer Straße. Es funzelte auch im Laubenland. Petroleumleuchten, Kerzen. Der Führer hatte vier Jahre verlangt, um Deutschland zu retten. Mehr als eines hatte er schon verbraucht. Und in Deutschland rumpelte, zischte, hämmerte und schliff es wieder. Panzer und Kanonen, erschaffen von Schlossern, Mechanikern, Stahlarbeitern. Männer mit Helm und geschwärztem Gesicht, die in Schächten verschwanden und mit ein wenig Glück wieder nach oben gezogen wurden. Aber noch gab es Millionen von Arbeitslosen. Leute, die sich elektrisches Licht nicht leisten konnten. Doch seitdem Hitler die Röhm-Putschisten, diese Bande von Schweinen, abgeknallt hatte, ging es aufwärts. Jedenfalls in Goebbels’ Propaganda, der Wochenschau und den Zeitungen.

Lichtigkeit betrachtete die Leiche. Neben ihr kniete Doktor Schoene. Eine Frau mit dem Gesicht einer griechischen Göttin. Den Anblick störte allein der Kehlenschnitt, aus dem das Herz Blut gepumpt hatte, das über die Schulter im Schotter des Bahndamms versickert war. Körber suchte die Handtasche, er hatte im Mantel nichts gefunden. »Fall Aphrodite sollten wir auf den Aktendeckel schreiben«, sagte Schoene. »Welch ein Verlust.«

Lichtigkeit blickte auf die Uhr. Es war fast neun Uhr am Abend. Es regnete und regnete.

Welch ein Verlust.

»Ich fürchte, die Handtasche ist verschwunden. Wir haben auch sonst nichts gefunden. Scheißregen. Es gibt nur die Leiche, den Schnitt und das Blut, das so gut wie weggewaschen ist«, sagte Körber, nachdem er sich neben Lichtigkeit gestellt und unter dem Schutz der Hand eine Zigarette angezündet hatte.

»Ich habe gehört, Sie haben einen neuen Assistenten«, sagte Körber.

»Ja, schon eine Weile. Er soll Raben ersetzen. Den Bock hat mir der Alte aufs Auge gedrückt. Ist bestimmt so was wie der Neffe des Reichsverwesers.«

Körber lachte. »Den gibt’s nicht. Wollten Sie etwa über unseren Führer lästern?«

»Niemals«, sagte Lichtigkeit. »Uns erwartet eine herrliche Zukunft.«

2.

Raben wartete vor Heydrichs Schreibtisch. »Ich gratuliere zur Beförderung, Gruppenführer.«

Heydrich nickte und zeigte auf den Stuhl. Raben setzte sich.

»Sie haben sich tadellos verhalten.« Heydrich nickte. »Tadellos.« Er schob eine imaginäre Haarsträhne zurück an ihren Platz. »Ich hatte nicht geglaubt, dass Sie schon so weit sind.«

»Ich verstehe nicht …« Natürlich verstand Raben, dass Heydrich ihn nun für einen Nazi hielt, vielleicht nicht des Geistes, aber doch der Tat. Der Geist würde der Tat folgen. Sonst hielt man es nicht aus.

Heydrich winkte ab. »Das müssen Sie nicht verstehen.« Er lehnte sich zurück, straffte seinen Körper. »Röhm stand kurz vor dem Putsch.« Zwischen Zeigefinger und Daumen passte kaum ein Blatt. »So dicht.« Wieder nickte er. »Wir haben den Krawallbrüdern von der SA den Kopf abgeschlagen. Der Führer ist uns dankbar. Er weiß nun, auf wen er setzen kann.«

»Jawohl, Gruppenführer.« In Rabens Hirn turnten Bilder von Bombenexplosionen, Flugzeugen und Panzern.

»Wie geht es unserem Freund Kippenberger?«

»Ich weiß es nicht. Entweder ist er Weltmeister im Versteckspiel, oder er besäuft sich in Moskau mit Wodka.« Vor Kurzem noch hatte Raben sich mit dem Militärchef der verbotenen KPD in einer Bahnhofskneipe getroffen. Sein Darm kniff. Jetzt bloß kein Schweiß auf der Stirn. Oder wenigstens einen Grund dafür. »Mich beschäftigt mein Versagen in diesem Fall … auch nachts.«

Heydrich lachte sein Siegerlachen. Die Welt war bereit, erobert zu werden. Alles hatte sich gefügt. Heydrichs Daumen deutete nach hinten, wo an der Wand Himmlers Porträt hing. »Unser Reichsführer hat dem preußischen Ministerpräsidenten die Geheime Staatspolizei abgeluchst. Göring tröstet sich nun mit all den Flugzeugen, die der Führer ihm zu bauen befahl.« Wieder das Siegerlachen. »Sie nehmen sich zu viel vor, Raben. Und nachts sollten Sie besser was anderes tun … Wie geht’s Frau und Sohn?«

»Gut, danke der Nachfrage, Gruppenführer.«

»Auch Sie sollen belohnt werden. Ich ernenne Sie im Auftrag des Reichsführers SS zum Obersturmführer.« Raben sprang auf und knallte die Hacken zusammen.

»Setzen Sie sich.« Heydrich lachte. »Auch der Ministerpräsident hat Sie gelobt. Er kennt Ihren Lebenslauf und hat mir gratuliert … zu meiner Geduld mit Ihnen.«

3.

»Ich könnte kotzen«, sagte Raben, als er am Tisch saß. Zusammen mit Lena und ihrer Mutter Elisabeth und Karl dem Kleinen, ihrem Sohn.

Lena warf ihm einen Blick zu, schickte Falten über die Nase und ein Kopfschütteln hinterher.

»Schmeckt es euch?«, fragte Elisabeth. Bloß kein Streit am Abendtisch. »Schellfisch in Gemüsetunke, mal was anderes … Hab ich aus dem Buch Koche mit Wein.« Sie zeigte auf den Küchenschrank. Sie wollte Karl und Lena ablenken. Immer wieder befeuerte die Angst den Streit. Bleiben, mitmachen, die Befehle der Nazis unterlaufen? Oder nach Rotterdam flüchten, wo Verwandtschaft lebte? Lena arbeitete wieder in der Kriminalredaktion, zusammen mit ihrem Chef Hermann Wagner, der ein Bein im Krieg verloren hatte. Noch hielt sich Propagandaminister Goebbels zurück. Aber es wurden Klagen laut: dass der Nationalsozialismus das Verbrechen ausrotten wolle, und da müsse man die Berichterstattung zurückfahren. Sonst glaubten die Volksgenossen noch, Hitler habe den Mund zu voll genommen.

Nach dem Essen verschwanden Karl der Kleine und seine Großmutter im Kinderzimmer.

Lena und Raben blieben am Tisch sitzen.

»Irgendwann wird Heydrich seinen Ariernachweis für Mutter und mich zurückziehen. Wenn er sich über dich ärgert oder wegen sonst was. Diese Leute sind Berufslügner.«

Raben nickte. Ihn ermüdeten diese Gespräche. Für die Nazis waren Lena und Elisabeth Jüdinnen und Karl der Kleine Halbjude, da er eine jüdische Mutter hatte. Er verstand Lenas Panikanfälle, aber sie verstärkten seine Angst, die den Brustkorb verkrampfte.

»Dann wandern wir aus«, sagte er. Es klang wie: Ich habe es satt. »Lieber hungern in Holland, als hier was zu riskieren.«

»Ich weiß doch«, sagte sie. Sie legte ihre Hand auf seine. »Ich weiß nur nicht, wie lange die dich an der langen Leine laufen lassen. Nachts höre ich das Klopfen an der Tür.«

»Das Klingeln«, sagte Raben.

Ihr Blick traf ihn, dann starrte sie zum Fenster hinaus. »Deine … Zusammenarbeit mit diesem Kippenberger macht mir Angst.«

»Ich arbeite nicht mit dem zusammen, ich liefere ihn nur nicht den Folterknechten im Gestapo-Keller aus. Wie oft soll ich dir das noch erklären?«

Sie erhob sich und begann den Tisch abzuräumen. »Danke, dass du uns schützt. Wenn dir was passiert, packen sie uns«, flüsterte sie.

4.

Lichtigkeit und sein Assistent Andreas Bock durchstöberten die Zentralkartei. Der Kriminaldirektor Gennat hatte sie erschaffen, sie füllte mit ihren Registern und Regalen einen Raum und war einzigartig in der Welt. Lichtigkeit suchte bei den Mordarten: Schusswaffen, Erdrosseln, Erstechen, Ertränken und was die Verbrecherfantasie sonst gebar. Bock in der Opferkartei, das Leichenfoto neben sich. »Was treibt eine solche Frau in so einer Gegend?«, murmelte er. »Schönheit und teure Klamotten passen nicht zum Zentralviehhof.«

»Auch nicht zu Lauben«, sagte Lichtigkeit, während er Karteikarten bestarrte. »Vielleicht war sie eine Edelnutte?«

»Mit einem Freier in der Gegend?«, fragte Bock.

»Wir verbreiten ein Foto, den Messerschnitt am Hals retuschiert. Als Suchanzeige, und wenn wir nichts vom Mord sagen, wird sogar Goebbels freudig lächeln.«

»Und wenn sie eine Jüdin ist?«, fragte Bock.

»Das sieht man ihr nicht an«, erwiderte Lichtigkeit. »Fast blonde Haare, Gesicht und Körper, nein, Herr Kriminalassistent.« Er grinste. Immerhin hatte Bock sich schnell eingelebt bei der Kripo und sich die Tonart dort schon einverleibt. Er war kein Ersatz für Raben, aber ein guter Mann.

»Sie bewerben sich um eine Stellung als Rassenexperte?«, fragte Bock.

»Wenn Sie noch so eine intelligente Frage stellen … aber so weit sind wir noch nicht«, sagte Lichtigkeit. »Das kommt schon noch.«

Gennat steckte eine Gabel Schokoladentorte in den Mund. Er arbeitete tapfer an der Abrundung seines Leibs, der ihm den Ehrennamen Buddha eingetragen hatte. Die Steiner, seine Sekretärin, steckte ihren Kopf durch die Türöffnung. »Die Herren Lichtigkeit und Bock.«

Gennat winkte sie rein, schluckte den letzten Bissen hinunter. »Setzen Sie sich … Steinerchen, bitte Kaffee für uns. Ich lese in den Gesichtern der Kollegen, dass sie eine Auffrischung nötig haben.«

»Kann man so sagen«, erwiderte Lichtigkeit und setzte sich.

Bock nahm den anderen Stuhl, zog sich aus dem präparierten Totenkopf eine Zigarette und steckte sie an.

»Wir haben nichts, wir finden nichts in der Kartei. Wir sollten das Porträt des Opfers veröffentlichen.«

»Und die Befragungen?« Gennat wischte sich den Mund ab.

Steiner erschien mit einem Tablett, darauf Kaffeetassen, Milchkännchen und Zuckerdose. Sie setzte es auf die Tischkante und schob es in die Mitte. Es verdrängte Gennats Teller und einen Aktenstapel.

»Nichts. Die Kollegen haben an allen Türen geklopft, in einem Umkreis von zwei Kilometern. Niemand war draußen … das Wetter.«

»Warum war das Opfer draußen? Hatte die Frau einen Regenschirm oder Hut?«

Lichtigkeit und Bock blickten sich an. »Wir haben nichts gefunden, auch die Handtasche ist weg, wenn sie eine hatte. Die Leiche trug einen Sommermantel, die gesamte Kleidung war durchtränkt. Es hat nach dem Mord weiter geschüttet.«

»Wurde sie vergewaltigt?«

Lichtigkeit überlegte, hatte die Leiche vor Augen. »Doktor Schoene wird es uns bald verraten.«

»Ihre Meinung?«

»Sie war normal … bekleidet. Da war nichts weggezogen.«

»Sie wollen sagen, sie hatte ihren Schlüpfer noch an.«

»Bitte fragen Sie den Doktor. Meines Erachtens ja, aber ich habe ihr nicht unter …«

Die Steiner öffnete die Tür, legte eine Akte auf den Tisch. »Vom Doktor Schoene.« Und verschwand.

Gennat blätterte in der Akte. »Das war ein Sexualmord. Blaue Flecken an den Schultern, innen an den Oberschenkeln, Risse in der Vagina, Spermareste auf einem Oberschenkel. In der Vagina ist kein Sperma aufzufinden. Entweder Kondom oder die Säure des Scheidenschleims hat die Samentierchen schon vernichtet. Aber Doktor Schoene hat keinen Zweifel an einer Vergewaltigung. Sie haben in der Kartei danach gesucht?«

»Selbstverständlich, Herr Kriminaldirektor«, sagte Lichtigkeit. »Das gehört zur Routine.«

Gennat lächelte ihn an. »Nun sei’n Se mal nicht gleich beleidigt. Wenn Sie wüssten, was ich schon übersehen habe …«

Lichtigkeit blickte Gennat an. Der was vergessen, übersehen? Vorher kam der Kaiser zurück vom Holzhacken.

»Nun gucken Se nicht so«, sagte Gennat. »Der Täter hat die Frau in einem Haus, einer Wohnung vergewaltigt, sie wieder angezogen und gefesselt, sie am Bahndamm abgelegt und getötet. Sauberer Schnitt. Der macht das nicht zum ersten Mal. Vielleicht ist er Schlachter im Zentralviehhof? Dafür spräche auch der Ablageplatz. Da kennt er sich aus.«

»Wir haben nicht die geringste Spur. Wir setzen die Dame in die Zeitung, dann haben wir einen Rattenschwanz von Verehrern oder Nekrophilen, die was wittern«, sagte Lichtigkeit.

5.

»Da schauen Sie mal an«, sagte Hermann Wagner. »Kommt gerade von der Roten Burg.«

Lena betrachtete das Foto. »Fast überirdisch schön, könnte man glatt neidisch werden.«

Wagner las die Anlage. »Die wollen, dass wir das als Fahndungsfoto rausgeben …«

»Dabei ist die Frau längst tot«, sagte Lena. »Sehen Sie die Retuschespuren am Hals? Die haben es eilig.«

»Wo sehen Sie Retuschespuren?«

»Die hat eine Falte am Hals, vollkommen gleichmäßig rundherum, soweit ich sehe.«

»Ein Fältchen«, erwiderte Wagner. »Gute Augen, Sie haben recht. Die wollten die Spur eines Messers oder einer Garotte verbergen.«

»Den Einschnitt einer Garotte müsste man auch unterm Ohr sehen. Da ist aber nichts. Sauberer Kehlenschnitt, tippe ich«, sagte Lena.

»Nehmen Sie bei Ihrem Mann kriminaltechnischen Unterricht?«, fragte Wagner und lachte.

»Wenn ich das tu, wird’s noch schlimmer mit mir.«

»Gehen Sie ins Bildarchiv. Wenn der Zufall es will …«, sagte Wagner.

»Sie wollen mich bloß loswerden.«

»Genau! Los, Frau Kollegin!«

Lena lachte und traf im Archiv einen Kollegen, dessen Gesicht eine Wangennarbe verunstaltete.

»Alle glotzen hin«, sagte er schlecht gelaunt.

»Entschuldigung!«

»Das überlassen Sie mal dem Kaiser oder Ludendorff. War ein Franzmann, Scharfschütze. Einmal die Rübe aus dem Graben gesteckt …«

»Tut mir leid.«

»Nu hör’n Se auf!«

»Fällt Ihnen dazu was ein?« Sie legte das Fahndungsfoto auf den kleinen Tisch vor dem Mann.

»Ach, du lieber Himmel, während meiner Schicht hat die keiner hier reingeräumt. So ein Gesicht vergisst man nicht.«

»Umso besser. Vergessen Sie meines und suchen Sie ihres.«

»Worunter? Schönheit, Schauspielerin …«

»Sie wurde vergewaltigt und mit einem Messer getötet, Kehle säuberlich durchsäbelt.«

»So eine Scheiße.«

»Sie sagen es.«

Nach gut zwei Stunden klingelte das Telefon. »Hier das Archivmonster …«

»Sie dürfen auch Ihren Namen benutzen.«

»Kellner, Josef.«

»Und wenn’s noch ein schöner ist. Haben Sie was?«

»Nichts hab ich. Aber ich werde eine Kopie des Fotos für Sie anfertigen. Fürs Tageblatt.«

So viel zum Zusammenhang von Schönheit und Hilfsbereitschaft, dachte Lena. Bei einer Wasserleiche hätte er das nicht vorgeschlagen. »Vielen Dank.«

6.

»Ich möchte, dass Sie Ihre Suche ausdehnen«, sagte Heydrich. »Nicht mehr nur unseren Kommunistenfreund Kippenberger, der wohl abgehauen ist. Wenden Sie sich an den Kameraden Müller, der beschäftigt sich mit der Kommune. Die zappelt noch. Verteilt Flugblätter, versaut Hauswände mit Parolen, verbreitet Broschüren.«

Raben stand vor dem Schreibtisch und fing eine Druckschrift auf, die Heydrich ihm zuwarf. Auf dem Titel Der moderne Gärtner. Die Skizze eines Gärtners mit Spaten. Er schlug das Heftchen auf. Stürzt Hitler! Stoppt die Aufrüstung! Schützt die Sowjetunion! Auf knapp zwanzig Seiten wurden Beweise der Naziverbrechen aufgezählt. Sie haben den General Schleicher im Ruhestand ermordet, dazu seine Frau. Sie haben Gregor Strasser ermordet, einen Nazi der ersten Stunde, und viele andere. Die Nazibestie beißt sich in den eigenen Schwanz. Bald verschlingt sie jeden, der dem selbst ernannten Führer nicht zujubelt.

»Ein bisschen pathetisch«, sagte Raben.

»Dieser Mist wird im Ausland gedruckt und dann ins Reich geschmuggelt«, sagte Heydrich.

»Woher kommt das?«

»Wir haben es bei einem Genossen beschlagnahmt, nahe dem Stettiner Bahnhof. Es ähnelt Pamphleten, die wir an der tschechischen Grenze abgefangen haben. Wollen Sie nach Prag?«

»Gern, aber die von der Kommune kennen mich inzwischen. Die werden mir gerade verraten, wo sie das Zeug drucken.«

Heydrich nickte. »Hab ich mir schon gedacht.« Seine Finger trommelten auf dem Tisch. »Immerhin haben Sie Kippenberger laufen lassen.«

»Gruppenführer, ich bitte …«

»Ist ja gut. Aber wenn Sie das so drehen, dass Sie den gar nicht verhaften wollten, wird aus Ihnen ein Held der Kommune.«

Wenn du wüsstest, dachte Raben. Er lachte. »Darauf muss man erst mal kommen.« Er hatte sich im Griff, aber in seinem Hirn drehten sich die Zellen im Karussell, bis ihnen übel wurde.

»Gut«, sagte Heydrich. »Wenn das mit der Kommune nichts wird.« Er lächelte. »In Prag treibt sich auch Otto Strasser herum und zündelt, wo er kann. Er will seinen Bruder Gregor rächen und ist nicht wählerisch bei seinen Bündnispartnern. Er sammelt alles ein, was herrenlos herumläuft wie Straßenköter. Kommunistische Sekten eingeschlossen. Der wahre Nationalsozialismus soll es sein, Sozialismus in Großbuchstaben. Gregor war ein gefährlicher Feind, den wir beim Röhm-Putsch endlich erledigt haben. Jetzt bleibt uns die Strasser-Wanze … wenn Sie das Ungeziefer zerquetschen, wird Ihnen der Führer dankbar sein.« Heydrichs Daumen zerrieb Luft auf dem Schreibtisch. »Die haben einen Kurzwellenradiosender, eine Druckerei, die offenbar Tag und Nacht Dreck produziert. Lassen Sie sich vom Kameraden Müller ein Sortiment dieser Literatur zeigen. Man weiß nicht, ob man lachen oder kotzen soll.«

»Und wenn ich Strasser finde?«

»Dann richten Sie ihm herzliche Grüße vom Führer aus. Und, wie die Kommune so gern singt: Du hast das Wort, rede, Genosse Mauser.«

»Ich hoffe, Sie haben eine elegantere Waffe für mich.«

»Sie besuchen in Prag zuerst die deutsche Botschaft. Da können Sie auch Pfeil und Bogen kriegen.« Heydrich lachte. »Allein kommen Sie nicht an Strasser ran. Der wird bewacht wie die Kronjuwelen in London.«

»Vielleicht kommt man am besten allein rein?«, fragte Raben. »Weil er ja glaubt, dass ein Einzelner sich nicht trauen würde.«

Heydrich musterte ihn. »Sie sind schon ein komischer Vogel. Mit dieser Wortverdreherei hätten Sie bei der Kommune groß rauskommen können. Die nennen das Dialektik. Was heute stimmt, ist morgen falsch, und umgekehrt. Sie nehmen Eckes mit. Sie kennen den Sturmbannführer?«

Wenn man den Teufel ruft, kommt er. Er war in der Hinsicht zuverlässiger als der liebe Gott. Jedenfalls klopfte es, die Tür öffnete sich, und herein trat Walter Eckes. Raben nahm Haltung an.

»Lassen Sie das«, sagte Heydrich. »Wir setzen uns an den Besuchertisch.«

Die Sekretärin, die Heydrich allein wegen ihrer Tippkünste eingestellt hatte, erschien mit einem Tablett. Eckes’ Augen durchbohrten ihre Bluse und folgten ihren Bewegungen, bis sie ins Vorzimmer entschwebt war.

»Eckes wird Sie nach Prag begleiten; obwohl Sie einige Rangstufen unter ihm stehen, leiten Sie die Suche nach Strasser. Wenn aber etwas Außerordentliches Ihre Mission gefährdet, übernimmt er das Kommando. Verstanden?«

»Jawohl, Gruppenführer.«

»Strasser hat übrigens gerade ein wüstes Buch über den Röhm-Putsch fabriziert, Schaum, blanker Schaum. Der ist empört, dass wir seinen Bruder ausgeschaltet haben. Kann ich verstehen, und in seinem Buch zeigt er, dass wir recht hatten. Eine Verschwörung. Der Führer riecht den Verrat kilometerweit«, sagte Eckes. Er blickte Raben an. »Sie haben sich in stürmischer Zeit ausgezeichnet, Obersturmführer. Es soll Kameraden gegeben haben, die Ihnen das nie zugetraut hätten. Der Gruppenführer wusste es besser.«

»Wenn Sie Strasser erledigen, gibt’s Orden, Beförderung und die große Sause. Sie Spürhund, Sie«, sagte Heydrich und blickte Raben freundlich an.

»Strasser kennt die illegalen Druckereien«, sagte Eckes. »Wenn wir ihn ausquetschen, erschlagen wir vielleicht ein paar Fliegen mit einem Hieb. Wir könnten wenigstens den Parteigenossen in der Botschaft Tipps geben.«

»Übernehmen Sie sich nicht, Eckes«, sagte Heydrich.

»Jawohl, nicht übernehmen, Gruppenführer!«, sagte Eckes, der aufgesprungen war, um die Hacken zusammenzuschlagen.

»Raus!«

»Raus. Jawohl, Gruppenführer«, meldete Eckes in straffer Haltung.

Heydrich grinste. »Sie bleiben da, Raben.« Er erhob sich, blickte zum Fenster hinaus. »Wollen Sie uns verlassen?«

»Wie bitte?«

»Gennat hat uns darum gebeten, Sie zurück zur Kripo zu versetzen. Gennat kann man schwer was abschlagen. Außer seinem Kopf, wenn er …«

»Worum geht es, wenn ich fragen darf?«

Heydrich schob ihm das Berliner Tageblatt über den Tisch. »Lesen Sie den Artikel Ihrer Frau, betrachten Sie das Fahndungsfoto. Die Dame wird als vermisst gesucht, dabei ist das ein Leichenfoto. Da Goebbels die Verbrecher in die Verzweiflung gequatscht hat, ist die Kriminalität fast schon ausgerottet.« Er äffte Goebbels nach, seine Hand wackelte wild mit erhobenem Zeigefinger. »Ist nicht ganz falsch, jedenfalls geben Verbrecher keine Pressekonferenzen mehr.« Was hatten etwa die Sass-Brüder geprotzt mit ihrem zusammengeklauten Reichtum. »Die dänischen Kollegen haben sie verhaftet. Wenn sie ihre Strafe abgesessen haben, werden sie ausgeliefert. Dann werden sie die nationalsozialistische Justiz kennenlernen. Und Ihre Kollegen am Alex werden drauf anstoßen!«

Lena hatte eine Andeutung gemacht, kurz bevor er einschlief.

»Aphrodite im Regen. Alle Spuren weggespült?«, fragte Heydrich.

Raben nickte.

»Gennat sagt, das wäre ein Fall für Sie. Keine Spuren, nur das Foto und ein Kehlenschnitt. Sauber wie vom Schlachter. Der Zentralviehhof liegt nah.«

»Das interessiert mich. Sehr«, sagte Raben.

»Gut, Sie räumen in Prag auf, dann gehen Sie für eine Weile zurück zur Kripo.«

»Und Kippenberger?«

»Mit dem beschäftigt sich Müller. Wenn Kippenberger überhaupt noch im Reich ist.«

»Ich würde Frau Kippenberger gern noch mal besuchen. Sie hat den Keller hier besichtigt und seitdem mehr Angst als Stalinliebe. Wenn ich ihr sage, dass Müller sie vorlädt, dann vertraut sie sich vielleicht mir an. Ich bin der Gute.«

»Nein, überlassen Sie das Müller. Wenn Sie dem ins Handwerk pfuschen, erleben Sie, was man einen Höllenritt nennt.«

7.

Goebbels drohte den Juden. Er hob die Stimme. Sie sollten das Reich verlassen, solange es noch ging. Raben hatte Thea Kippenberger gebeten, das Radio einzuschalten. Die Stimme des Propagandaministers ging ihm auf die Nerven. Dieses Hochfahrende, Überhebliche, diese Drohungen. Er flüsterte ihr ins Ohr. »Heydrich hat den Fall Kippenberger an Müller übertragen. Sie müssen fliehen. Erinnern Sie sich an den Keller in der Prinz-Albrecht-Straße 8?«

»Den werde ich nie vergessen.« Raben ebenso wenig. Die Halbtoten in den Zellen, mit gebrochenen Gliedern, ohne Fingernägel, mit blutig zerschlagenen Gesichtern. Den Mann, der an einer Stange hing und an dessen Hoden Elektrodrähte geklebt waren. Immer wenn die Bequemlichkeit ihn umschlich und lockte, doch mitzumachen, um die Angstattacken in der Nacht zu verjagen. Immer wenn die Bequemlichkeit ihn zur Feigheit drängte, rief er sich die Bilder in Erinnerung, und der Zweifel verschwand. Wenn er anständig bleiben wollte, musste er den Heydrichs und Müllers Steine in den Weg legen. Bis sie ihn erwischten und umbrachten.

»Wenn Sie und Ihr geschiedener Mann nicht verschwinden, landen Sie dort. Müller lässt Sie verhaften und quält Sie, bis Sie ihm alles verraten.«

Sie schwieg lange. Dann zog sie ihn in den Flur und umarmte ihn. »Ich hoffe, er folgt Ihrem Rat. Das hängt aber auch von der Parteiführung in Moskau ab. Ich habe nichts zu sagen.«

»Es muss für Sie ja nicht Moskau sein. Holland, Belgien, Frankreich, die Tschechoslowakei, Österreich. Es gibt Schiffe, die von dort nach Russland fahren.«

Sie blickte ihn lange an, nahm sein Gesicht in ihre Hände. »Sie werden mich … uns nie verstehen. Aber Sie sind ein guter Mensch. Davon gibt es nicht mehr viele. Ich danke Ihnen.« Sie küsste ihn zart auf den Mund. »Kommen Sie nie wieder. Versprochen?«

»Wenn Sie noch heute Nacht verschwinden. Mindestens in eine Wohnung, welche die Gestapo nicht kennt.«

Er ging die Straße hinunter. Die Sonne schien heiß, Hitzeschwaden schwebten auf dem Asphalt. Autos dröhnten, Lastwagen brummten, Busse rumpelten, Radfahrer schnauften, Motorräder knatterten. Das Leben tanzte auf seinem Grab.

Raben winkte eine Kraftdroschke heran und ließ sich zum Mossehaus bringen. Er wartete in der Eingangshalle. Als Lena endlich erschien, nahm er sie an der Hand und führte sie hinaus. Sie ließen sich im Menschenstrom treiben, bis sie eine Sitzbank fanden.

»Was gibt’s, Kalle?«

»Sie schicken mich nach Prag. Zusammen mit Eckes, du kennst ihn.«

»Den Schleimscheißer.«

»Genau den. Das Ohr seines Meisters. Der Typ ist gefährlich. Wir sollen Otto Strasser umbringen. Und wenn uns noch dieser oder jener auffällt … Meinen Chefs gehen die Druckereien und Strassers Radiosender auf die Nerven und die Hunderte von Heftchen, die ins Reich geschmuggelt werden«, sagte Raben.

»Haben die also immer noch Schiss. Die haben doch fast jeden umgebracht, der sie nicht innigst liebte. Der Rest sitzt in Konzentrationslagern. Das Modell Dachau, überall gern kopiert«, erwiderte Lena.

»Diktatoren haben alle Machtmittel und immer Angst. Sie wissen, dass ihre Feinde nicht mit ihnen verhandeln, sondern sie am liebsten abknallen würden. Und wenn es Verräter ganz oben gibt? Sagen wir, Göring kriegt ’nen Anfall und erledigt den Führer, um ihn zu beerben. Natürlich findet er jemanden, dem er den Mord anhängen kann«, sagte Raben.

»Angst vor Otto Strasser, lächerlich. Er hat gerade ein Buch über den Röhm-Putsch geschrieben, um seinen Bruder Gregor zu rächen. Das Buch hat mir der Parteigenosse Zufall ins Büro geworfen. Es besteht aus Wutschaum. Strasser weiß nicht viel. Seine Verbindungen in die NSDAP dürften gekappt sein. Gregors Anhänger sind abgetaucht, fürchten um ihr Leben. Jeder hat verstanden, dass Hitler keine Grenzen kennt. Und du willst den kleinen Bruder umbringen?«

»Nein, ich werde ihn warnen.«

»Ich glaube, der kriegt jeden Tag, den der Führer vergehen lässt, zwanzig Warnungen. Es hat bestimmt schon Versuche gegeben, ihn zu beseitigen. In der Tschechoslowakei gibt es genug sudetendeutsche Nazis, die so schnell wie möglich heim ins Reich wollen.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Um Himmels willen! … Was willst du mit Eckes anstellen …?«, fragte Lena.

»Weiß ich nicht. Solange der mir an den Hacken klebt, darf ich Strasser nicht finden. Vom Fall Kippenberger haben sie mich abgezogen. Wenn ich aus Prag zurückkomme und Eckes mich nicht umgebracht hat, darf ich mich laut Heydrich bei der Kripo nützlich machen. Der Fall Aphrodite, wie er bei uns heißt. Die würden sich wundern, wenn ich keine Verhaftungen … dann geht’s … ich weiß nicht wohin. Sie schmeißen mich raus als Versager, oder sie stecken mich in den Keller als Verräter. Verräter lieben sie besonders, glaub’s mir.«

»O Gott, Kalle!« Sie drückte seine Hand. »Jetzt sei mal nicht so unglücksrabig.«

»Und Ehrig oder der M18-Mann sind Lichtjahre entfernt.«

»Vielleicht beendest du deinen Rachefeldzug?«

»Du weißt, dass das nicht geht. Die sind zu siebt in den Goldenen Anker eingedrungen und haben den KPD-Funktionär Kurt Esser zu Klump geschossen. Fehrkamp habe ich gekriegt, es fehlen sechs, darunter Ehrig und dieser Typ, der zu Hitlers Begleitkommando gehört und diesen Helm vom Typ M18 trägt … wenigstens damals. Du erinnerst dich an Franz Puth, den Wirt des Goldenen Ankers in der Sellerstraße?«

»Hältst du mich für vertrottelt?«

»Was sonst?«

Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen.

»Au!«

»Solche Jammerlappen arbeiten für das Reich! So wird das nichts mit der Weltherrschaft.«

»Ob du wegen Ehrig und dem Typ, der bei der HJ-Veranstaltung in Potsdam den M18-Helm trug, noch mal euer Archiv durchforsten könntest? Ich erwarte ein vollständiges Dossier von beiden, Adressen, dazu die bestmögliche Todesart und -zeit.«

»Sehr lustig! Es reicht, wenn einer sich die Rübe abschlagen lässt.«

»Ich finde, das mit Fehrkamp hab ich hingekriegt. Sogar Göring soll mich gepriesen haben.«

»Na und? Morgen bringt der dich um.«

»Wenn einen die Nummer zwo, Hitlers Erbe, erwähnt, befördert dich das auf die vorletzte Stufe vorm Eingang ins braune Paradies, wo schöne Blondinen mit Thorak-Figur frohlocken. Des Führers Bildhauer hatte gewiss auch göttliche Aufträge, zumal der Allmächtige sich längst das Hakenkreuz-Bonbon angesteckt hat und mit Hitler bei einer Gemüsesuppe die Vorsehung erörtert.«

»Du hast vielleicht eine perverse Fantasie.«

»Was ist an Engeln pervers?«

»Alles, jedenfalls wenn du das träumst.«

»Meine Hauptsorge sind aber nicht die Engel, sondern der Teufel, diesmal in Gestalt von Eckes. Das ist fast so, als würde mich Heydrich begleiten. Eckes lässt sich nicht so leicht in die Irre führen. Außerdem hat er noch ein Hühnchen mit mir zu rupfen. Ich hab ihn zu oft abgehängt, als er mich beschatten sollte. Heydrich hat das nicht amüsiert.«

»Hast du keinen Vorwand? Plötzliche Erkrankung …«

»Das glauben die mir nicht. Ich kann mir schwer vorstellen, dass Heydrich nicht schon einen Verdacht gegen mich hegt. Der ist schlau. Wenn ich Otto Strasser ermorde, ist für eine Weile alles gut.«

»Aber du willst das doch nicht.«

8.

Das Präsidium am Alex wurde überschüttet mit Briefen und Anrufen. Alle hatten die Frau gesehen. Fragten Lichtigkeit oder Bock nach, wo, unter welchen Umständen, wann, dann wurden die Wichtigtuer spröde.

»Es ist jedes Mal so, aber bei Aphrodite brechen die alle Rekorde. Wir übergeben die Telefoniererei Madame Steinkopf alias Köpfchen und fahren noch mal zum Tatort. Vielleicht überfällt uns dort die Weisheit. Also, ich spreche nicht von Ihnen.«

Bock grinste. »Danke, Chef. Wer ist dann uns?«

»Pluralis Majestatis.«

»Was bitte?«

»Sag ich doch«, erwiderte Lichtigkeit.

Die Frühherbstsonne heizte die Stadt. Es war schnell trocken geworden, eine Brise trieb Staubkörner vor sich her. Der Regen hatte die Blutflecken weggewaschen.

»Blutgruppe B«, sagte Bock. »Und keine weitere. Der Täter hat sich nicht verletzt oder sich rechtzeitig die Wunde verbunden.«

»Ich glaube, sie kannte ihren Mörder, was es dem umso leichter machte. Er kam von hinten, hielt sie fest und schnitt von links nach rechts. Unser Täter ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Rechtshänder und männlich. Das zeigt die Vergewaltigung.«

»Und wenn die Frau auf hartem Sex bestand?«

»Ja, wenn der Kaiser wieder da wär.«

»Könnte doch sein«, quengelte Bock.

»Der Täter hat sie irgendwo erstochen, sie dann gut verpackt und hergebracht. Gewiss nicht mit einem Fahrrad …«

»Lastenrad?«, fragte Bock.

»Stimmt, das wäre möglich. Trotzdem vermute ich ein Automobil oder einen Lastwagen. Lastenrad scheint mir riskant. Sie packen einen Körper in den Korb oder Anhänger … Ich würde mich das nicht trauen. Stellen Sie sich vor, jemand sieht den, und der Täter muss verduften. Da legt sich im nächsten Straßenloch ein Arm frei, ein Bein.«

»Sie würden ja auch kein Verbrechen begehen.«

»Schleimen Sie nicht rum, sonst begehe ich mein erstes Kapitalverbrechen.«

Bock grinste: »Entschuldigung.« Er verstand Lichtigkeit in letzter Zeit immer schlechter. Der Kommissar war auf Distanz gegangen. Kaum eine Schote mehr. Und wenn eine, dann bitter. Gennat hatte sich nicht geändert, aber Lichtigkeit wurde sarkastisch, zynisch. Weil Raben zur Gestapo versetzt worden war? Mit dem war er dicke gewesen, wie sie bei der Kripo erzählten. Und der hatte es gleich zum Kommissar gebracht, worauf andere Jahrzehnte warten mussten und dann doch als Kriminalassistenten in den Ruhestand gingen. Aber seit die Nazis an der Macht waren, purzelten Kollegen die Karrieretreppe hoch, dass es fast schon halsbrecherisch war. Preußen gab Geld aus, als würde das Land es selbst drucken.

Nur Bock hatten sie übersehen, obwohl Lichtigkeit ihm versprochen hatte, der Nächste zu sein, der befördert würde. Aber das hatte er Wendig auch schon zugesagt.

Bock stocherte mit einem Zweig in den Steinen des Bahndamms. »Da!«, rief er.

Lichtigkeit bückte sich neben ihm. »Da glitzert was.«

Vorsichtig räumte Bock Steine zur Seite, bis Lichtigkeit sie herauszog, die Damenkette. Gold mit Steinen. Der Verschluss war offen.

»Vielleicht hat uns der Täter auf diese Weise erklärt, dass Geld ihm egal ist«, sagte Lichtigkeit.

Bock tippte sich an die Stirn. »Er hat die Kette fein säuberlich geöffnet und weggeworfen. Ein Raubmord ist das nicht.«

»Oder er hat sie genommen und fallen lassen, weil er sich gestört fühlte. Sie ist nachts zwischen die Steine gerutscht, und er hatte keine Zeit, sie zu suchen.«

»Und er ist nicht wiedergekommen, weil er Angst vor uns hatte«, sagte Bock.

»Oder die Kette hat nichts mit unserem Fall zu tun und gehört aufs Zentralfundbureau. Erkundigen Sie sich da, ob jemand so eine Kette vermisst.«

9.

Kurz nach acht erschien Eckes im Wartesaal des Anhalter Bahnhofs, als wollte er unterstreichen, dass er es nicht nötig habe, pünktlich zu sein. Bei aller Wertschätzung Heydrichs, aber Raben die Leitung des Unternehmens zu übergeben fand er erniedrigend. Doch so war der Gruppenführer. Er hatte die Macht, er spielte mit ihr. Und aus irgendeinem Grund betrachtete er Raben als Wundervogel im eigenen Zoo.

»Heydrich hat dir die Leitung übertragen, um dich in Sicherheit zu wiegen«, hatte Lena gesagt. »Sogar wenn es nicht so sein sollte, pass auf dich auf, lass dich nicht einlullen.«

Eckes trug einen mausgrauen Anzug, einen schwarzen Hut und einen roten Schlips, dazu einen Lederkoffer. Er setzte sich neben Raben.

»Guten Morgen«, sagte der.

»Morgen«, erwiderte Eckes, als würde er Rabens Todestag nennen. »Pompös hier.« Blickte hoch zu den Kronleuchtern, unter denen Sitze und Bänke ausgerichtet waren wie in einem Speisesaal. Er sah sich um. »Der Kaiser hatte oben einen eigenen Wartesaal. Hoffentlich überlassen sie den dem Führer.« Eckes lachte. »Oder Himmler.«

Sie saßen fast in der Mitte des Saals, an anderen Tischen unterhielten sich Leute. Einige lasen Zeitungen, einer das Berliner Tageblatt. »Ich hol mir eine Zeitung«, sagte Raben. »Soll ich Ihnen eine mitbringen?«

Eckes zog lächelnd den Völkischen Beobachter aus der Aktentasche.

Raben kaufte am Zeitungsstand das Tageblatt, blätterte vor der Auslage darin und fand einen Artikel von Lena. Wer kennt diese Frau? Den Artikel säumte ein Foto, die Frau sah atemberaubend aus. Er bezahlte und ging zurück zu seinem Stuhl am Tisch. Eckes linste. »Ah, Ihre Frau arbeitet ja bei denen. Sie hat Heydrich schwer beeindruckt. Der Gruppenführer ist ja kein Kostverächter.«

Raben hörte die Drohung. Schlug die Zeitung auf und schob Eckes Lenas Artikel zu. Der bestarrte das Foto. »In der Tat … noch im Tod.« Als er den Artikel gelesen hatte: »Ja, ich versteh aber nicht, was die Frau am Zentralviehhof suchte.«

»Den Tod?«, fragte Raben, um sich dumm zu stellen. Lena hatte den Artikel mit keinem Wort erwähnt. Überhaupt erzählten sie sich weniger als früher von der Arbeit. Ob sie sich so schämte wie er?

»Sehen Sie nicht die Retuschemarke überm Hals? Sieht ein Blinder. So ein Schlamper von Fotograf. Bestimmt ein Jude. Hat sich einen runtergeholt und …«

Im Zug erinnerte Raben sich seiner letzten Zugfahrt, die ihn nach Wien führen sollte, aber in München unterbrochen wurde, nachdem ein Mörder auf ihn losgegangen war. Diesmal aber fuhr er nicht in der Holzklasse, sondern auf einem gepolsterten Sitz. Eckes saß ihm gegenüber am Fenster. An der Gangseite saß eine junge Frau. Sie holte Stricknadeln und Garn aus einer Einkaufstasche. Es begann zu klappern, bald im Takt des Zugs.

»Wer bringt so jemanden um?«, fragte Eckes mehr sich selbst.

Die Frau blickte ihn erschreckt an. Raben zeigte ihr das Foto in der Zeitung.

»Um Himmels willen!« Legte die Hand vor den Mund. »Aber die … Dame wird doch nur gesucht.«

»Die ist in Wahrheit tot, wir sind Polizisten und kennen uns mit so was aus«, sagte Eckes.

Die Frau nickte, strickte ein paar Maschen, hielt ein und schüttelte den Kopf. »Sie werden den Mörder doch bestimmt fassen?«

»Ja, seit der Führer für Ordnung sorgt, ist es mit dem Verbrechen bald vorbei«, sagte Eckes. »Die Politiker in der Systemzeit wollten nicht verstehen, dass Kriminalität eine biologische Frage ist. Sie ist bestimmten Menschen angeboren, besonders den Juden. Wenn wir die Verbrecher wegsperren, gibt’s nur noch Streiche von Lausejungen.« Er lachte. »Waren wir alle mal.«

Die Frau lächelte. »Ich verstehe davon nichts und vertraue ganz dem Führer und seiner Polizei.«

»Sie haben vollkommen recht, meine Dame«, sagte Eckes, »nicht wahr, Herr Kriminalkommissar?«

»Natürlich«, sagte Raben.

»Da bin ich doch beruhigt und wünsche Ihnen viel Erfolg.«

10.

Dann stand die Leiche in der Tür. Lichtigkeit holte sich gerade einen Kaffee bei Köpfchen, als die sterblichen Überreste aus der Gerichtsmedizin eintraten, nachdem sie geklopft hatten.

»Bin ich hier bei der Mordkommission?«

Lichtigkeit fiel die Tasse aus der Hand. Köpfchen schlug die Hand vor den Mund, und doch entfuhr ihr ein Entsetzensschrei.

Bock eilte herbei und verfiel der Starre wie Lots Frau auf der Flucht aus Sodom. Nur war das Polizeipräsidium, die Rote Burg am Alex, erst seit Kurzem ein Hort der Sünde, weshalb Bock sich dabei ertappte, wie er den Daumen in den Mund steckte und herauszog, rot anlief und tatsächlich zwei Worte herausbrachte. »Guten Morgen.«

Lichtigkeit bückte sich nach den Tassenscherben, als Köpfchen endlich die Sprache wiederfand, die sie nie vorher verloren hatte. Unfreundliche Kollegen sagten ihr nach, dass man bei ihrer Beerdigung das Mundwerk extra totschlagen müsse.

»Ich komme wegen des Fotos in der Zeitung«, sagte die Leiche.

11.

Raben las einen Fallada-Roman, den Lena ihm mitgegeben hatte. Ein Mann will nach oben. Lena hatte ihn gepriesen in ihrer Rezension. Mit Buchbesprechungen hatte sie sich etwas verdient, bis Heydrich ihr und ihrer Mutter Elisabeth einen Ariernachweis besorgt hatte, der so falsch war wie Hitlers Friedensliebe, die zu äußern er nicht müde wurde. Eckes vertiefte sich in den VB, die Frau in der Ecke klapperte mit dem Zug um die Wette. Dann hatte sie den Gleichklang offenbar satt und arbeitete sich einen Klappervorsprung heraus. Die Querung der tschechischen Grenze ging flott, nachdem an der deutschen die Unterwürfigkeit der Grenzbeamten deren Dienstpflicht erblassen ließ. Die tschechoslowakischen Beamten warfen nur einen Blick auf die Reisepässe und grüßten freundlich. Der Zug ruckelte und fuhr los.

»Sie fahren bis Prag?«, fragte Eckes die Dame.

»Ja, Herr Kriminalkommissar. Arbeiten Sie für die Gestapo? Es geht mich ja nichts an, aber vielleicht tun Sie nicht so geheim, wie der Name Ihrer Behörde behauptet?«

Eckes lachte. »Die Gestapo sorgt für die Sicherheit unserer Bürger. Auch für Ihre. Die Polizei der Systemzeit war gehemmt durch unzählige Vorschriften. Dieser sogenannte Rechtsstaat schützte Gauner und Mörder. Wie viele Volksschädlinge machten Berlin unsicher, aber wenn man sie vor Gericht stellte, wurden sie freigesprochen. Wir stecken sie in Schutzhaft, in Konzentrationslager. Es gehen Gerüchte über die KL um, aber ich kann Ihnen versichern, wer dort entlassen wird, kommt auf keine krummen Ideen mehr. Wir erziehen die Verbrecher, trennen die Leute, die sich haben gehen lassen, von denen, die ihren Lebensunterhalt durch Raub, Einbruch und Mord verdienen. Bald können Sie in finstersten Gegenden wie am Schlesischen Bahnhof bummeln, ohne auch nur schräg angeblickt zu werden.«

»Das ist ja großartig«, sagte die Frau. »Ob ich mir Ihr Dienstgebäude mal anschauen darf … am Alexanderplatz?«

»Nein, nicht mehr, wir arbeiten in der Prinz-Albrecht-Straße 8, der ehemaligen Kunstgewerbeschule.«

»Ach, dort«, sagte sie. »Ob Sie mir vielleicht Ihre Visitenkarte geben könnten?«

»Aber gern doch.« Das Hakenkreuz wechselte den Besitzer.

Raben legte das Buch auf den Nebensitz und hielt sich das Berliner Tageblatt vor die Augen. Er ahnte, was jetzt kam.

»Vielleicht darf ich eine Fotoaufnahme von Ihnen machen.« Sie zog eine Leica aus der Handtasche. »Ich fotografiere für mein Leben gern. Vor allem Menschen.«

»Aber gern doch.« Eckes wendete seinen Hintern, als wollte er auf seinem Sitz einparken, zog den Bauch ein, beugte sich zur Dame vor und setzte ein Lächeln auf.

»Wunderbar, was sind Sie fotogen!« Es klickte, sie spannte den Verschluss und zog den Film weiter vor. Noch ein Klick.

»Ihr Kollege, vielleicht …«

»Ich möchte bitte nicht geknipst werden«, sagte Raben.

»Schade.«

»Sobald jemand eine Kamera auf mich richtet, versteife ich und ziehe Grimmassen. Mir ist es peinlich.«

»Dabei sind Sie ein so gut aussehender junger Mann.«

12.

»Die Frau auf dem Lichtbild in der Zeitung ist meine Schwester. Wir sind Zwillinge. Das erklärt vielleicht manches.«

Lichtigkeit schnaufte durch. »Setzen Sie sich … bitte. Kaffee?«

»Gern.«

Lichtigkeit betrachtete seinen Gast. Die Ähnlichkeit war unglaublich. Noch unglaublicher erschien ihm, dass die Frau ruhig war. Keine Sorge, keine Fragen. Stattdessen legte sie ihren Mantel über die Stuhllehne, strich den Rock glatt und setzte sich.

»Sie wissen, dass Ihre Schwester ermordet wurde?«

»Das sieht man dem Fahndungsfoto an. Das Gesicht ist tot. Das fällt einem auf, wenn man sich gut kennt. Und Ihr Retuscheur hat, Entschuldigung, bestimmt schon bessere Arbeit abgeliefert.«

»Sie leben in Berlin?«

»Ich wohne in Berlin, lebe aber überall.«

»Adresse?«

»Drakestraße 69, Lichterfelde. Ich habe die Schüsse noch im Ohr, schrecklich. In der ehemaligen Kadettenstraße, Sie erinnern sich, wo viele Männer der SA und andere erschossen wurden, als Röhm geputscht hat. Dieser Abschaum.« Sie zog eine Zigarettenspitze aus ihrer Handtasche, steckte eine Zigarette ins Mundstück und blickte sich um. Bock gab ihr Feuer.

Lichtigkeit begann zu kochen. Dieses Geschwätz. Ich wohne in Berlin, lebe aber überall. Herrje.

»Ich bin die Ehefrau des Generals von Bose, Edeltraut«, sagte sie.

Auch das noch, fluchte Lichtigkeit innerlich.

»Wie heißt Ihre Schwester?«

»Karoline Böhme, das ist ihr Mädchenname. In ihrem Gewerbe heiratet man besser nicht.«

»Was für ein Gewerbe?«, fragte Lichtigkeit.

»Na, was wohl?« Sie reckte das Kinn dem Kommissar entgegen. »Sagen wir Edelprostituierte. Nutte für feine Herren. Sie war reich, Schönheit zahlt sich aus.«

»Wo hat sie gewohnt?«

»Im Grunewald, Dachsberg 12, feine Ecke.«

Es war eine alte Villa mit vier Mietparteien. Die Besitzerin des vom Efeu umschlungenen Hauses öffnete nach dem ersten Klingeln.

Sie kriegte wohl was ab, wenn sie die Freier die Treppe hinaufführte.

Sie hatte weiße Haare, einen Dutt und trug eine Brille. Und schlug die Hand vor den Mund, als sie die Schwester des Opfers sah. »Sie?«

»Sie heißen?«, fragte Lichtigkeit, zeigte die Polizeimarke.

»Hermine Erdling.«

Bock schrieb’s auf.

»Sie sind Besitzerin dieses Hauses?«

»Ja, Herr Kommissar.«

»Ich könnte Sie wegen Kuppelei verhaften.« Er ließ es wirken.

»Aber …«, sagte sie.

Lichtigkeit tat so, als hätte er es nicht gehört. »Sie beherbergen eine Frau Karoline Böhme.« Keine Frage, eine Feststellung.

Erdling nickte. »Ich hab’s in der Zeitung … Sie wohnt im zweiten Stock.«

»Haben Sie einen Schlüssel zur Wohnung?«, fragte Lichtigkeit.

»Ja, natürlich.«

»Dann führen Sie uns hoch.«

Erdling zog sich mehr am Geländer hoch, als zu steigen. Oben schnaufte sie wie ein Brauereigaul.

Böhme, eingraviert auf einer Silberplatte.

Erdling öffnete die Wohnungstür und betrat den Flur. Parfümgeruch, süßlich, schwer. Im Flur eine Garderobe, an der ein Mantel und zwei Jacken hingen. An der Wand ein Telefon. Das Wohnzimmer war bescheiden. Sitzecke, Berlin-Stiche. Ein kleines Bücherregal mit Liebesschmonzetten.

Das Schlafzimmer dagegen war eine Pracht, jedenfalls für Freier. Bilder von mehr oder weniger entkleideten Schönheiten. Die Tapete rosafarben, die Decke verspiegelt. Eine Bar an der Wand und ein Grammofon. Übertrumpft wurde alles durch ein riesiges Bett mit rosafarbener Wäsche, das auf einem rosafarbenen Plüschteppich stand.

Die Bose stand in der Tür und glotzte, dass ihr die Augen aus den Höhlen fielen. Doch der Sehnerv verhinderte, dass sie als Bällchen auf dem Teppich kullerten, um sich dort zu verfranzen. Sie schloss die Lider, wie Kinder sich die Hände vor die Augen hielten und unsichtbar zu sein glaubten. Aber als sie ihre Augen öffnete, war alles noch schlimmer. Sie begriff, was das Schlafzimmer erzählte.

Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen der beiden Sessel.

Lichtigkeit nahm den anderen Sessel. »Sie waren noch nie hier?«

»Nein, nie. Wenn meine Mutter das erfahren hätte, um Gottes willen. Da bin ich nachträglich fast froh, dass sie verstorben ist.« Sie weinte, zog ein Tuch aus der Handtasche und tupfte sich die Tränen weg.

»Wann haben Sie Ihre Schwester das letzte Mal gesehen?«

Sie legte ihre Arme auf die Lehnen. »Vielleicht vor einem Jahr, eher länger.«

»Ihr Kontakt war offenbar nicht sehr eng«, sagte Lichtigkeit.

»Man behauptet ja, dass Zwillinge sich besonders gut verstünden, aber …« Sie putzte sich die Nase, griff in die Handtasche, um den Schaden wegzupudern. »Wir hatten was zu besprechen wegen unserer Erbschaft. Meine Mutter …«

»Mein Beileid«, sagte Lichtigkeit.

»Meines auch«, sagte Bock.

»Danke. Aber so ist der Lauf des Lebens.«

»Haben Sie sich einigen können?«, fragte Lichtigkeit.

»Ist jetzt nicht mehr nötig.«

»Kennen Sie das Testament Ihrer Schwester?«

»Ich bezweifle, dass sie eines hat.«

»Warum?«

»Sie kennen doch die Leute, die in den Tag hineinleben, als gäbe es kein Morgen.«

Lichtigkeit nickte. »Natürlich«, sagte er, um was zu sagen. »Wir nehmen in solchen Fällen die Fingerabdrücke aller Beteiligten. Ich bin sicher, Sie haben nichts dagegen, mit uns zurück aufs Präsidium zu kommen.«

Als wäre es ein Signal gewesen, erschien Körber vom Erkennungsdienst.

»Sie werden in dieser Wohnung ein paar Dutzend unterschiedliche Fingerabdrücke finden. Die Eigentümerin hatte viele … Freunde.«

Körber grinste.

»Ich darf Sie einen Augenblick mit meinem Assistenten allein lassen? Wenn Ihnen noch etwas einfällt, wird er es notieren.« Er erhob sich und führte Körber in die Küche. Er blickte sich um und sagte: »Vergleichen Sie die Fingerabdrücke der Dame mit denen, die Sie hier finden. Das hat Vorrang.«

»Sie glauben …?«

»Ich glaube nichts, ich will es wissen.«

13.

Er hatte ein seltsames Gefühl im Bauch, als er die Toilette aufsuchte. Bei seiner letzten Fahrt Richtung Wien war er überfallen worden. Von einem Mann, der sich im Abteil noch freundlich gezeigt hatte angesichts einer geifernden Nazisse. Raben verdankte sein Leben einer Reaktion, die eines Tischtennisspielers würdig war. Diesmal geschah nichts.

Eckes plauderte mit der Frau. Offenbar hatte sie sich ihm vorgestellt.

»Aber Fräulein Klein, Sie dürfen nicht glauben, was in ausländischen Zeitungen steht. Die sind neidisch auf Deutschland. Kann man ja verstehen.«

»Aber es wird doch nicht alles gelogen sein«, erwiderte sie. »Also, in Wien hört man Sachen …«

»Ich will gar nicht abstreiten, dass es wie bei jeder Revolution … Dinge gibt … Aber die Deutschen unterstützen den Führer, fast neunzig Prozent bei der Volksabstimmung im August.«

»Volksabstimmungen in Diktaturen gehen immer so aus, wie der Diktator es will«, erwiderte sie.

Eckes starrte sie an. »Sie wollen doch nicht etwa …«

»Doch, doch«, sagte sie. »Hier, in der Tschechoslowakei, dürfen wir alles sagen, was wir wollen. Hier gibt es keine Gestapo, keine Folter, keine KZs.« Sie blickte Raben an.

»Vermutlich haben Sie recht«, sagte der.

Eckes Kopf ruckte, aber er schwieg. Er würde Raben bei Heydrich verpetzen.

Es fiel kein Wort mehr, außer bei der Fahrkartenkontrolle. Dann rollte der Zug in den Wilson-Bahnhof ein, der Name ein Dankeschön an den ehemaligen US-Präsidenten, dem die Tschechoslowakische Republik ihre Existenz verdankte. In der Haupthalle standen sie und staunten über die verspielte Pracht des habsburgischen Erbes. Rabens Augen suchten die Frau aus dem Zug. Sie schien verschwunden zu sein, dann aber entdeckte er sie am Haupteingang, begleitet von einem älteren Mann, der sich nach ihnen umdrehte. Sein Blick traf den von Raben. Gleich guckte der Mann weg und sagte der Frau etwas ins Ohr.

»Sie hätten sich nicht fotografieren lassen dürfen«, sagte Raben.

»Das müssen gerade Sie sagen, der mir in den Rücken gefallen ist.«

»Sie irren sich. Ich habe nur bestätigt, was jeder weiß. In der Tschechoslowakei gibt es keine Folter und kein KZ.«

»Aber die Übergriffe auf die Sudetendeutschen, die Missachtung von Minderheitenrechten.«

»Das ist natürlich übel«, sagte Raben. Er redete sich heraus, diese Diskussion führte ohne Umweg in Teufels Küche.

Die Kraftdroschken warteten, sie bestiegen einen blitzblanken Škoda Superb. Der Chauffeur war so fein wie sein Auto. Er riss die hinteren Türen auf, polierte mit dem Ärmel einen Fingerabdruck weg, den Raben hinterlassen hatte. »Das ist das neueste Modell, gerade herausgekommen.«

In der Tat roch der Wagen nach Leder und Reinigungsmittel. Der Fahrer brachte sie zum Hotel Ametyst, links der Moldau, am Rand der Innenstadt. Sie nahmen zwei Zimmer im Flur gegenüber, im zweiten Stock.

Beim Abendessen sagte Raben: »Sturmbannführer, Sie sind verbrannt, die Polizei hat Ihr Foto, der Geheimdienst sowieso. Wenn wir zusammen Strasser ausschalten, verdanke ich Ihnen Festnahme und Verurteilung. Also geh ich morgen früh allein los.«

14.

Edeltraut Bose ließ sich wortlos die Fingerabdrücke abnehmen und folgte Körber in Lichtigkeits Büro. »Sie sollen zum Chef kommen … mit der Dame«, sagte Köpfchen.

Gennat empfing sie ohne Kuchen und bat die Steiner um Kaffee. Mit den Armen drückte er seinen Körper auf dem Sofa hoch und ächzte leise. »Sie sind also Frau von Bose, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Mein Beileid. Setzen Sie sich bitte.« Gab ihr die Hand und plumpste zurück aufs Sofa.

»Danke, Herr Kommissar.«

»Kriminaldirektor«, sagte Lichtigkeit.

Aber Gennat winkte ab. »Ich bin Herr Gennat. Ich leite die Mordinspektion. Nichts Bedeutendes, zumal im Vergleich mit Ihrem Mann.«

Sie saß und nickte.

»Das muss ein schwerer Schlag für Sie sein. Sie halten sich fabelhaft.«

»Danke, Herr … Gennat. Ich hoffe, wir können diese … Sache aus der Öffentlichkeit heraushalten, schon um meinem Mann das Getratsche zu ersparen. Jetzt, wo das Militär dank des Führers wieder seine angestammte Rolle im Staat spielt.«

»Wir tun unser Bestes. Haben Sie Herrn Wagner oder Frau Raben in der Nähe des Tatorts erblickt? Oder sonst jemanden von der Zunft?«, fragte er Lichtigkeit.

Der Kommissar schüttelte den Kopf.

»Für meine Mitarbeiter lege ich meine Hand ins Feuer«, sagte Gennat.

»Da bin ich erleichtert. Ich kann jetzt gehen?«

»Selbstverständlich. Danke für Ihre Hilfe.«

Sie nahm ihren Mantel und verließ das Büro.

Gennat hob die Brauen.

15.

Eckes tauchte nicht zum Frühstück auf. Raben frühstückte gemütlich und überlegte, wie er Strasser am besten überraschen konnte. Am Empfang fragte er, wo er die Deutsche Revolution kaufen konnte, eine Zeitung von Strassers Schwarzer Front. Der Empfangschef musterte ihn. »Sie wissen, dass die Gestapo Anschläge auf Herrn Doktor Strasser verübt hat?«, sagte er mit österreichischem Einschlag. Groß und breit blickte er Raben an, als wollte er ihn als Vorspeise verschlingen.

»Ich will nur die Zeitschrift kaufen. Ich komme aus Berlin, dort geht das nicht. Verstehen Sie?«

»Ich versuch’s. Gehen Sie am Eingang rechts, zum Bahnhof, dort finden Sie Zeitungsverkäufer aller Sorten. In Prag gibt’s das noch.«

»Hoffentlich für immer«, sagte Raben.

Der Mann nickte. In seinen Augen las Raben Fragezeichen.

Er fand schnell den Zeitungsverkäufer und bezahlte ein Exemplar. Rollte es und steckte es in die Hosentasche. Auf der Hoteltreppe torkelte ihm Eckes entgegen. »Ich geh frühstücken«, stammelte der und hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest.

Im Hotelzimmer las Raben das Organ der Schwarzen Front, fand auf der ersten Seite zwei Postadressen, eine in Kopenhagen, eine in Prag. Prag I, Schließfach 544. Er schrieb eilig einen Brief an Dr. Otto Strasser. Er möge rasch postlagernd antworten und den Brief nach der Lektüre verbrennen. Das nächste Postamt lag in der Kaprová-Straße. Drin lebte der Kaiser Franz Joseph noch wie draußen auch, in jeder Säule, Engelsstatue, Fassade, in jedem Kringel über Eingangstüren und jedem Fensterrahmen mit ihren abgestuften Rändern. Säulen, Steinboden mit eingravierten Szenen der Habsburgerzeit. Nur das Bild des Kaisers fehlte. Drei Schalter waren geöffnet, und die Beamten nahmen sich Zeit für ein Schwätzchen mit einem Kunden oder untereinander. Als Raben endlich dran war, legte er einen Brief auf den Tresen. »Ist für Schließfach 544.«

Der Beamte mit Kinnbart lächelte ihn an. »Dann können Sie die Sendung gleich hierlassen.« Es gab im Ersten Bezirk Prags fünf Postämter. Wenn es ein anderes wäre, hätte der Postbeamte ihn dorthin geschickt. »Ich werde den Brief freimachen für Sie. Vierzig Heller.«

Raben zählte die Münzen ab. »Wissen Sie, wie oft das Postfach geleert wird?«

Der Beamte musterte Raben. »Warum wollen Sie das wissen?«

»Es ist eilig.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte der Postbeamte. Klebte die Marke drauf und stempelte sie.

Raben fand den Raum mit den Schließfächern leicht. Es gab sogar eine Holzbank, wo er sich neben ein altes Paar setzte. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«

»Nein, nein«, sagte sie. Schlohweiße Haare, erstaunlich kurz geschnitten, silberne Ohrringe mit jeweils einer Perle. Er hatte eine Glatze und dampfte in seiner Kleidung.

»Sie kommen aus dem Reich?«, fragte sie.

»Ja, Sie auch?«

»Aus Hamburg. Wir sind geflohen, als die SA uns bedrängte. Wir haben unseren Bekleidungsladen am Jungfernstieg einem arischen Freund verkauft, bevor …«

Der Alte stieß ihr mit dem Ellbogen gegen den Unterarm.

»Ich bin Sozialdemokrat und der Verhaftung in letzter Minute entkommen. Viele meiner Genossen sitzen in Konzentrationslagern, die jetzt die SS von der SA übernommen hat. Aber KZ bleibt KZ«, sagte Raben.

»Ja«, sagte der Alte leise. »Hier haben wir zwar Hunger, aber es gibt Leute, die sich um die Emigranten kümmern. Wir wollen nach Frankreich, wir haben Angst vor den Deutschen hier.«

»Ach, du mit deinen Sudetendeutschen«, sagte sie. »Hier überleben wir, und wir müssen keine Angst haben.«

»Noch«, sagte er. »Und wenn es dann zu spät ist, haben wir kein Geld, um nach Frankreich zu fliehen … oder nach Amerika.«

Raben hatte hundertfünfzig Reichsmark als Reisekostenvorschuss erhalten. Er musste nach der Reise mit Belegen abrechnen.

Er zog sein Portemonnaie und gab der Frau hundert Reichsmark. »Das reicht für den Zug.«

Die Frau öffnete den Mund, schloss ihn, sagte: »Um Himmels willen, das dürfen wir nicht annehmen.«

»Nehmen Sie den Zug, noch diese Woche. Verschwinden Sie aus der Tschechoslowakei, fahren Sie in den Westen. Noch geht es.«

»Ist es schon so schlimm?«

»Ich weiß es nicht, rechne aber mit allem.«

»Und Sie? Sie müssen auch weg.«

»Natürlich. Dafür reicht die Kasse noch. Ich warte auf Genossen.« Er hatte das Schließfach 544 vor Augen.

»Wir warten noch auf die Post … von unserem Sohn. Wir fangen den Postbeamten gleich hier ab.«

»Das hab ich auch vor.« Nur dass sich die beiden Alten kein Schließfach leisten konnten, was ihm zu spät aufgefallen war. Er hatte nicht aufgepasst. Schließfach war nicht gleich postlagernd. Ein Schließfach musste man bezahlen, man musste gültige Papiere mit Anschrift vorlegen. Man musste einen Antrag stellen, der wurde geprüft und gegebenenfalls bewilligt. Er war auf die Harmlosigkeit der beiden hereingefallen. Für wen arbeiteten sie? Für die Prager Regierung? Für Heydrichs Sicherheitsdienst, den alle nur SD nannten? All das erschien ihm absurd. Warum saßen die hier herum? Auf wen warteten sie?

»Welches Schließfach haben Sie?«

»544.«

Raben erschrak. War es Zufall? Hatte der Hotelier Strassers Gruppe gewarnt? Gehörte er dazu? Oder hatte der SD ihn angeheuert?

»Und Sie?«

»Das ist lustig, 545.«

»In der Tat«, sagte der Alte, schien es aber nicht für lustig zu halten.

»Hören wir mit dem Versteckspiel auf. Sie gehören zur Strasser-Gruppe, und ich bin Kommissar der Gestapo.« Alles auf eine Karte. Die Anspannung zerriss ihn.

Die Frau blickte ihn erschrocken an.

»Ich habe Doktor Strasser einen Brief ins Schließfach legen lassen und warte jetzt auf den, der ihn abholt und zu Strasser bringt. Um ihn zu verfolgen …«

»Und unseren Strasser zu ermorden. Das haben schon andere versucht«, sagte die Frau.

»Ich will ihm helfen. Ich kannte seinen Bruder Gregor gut«, log Raben. »Ich gehörte zu seinen Leuten, bis die SS ihn ermordet hat.«

Die beiden Alten blickten sich an.

»Bringen Sie den Brief Herrn Doktor Strasser. Wir treffen uns morgen hier wieder, zur gleichen Zeit. Einverstanden? Sie können mich dann auch nach Waffen durchsuchen und meinetwegen fesseln. Denken Sie sich was aus dem Repertoire schlechter Theaterstücke aus.«

Sie blickten sich wieder an. Die Frau nickte. Sie zog einen kleinen Schlüssel hervor, öffnete das Schließfach 544 und nahm den Brief heraus. Mehr lag nicht im Fach. Sie gingen, ohne sich umzudrehen. Raben wartete. Las in der Deutschen Revolution, dass ehrliche National-Sozialisten dem Führer bald den Garaus machen würden. Nicht um Gregor Strasser zu rächen, sondern um den deutschen Sozialismus zu vollenden.

»Wenn das der Führer wüsste!«, sagte Raben zu einem Schließfach.

16.

»Einen einzigen hat sie hinterlassen. Einen einzigen Fingerabdruck. Am Spülkasten, oben, wo die Kette angebracht ist. Sonst haben wir Wischspuren gefunden und Dutzende weitere Fingerabdrücke. Weniger, als wir dachten. Die Dame liebte die Sauberkeit. Umso erstaunlicher, dass der Toilettengriff vor ihrer Reinigungswut verschont blieb.« Körber blickte Gennat und Lichtigkeit an. Der Kriminaldirektor saß auf seinem Sofa, Lichtigkeit auf einem Stuhl daneben.

»Hm«, sagte Gennat.

»Dann müssen wir die Dame noch einmal befragen. Ich nehme Bock mit«, sagte Lichtigkeit.

Sie schaukelten in einem Ford T durch den Nachmittagsverkehr. »Herr Kommissar, Sie kennen den Spruch von Henry Ford über sein Auto, also über dessen Farben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sagte Bock: »Meine Kunden können jede Farbe haben, Hauptsache, sie ist schwarz.«

»Ich hab von dem zuletzt gelesen, dass er ein Anhänger unseres Führers ist«, knurrte Lichtigkeit. Er erreichte seinen Zweck, Bock hielt die Klappe.

»Hier haben die Kameraden die SA-Bonzen erschossen.« Lichtigkeit zeigte zur ehemaligen Kadettenanstalt, in der die SS-Leibstandarte Adolf Hitler hauste.

Bock schwieg weiter. Lichtigkeit fragte sich, wann sie ihn holen wollten. Wenn schon die Führung von Hitlers Parteiarmee rasiert wurde. Da kam es auf einen kleinen Kommissar nicht an. Ein Hauch des Verdachts genügte. Er dachte an Raben, der ein gefährliches Spiel spielte und vor nichts Angst zu haben schien. Was natürlich Quatsch war. Jeder Mensch hatte Angst. Bock, Raben, Lichtigkeit und sogar Sepp Dietrich, der derbe Chef der Leibstandarte. Der immer so tat, als wäre ihm nichts lieber, als für den Führer zu sterben.

Vor dem Haus stand ein Horch-Achtzylinder, dessen Motor vornehm blubberte. Ein Dienstmädchen öffnete ihnen. »Bitte warten Sie, ich sage Frau General Bescheid.« Sie hatten kaum Zeit, die Porträts von Offizieren zu betrachten, welche die Wand eng an eng bedeckten.

Zunächst aber erschien der General von Bose, und dies in Uniform, übersät mit Orden und Ehrenzeichen. Er nickte den Polizisten knapp zu. »Sie halten meine Frau also für eine Verbrecherin.«

»Herr General, nicht doch«, sagte Lichtigkeit. »Sie ist eine Zeugin. Die einzige, die wir haben.«

»Ich hatte jetzt mit dem Spruch von Pflicht und so weiter gerechnet«, entfuhr es ihm schmallippig. »Dann tun Sie die mal.« Und verließ das Haus.

Frau von Bose trug Sommerrock und Bluse. »Haben Sie eine Frage vergessen?«

»Ja«, sagte Lichtigkeit.

»Kann jedem passieren. Kommen Sie doch mit ins Wohnzimmer.« An das kleine Dienstmädchen neben der breiten Treppe: »Bringen Sie uns Tee und Kaffee.« Mit Blick auf Lichtigkeit: »Einen kleinen Cognac vielleicht?«

»Danke, nein«, sagte er. »Aber eine Tasse Kaffee weise ich nicht zurück.«

»Und Sie, Herr Bock?«

»Wie der Herr Kommissar«, sagte der Assistent.

»Nehmen Sie doch Platz!« Mittendrin in Griechisch-Römisch. Statuetten, Statuetten. Lichtigkeit glaubte einen Marmor-Cäsar mit Lorbeerkranz zu erkennen. An der Wand noch ein paar Generale. Lichtigkeit hätte sich nicht gewundert, wenn eine Legion ins Wohnzimmer einmarschiert wäre. Aber statt Varus war es nur das kleine Dienstmädchen mit einem Tablett. Nachdem sie alles abgestellt hatte, verschwand sie lautlos.

»Vielen Dank!«, sagte Lichtigkeit. Er nahm sich einen Schokoladenkeks und trank einen Schluck von seinem Kaffee. »Sie haben uns gesagt …« Er griff in seine Aktentasche, zog eine Pappmappe hervor, öffnete sie, blätterte, blätterte, blätterte, hob den Zeigefinger. Blickte sie an mit Grabesmiene.

Sie zupfte sich am Ohr, zog an einer Strähne, zog an einer anderen und betrachtete verärgert ihre Hand.

»… dass Sie nie in der Wohnung Ihrer Schwester waren«, sagte Lichtigkeit endlich. »Wir haben …«

»Stimmt, Sie haben recht. Ich war einmal bei ihr. Aber es ist mir peinlich, davon zu erzählen …« Sie legte die Hand vor die Augen, dann auf die Knie. »Es ist ein Schandfleck, die eigene Schwester ist Prostituierte. Und sie ähnelt mir zum Verwechseln. Können Sie sich vorstellen, wie ich dastehe, wenn mich in einem Café ein Mann anspricht, der ihr Freier war?« Sie lief rot an.

»Ist es denn geschehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber irgendwann wäre es passiert. Deshalb habe ich sie besucht und angefleht, damit aufzuhören. Sie sei eine Last für die Familie, nicht zuletzt für die Familienehre meines Mannes. Alter preußischer Adel, und dann so was. Ich habe ihr Geld angeboten. Ich hätte ihr auch eine Reise bezahlt … nach Amerika … oder …«

Schade, dass Raben nicht hier ist, dachte Lichtigkeit. So unverschämt er manchmal war, sie hätten die Dame geschmort wie einen Kaninchenbraten in Rotwein.

Sie wischte sich eine Träne weg. »Das müssen Sie doch verstehen. Sie haben mir versprochen, dass nichts an die Öffentlichkeit dringt.«

»Der Kriminaldirektor Gennat hat Ihnen versprochen, dass wir uns darum bemühen. Aber Sie haben uns die Unwahrheit gesagt. Das ändert …«

17.

Eckes saß mit verquollenen Augen und rotem Gesicht im Frühstücksraum. In der Ecke misshandelte ein Bursche mit wilder Mähne ein Klavier.

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«

»Nein, hab ich nicht«, sagte Eckes. »Ich hab’s verschissen. Heydrich wird mich zu Hackfleisch verarbeiten.«

»Doch nur, wenn er es erfährt«, sagte Raben und bestellte beim Kellner Kaffee und Eier mit Schinken.

»Sie müssen das doch melden. Ich bin ein Totalausfall. Die haben mein Bild, kennen meinen Namen und was weiß ich noch. Ich habe denen alles geliefert, die Frau hat mich mit dem einfachsten Trick der Welt reingelegt.«

Raben lachte. »Sogar wenn es so ist, glauben Sie, dass das im Reich irgendwen kratzt? Wenn Sie sich anständig benehmen, habe ich nichts zu melden. Heydrich will, dass wir Erfolg haben. Und dafür werde ich sorgen. Sie sagen am Empfang, dass Sie ein Auto mieten wollen. Vielleicht ist es gut, wenn Polizei und Geheimdienst Ihnen auf den Fersen sind, während ich unseren Freund besuche.« Er blickte sich um. »Sie könnten sich auch schon um einen Weg über die grüne Grenze ins Reich kümmern.«

»Wie das?«

»Sie haben hier doch Kameraden vom SD. Oder etwa nicht?«

Raben begann gerade, die Postfächer rückwärtszuzählen, als der alte Mann hereindampfte. »Kommen Sie, schnell«, sagte er.

»Nachdem Sie mich fast zwei Stunden haben warten lassen …«

»Beeilen Sie sich!«

Raben folgte ihm zu einem Auto.

»Einsteigen!«, sagte der Alte. »Hinten.«

Ein alter englischer Wagen, klein, aber viertürig. Zwei Männer saßen vorn, einer hinten.