Schattenmänner - Christian Ditfurth - E-Book
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Schattenmänner E-Book

Christian Ditfurth

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Beschreibung

Brisant, hart, explosiv – Kommissar de Bodts gefährlichster Fall

Eine Reihe ungelöster Mordfälle stellt Kommissar Eugen de Bodt vor ein Rätsel. Scheinbar haben die Opfer nur eine Gemeinsamkeit: Sie alle waren Mitglieder einer Facebook-Gruppe über Katzen. Doch de Bodt ist sich sicher, dass das nicht der einzige Zusammenhang sein kann. Seine Ermittlungen führen ihn zu einem interessanten Detail: Alle Ermordeten arbeiteten auch für Rüstungskonzerne. War die Katzengruppe nur eine Tarnung für Rüstungsspionage? Und wenn ja, wer war der Auftraggeber? Als auch auf de Bodt ein Anschlag verübt wird, ist klar, dass die Drahtzieher vor nichts zurückschrecken. Ein Wettlauf um Leben und Tod beginnt ...

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Seitenzahl: 642

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Christian v. Ditfurth

SCHATTENMÄNNER

Ein De-Bodt-Thriller

Informationen über dieses Buch:

www.cditfurth.de

Dieses Buch ist ein Roman und kein Tatsachenbericht. Das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Trotz der vom Autor in künstlerischer Freiheit gewählten fiktiven Handlungsabläufe mögen im Einzelfall Anklänge an Verhaltensweisen lebender oder verstorbener Personen oder an öffentlich bekannte Unternehmen nicht immer vermeidbar gewesen sein; dies ist aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfassend geschützt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2018 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur gsk

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21222-3V005

www.cbertelsmann.de

Für Chantal

Ein Mann wurde in einer Pariser Polizeiwache erschossen. Gerade wurde die höchste Terrorstufe ausgerufen. Deutschland ist ein großes Verbrechens-Chaos. Werdet schlauer!

Donald J. Trump

Prolog

Sie saß am Computer und googelte eher wahllos Schwangerschaft, Erziehung ohne Vater, alleinstehende Mütter und so weiter. Was man suchte, wenn man schwanger wurde. Zum zweiten Mal. Vom Liebhaber, der verheiratet war. Und sich nie scheiden lassen würde. Abtreiben, hatte er gesagt. Als Erstes. Unbedingt. Sie wusste, warum. Das musste er nicht sagen. Wenn die Presse das rauskriegte. Das wäre übler als beim ersten Kind. Da war die Aufregung irgendwann abgeflaut. Der Herr gab den reuigen Sünder. Zeigte sich mit seiner Frau. Die ihm natürlich verzieh. Einem wie ihm musste man verzeihen. Der Mann war damals schon wichtig gewesen. Inzwischen aber war Regierungspolitik ohne ihn nicht mehr möglich. Er hatte alle Krisen überlebt. Sein letzter Absturz hatte ihn am Ende ins Ministeramt katapultiert.

Ihre Tochter hatte gerade ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Die Kinnpartie hatte sie von ihm, die Hände von ihr. Sie war eine gute Schülerin. Nur dass sie ohne Vater aufwuchs, das machte sie oft traurig. Die Mutter hatte ihr immer wieder gesagt, dass sie ihren Papa nicht erwähnen solle. Aber die Schulkameraden hatten Eltern, die Zeitung lasen.

Sie blickte über dem Bildschirm zum Fenster hinaus. Baumblüten. Sie hörte das Klappern am Fahrradständer. Zwei Männer unterhielten sich lautstark im Hinterhof. Heute störte es sie nicht. Manchmal war sie wütend wegen der Rücksichtslosigkeit mancher Nachbarn. Geschrei in der Nacht. Partys bei offenem Fenster. Fernsehgedröhn, am schlimmsten, wenn Fußball lief.

Sie lag nachts wach und dachte an ihn. Wie er zurückgekommen war. Und wieder gegangen. Nachdem er ihr das Versprechen abgenommen hatte, es diesmal geheim zu halten. Für immer. Dass nicht wieder alles in der Zeitung stand. Sie hatten zehn Nächte gehabt. Und er hasste immer noch die Gummis.

Er war nervöser gewesen. Hatte getrunken. Selbstbehauptung. Es war viel geschehen in letzter Zeit. Sie bauten noch immer am neuen Kanzleramt. Der Flugzeuganschlag hatte es zerstört. Die Regierung saß in der Julius-Leber-Kaserne in Tegel. Er hatte Witze über das Chaos dort gerissen.

Sie waren im Streit auseinandergegangen. Nicht wegen seiner faulen Versprechen. Da hatte sie ihre Lektion beim letzten Mal gelernt.

Sie war nicht erstaunt, dass er sie wieder verlassen hatte. Sie wusste, er würde sein zweites Kind genauso vernachlässigen wie das erste. Mehr als ein Teddy fiel ihm nicht ein. An die Geburtstage musste sie ihn erinnern. Per SMS bat er sie, ein passendes Geschenk zu besorgen. Ich überweise 50 Euro. Kein Gruß. Und sonst sowieso nichts.

Sie wüsste gern, wie er es seiner Frau beigebogen hatte. Beim ersten Mal schien sie getobt zu haben. Das hatte er jedenfalls am Telefon angedeutet. Aber vielleicht hatte er übertrieben, um sich zum Opfer zu stilisieren. So kannte sie Männer. Sogar wenn sie Mist gebaut hatten, bettelten sie um Mitleid.

Sie würde ihr Kind nicht abtreiben. Sie war Katholikin wie der Vater. Sie trug ihren Glauben nicht vor sich her. Sie glaubte.

Gut, sie würde schweigen. Später würde man sehen. Das Kind würde fragen, aber sie hatte ein paar Jahre Zeit, sich eine Antwort zu überlegen. Sie würde nicht lügen. Aber dann wäre er längst im Ruhestand. Endgültig. Obwohl, bei ihm wusste man es nie.

Sie erhob sich. Ging in die Küche, um sich lustlos das Abendbrot zu bereiten.

Es klingelte an der Tür. Bestimmt der Typ von DHL. Sie hatte diese Körperlotion bestellt, die sie im Laden nicht fand. Wenigstens etwas Erfreuliches, obwohl der DHL-Typ unhöflich bis unverschämt war. Wenn er sich nicht darauf verlegte, Benachrichtigungszettel in Briefkästen zu werfen, ohne sich mit Klingeln zu belasten.

Sie beeilte sich, öffnete die Tür. Und erstarrte. Es war nicht der DHL-Typ.

1.

De Bodt lehnte an der Küchentür. Sah sich um. Er hatte alle rausgeschickt, Salinger, Yussuf, die Schutzpolizisten. Die KT war noch nicht da. Die Frau lag auf dem Rücken, der Oberkörper in einer Blutlache. Auf dem Läufer. Messer im Bauch. Etwa fünfundvierzig, schlank, kurze schwarze Haare. Die Augen starrten. An den Wänden Blutspritzer. Die Wohnungstür war angelehnt gewesen. Eine Nachbarin hatte es gesehen und hineingeblickt. In letzter Zeit trieben sich Einbrecherbanden in der Gegend herum. Man las es in der Zeitung, sah es in der Abendschau. Die Nachbarin hatte die Polizei gerufen.

De Bodt roch das Parfüm. Sah die Sauberkeit. Das Foto an der Wand. Luftaufnahme vom Reichstag. Sah die Kommode. Darauf die Basis eines tragbaren Telefons. Ein Telefonbuch. Tatsächlich. Sah die Wohnungstür. Keine Einbruchspuren, die KT würde genauer hinschauen. Das Opfer hatte dem Täter geöffnet. Vermutlich. Die Kollegen befragten gerade die Nachbarn, ob ihnen was aufgefallen war.

Die Zander blickte durch den Türschlitz. Verharrte einen Augenblick. »Ganz schöne Sauerei. Ich darf …«

Er nickte.

Die Zander ging in die Hocke und betrachtete das Gesicht.

»Es sind viele Stiche«, sagte de Bodt.

Die Zander nickte.

»Wut, Hass, beides.«

Die Zander nickte wieder. »Oder ein Fall für die Psychiatrie.«

Er öffnete die Küchentür. Proper. Das war der erste Eindruck. Einbauküche, grau und weiß. Schlicht, elegant. Ein Induktionsherd, das Glas glänzte. Neben der Spüle ein Abtropfgestell aus Stahl. Ein Teller, eine Tasse, Messer, Gabel, Teelöffel. Geschirrspüler, neues Modell, halb gefüllt. Sie wusch ab, obwohl sie Teller und Besteck in die Maschine hätte stellen können. Er öffnete Schubladen und Schränke. Gut gefüllt, es hätte für eine Kleinfamilie gereicht.

Im Wohnzimmer eine Sitzgarnitur, grau bezogen. Ein Holztisch, darauf der Tagesspiegel und die Zeit. Unter dem Tisch lag der Bayernkurier. De Bodt überlegte. In Berlin war das Blatt so exotisch wie die Peking-Rundschau.

Im Bücherregal fand er Romane und Sachbücher. Kitschig und konservativ. Helmut Kohls Autobiografie. Roman Herzog. Rosamunde Pilcher und so weiter. Einige Bücher waren verdeckt vom Fernsehgerät, das auf einer Kommode stand. Auch ein paar CDs. Operette, Schlager. Drei DVDs. Liebesfilme.

Vor dem Fenster ein schmaler Schreibtisch, darauf ein Notebook. Er tippte auf die Leertaste, der Bildschirm wachte auf.

Sie hatte am Computer gesessen, als es klingelte. Vielleicht.

Er rief Yussuf. Der kam, öffnete den Browser, dann dessen Verlauf. »Sie hat gesucht. Schwangerschaft, alleinstehende Mütter.«

De Bodt nickte.

»Eine Kollegin hat die Tochter an der Haustür abgefangen. Die Mutter einer Freundin hat sie hergefahren. Und sie dann wieder mitgenommen. Ist das okay?«

De Bodt nickte wieder.

Yussuf verschwand. Er kannte die Macke seines Chefs. Der wollte eine Weile allein sein am Tatort. Ihn begreifen, mit den Augen, mit der Nase, mit dem Verstand.

Der kalte Schweiß ließ de Bodt frösteln. Ihm war übel.

Er öffnete eine Schreibtischschublade. Ein Adressbuch. Er blätterte. Die Frau war ordentlich gewesen.

Wo war ihr Handy? Oder hatte sie keines besessen? Er öffnete die zweite Schublade. Füller, Kugelschreiber, Lineal, Marker.

In der Kommode Stoffservietten, zwei Fotoalben. Er legte sie auf den Tisch.

Das Badezimmer roch nach Reinigungsmittel und Parfüm. Kein Handy.

Salinger stand in der Wohnungstür, als de Bodt das Badezimmer verließ. »Kann die KT rein?«

»Zehn Minuten, okay?«

Sie sah aus, als würde ihr ein Kriminaltechniker die Schrotflinte an den Kopf halten. Salinger machte kehrt.

Die Zander blickte auf und grinste de Bodt an. »Die Armen …«

De Bodt kehrte ins Wohnzimmer zurück. Setzte sich auf den Sessel und klappte das erste Album auf. Die Tochter hieß Cheryl. Babybilder, Kinderbilder, Urlaubsbilder. Auf einem eine andere Frau mit dem Mädchen. Sie ähnelte der Toten. Wohl die Schwester. Vielleicht am Nordseestrand. Als Fotografin war die Tote nicht begabt gewesen. Stadtansichten. Husum, Flensburg, Schleswig, Eckernförde.

Im zweiten Album das Gleiche. Urlaubsbilder. Das Mädchen. Er klappte es zu und legte es auf den Tisch.

Irgendwas stimmte nicht.

Salinger streckte den Kopf rein. »Die KT …«

De Bodt schloss die Augen, überlegte.

Er hob den Bayernkurier auf. Blätterte. Die Staatspartei und wie sie die Welt sah. Ein Bogen fiel aus der Zeitung. Er hob ihn auf. Außenpolitik, Anzeigen.

Und ein Foto. Eingelegt zwischen den letzten beiden Seiten. Es lag mit der Vorderseite auf dem Teppich. De Bodt nahm es auf und drehte es um.

Der Minister aus Bayern. Mit Autogramm.

2.

»Höchstens eins siebzig«, sagte Salinger. Sie blickte zu de Bodt. Der saß neben der Bürotür und war irgendwo. Gewöhnte sich vielleicht noch an die Vorhänge, die Yussuf am Fenster aufgehängt hatte. Falls wieder jemand ins Büro schießen wollte. Die Löcher an der Wand waren noch nicht gefüllt. Als hätte jemand wild mit einem Meißel gehämmert.

Yussuf saß an de Bodts Schreibtisch. Seine Füße trommelten. Tap-tap-tap. Er tippte auf seinem Smartphone.

»Linkshänderin«, sagte de Bodt. Er hatte den provisorischen Bericht der Zander schon gelesen. »Genaueres später«, hatte sie gesagt. »Wenn Sie wollen, besprechen wir es bei einem Espresso.« Die Zander war mit ihrer Kaffeemaschine verheiratet, das Glück frisch wie am ersten Tag. Da konnte es in ihren Augen nichts Verlockenderes geben als so eine Einladung. »Am Abend ermordet, am Vormittag gefunden.«

»Linkshänderin also? Sicher?«, fragte Salinger.

»Nein. Ich lese, dass der Mörder nicht viel Kraft hatte, dass er sechzehnmal zustieß. Wenn ein kräftiger Mensch in einem Wutanfall zusticht, dann gibt es tiefere Wunden. Vor allem sind die Marken in Knochen und Gelenken tiefer.«

»Und wenn ein Rechtshänder mit der Linken zugestochen hat, um uns zu täuschen?«, fragte Yussuf ohne aufzublicken.

»Nicht in einem Wutanfall.«

»Und wenn der Wutanfall vorgetäuscht ist?«

»Dann haben wir es mit einem ziemlich ausgebufften Mörder zu tun«, sagte de Bodt. »Aber wie wahrscheinlich ist das?«

Das Foto lag auf seinem Knie.

»Sie war wohl Fan von diesem … Herrn«, hatte Salinger gesagt.

Uhlenhorst betrat das Büro, lehnte sich an de Bodts Schreibtisch.

»Du verdunkelst meinen Blick auf den Meister«, sagte Yussuf.

Uhlenhorst tat so, als hätte er es nicht gehört. »Tür nicht aufgebrochen. Sie hat geöffnet. Es gibt Fingerabdrücke der Toten und ihrer Tochter …«

»Wie geht es der?«, fragte Yussuf.

»Frag mich nicht … ihre Fingerabdrücke haben wir. Dann gibt es noch welche einer dritten Person. Vermutlich ein Mann.«

»Sag ich doch.« Yussuf trommelte mit den Händen auf der Tischplatte. Der Hertha-Wimpel zitterte.

Uhlenhorst schüttelte den Kopf. »Kann sein, muss aber nicht. Der Täter hat geklingelt. Das Opfer hat geöffnet. Der Täter hat die Frau zurückgestoßen und zugestochen. So sehe ich das bisher. Könnte also sein, dass der Täter keine Fingerabdrücke hinterlassen hat. Wir haben Haare gefunden, die nicht vom Opfer und nicht von der Tochter stammen. Darauf kaut gerade das BKA rum.«

»Der Täter ist eine Frau«, sagte de Bodt.

3.

»Frau Kehrer war Ihre Mitarbeiterin«, sagte Salinger. Sie saßen in einem Abgeordnetenbüro Unter den Linden.

Der Mann hinterm Schreibtisch nickte. Traurig. Alexander Kahn, Mitglied im Vorstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, verkehrspolitischer Sprecher. Um die vierzig, Glatze, kantiges Brillengestell. Die Anzugjacke über der Stuhlkante.

»Jasmin war meine Büroleiterin. Unersetzlich … ermordet?« Als wäre das nicht klar.

»Hatte Sie einen Freund, Liebhaber?«, fragte Salinger.

De Bodt schaute aus dem Fenster. Der Sommer hatte den Leuten die Mäntel und Pullover ausgezogen. Helle Farben. Eine Radfahrerin schlängelte sich zwischen den Fußgängern durch. Ein alter Mann fluchte ihr hinterher, die Faust gereckt.

Kahn zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

»Sie haben sich nie privat unterhalten? Immerhin haben Sie sich geduzt.«

»Kaum … die Hektik … sie hat … hatte eine Tochter, nicht wahr … mein Gott.« Er rieb sich die Augen. Blickte Salinger an. »Haben Sie eine Ahnung, wer es war?«

Salinger schüttelte den Kopf.

»Vielleicht eine Frau«, sagte Yussuf. Er hielt die Kaffeetasse in der Hand. Saß mit Salinger am Besuchertisch.

»Eine Frau?« Kahn legte den Kopf in den Nacken. Schloss die Augen, öffnete sie. Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Er ließ es klingeln. Schüttelte den Kopf. »Privat, wie gesagt …«

»Gab es Streit mit Kollegen?«, fragte Salinger.

Kahn schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste … die üblichen Konflikte. Aber sie hatte gute Nerven. Alles im Griff.« Blickte Salinger an. »Alles im Griff«, murmelte er.

Das Telefon klingelte. Diesmal hob er ab. »Bitte nicht stören. Danke!« Hielt den Hörer ein paar Sekunden fest. »Hier finden Sie den Täter nicht.«

4.

Piepsstimmen, Gruselgelächter aus dem Flur. Wie in einem Zeichentrickfilm für Kinder. Die Frau am Küchentisch schob einen Stapel Werbebeilagen beiseite. Supermarkt, Billigklamotten, Getränkeversand. Sie drückte die Zigarette im halb vollen Aschenbecher aus.

»Kaffee?« Sie blickte ihre Besucher an, ohne sie zu sehen.

»Nein, danke«, sagte Salinger.

»Um Himmels willen«, sagte Elisabeth Bannert, als sie es erfuhr.

Sie arbeiteten die Adressen in Kehrers Kalender ab. Berufskontakte hatte sie im Handy gespeichert. Bannert wohnte nahe der Toten, in der Parallelstraße.

»Um Himmels willen«, wiederholte sie. Bleich, feuchte Augen. »Und wie?«

»Erstochen«, sagte Salinger.

»Vermutlich von einer Frau«, sagte Yussuf. Seine Finger trippelten auf dem Tisch.

»Um Himmels willen.« Erhob sich, fand in der Schublade Papiertaschentücher. Schnäuzte sich. Warf das Taschentuch in den Mülleimer unter der Spüle.

»Wo waren Sie gestern Abend?«, fragte Yussuf.

Erschrecken in den Augen. »Hier.« Es klang unsicher. Sie blickte zur Wand. »Ich kann mir keinen Babysitter leisten.«

»Was haben Sie getan?«

»Jonas ins Bett gebracht. Fernsehen geguckt, früh schlafen gegangen.«

»Wann haben Sie Frau Kehrer das letzte Mal gesehen?«, fragte Salinger.

Ihr Blick zuckte zu Salinger. Sie überlegte ein paar Sekunden. »Letzte Woche, am Sonntag. Werktags hatte sie nie Zeit …«

»Sie waren bei ihr?«

Bannert nickte. »Sie ging ungern aus dem Haus, wenn sie frei hatte. Lag wohl am Stress im Büro.«

»Kennen Sie Freunde von Frau Kehrer?«

Bannert schüttelte den Kopf.

»Wie haben Sie Frau Kehrer kennengelernt?«

»Im Chinesischkurs … also, ich hab inzwischen aufgehört.« Blick in Richtung Kinderzimmer.

»Wo?«

»Am Gendarmenmarkt, da sitzt eine kleine Sprachschule. Nur asiatische Sprachen … nicht alle.«

»Frau Kehrer ist drangeblieben?«

»Natürlich. Obwohl sie im Büro wirklich genug zu tun hatte. Sie war die Kursbeste.«

»Hatte Sie einen Freund?«

Bannert überlegte. »Eigentlich müsste ich Nein sagen. Aber da war etwas … jemand. Sie hat kein Wort darüber verloren.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich war ein paarmal bei ihr. Immer am Sonntagnachmittag …«

»Wie lange dauerte so ein Besuch?«, fragte Yussuf.

De Bodt lehnte am Türrahmen, seit sie in der Küche waren. Er blickte Yussuf streng an. Der nickte, hob die Brauen.

»Nicht länger als zwei Stunden. So eineinhalb, vielleicht.«

»Und was bringt Sie darauf, dass da … etwas war?«, fragte Yussuf. Kurzer Blick zu de Bodt. Aber dessen Augen inspizierten gerade die Decke.

»Sie erhielt zweimal Anrufe. Da ist sie ganz schnell mit dem Telefon in ein anderes Zimmer gegangen. Und wenn sie zurückkam, also … also, da war sie aufgeregt, unruhig.«

»Wer ist der Vater des Kindes?«, fragte Salinger.

Große Augen. »Das wissen Sie nicht?«

5.

»Europas Einigung kriegt man nicht umsonst«, sagte Madeleine. So hatte sie sich vorgestellt, als ihre Zusammenarbeit begann. »Wenn man sie denn kriegt.«

»Solange ich nichts bezahlen muss«, sagte Jacques. So nannte er sich.

Madeleine lachte. »Was melden die Wachhunde?«

Jacques betrachtete sein Wasserglas, als gäbe es darin etwas zu entdecken. »Sie beißen.«

Jacques musterte sie. Sie war schlank, fast hager. Trug einen Hosenanzug. Kurze Haare. Große Augen. Noch attraktiver war ihre Intelligenz. Sie sprach leise, aber deutlich.

Er nippte an seinem Kaffee. Immer wenn er mit ihr sprach, fühlte er eine Anspannung. Leicht nur, aber sie war da. Ihr Büro war sachlich eingerichtet. Auf dem Schreibtisch lag nur ein Ordner, sein Fall. Er sah den Fernsehturm. Wenn er sie besuchte, stellte er sich zuerst ans Fenster.

6.

»Scheiße«, maulte Yussuf. »Du hättest das schon wissen können. Ich war damals noch ein hoffnungsloser Türkenbengel in Neukölln. Kannte nur die Ehre meiner Mutter …«

Salinger lachte. »Jetzt hör auf.«

»Vielleicht sollte ich die Blätter lesen, in denen so was steht«, sagte de Bodt und grinste.

Yussuf hatte einen Artikel aus der Bunten gefunden, der in der Steinzeit erschienen war, also vor mehr als zwei Jahren. In diesem Fall waren es zehn.

»Dann wissen wir ja, was wir zu tun haben«, sagte de Bodt. »Kriegst du raus, wann der kann?«

»Der ist gern zu Hause im schönen Bayernland. Von dort lässt es sich am besten stänkern«, sagte Salinger.

7.

»Natürlich helfe ich der Polizei«, sagte der Mund. Die Augen sagten: Verpisst euch. »Ich habe es in der Zeitung gelesen … furchtbar.«

Der Mann war selbst im Sitzen riesig. Sie waren in einem Büro in der bayerischen Landesvertretung. An der Wand Kitschmotive. Landschaften der Heimat. Hinterm Schreibtisch ein Bild von Franz Josef Strauß.

Als die Sekretärin sie ins Büro geführt hatte, zeigte Yussuf aufs Foto: »Das ist wie bei uns im Orient. Sobald ein Sultan nicht duckmäusert, sondern den starken Mann markiert, kann er anstellen, was er will. Für viele Leute bleibt er ein Held. Einer, der als Ministerpräsident oder Minister mehrfacher Millionär werden kann, der hätte es bei uns weit gebracht.«

Die Sekretärin warf ihm einen Blick zu. Wie eine Volksschullehrerin in den Fünfzigerjahren, bevor sie zum Rohrstock griff. »Der Herr Minister kommt gleich.«

»Woher kennst du so ein Wort wie duckmäusern?«, fragte Salinger.

»Ich habe die Vorzüge einer Eliteschule in Neukölln genossen. Beantwortet das deine Frage?«

Salinger grinste.

Die Sekretärin hatte auf die Sitzecke gewiesen. Unter dem Bild einer Berghütte. Was zu trinken hatte sie nicht angeboten.

Die Tür öffnete sich. Ein junger Mann mit poppiger Frisur. Hinter ihm der Minister. Er reichte seinen Besuchern die Hand. »Ich brauche Sie jetzt nicht.« Ein Wink, und Poppy war verschwunden.

Misstrauische Augen im eckigen Gesicht. »Aber Sie verstehen, meine Zeit ist begrenzt.«

De Bodt erhob sich und ging zum Fenster, blickte hinaus.

»Jasmin Kehrer und Sie haben ein Kind«, sagte Salinger.

Yussuf blickte auf sein Handy. Pfiff lautlos.

»Das ist allgemein bekannt.«

»Haben Sie Frau Kehrer seit Ihrer Trennung wiedergesehen?«, fragte Salinger.

Der Minister blickte zu de Bodt, aber der zeigte ihm den Rücken. Falten auf der Stirn. Er strich sich durch die Haare.

»Haben Sie?«, wiederholte Salinger.

Yussufs Augen schienen einer Fliege zu folgen. Aber natürlich versprühten die im Büro jeden Morgen Glyphosat, weil das Zeug so gesund war.

Der Minister blickte sie kurz an. Schüttelte kaum merklich den Kopf. »Im Reichstag ist sie mir begegnet. Kaum zu vermeiden. Sie arbeitet als Büroleiterin bei einem Kollegen.«

»Und da haben Sie sie freundlich gegrüßt?«, fragte Salinger.

»Was denn sonst?«

»Sie haben Alimente gezahlt?«

»Was denn sonst?«

»Sie haben also Grüß Gott, Jasmin gesagt, und das war’s?«

»Was hat das mit dem Fall zu tun?«

»Wollen Sie es bitte uns überlassen, das zu beurteilen?«

Sein Blick sagte: Bei uns wär das jetzt deine Versetzung nach Bad Griesbach im Rottal.

»Frau Kehrer hat Sie nicht angesprochen? Etwa wegen … eines Weihnachtsgeschenks. Um Ihnen zu sagen, wie sich die Kleine in der Schule macht?«

Er schwieg lange. »Sie hat SMS geschickt.«

»Und Sie haben geantwortet«, sagte Salinger.

Er nickte. Seine Miene zeigte, dass ihm die Befragung stank.

»Sie hat nichts von Ihnen gefordert?«

»Nein.«

»Und Frau Kehrers zweites Kind stammt nicht von Ihnen?«, fragte Yussuf.

8.

Das war ungewöhnlich. Sie hatte ihn am Abend nach seinem Besuch angerufen. Sie hatten sich zum Mittagessen im Adlon verabredet. Business Lunch im Quarré. Es musste was Wichtiges sein.

Es war was Wichtiges. Nach der Bestellung schob sie ihm die Morgenpost zu. Die Geliebte des Ministers! Ermordet!

»Ja, und?«

»Lesen Sie das darunter.«

Berlins bester Bulle ermittelt.

»Ja, und?«

»Der hat diese Attentatsserie aufgeklärt. Im Alleingang.«

»Das ist mir neu.«

»Ich hab meine Quellen.« Von ihrem Besuch im Gefängnis sagte sie nichts.

»Es gibt einen Mord, die Polizei ermittelt. Wo ist das Problem?«

»Der Typ ist das Problem.«

Jacques schüttelte den Kopf. »Da käme nicht mal Einstein in Bullengestalt drauf.« Und doch beunruhigte ihn ihre Nervosität. Alles lief wie geplant. Vielleicht hatte sie nicht erwartet, dass es so glatt ging. Es gibt Sorgen, die gibt’s nicht. »Sie sind angespannt. Bin ich auch. Das ist normal. Es ist der erste Schritt.«

Madeleine musterte ihn. »Ich bin nicht nervös.« In ihrer Stimme lag: Du kannst dir nicht vorstellen, was für gute Nerven ich habe. Und du weißt nicht, was ich weiß. »Wir sollten diesen Bullen ausschalten.«

Bärlauchrisotto. Hatten sie beide bestellt. Er trank einen Chardonnay, sie Wasser. Als der Kellner gegangen war, sagte er: »Das wäre riskant.«

»Weniger riskant, als ihn ermitteln zu lassen.«

9.

Er hasste diese Stadt. Den Aufmarsch der Protzer auf der Kö. Die Damen, die noch im Sommer ihren Pelz ausführten. Die Herren mit Rolex-Uhren und Goldkettchen. Den Papageienschwarm, der alles vollschiss. Den Singsang der Sprache. Die Aufdringlichkeit der Leute. Die Dauerduzerei. Die Fröhlichkeit. Die Pinkel in den Restaurants und Bars. Er hasste Düsseldorf. Man musste in dieser Stadt geboren sein, um sie zu ertragen. Aber er war in Schleswig geboren und in Hamburg aufgewachsen. Das Geld hatte ihn nach Essen verschlagen. Aber in Essen wohnte einer wie er so wenig wie in Gelsenkirchen oder Bautzen.

Düsseldorf hatte nur einen Vorzug. Das Porsche-Zentrum in der Klaus-Bungert-Straße. Seit ein paar Wochen pikte die Idee im Hirn. Warum eigentlich nicht? 911 Carrera. Er konnte es sich leisten. Noch. Sich belohnen. Für seinen Fleiß. Und seinen Mut. Vor allem für seinen Mut.

Er setzte sich auf eine Bank. Die Sonne wärmte. Kinder plärrten. Schräg gegenüber ein altes Paar. Er las die Rheinische Post, sie strickte. Zwischen ihnen eine Thermoskanne.

Heute stand der Wind ungünstig. Vom Flughafen her dröhnte es. Er grinste, wenn er an die Villen in Kaiserswerth dachte. Mit den schönen Gärten, die man nutzen konnte, wenn das Nachtflugverbot herrschte.

Er brauchte nur seine kleine Wohnung. Ruhig, modern ausgestattet. Und einen 911-er. Er kannte sich. Wenn Verwirrung drohte, suchte er einen Fixpunkt. Einen Wunsch, der ihn beschäftigte. Dessen Verwirklichung Glück versprach. Ablenkung von den Ängsten. Er verdiente doppelt, konnte sich doppelt so viel leisten wie vorher. Er nickte. Das war es. Ein Porsche.

Sein Opel Insignia stand am Straßenrand, fast direkt gegenüber vom Haupteingang des Parks. Er würde in die Klaus-Bungert-Straße fahren. Sich umsehen. Er spürte die Aufregung. Betrachtete seine Schuhe. Hatte gehört, die Verkäufer teurer Waren würden zuerst auf die Schuhe ihrer Klientel blicken. Billige Schuhe: einer, der sich die Karre nicht leisten konnte. Probefahrt als Angebertour. Er blickte hinab. Signature-Sneakers sollten reichen. Obwohl er sich zu alt fühlte für diese Schuhe.

Seine Schritte wurden schneller, als er zur Kaiserswerther Straße ging. Nordpark/Aquazoo zeigte die zur U-Bahn aufgemotzte Tram an. Er passierte die Rossebändiger. Riesenstatuen, denen man die Nazizeit auf den ersten Blick ansah. Schaute nach links. Ein 911-er fuhr vorbei, heiser röhrend. Sein Blick folgte ihm. Rot, die falsche Farbe. Dunkelblau würde seiner. Blickte wieder nach links. Autos auf beiden Spuren stadteinwärts. Ein Stück entfernt ein grüner Transporter. Klempner Franke mit einem Rohrsymbol auf der Seite. Er hatte den Wagen schon ein paarmal gesehen in den letzten Tagen. Oder waren es verschiedene Transporter desselben Handwerkers? Er erkannte die Lücke, der Transporter näherte sich langsam. Er betrat die Fahrbahn. Hörte einen Motor aufheulen. Dann gab es einen Schlag. Und dann gab es nichts mehr.

10.

»Es gibt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache ist.« De Bodt blickte an die Decke, dann musterte er Salinger. Sie erwiderte den Blick.

Er schaute zu Yussuf. Der grinste. »Mickey Maus.«

»Fast, Nietzsche«, sagte de Bodt.

»Wie gesagt, Eliteschule.«

»Ich bezweifle aber, dass wir es mit gutem Glauben zu tun haben, um von Unschuld zu schweigen«, sagte Salinger. Sah de Bodt nachdenklich an, wie sie es manchmal tat. Und er auch.

Der Minister jedenfalls war blass geworden. Yussufs Bemerkung hatte ihn getroffen.

»Hat die Zander gesimst. Die Kehrer war schwanger. Der Rest war ein Schuss ins Blaue.«

Der hatte gesessen. Mitten im Ziel.

»Unmöglich«, hatte der Minister gesagt.

»Was ist unmöglich?«, hatte Salinger gefragt. »Fest steht jedenfalls, dass Frau Kehrer schwanger war.«

Der Minister hechelte mehr, als dass er lachte. Nur klang es nicht belustigt. Dann hatte er eine Weile regungslos gesessen. »Wenn Sie das … Gerücht in die Öffentlichkeit … ich habe Mittel …«

»Könnte das Kind von Ihnen stammen?«, fragte Yussuf überfreundlich.

Der Minister sah ihn an, als wollte er ihm nicht nur den Doppelpass abnehmen.

»Unmöglich.«

»Wenn Sie so freundlich sein könnten, die Frage zu beantworten? Zum Beispiel mit Ja oder Nein?« Yussuf zupfte am Hemdkragen, als müsste er ihn verlängern.

»Unmöglich«, wiederholte der Minister.

Salinger öffnete den Mund, als sie de Bodts Blick traf. Sie schloss ihn.

Schweigen.

Der Minister stützte die Unterarme auf die Lehnen und rückte das Gesäß nach hinten. Richtete den Rücken gerade. »Haben Sie weitere Fragen?«

Diesmal funktionierte die De-Bodt-Befragungsmethode nicht. Die meisten Leute halten Schweigen nicht aus.

Der Minister erhob sich. »Meine Zeit ist kostbar.«

»Unsere auch«, sagte Yussuf. Er blieb sitzen und fragte: »Sie hatten keinen Geschlechtsverkehr mit Frau Kehrer in den letzten Monaten, gerechnet ab gestern?«

Der Minister straffte sich und blickte auf Yussuf herab. Weil er größer war und wichtiger. Und weil er es unverschämt fand, dass dieser Türke weiterfragte, obwohl der Minister das Gespräch beendet hatte.

»Natürlich nicht.«

»Dann werden Sie ja einer DNS-Probe gern zustimmen.«

»Ich glaube, ich habe alle Ihre Fragen beantwortet.« Der Minister blickte auf seine Armbanduhr. Ging zur Tür, öffnete sie, sagte etwas ins Vorzimmer. Als hätte er um die Ecke gewartet, stand der Poppige in der Tür. »Ich darf Sie hinausgeleiten.«

11.

Grüner Tee, dritter Aufguss, zweimal Cappuccino. Im Café Eliza, Sorauer Straße in Kreuzberg 36.

»So ein Arschloch«, sagte Yussuf.

»Schokotorte«, sagte Anne, die Café-Chefin. Sie stand am Tisch, ihr Finger zeigte zur Auslage unterm Tresen. »Die ist super.«

»Eine für Ali«, sagte Salinger. »Schokolade beruhigt die Nerven.«

»Gilt nicht für Türken. Ist genetisch bedingt«, erwiderte Yussuf. »Trotzdem eine.«

»Muss echt schlimm sein, mit solchen Leuten zu arbeiten wie ihm«, sagte Anne.

De Bodt nickte. »Schlimmer.«

»Mein Gott!« Sie hob die Brauen, riss die Augen auf.

Salinger nahm die Erdbeertorte, de Bodt begnügte sich mit Nusskeksen.

»Der hat doch gelogen«, sagte Yussuf.

»Nein, er ist die Unschuld in Person.« Salinger grinste.

»Okay, er hat die Kehrer irgendwo getroffen. Die Leidenschaft ist entflammt …«

»Stell dir den mal leidenschaftlich vor«, sagte Salinger. Lachte, hielt sich die Hand vor den Mund. »Echt!«

»Ruhe!«, befahl Yussuf. »Das gibt es, nicht zu selten.«

»Wenn du das sagst.« Salinger prustete.

Yussuf zeigte ihr den Mittelfinger. »Die sind im Bett gelandet, auch wenn sich Silvia so was nicht vorstellen kann.«

Salinger streckte ihm die Zunge raus. Ein Blick zu de Bodt. Ihre Augen trafen sich.

»Kehrer wurde schwanger. Der Minister musste um jeden Preis verhindern, dass das rauskam. Er wäre erledigt gewesen. Die Ehe im Arsch, die lieben Parteifreunde hätten sich an die Stirn getippt. Einmal verzeiht man das, zweimal nicht.«

»Du meinst, der hat seine Ex erstochen? Hast du gesehen, wie lang der ist?«

»Er ist Rechtshänder«, sagte de Bodt.

»Hm«, sagte Yussuf. »Aber ein Motiv hat er. Und was für eins.«

Salinger nickte. »Seine Frau hat auch eins.«

12.

»Fahrerflucht also«, sagte Kern. Sie saß an ihrem Schreibtisch.

»Zwei Zeugen«, sagte Jonny. Er saß ihr gegenüber, die Schreibtische zusammengeschoben. Im Sitzen noch eine Riese. Tippte etwas. Blickte auf den Bildschirm. »Den Klempner gibt’s nicht. Jedenfalls nicht im Internet.«

»Alles versucht?«

»Franke mit und ohne ck, Ranke, Range, Fragge …« Er schnaufte. »Es gibt nichts Schlimmeres als Zeugen.« Irgendwie grün, so viel schien klar. Aber der Hersteller, alles zwischen VW und Mitsubishi. Fahrer erkannt, ach wo. Eine junge Frau, Studentin, Ratingen. Ein Rentner aus Oberkassel. Hatten an der Straßenbahnhaltestelle gewartet. Da wurde am helllichten Tag einer totgefahren, und nur zwei Leute kriegten es mit. Jedenfalls hatten andere Zeugen nicht gewartet.

Die Studentin hatte Polizei und Krankenwagen gerufen, nachdem sie den Verkehr gestoppt hatte. War auf die Straße gelaufen. Hupkonzert, Beschimpfungen aus Autos. Zwei waren weitergefahren, hatten sie weggedrängt.

Sie sah gleich, dass dem Opfer nicht zu helfen war. Der Kopf war zertrümmert. Sie würgte, stellte sich auf die Markierung, die beide Spuren trennte, breitete die Arme aus. Sie hätte sich lieber übergeben.

Endlich fanden sich zwei Männer. Einer stellte seinen Wagen quer, der andere ging die Straße zurück und beruhigte die Leute mit Handzeichen. Andere stiegen aus. Näherten sich dem Toten. Zückten die Handys, fotografierten, telefonierten, verschickten Fotos. Facebook-Helden des Tages. Dann endlich kamen Polizei und Krankenwagen.

Die Studentin hatte nur einen dumpfen Schlag gehört, der Transporter raste davon. Sie war bleich gewesen, aber gefasst. Als sie hörte, dass der Mann wirklich tot war, weinte sie.

»Ist schon komisch, diese Fahrerflucht«, sagte Kern.

»Der Fußgänger hat nicht aufgepasst, der Fahrer hat mit seinem Telefon gespielt. Ich sehe nichts Komisches.«

»Es sei denn, die Ampel stand auf Rot für Autos.«

13.

Sie waren auf Knien gerutscht. So hatte Lebranc es gesehen. Sie hatten ihm tatsächlich eine Abordnung nach Hause geschickt. Vorher Anruf aus dem Innenministerium. Zum Palais de l’Élysée hatte es nicht ganz gereicht. Lebranc musste sein Wohnzimmer aufräumen. Warf zwei leere Flaschen Crozes-Hermitage in den Abfalleimer. Ihm war noch flau.

Pünktlich auf die Minute. Es waren drei: der Staatssekretär, der im Ministerium für die Police nationale zuständig war. Der Polizeipräfekt. Die Abgeordnete des Wahlkreises. Fehlte noch die Kapelle mit der Marseillaise. Der Präfekt war der alte, die Vorgänger der beiden anderen hatten den neuen Präsidenten nicht überlebt. Lebranc hatte zu viel erlebt. Er glaubte nicht, dass jetzt alles besser würde. Die Zahnräder der Bürokratie hatten schon andere Leute kleingemahlen. Man setzte sich artig um den Wohnzimmertisch. Der Präfekt opferte sich und setzte sich auf den Stuhl, den Lebranc aus der Küche geholt hatte. Er bot Kaffee an und Kekse, die er in der Pâtisserie um die Ecke gekauft hatte.

Nachdem alle mit Kaffee versorgt waren, blickte ihn der Staatssekretär ernst an. Lebranc hätte fast gekichert. »Wir möchten, dass Sie zurückkehren in den Dienst. Dass Sie Ihren … Urlaub bald beenden. Wir werden Sie dann gleich befördern. Sie verstehen, was das heißt?«

Für wie blöd hältst du mich?, hätte Lebranc am liebsten geantwortet. Mehr Pension hieß das. Guten Wein. Die Zigaretten wurden immer teurer. Und das, obwohl es keine richtigen mehr gab. Vielleicht sollte er eine Bedingung stellen? Gauloises und Gitanes, die echten. Dann würde er es sich überlegen. Er grinste in sich hinein. Bei all den Demütigungen im Dienst hatte er dieses Bild wieder und wieder vor Augen gehabt. Die Drecksäcke auf Knien.

Der Staatssekretär war ein schmächtiger Mann mit Halbglatze. Er blickte ihn bittend an.

Ach, ist das schön!

Von der Abgeordneten hatte er gelesen. Sie gehörte der neuen Partei des neuen Präsidenten an. Sie musterte Lebranc freundlich. Sie war ihm sympathisch. »Sie wissen natürlich, dass die Medien es nicht verstehen, dass Sie aus dem Dienst ausscheiden. Gerade jetzt, wo wir Sie brauchen. Sie haben diese Terrorserie aufgeklärt …«

»Ich habe geholfen …«

»Ihre Bescheidenheit ehrt Sie«, sagte der Polizeipräfekt.

»Wir verdanken die Aufklärung meinem Berliner Kollegen.«

Die Abgeordnete schüttelte den Kopf wie eine Grundschullehrerin angesichts eines trotzigen Bengels. »Es spricht für Sie, dass Sie Ihren … Anteil so bescheiden darstellen …«

»Wir können über Ihre Arbeitsbedingungen … sprechen.« Der Polizeipräfekt ahnte wohl als Einziger, was in einem Polizisten vorging, dessen Karriere unvollständig geblieben war. An dem die Flic-Bobos vorbeigezogen waren wie Rafale-Jets an einem Doppeldecker.

Lebranc grinste in sich hinein. Die Journaille hatte ihn bombardiert mit Anrufen, Mails und Briefen. Briefe! Sie hatten ihm Honorare für Interviews, Homestorys angeboten. Großer Auftritt auf France 2 oder TF1 oder seinem Lieblingssender BFMTV. Ein Verlag wollte, dass er ein Buch über Polizeiarbeit, eine Autobiografie schrieb. Sie hätten wahrscheinlich auch eine Abhandlung über osmanische Handelspolitik genommen. Eine Agentur wollte ihn reich machen. Samariter allerorten. Er amüsierte sich wirklich. Aber er war zu klug und erfahren, um diesen Mist mitzumachen.

Allerdings hatte er begonnen sich zu langweilen. Es nagte an ihm, dass seine Pension nicht üppig ausfiel. Weil ihm diese abrutis das Leben zur Hölle gemacht hatten. Zuletzt dieser Floire. Den irgendein Minister, Präfekt oder die Geliebte eines Staatssekretärs zur Kriminalpolizei befördert hatte. Um gleich auf der Überholspur zu beginnen. Dieser Scheißkerl.

In seinem Kopf reifte ein Plan. Ein perfekter Plan. Er lachte. Der Staatssekretär staunte, der Präfekt verzog keine Miene, die Abgeordnete lächelte dieses Lächeln. Lächeln ist nie falsch. Außer auf Beerdigungen.

14.

»Ich finde das wirklich bedauerlich … nein, das wünscht man ja keinem.« Sie unterstrich die Aussage mit einem Kopfschütteln.

Die Frau des Ministers wollte auf keinen Fall, dass die Berliner Kriminalbeamten zu ihr nach Hause kamen. Klar. Sie wollte sowieso nach Berlin fahren, um ihren Mann in der Zweitwohnung zu besuchen. Das passte gut. Jetzt saß sie im LKA in der Keithstraße.

»Sie verstehen, warum wir Sie befragen müssen?«, fragte Salinger. Sie versuchte sich die Frau im Dirndl vorzustellen. In der Presse stand, sie habe einige im Kleiderschrank hängen.

»Natürlich«, sagte die Frau. »Sie müssen allen Spuren folgen.«

»Die meisten Täter kommen aus dem Umfeld des Opfers, Familie, Freunde«, sagte Yussuf.

»Ich weiß«, sagte die Frau. Mehr Verständnis war nie in Augen gelegt worden. Offenbar ließ sie keinen Fernsehkrimi aus.

»Beim Opfer handelt es sich um die Geliebte Ihres Mannes …«

»Die einstige Geliebte«, sagte die Frau des Ministers. Nüchtern, als redeten sie übers Wetter.

»Die wieder schwanger war«, sagte Yussuf.

Die Frau blickte ihn an. Ja und?, sagte der Blick.

»Leider verweigert Ihr Mann eine DNS-Probe«, sagte Salinger.

Die Frau räusperte sich. Sie blickte zu de Bodt. Aber der kehrte ihr den Rücken zu, guckte aus dem Fenster.

»Sie finden es nicht … befremdlich, einen Bundesminister um eine Speichelprobe zu bitten?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte Yussuf. »Zumal einen, der in der Öffentlichkeit nicht laut genug gegen das Verbrechen wettern kann. Sollten nicht alle Bürger der Polizei helfen? Und ist ein Minister nicht auch ein Bürger?«

Er hatte eine Freundin fürs Leben gefunden. Sie fixierte ihn. Hass schien auf. Wie führte der sich auf, der Türke? Sie hatte ihn gleich erkannt, obwohl der Typ blond war.

»Ich finde nicht, dass Absurditäten bei der Ermittlungsarbeit helfen. Dass Sie meinen Mann nicht mögen, ist Ihr gutes Recht, aber Sie sollten Ihre politischen Ansichten nicht mit der Polizeiarbeit vermengen.«

»Dann werden wir die DNS des Embryos mit der von Cheryl vergleichen. Seiner Tochter.«

»Sogar wenn Ihre … unverschämte Vermutung zutreffen sollte, beweist das gar nichts.« Ihre Wangen färbten sich blassrosa. »So viel verstehe ich schon von … Genetik.«

»Wir tun natürlich alles, um zu verhindern, dass diese Geschichte in den Medien landet.«

Sie straffte sich. Tiefe Falten um den Mund. »Sie sind ein unverschämter Dreckskerl.«

»Sie wissen, dass mein Kollege Sie anzeigen kann. Wegen Beleidigung«, sagte de Bodt. Er hatte sich umgedreht. »Er hat zwei Zeugen.«

»Und das hier«, sagte Yussuf. Zeigte der Frau sein Smartphone. Lautstärkeausschläge auf dem Bildschirm.

»Das ist illegal«, schrie die Frau. »Wir leben in einem Rechtsstaat.«

»Den Knopf für das Aufnahmegerät habe ich versehentlich berührt. Ich hoffe, das landet nicht auf Facebook. In so einer angespannten … da passieren Fehler. Leider.«

De Bodt widmete sich wieder dem Getriebe auf dem Hof.

»Mein Mann hat … Möglichkeiten.« Sie hatte sich schnell wieder im Griff.

»Obergrenze, Maut«, sagte Yussuf. »Yussuf abschieben? Sonst führt er Bayern in die Unabhängigkeit?« Mit todernstem Gesicht.

Die Frau musterte ihn. »Ich wusste nicht, dass die Berliner Polizei schon so runtergekommen ist. Aber man hat da ja einiges gehört.« Blickte zu Salinger. Erhob sich und ging.

De Bodt setzte sich auf den Stuhl neben der Tür. »Sie ist eins siebzig und Linkshänderin. Sie hat ein handfestes Motiv. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder wir finden jemanden, der den Minister und Frau Kehrer in letzter Zeit zusammen gesehen hat. Oder wir bewegen den Minister zum DNS-Test. Am besten wäre natürlich beides.«

»Oder wir nehmen das«, sagte Yussuf.

15.

Es musste ausgerechnet der sein. Sie mochte diesen Gerichtsmediziner nicht. Typ junger Schnösel. Wetzel, der gerne Ratespiele veranstaltete. Um zu prahlen. Ich weiß was, das du nicht weißt. Er blieb in der Tür stehen. »Darf ich?«

Kern wies auf den Stuhl neben ihrem Schreibtisch.

Jonny tat so, als kriegte er nichts mit.

»Sie haben meinen vorläufigen Bericht gelesen?«

Die Frage war frech. Sie zeigte auf die Akte. Fotos, die man besser nach dem Essen ansah. Im Bericht die Einzelheiten. Wie es ist, wenn ein fahrender Stahlkasten auf Haut, Fleisch und Knochen trifft. So grausam es war, im Bericht überraschte Kern nichts.

»Ist Ihnen nichts aufgefallen?«

Kern schwieg.

Wetzel neigte den Kopf. »Wirklich nichts?«

Dass er ihr auf die Nerven ging. Dass sie keine Zeit für den Scheiß hatte. Dass sie seine Visage nicht ausstehen konnte. Das fiel ihr auf. Aber sie brauchte den Kerl noch. Und seine Knechte in der Pathologie.

»Der Fahrer des Wagens ist zu schnell gefahren«, sagte Wetzel. Legte eine Pause ein. »Könnte sein, dass es kein Unfall war. Dass er auf den Mann gewartet und dann beschleunigt hat. Und wenn er dann noch bei Rot losgefahren ist …«

Kern schlug die Akte auf. »Hier steht aber nichts von warten und beschleunigen.«

»Ist eine Eingebung.«

»Ein Handwerker, der zu schnell fährt. Das ist nichts Besonderes. Die haben es immer eilig«, sagte Jonny. »Und übersehen vielleicht mal ’ne Ampel.«

»Gewiss, gewiss.« Wetzel tat nachdenklich. »Aber jede Wette, Sie haben keine Bremsspuren gefunden. Jedenfalls nicht von unserem Handwerker.«

16.

Neorenaissancestil. Hatte ein Kollege gesagt. Gebaut auf Anregung von Baron Haussmann. Lebranc war es egal. Doch heute wehte die Trikolore auf dem Tor vor dem Sitz der Police nationale in der Rue de la Cité nur für ihn. Natürlich hatte er der Bitte nachgegeben. Hatte sich überreden lassen. Sie hatten ihn mit so viel Lob und Anerkennung überschüttet, dass er darin hätte ersaufen können. Als sie gegangen waren, öffnete er eine Flasche Veuve Clicquot und trank sie aus wie Mineralwasser. Auf de Bodt. Auf die schöne Frau Salinger. Auf Ali Yussuf, den Zappeltürken. Vor allem auf sich. Aber bestimmt nicht auf seine Besucher. Er war doch nicht blöd. Er wusste, warum sie ihm auf die Pelle gerückt waren.

Der Pförtner erkannte ihn gleich. »Schön, dass Sie wieder hier sind«, sagte er. »Ich muss Sie bitten, einen Augenblick zu warten. Befehl …«

Lebranc nickte gnädig. Spazierte umher. Betrachtete die Porträts der Präfekten, Schirmmütze auf dem Kopf. Manche mit militärischem Gruß. Auf alten Fotos das képi.

»Herr Kommissar, wie schön, dass Sie wieder da sind.«

Floire, im schicken Anzug, die Fliege traute er sich noch nicht. Floire, der Anlauf genommen hatte, ihn links und rechts gleichzeitig zu überholen. Floire, dessen Vater jemanden kannte, der die Karriere seines Sohns per Düsenantrieb beschleunigen konnte. Floire, der im Gegensatz zu seinem Chef Lebranc in die Sonderkommission berufen worden war, um die Wasseranschläge aufzuklären. Floire, den Lebranc als Assistenten verlangt hatte. Als Bedingung. Und den der Polizeipräfekt sofort wieder seinem alten Chef unterstellt hatte. Weil der noch ein Hühnchen zu rupfen hatte mit dem Aufschneider.

Lebranc grinste innerlich. Machte sich steif. »Leutnant Floire, Sie wollen mir gewiss mein Büro zeigen.« Es war sein Büro, und Floire war in eine bessere Rumpelkammer verbannt. Zusammen mit der Sekretärin und einem Polizeischüler.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Von wem stammte das? De Bodt hätte es gewusst.

17.

Yussuf legte ein Plastiktütchen auf de Bodts Schreibtisch, an dem er saß.

»Was ist das?«, fragte Salinger.

De Bodt grinste.

»Das sind ministerliche Haare, frisch in seinem Büro eingesammelt. Im Flug, könnte man sagen. Als er sich durch die Haare strich. Es sind drei, und die können wir mit den Haarproben vom Tatort vergleichen.«

»Und einen DNS-Vergleich mit Proben vom Embryo machen«, sagte Salinger. »Auch wenn das natürlich superillegal ist.«

Eine halbe Stunde später nippte de Bodt am Espresso. Den die Zander in einer Zeremonie zubereitet hatte, die de Bodt entfernt an Tanzrituale in Papua-Neuguinea erinnerte.

»So, so«, sagte die Zander. »Eine Art Privatauftrag. Und wie soll ich das verbuchen?«

»Vielleicht gar nicht?« De Bodt lächelte sie an.

»Sie haben Nerven. Das geht übers BKA, Sie wissen das.«

»Sie werden da Ihre …«

»Nee, hab ich nicht.« Blickte ihn an. »Aber Sie haben doch Connections … sagen ein paar Leute.« Blickte ihn wieder an. »Ganz nach oben.«

De Bodt schüttelte den Kopf. Der Kanzleramtsminister war ihm dankbar, die Kanzlerin sowieso. Wären die Haare von einem sozialdemokratischen Kopf gefallen, vielleicht. »Wenn Uhlenhorst Ihnen Haare schickt, dann hätten Sie doch einen Grund, das BKA zu bitten …«

Die Zander nickte. Sah aus wie: Warum nicht gleich so?

»Die DNS-Proben vom Embryo heben Sie brav auf?«

Die Zander lachte. »Nee, so was landet bei uns im Klo.«

Uhlenhorst grinste, als de Bodt ihm die Sache erklärte. »Kein Problem. Ich weiß nicht, von wem die Haarproben stammen. Vielleicht vom Täter? Das BKA wird sich beeilen. Sie werden auch Übereinstimmungen mit anderen Proben melden.«

»Wie wahrscheinlich ist es, dass wir Haarproben von vor zehn Jahren finden? Und würden wir herausfinden, dass sie alt sind?«

»Das kann man schon seit den Fünfzigerjahren. Keine Sorge.« Er blickte de Bodt verwundert an. Du weißt doch immer alles, sagte der Blick.

»Ich hatte noch nie mit alten Haaren zu tun«, sagte de Bodt. Überlegte. »Der Minister, der wie sonst alte Menschen und alte Haare schwer zu kräuseln und zu formen war …«, murmelte er.

»Aha«, sagte Uhlenhorst.

»Hab ich bei Jean Paul gelesen. Ein schönes Bild, nur dass man es von heutigen Ministern eher nicht sagen kann.«

»Außer vielleicht bei diesem Bundesminister aus Bayern, und ich meine das nicht positiv.« Überlegte. »Oder beim ehemaligen Doppel-Null-Finanzminister.«

De Bodt lächelte.

»Du meinst, der Minister bringt seine Geliebte um, weil die wieder schwanger geworden ist?«

»Ich meine gar nichts. Er hat ein Motiv. Seine Frau hat ein Motiv. Und beide sind nicht von Pappe. Die Leute und die Motive.«

»Wenn wir beweisen können, dass der Minister den Embryo gezeugt hat, na, dann gute Nacht«, sagte Uhlenhorst. Schloss die Augen, stellte es sich vor. »Es sind schon Leute wegen weniger in U-Haft gelandet.«

18.

Die Videoaufzeichnungen in der Straßenbahn hatten nichts gezeigt. Natürlich gab es keine Kamera an der Haltestelle Nordpark/Aquazoo. Überall sonst. Da nicht. Es war zum Kotzen.

Jonny war aber nicht blöd. Der Transporter war aus Richtung Kaiserswerth gekommen und Richtung Theodor-Heuss-Brücke gefahren. Höchstwahrscheinlich. Wenn er sich schnell vom Tatort entfernen wollte, dürfte er die Seitenstraßen gemieden haben. Jonny hatte die Kollegen von der Verkehrspolizei angerufen. Und die hatten die Aufnahmen geschickt. Er konnte die Suche auf eine halbe Stunde vor und nach der Tat eingrenzen.

»Wäre ein Wunder, du fändest weniger als zwanzig Transporter mit der Beschreibung«, sagte Kern. Sie hatte die Akten des Pathologen noch einmal Zeile für Zeile gelesen. Wetzel schnöselte sogar in Gutachten. Der Affe. Das Werk hätte man verlustfrei um ein Drittel kürzen können. Umso ärgerlicher, dass er recht hatte. Wahrscheinlich.

Sie hatte mit der Mutter des Opfers gesprochen. War nach Köln gefahren. Schöne Wohnung in Rodenkirchen. Auf der Kommode das Bild ihres Manns. In Jägerklamotten. Sah nach hartem Hund aus.

Es hatte eine Stunde gedauert. Dann hatte Frau Kallmann sich im Griff. Sie saß auf einem Stuhl am Esstisch. Zusammengesunken. Vor dem Fenster eine Esche. Vögel zwitscherten. Ja, sie wollte, dass der Mörder gefasst wurde.

»Wir sind nicht sicher«, sagte Kern.

»Der Mörder«, wiederholte sie. Blickte Kern aus feuchten Augen an. »Mein Sohn war immer sehr vorsichtig. Sehr.«

»Gewiss«, sagte Kern. »Wir wissen nichts über Ihren Sohn.« Jonny hatte immerhin herausgefunden, dass er für eine PR-Agentur in Essen arbeitete. Genauer gesagt für die dortige Filiale einer internationalen Agentur. Mit dem albernen Namen GOON und dem Versprechen, dass der Kunde im Vordergrund stehe. Originell. Und Kallmann war Managing Director. Entkauderwelscht hieß das Geschäftsführer. Aber heute war ja in diesem Metier jeder Director. Warum war noch niemand auf die Idee gekommen, den Pförtner Entrance Director zu nennen?

»Ihr Sohn war Chef der Firmenfiliale in Essen«, sagte Kern. »Mehr wissen wir nicht.« Sie würde morgen hinfahren. Jonny sammelte schon alles, was er über den Laden herausfinden konnte.

»Ich weiß nicht viel«, sagte Frau Kallmann.

»War er verheiratet?«

Ihr Blick schweifte umher.

»Hatte er Freunde?«

Sie blickte Kern an, schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht.«

»Hat Ihr Sohn Sie oft besucht?«

»Nein, nicht so.«

»Wann das letzte Mal?«

Sie blickte zu Boden, schluchzte, trocknete die Augen. »Entschuldigung … letzte Woche, am Wochenende … er hatte immer so viel Arbeit … auch am Wochenende … hat immer telefoniert.« Sie überlegte. »Er hat sich geärgert.«

»Weswegen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Können Sie sich erinnern, was er gesagt hat?«

»Herrje, du machst dir noch in die Hose. Es kann nichts passieren. Ja, ich versprech es dir.«

»Er war wütend?«

»Er war wütend. Richtig wütend. Wollte sich gar nicht beruhigen.«

»Was für ein Typ war Ihr Sohn? Eher nervös?«

»Gar nicht. Er war … hatte gute Nerven. Er hatte seine Karriere auch wegen seiner Nerven geschafft … Er hat mir manchmal erzählt, wie es in der Firma zuging. In der vorigen, auch in der in Essen. Hektik, Druck, Anspannung.«

»War Ihr Sohn bei seinen früheren Besuchen auch so … genervt gewesen?«

»Überhaupt nicht.«

»Aber er hat auch telefoniert in Ihrem Beisein?«

»Ja, oft. Ließ sich schlecht vermeiden.«

»Und wie fanden Sie diese Gespräche?«

»Weiß ich nicht. Aber er ist nie aus der Haut gefahren. Knapp, sachlich. So war er immer.«

»Bei seinem letzten Besuch war es das erste Mal, dass er sich so erregt hat?«

Frau Kallmann überlegte. Nickte. Überlegte. Nickte. »Ja.«

19.

»Das ist ein Witz?« Tilly schien bereit zu sein zu lachen. »Ein schlechter Witz?« Das Lachen brach ab. »Sind Sie wahnsinnig!« Drei Ausrufezeichen in den Augen.

»Vermutlich nicht«, sagte de Bodt. »Irrtum und dergleichen ist ein in jenen objektiven Zusammenhang konsequent aufgenommener Inhalt. Es ist aber im Konkreten oft schwer zu sagen, wo er anfängt, Wahnsinn zu werden.«

»Wie bitte?«

»Hegel«, sagte de Bodt.

In Tillys Mimik wechselten sich Zorn und Unverständnis ab, im Sekundentakt. Der Kriminalrat entschloss sich, Kriminalrat zu sein. Vorgesetzter eines Hauptkommissars, der manchmal eben austickte. Aber jetzt hatte er die Grenzen der Vernunft nicht überschritten. Er hatte sie gesprengt.

»Stellen Sie sich vor, was das für einen Aufstand gäbe. Um Gottes willen!«

»Der Befund ist eindeutig. Der Minister hat gelogen. Der Embryo ist sein Sohn. Er war in der Wohnung des Opfers. Der Menge der Haare nach zu urteilen, nicht selten. Es sei denn, er hatte die Mauser. Wir müssen ihm noch die Fingerabdrücke abnehmen.«

»Wie kommen Sie an eine DNS-Probe des Ministers?«

»Zufall«, sagte de Bodt.

Tilly betrachtete ihn wie einen gefährlichen Verrückten. »Zufall!« Die drei Ausrufezeichen blinkten wie die Neonanzeige einer Rotlichtbar. »Sie haben die KT und Frau Dr. Zander dazu gebracht …?«

»Ich habe sie reingelegt. Die wussten nicht, von wem die Probe stammte.«

»Reingelegt«, wiederholte Tilly. »Reingelegt.« Schüttelte den Kopf. Verzweiflung. Seine Karriere war am Ende, weil dieser größenwahnsinnige Hauptkommissar …

»Ich regle das mit dem Minister«, sagte de Bodt. »Ich habe jetzt was in der Hand.«

»Lassen Sie die Finger davon. Wenn das rauskommt, kann der Mann gleich in die Sahara ziehen. Sie haben offenbar keine Vorstellung, was das bedeutet. Für die Bundesregierung, für Europa.« Tilly schnaubte.

»Weil er gleich zurücktreten kann, wenn es rauskommt, habe ich ein Argument in der Hand. Es wird ihn überzeugen.«

»Sie müssen die DNS-Proben vernichten. Sofort! Und alle Unterlagen darüber, die Sie haben.« Er griff zum Telefonhörer. Drückte auf einen Kurzwahlknopf. »Herr Uhlenhorst, kommen Sie sofort zu mir. Und bringen Sie alles mit, diese illegalen DNS-Proben … welche illegalen DNS-Proben, wollen Sie wissen … die, die Sie im Auftrag von Hauptkommissar de Bodt … besorgt haben … verstanden? … Sofort!«

Tilly erhob sich, marschierte einmal um den Schreibtisch herum. »Unfassbar. Sie ziehen uns mit Ihren … Methoden in … den Abgrund. Ihnen genügt es nicht, sich selbst …« Er setzte sich wieder.

Jetzt stand de Bodt auf. Ging zum Fenster. Blickte hinaus auf die Keithstraße. Getriebe in der Sonne. Was für ein schöner Tag. Er hätte Salinger gern zum Abendessen ins Nest eingeladen.

»Setzen Sie sich. Bitte.«

De Bodt wandte sich um, lehnte das Gesäß an die Fensterbank. Sah, wie der Kriminalrat den Gummibaum anstarrte, den der Hauptkommissar fast berührte. Es kann nicht so schlecht stehen in einer Welt, in der sich Menschen wegen Gummibäumen ängstigen. Dachte er. Fast hätte er es gesagt. Aber es hätte den Kriminalrat kaum beruhigt.

Es klopfte, die Tür öffnete sich. Uhlenhorst, eine Aktentasche unterm Arm. Tilly deutete auf die Tasche. »Ist das alles, was Sie haben?«

Uhlenhorst schloss die Tür. »Ja, die Proben sind allerdings beim BKA.«

»Darum kümmere ich mich«, sagte Tilly. Feuchte Stirn.

»Ich werde den Minister noch einmal vernehmen«, sagte de Bodt. »Vielleicht lügt er diesmal nicht.«

Tilly lief rot an. »Aber Sie werden ihm doch nicht …«

»Ich werde diesen Fall aufklären«, sagte de Bodt. Die Ruhe selbst.

Uhlenhorst wandte sich zur Tür. »Sie brauchen mich ja nicht mehr.«

Tilly winkte ihn hinaus. Er witterte die Gefahr vor allen anderen. Sonst wäre er nicht Kriminalrat geworden. De Bodts Alleingänge hatten schon Karrieren beendet. Auch er säße nicht auf diesem Stuhl, wenn sein Vorgänger nicht gefeuert worden wäre. Dank de Bodt. Wenn er die Ermittlungen bremste, wurde es gefährlich. De Bodt hatte sich öffentlich nie über seine Vorgesetzten geäußert. Obwohl die Blutsauger von der Presse ihn traktiert hatten. Obwohl er groß rausgekommen wäre. Der Kommissar, der aufräumt. Der Mann hätte Fernsehauftritte haben können, Interviews in Spiegel und Stern. Wenn Tilly ihn bremste oder von den Ermittlungen abzog, würde es gefährlich. Seine Karriere in de Bodts Hand. Aber es konnte noch schlimmer kommen. Wenn der Größenwahnsinnige auf die Schnauze fiel. So richtig. Und sie alle mit in den Sumpf zog.

»Ich könnte Ihnen ein Disziplinarverfahren anhängen. Sie beurlauben. Sie haben das Recht gebrochen.«

De Bodt lehnte an der Fensterbank und genoss ohne Regung. Tilly war zu schlau. Er würde nichts dergleichen tun. Sofort hieße es, er habe die Ermittlungen in einem Mordfall ersticken wollen. Wegen des Ministers aus Bayern. Um einen Mächtigen zu schützen. Das würde dem Innensenator auf die Füße fallen. Zumal der vom anderen Lager war. Wasserball spielen mit Krokodilen war ein Kinderspaß dagegen.

»Aber damit Sie sehen, dass ich Ihre … Verdienste zu honorieren weiß …« Mein Gott, der Mann kannte die Kanzlerin, hatte ihr den Arsch gerettet. Das tönte im Schweigen. De Bodt verstand jedes Wort, das der Kriminalrat nicht aussprach. Endlich: »Erwähnen Sie gegenüber niemandem die illegalen DNS-Proben. Verstanden?«

De Bodt verließ mit einem Tschüss das Büro. Draußen grinste er breit.

20.

Der Zauber des Anfangs verflog binnen Sekunden. Lebranc bereute es schon. Zu Hause auf dem Sofa hätte er BFMTV einschalten können. Da gab es immer Skandale und Skandälchen. Die Faschisten spielten Versteck. Bauten ihren Laden um, um beim nächsten Anlauf zu gewinnen. Lebranc hätte vor sich hin schimpfen können vor der Glotze. Besser als diese Bilder in dieser Akte anschauen zu müssen. Gleise. Der Kopf ein Blutklumpen. Einen Meter siebenundneunzig vom Torso entfernt. Auf der anderen Seite der Gleise. Ein Arm abgetrennt.

So wie man aussah, wenn man unter die Métro geriet. Station Rambuteau. »Ein interessanter Fall«, hatte Floire gesagt. Offenbar mochte er Blutbäder.

Die Tür öffnete sich. Wenn man vom Teufel spricht. »Die Aufzeichnungen der Kameras sind eingetroffen.«

»Gleich«, sagte Lebranc. Als Erstes würde er ihm das Türklopfen beibringen. Floire schloss die Tür leise von außen. Lebranc ging umher in seinem großen Büro. Er musste noch für Bilder sorgen. Aber der Konferenztisch und sechs Stühle waren neu. Er setzte sich auf einen am Kopfende. Altmodisch, aber bequem. Er würde ihn so umstellen lassen, dass er mit dem Rücken zur Fensterwand sitzen konnte.

Zurück am Schreibtisch, betrachtete er sein Telefon. Knöpfe über Knöpfe. Auf einem stand Vorzimmer. Er musste die Bilder im Kopf in eine Hirnnebenkammer schieben.

Eine Frauenstimme. »Ja, bitte, Herr Kommissar.«

»Schicken Sie mir Floire herein.«

»Sofort, Herr Kommissar.«

Floire öffnete die Tür. »Ja, Chef?«

»Gehen Sie zurück ins Vorzimmer, schließen Sie die Tür und kommen Sie noch mal herein.«

Floire riss die Augen auf. »Ja, Chef«, sagte er zögerlich und tat wie verlangt.

Steckte seinen Kopf wieder in die Türöffnung. Blickte Lebranc an.

»Noch mal«, sagte der.

Floire faltete die Stirn. Tat wie befohlen.

»Noch mal.«

»Darf ich fragen, Herr Kommissar …«

»Noch mal.«

Diesmal dauerte es. Dann ein Klopfen.

»Herein!«, rief Lebranc.

Floire betrat das Büro. Gelassen.

Lebranc deutete auf den Monitor auf seinem Schreibtisch. »Werfen Sie die Videos an!«

»Entschuldigung … Chef, Ihr PC ist noch nicht installiert …«

Lebranc fixierte ihn. »Wer ist dafür zuständig?«

»Die IT-Abteilung.«

»Dann machen Sie denen Beine.«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

Lebranc blickte ihn streng an. »Und wo können wir die Videos ansehen?«

Floire zeigte mit dem Daumen über die Schulter.

Er saß neben Floire. Der Polizeischüler lugte zwischen ihren Rücken auf den Bildschirm. Der Monitor hatte zweifellos schon die Betaversion von Tetris für MS-DOS gesehen.

Der Polizeischüler war ehrfürchtig vor Lebranc ausgewichen. Die Sekretärin kannte Lebranc von früher. Sie hatte graue Haare bekommen. Aber er mochte sie, sofern er überhaupt jemanden mochte. »Ich freue mich sehr, dass ich für Sie arbeiten darf, Herr Kommissar«, hatte sie gesagt. Die Einzige mit Manieren weit und breit.

Sie konnten die Zeit genau eingrenzen. Die Uhr am Bahnsteig zeigte 16 Uhr 12. Es gab vier Kameras. Zwei hatten den Vorfall festgehalten. Von den beiden Ausgängen her. Eine Frau mit Rucksack. Gedränge. Die Métro rollt ein, die Frau stürzt nach vorn. Streckt die Arme, fällt über die Bahnsteigkante. Auf die Gleise. Die Métro-Räder sprühen Funken. Man sieht, wie Leute erstarren, schreien. Ein paar drängen zum Gleis.

Die andere Kamera zeigte die Szene von der Gegenseite. Keine weiteren Erkenntnisse.

»Sie muss gestoßen worden sein«, sagte Floire. »Mit aller Wucht.« Sein Finger auf dem Bildschirm.

»Vergrößern«, sagte Lebranc. Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Wut auf diese Schweine, die Fremde auf Gleise stießen, verprügelten, eine Treppen hinuntertraten, wie es BFMTV aus Berlin berichtet hatte. Er starrte auf den Monitor.

»Das Telefon«, sagte Lebranc.

Die Sekretärin blickte ihn an, begriff und gab ihm das Telefon. »In einer Stunde habe ich einen anständigen Bildschirm auf dem Tisch, und mein Rechner ist angeschlossen. Bleiben Sie dran, mein Assistent klärt die Details mit Ihnen.« Reichte Floire den Hörer. »Die IT-Knechte.«

Es dauerte gut zwei Stunden, bis auf Lebrancs Schreibtisch ein großer Flachbildschirm stand und der PC-Lüfter summte. Dasselbe Video.

»Inzwischen haben die hochauflösende Kameras, wenigstens in dieser Métro-Station«, sagte Floire. Er hatte einen Stuhl vom Besprechungstisch neben Lebrancs Schreibtischstuhl gestellt.

»Stopp«, sagte Lebranc. »Jetzt Bild für Bild.«

Floire klickte mit der Maus. Der Film stand dreißig Sekunden vor dem Unglück. Jeder Klick ein Einzelbild. Manchmal schaltete Floire auf Zeitlupe, spulte zurück, dann wieder Einzelbild. Viele Leute warteten auf den Zug. Touristen mit Rucksäcken. Leute, die von der Arbeit kamen, zur Arbeit fuhren. Eine Gruppe Jugendlicher alberte herum. Lebranc hörte sie, obwohl das Video keine Tonspur hatte.

16:10:39.

»Das Opfer«, sagte Floire. Tippte auf den Kopf einer Frau. Braune Haare, schlank. Großteils verdeckt von anderen. Lebranc zog ein Taschentuch hervor und wischte den Fingerfettfleck weg.

»Oh, Entschuldigung«, sagte Floire.

Lebranc strafte ihn durch Schweigen.

Um die Frau herum fünf Leute, drei Männer, eine Frau, ein Mädchen. Dicht, aber nicht zu dicht. Um diese Gruppe eine Traube von Leuten. Zwei unterhalten sich. Einer telefoniert, gestikuliert. Lebranc hatte das Geschrei im Ohr.

Auf der Bank unter der FNAC-Werbung sitzt neben der alten Frau ein Mann. Sie hält die Handtasche mit beiden Händen auf dem Schoß. Er trägt eine dunkle Basecap, weiße Turnschuhe. Jeans, schwarzes T-Shirt. Muskulöse Oberarme, überhaupt scheint er Sport zu treiben. Er betrachtet das Opfer. Mit halb gesenktem Kopf.

16:10:58.

Wenig Bewegung. Das Opfer blickt zum Tunnel, aus dem der Zug kommen wird.

Der Mann auf der Bank unter der FNAC-Werbung erhebt sich.

16:11:17.

Der Basecap-Typ ist noch zwei Schritte vom Opfer entfernt. Hat sie im Auge. Sie blickt auf ihre Füße.

16:12:09.

Der Mann steht hinter dem Opfer. Seine rechte Schulter zurückgedreht, die Faust geballt. Sie schaut zum Zug, der auf dem Nachbargleis einrollt.

16:12:35.

Der Zug kommt. Der Arm des Mannes ist ausgestreckt. Die Schulter nach vorn gestemmt. Ein gewaltiger Stoß. Die Frau fällt vornüber.

16:12:48.

Die Frau ist nicht mehr sichtbar. Der Mann wendet sich ab.

»Jetzt haut er ab, der Scheißkerl«, murmelte Lebranc. »Der Scheißkerl.«

Sie verfolgten es in Zeitlupe, wie der Mörder ruhig verschwand. Den Kopf gesenkt.

»Die Kriminaltechnik soll das Video auswerten. Wir brauchen das Gesicht. Wenn wir ein Bild haben, geben wir es an die Medien. Den Kerl kriegen wir.«

Er blickte Floire streng an. »Was wissen wir über das Opfer?«

»Wenig. Laut Personalausweis Holländerin. Siebenundvierzig Jahre. Amsterdam. Vermutlich Touristin. Im Rucksack ein Fotoapparat, völlig zerstört. Erstaunlicherweise konnten wir die Speicherkarte auslesen. Touristenfotos, Eiffelturm, Louvre, Centre Pompidou und so weiter.«

»Das ist alles? Wenden Sie sich an Europol. Das hätten Sie längst tun können.«

Floire erhob sich, ging ins Vorzimmer. Kehrte mit einer Akte zurück. Setzte sich auf den Stuhl.

»Tragen Sie den zurück.«

Floire trug den Stuhl zurück zum Tisch. Setzte sich. Öffnete die Akte. »Annemarie Schenker. Verheiratet, zwei Kinder. Eine Tochter, siebzehn Jahre. Ein Sohn, fünfzehn. Ihr Mann arbeitet bei Schenker, einem internationalen Transportunternehmen. Namensgleichheit ist Zufall. Sie arbeitet bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit dem Namen Purity Incorporated.«

Lebranc blickte ihn fragend an. Schwieg. Dann: »Irgendwas, das uns weiterbringt?«

»Also, für die Mafia hat sie nicht gearbeitet.«

»Sehr aufschlussreich. Ich wusste, dass Sie ein talentierter Kriminalist sind.«

»Danke, Patron.«

»Sie verstehen alles, wie Sie es wollen«, sagte Lebranc und winkte ab. »Kümmern Sie sich um das Täterfoto. Ich will das heute noch an die Medien rausgeben.«

»Ja, Chef.«

»Ja, los! Worauf warten Sie noch?«

Floire verzog das Gesicht. Öffnete den Ordner. Zog das Foto hervor. »Das könnte helfen.«

Lebranc versetzte sich in die Rolle des Métro-Mörders und sah Floire auf den Gleisen liegen. Ein letztes Grinsen schickte er ihm nach, als der Zug heranrollte.

21.

»Der Herr Minister ist nicht zu sprechen.«

»Sagen Sie ihm, er sei am Tatort gewesen«, sagte de Bodt ruhig.

»Wie bitte?«

»Sagen Sie es ihm. Jetzt.«

Schweigen. Dann: »Warten Sie bitte.«

Eine Minute später: »Was gibt es Neues?« Die Stimme des Ministers im Hörer.

»Sie hatten Geschlechtsverkehr mit dem Opfer. Sie sind der Vater des Embryos. Sie haben erklärt, keinen Kontakt mehr mit der Frau gehabt zu haben. Seit zehn Jahren. Nur per SMS. Wegen der Tochter. Sie haben gelogen.« De Bodt war die Ruhe selbst.

»Was erlauben … ich habe morgen einen Termin in Berlin.«

»Gut«, sagte de Bodt. Jede Wette, du hattest vorher keinen Termin in Berlin.

»Ich werde Ihnen Rede und Antwort stehen.«

»Das hätten Sie längst tun sollen. Sie behindern unsere Ermittlungen.«

»Das verstehen Sie nicht.«

»Ich verstehe alles«, sagte de Bodt.

»Sie behalten das für sich, verstanden?«

De Bodt legte auf.

Salinger lachte. Yussuf schlug einen Wirbel auf seinem Schreibtisch. »Die Schufterei macht doch Spaß. Manchmal.«

»Gleich klingelt es wieder.« De Bodt blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr.

»Die Gattin des Ministers war’s«, sagte Salinger. »Und er weiß es. Kann ja auch eins und eins zusammenzählen. So ereilt ihn die alte, neue Affäre doch noch.«

»Wenn du so sicher bist, sollten wir sie gleich vorladen.«

»Sie beziehungsweise ihr Anwalt wird darauf bestehen, dass die Vernehmung in Bayern stattfindet. Amtshilfe. Dann gibt es ein Hauen und Stechen …«

»Eher nicht«, sagte de Bodt. »Am Ende muss sie doch hier erscheinen. Das weiß auch der Minister. Die werden sich nicht die Blöße geben.«

»Unser Hellseher«, sagte Salinger.

»Dies Hellsehen ist aber, weil in seiner Trübheit der Inhalt nicht als verständiger Zusammenhang ausgelegt ist, aller eigenen Zufälligkeit des Fühlens, Einbildens usf. preisgegeben«, murmelte de Bodt. »Nein, das ist keine Hellseherei. Das ist klar wie Kloßbrühe.« Blickte sich um. »Hegel, weil euch das doch immer so interessiert.«

Es dauerte doch eine gute halbe Stunde, bis das Telefon klingelte. »Ich verbinde mit dem Herrn Innensenator.« Eine Frauenstimme.

De Bodt schaltete den Lautsprecher ein.