Terrorland - Christian Ditfurth - E-Book
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Christian Ditfurth

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Beschreibung

Politische Anschläge in Berlin – und das kurz vor dem Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten ...

Eine Anschlagsserie erschüttert Berlin. Ein Touristenbus fliegt in die Luft. Ein Flugzeug wird vom Himmel gesprengt. Der russische Botschafter kommt um, sein Nachfolger wird mitsamt Frau und Kind ermordet. Während die deutschen Sicherheitsorgane keinen Schritt weiter kommen, geht Kommissar de Bodt, eigensinnigster Ermittler der Berliner Polizei, der Sache mit ungewöhnlichen Methoden auf den Grund. Hat es einen Geheimnisverrat in Moskau gegeben? Ermordet ein russischer Geheimdienst Mitwisser? Und was wird erst passieren, wenn US-Präsident Ronald Dump kurz vor den amerikanischen Wahlen bei der Kanzlerin zu Gast ist?

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Zum Buch

Politische Anschläge in Berlin – und das kurz vor dem Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten …Eine Anschlagserie erschüttert Berlin. Ein Touristenbus fliegt in die Luft. Ein Flugzeug wird vom Himmel gesprengt. Der russische Botschafter kommt um, sein Nachfolger wird mitsamt Frau und Kind ermordet. Während die deutschen Sicherheitsorgane keinen Schritt weiterkommen, geht Kommissar de Bodt, Berlins eigensinnigster Ermittler, der Sache mit ungewöhnlichen Methoden auf den Grund. Hat es einen Geheimnisverrat in Moskau gegeben? Ermorden sie Mitwisser? Und was wird erst passieren, wenn US-Präsident Ronald Dump kurz vor den amerikanischen Wahlen bei der Kanzlerin zu Gast ist?

Zum Autor

CHRISTIAN V. DITFURTH, geboren 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin und in der Bretagne. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher und Krimis, u. a. die Reihe um den Historiker Josef Maria Stachelmann. Seit 2014 ermittelt der eigenwillige Kommissar Eugen de Bodt in einer Thriller-Reihe, die hoch gelobt und u. a. mit dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien »Ultimatum«.

»Ein rasanter, intelligenter Thriller.« NDR Info über »Schattenmänner«

»Ditfurth liefert Action mit Anspruch. Die beste Art, einen klugen Politthriller zu schreiben.« Westdeutsche Allgemeine Zeitung über »Ultimatum«

»Ditfurth hat mit Eugen de Bodt einen Ermittler kreiert, der aus der Masse der literarischen Kommissare heraussticht. Ein rasanter, intelligenter Thriller wie seine Vorgänger.«NDR Info zu »Schattenmänner«

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Christian v. Ditfurth

TERRORLAND

Ein De-Bodt-Thriller

C. Bertelsmann

Informationen über dieses Buch:www.cditfurth.deDieses Buch ist ein Roman und kein Tatsachenbericht. Das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Trotz der vom Autor in künstlerischer Freiheit gewählten fiktiven Handlungsabläufe mögen im Einzelfall Anklänge an Verhaltensweisen lebender oder verstorbener Personen oder an öffentlich bekannte Unternehmen nicht immer vermeidbar gewesen sein; dies ist aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfassend geschützt.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 C. Bertelsmann

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Alt

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagabbildungen: Getty Images (Matthias Makarinus/Moment; Thomas Trutschel/Photothek); © Textures.com; Miloje/Shutterstock.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25186-4V002www.cbertelsmann.de

Meinem in den Ruhestand geflüchteten Lektor Christian Rohr

Was uns alles versucht, das Vertrauen zu den Sinnen zu rauben.

Freilich umsonst!

Denn die Täuschung entspringt in den meisten der Fälle

Erst dem Denken des Geistes, das wir doch selber hinzutun,

Das uns erblicken lässt, was das Auge doch gar nicht erblickt hat.

Ist doch nichts so schwierig als Scheidung des deutlich Erkannten

Von dem Bezweifelbaren, das unser Verstand noch hinzutut.

Lukrez

Prolog

Boris Borissowitsch Kornilow blickte sich um. Sah die feuchten Wände. Die Matratze. Den Stuhl. Die Glühbirne an der Decke. Den Eimer für die Notdurft. Zwei Plastikflaschen und eine Tüte mit Sandwiches. Keksen. Roch den Modergeruch.

»Ich habe leider kein Luxushotel gefunden, das Sie aufnimmt.«

Kornilow setzte sich auf den Stuhl. »Das kostet Sie den Kopf.«

»Mag sein. Sie können den Aufenthalt hier abkürzen. Erzählen Sie, was Sie wissen, und schon sind Sie draußen.«

»Das kostet Sie den Kopf«, wiederholte Kornilow. »Ich bin Botschafter. Ihre Regierung verarbeitet Sie zu Hackfleisch. Wer immer Ihre Regierung ist.«

»Das geht hier nicht zu wie bei Ihnen zu Hause.«

»Sie werden sich wundern. Unsere Sicherheitsorgane werden Sie finden und erledigen.«

»Glauben Sie nur fest dran.« De Bodt lächelte ihn an. Die Maske wärmte. Schweiß auf der Stirn.

»Ich bin Botschafter, Diplomat. Geschützt.«

»Ich habe die Liste der russischen Diplomaten. Gibt’s im Darknet für ein paar Bitcoins. Sie sollten Ihre Leute besser bezahlen. Sie stehen nicht auf der Liste.«

Kornilow starrte ihn an. »Meine Regierung hat mich zum Botschafter in Berlin ernannt.«

»Nett von Ihrem Präsidenten. Die Mutter aller Blitzkarrieren. Sagen Sie ihm, dass ich ihm für die Information danke. Die in dieser Karriere steckt. Sie haben einen Fehler gemacht.«

»Das überleben Sie nicht.«

»Verfallen Sie also endlich in den Ton, den Gestalten wie Sie pflegen.«

»Sie erfahren nichts von mir.«

»Gern. Dann verrotten Sie also hier. Richten Sie sich gemütlich ein. So in zwei, drei Tagen habe ich vielleicht Zeit für Sie. Kann auch länger dauern. Teilen Sie sich alles« – Blick auf Tüte und Flaschen – »gut ein.«

1.

City Sightseeing Berlin. Der Bus bremste, rot, mit gelber Kindersonne. Haltestelle Unter den Linden/Friedrichstraße.

»Nun drängelnse doch nicht …« Mit einer Hand schob er seine Frau nach hinten, um sie zu schützen. Die andere schlug durch die Luft. Zwischen sich und dem jungen Paar. Das sich von der Seite in die Schlange schob. So tat, als wären die anderen nicht da. Sie mit großer Sonnenbrille und einem Pappbecher in der Hand. Stöpsel in den Ohren. Die Hüften zuckten im Takt. Er mit Bierflasche und Basecap. »Ist ja gut, Opa«, sagte er. Schob die Hand weg und stellte sich vor den Alten und seine Frau.

Die junge Frau wackelte mit den Hüften.

»Unverschämtheit«, zischte der Alte.

Das junge Paar fand die letzte Sitzbank oben im Doppeldeckerbus. In der Sonne, dem Riesengrill.

Es war August, die Stadt überschwemmt von Touristen, und der Bus konnte nicht alle Fahrgäste aufnehmen.

»Bald kommt der nächste!«, rief der Fahrer. Auf Deutsch, auf Englisch.

Die Tür schloss sich endlich. Der Alte stieg die Treppe vom Oberdeck hinunter. »Alles voll«, sagte er zu seiner Frau.

Im Unterdeck waren zwei Plätze frei. Einer auf der letzten Bank, der andere hinter der rückwärtigen Tür.

Der Bus ruckelte. Fuhr los. Bremste. Der Fahrer fluchte. Dann rollte der Bus los.

Der Stadtführer begann zu reden. Auf Englisch. Der alte Mann drehte sich um, sah nach hinten. Wechselte einen Blick mit seiner Frau.

»Friedrichstraße«, sprach der Reiseführer ins Mikrofon. Es schepperte aus den Lautsprechern, die über den Sitzen eingelassen waren. Der Alte verstand nichts weiter. »Komische Oper on the left …« Danach »the Russian embassy«.

Der Bus bremste, hielt an. Der Fahrer schimpfte. Der alte Mann roch etwas. Wie verbrannt. Wenn Kabel schmolzen. Dann spürte er einen Riesenschlag. Den Knall hörte er schon nicht mehr.

2.

»Diesmal steigt ihr ab«, sagte Salinger.

»Du hast doch keine Ahnung.« Yussufs Hertha-Wimpel zitterte vor Wut. Als wäre er bestimmt, Yussufs Gefühle auszudrücken.

De Bodt saß auf seinem Stuhl neben der Tür. Er war irgendwo. Vielleicht überlegte er gerade, wie sich der Geist in einem Wimpel ausdrücken könnte. Vielleicht war er einfach müde. Seit er verspätet im Büro erschienen war, wirkte er abwesend. Vielleicht dachte er über den Pfad des Widersinns nach, der ihn in dieses Büro führte. Tag für Tag. Ausgenommen die Wochenenden. Ausgenommen, wenn er einfach nicht auftauchte. Wie es in jüngster Zeit mehrfach geschehen war. Was Salinger und Yussuf ausbadeten, weil sie Erklärungen erfinden mussten. Es war umso schwieriger, da die Berliner beschlossen hatten, sich gerade nicht gegenseitig umzubringen. Sie leisteten Amtshilfe für Münchener Kollegen, die einen Sexualmord in Berg am Laim ausgegraben hatten. Sie suchten jeden Mann, der vor zwölf bis fünfzehn Jahren dort gewohnt hatte. Ein paar Berliner waren darunter, die nun eine DNS-Probe abgeben sollten. Per Wattestäbchen, das ihren Speichel aufnahm.

Die Tür knallte auf. Im Raum stand Tilly. Der Kriminalrat schwitzte. Seine Hände zitterten. Wie seine Stimme. Obwohl er entschlossen klingen wollte. »Bombenanschlag … Unter den Linden … gegenüber sowjetischer … russischer Botschaft. Ein Bus …«, stotterte er.

»Ja?«, fragte Salinger. Weil ihr nichts Besseres einfiel.

»Sie übernehmen«, sagte Tilly. »Sie übernehmen«, wiederholte er. »Der Erste Hauptkommissar de Bodt … haben Sie verstanden?« Große Augen blickten de Bodt an. Gefühle mochten sich vielleicht nicht im Zittern eines Wimpels ausdrücken, aber die Angst in den Augen.

De Bodt nickte.

Der Kriminalrat starrte ihn an, immer noch über de Bodt gebeugt.

»Sie gestatten«, sagte de Bodt. Erhob sich. Tilly sprang fast zurück.

3.

»Tilly hatte keine Wahl«, sagte Salinger. »Das hat er sich mit der Beförderung eingebrockt. Herr Erster Hauptkommissar de Bodt.«

De Bodt saß auf der Rückbank. Musste sich festhalten. Yussuf fuhr Slalom. »Das wird ihm nicht schwergefallen sein. Spätestens morgen übernehmen der Generalbundesanwalt und das BKA. Wir dürfen vorher nur aufräumen. Danach sind wir deren Hilfspersonal«, sagte de Bodt.

Von Weitem hörten sie die Sirenen. Ein Jaul-Inferno. Als sie sich dem Tatort näherten, fanden sie die Straße blockiert. Blinklichter, rot und blau. Streifenwagen, Busse der Bereitschaftspolizei, Krankenwagen. Ein Übertragungswagen war schon aufgetaucht.

Yussuf stellte den Passat auf dem Mittelstreifen ab. De Bodt öffnete die Tür. Und trat auf etwas Weiches. Einen Arm, ohne Hand.

Er setzte sich wieder auf die Rückbank. Versuchte sich zu kontrollieren. Yussuf hatte den Arm entdeckt. Pfiff zwei Uniformierte herbei. Sagte nur: »Außerhalb der Absperrung.«

Er setzte sich ans Steuer und ließ den Wagen im Rückwärtsgang rollen. Hielt an.

Salinger saß auf dem Beifahrersitz. Alle Farbe aus dem Gesicht gewichen.

De Bodt spürte, wie die Übelkeit die Speiseröhre hochkroch. Kalter Schweiß auf dem Rücken, dann auf Brust und Stirn.

Ein Hauptkommissar in Uniform stellte sich neben den Wagen. Blickte hinein. »Sie sind de Bodt?«

Der nickte.

»Ein Doppeldeckerbus ist explodiert. Wohl keine Überlebenden unter den Passagieren. Der Bus war voll. Das sind zweiundachtzig Tote. Dazu der russische Botschafter. Enthauptet von einem Trümmerteil. Vor dem Eingang des Gebäudes. Es gibt weitere Verletzte, vielleicht auch Tote durch Trümmer. Leute, die das Pech hatten, in der Nähe zu sein. Wir haben noch keinen Überblick. Die Sanis suchen noch. Als wäre ein riesiges Schrapnell explodiert. Wiesbaden wird sich bald melden.«

Am Himmel ein Hubschrauber. De Bodt sah die Linse der Videokamera blitzen. »Besorgen Sie das Video«, sagte er. Zeigte auf das Rieseninsekt, das über ihnen flappte. »Und erweitern Sie die Absperrung. Bis Sie keine … Überreste mehr sehen …«

Der Hauptkommissar legte den Zeigefinger an die Schläfe und verschwand.

»Der russische Botschafter … na, das gibt Ärger«, sagte Salinger.

Sie stiegen aus. Ein Polizist hob das Absperrband. Zerfetzte Gliedmaßen. Ein Unterschenkel hing in einem Strauch, der Fuß baumelte an einer Sehne.

Eine Rückleuchte lag auf einer Bank, ein Kabel ragte in die Ritze. Daneben, davor, darunter Fleischfetzen. Ein halbes Ohr.

Yussuf blieb stehen. Krümmte sich und erbrach.

Je näher sie dem Buswrack kamen, desto mehr Leichenteile waren verstreut. Plötzlich stand die Zander vor de Bodt. Aufgerissene Augen. »Ein Blutbad … wer das …« Verschwand. Überall Leute in Overalls.

Sie machten einen Umweg. Die Kollegen hatten mit Absperrbändern eine Gasse markiert. Zu einem Lastwagen. Davor ein Tisch. An dem stand Krüger. »Sie übernehmen, bis das BKA uns versklavt«, sagte er. Er war schweißnass. Wischte sich mit dem Ärmel die Stirn trocken. Sonst hätte er sich gesträubt, aber diesen Fall konnte de Bodt haben. Eigentlich hätte der Kriminalrat die Ermittlungen leiten müssen. Doch der traute seinem Gespür. Soll doch de Bodt sich die Finger verbrennen.

Der Pressesprecher aus dem Präsidium am Tempelhofer Damm war schon da. »Sie sollten eine Stellungnahme … vielleicht …« Deutete Richtung Brandenburger Tor. Wo sich der Übertragungswagen vermehrt hatte. Satellitenschüsseln. Leute mit Kameras auf der Schulter. Sie scharrten vor dem Absperrband. Drängelten sich um Plätze nahe der Absperrung.

»Gehen Sie hin«, sagte de Bodt.

»Nein … dann hören wir in den Nachrichten, dass die Polizei keinen Überblick und auch sonst nichts hat.«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn die Nachrichten die Wahrheit verbreiten.«

Krüger verfolgte das Gespräch. Blickte Salinger an. »So eine Scheiße.«

Ein Oberwachtmeister erschien. »Ein russischer … Diplomat will Sie sprechen. Sofort«, sagte der Uniformierte. Fast stimmlos.

»Bringen Sie ihn her.«

Der Polizist starrte de Bodt an. »Wirklich?« In der Frage klang mit: durch all diese Leichenteile?

»Ja.«

Der Polizist lief zum Absperrband Richtung Botschaft. Kehrte zurück mit einem Mann, der jeder Catchertruppe Ehre gemacht hätte. Umso erstaunlicher die dünne Stimme.

»Ich bin der Erste Botschaftsrat Jewgenij Kamalow, unser Botschafter wurde ermordet bei einem Verbrechen, das außerhalb des Botschaftsgeländes stattgefunden hat. Sie verstehen, dass ich über Ihre Ermittlungen unterrichtet werden möchte.«

»Das verstehe ich. Ich bin der Erste Hauptkommissar de Bodt. Erkundigen Sie sich bitte beim Auswärtigen Amt.« Wandte sich Uhlenhorst zu, der zum Tisch gekommen war.

»Eine Bombe«, sagte Uhlenhorst. »Unterdeck, in der Mitte, nehme ich an.«

»Alle tot?«

»Die Ärzte haben keine Überlebenden gefunden.« Er hätte auch sagen können: Ist nicht mein Job. Doch: »Es hat auch Passanten getroffen. Es gibt Verletzte. Der Bus war voll besetzt … wie die meisten Stadtrundfahrten im Sommer.«

»Es hat auch den russischen Botschafter erwischt«, sagte de Bodt.

»Er ist tot?«

De Bodt nickte.

»Ich verlange im Auftrag meines Präsidenten, dass Sie alles tun, um die Urheber dieses Verbrechens zu fassen. Wir werden Sie selbstverständlich mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen«, sagte Kamalow.

»Schicken Sie Konstantin Merkow«, sagte de Bodt. »Wenn Sie uns helfen wollen.«

4.

Uhlenhorst erschien mit der Zander im Büro. Er setzte sich auf de Bodts Schreibtischplatte, sie sich auf den Stuhl neben der Tür. Die Zander hatte eine Aktenmappe in der Hand. Legte sie auf den Schoß und sagte: »Zwischenstand. Wir haben dreiundneunzig Tote und zweiundzwanzig Verletzte, davon neun so schwer, dass sich die Todesliste verlängern wird. Es handelt sich um zweiundachtzig Opfer aus dem Bus, einschließlich des Fahrers. Außerdem Leute in der Umgebung. Dazu der Botschafter, der das Pech hatte, sich im falschen Augenblick im Vorgarten der Botschaft aufgehalten zu haben …«

»Ein Stahlblechtrümmerstück«, sagte Uhlenhorst. »Scharf wie ein Fallbeil.«

»Die anderen Opfer sind Passanten, meist Touristen. Deren Identifizierung ist vergleichsweise leicht«, sagte die Zander. »Wir haben auch Verstärkung aus Brandenburg und Sachsen-Anhalt erhalten. Weitere stoßen dazu. Pathologen aller Länder, vereinigt euch.« Sie sprach mit dem Boden, blickte nicht ein einziges Mal auf. »Die Identifizierung der Leute im Bus … schlimmer kann es bei einem Flugzeugunglück auch nicht sein.«

Salinger legte den Telefonhörer auf. »Das Präsidium wird bombardiert mit Anrufen von Angehörigen und Arschlöchern. Es richtet eine Nummer für Angehörige ein. Der Pressedepp verlangt, dass du eine PK machst.«

De Bodt winkte ab.

Die Tür öffnete sich. Tilly. Musterte die Kollegen. Nickte der Zander zu.

»Das Präsidium will, dass Sie eine Pressekonferenz abhalten«, sagte de Bodt.

Tilly blickte ihn an. De Bodt las in seinem Gesicht die Frage, ob eine PK ihm nutze oder schade. »Haben wir denn was für eine PK?«

»Die Opferzahlen«, sagte Salinger.

»Schrecklich«, erwiderte Tilly. Sein Hirn hatte noch keine Antwort auf die Frage gefunden.

Uhlenhorst legte eine Akte auf de Bodts Schreibtisch. »Eine Bombe, eindeutig. Sie lag offenbar in einer Tasche unter einem Sitz, vor der Hintertür. Sie wurde womöglich per Funk gezündet.«

»Zeugen haben gesehen, dass der Bus kurz vor der Explosion gebremst hat. Er stand, als er hochging.«

»Frag die Russen, ob sie Bilder haben«, sagte Salinger. »Die haben ihr Grundstück gespickt mit Überwachungskameras.«

»Das muss der Chef erledigen«, sagte Yussuf.

»Wann übernimmt der GBA?«, fragte de Bodt.

»Sobald das raus ist mit der Bombe«, erwiderte Tilly.

»Dann also ab sofort.« Er erhob sich und verließ das Büro.

Tilly öffnete den Mund. Nach einer kleinen Ewigkeit fragte er: »Wohin geht er?«

»Besorgt was fürs Abendbrot«, sagte Salinger.

5.

»Wir müssen unsere Diamanten beschützen. Egal, was es kostet. Gut gemacht«, sagte der Chef.

Adrian nickte. Verstand, dass der Chef sich selbst überzeugen musste.

»Alles ist erlaubt«, sagte der Chef. »Solange niemand unsere Spur findet.« Sein Kopf hob und senkte sich.

Der Chef hatte Schiss um seinen Posten. Wenn der Chef stürzte, würde man weitere Sündenböcke suchen. Es würde auch ihn erwischen. Adrian wusste es. »Niemand findet unsere Spur«, sagte er.

6.

De Bodt erschien zu spät. Salinger kaute am Fingernagel. Yussuf las auf seinem Smartphone.

»Tilly sucht dich«, sagte Salinger.

De Bodt setzte sich auf den Stuhl neben der Tür. Er hatte am Abend die Nachrichten eingeschaltet. Die BKA-Kollegen hatten noch nichts gefunden. Sagte der Generalbundesanwalt. Der machte eine traurige Miene und wusste sonst nichts. Flaggen auf halbmast, eine Fernsehansprache der Kanzlerin war angekündigt.

»Tilly …«, sagte Salinger.

De Bodt hob kurz die Hand. Er wusste, was jetzt kam. Weil es immer so war.

»Der BKA-Präsident verlangt, dass wir ihm mit allen Kräften helfen. Der Polizeipräsident hat es versprochen«, sagte Salinger.

»Ist normal«, sagte de Bodt. »Wir haben denen schon geholfen. Mit einer Bestandsaufnahme.« Sie hatten bis in die Nacht zusammengefasst, was sie gefunden hatten. Nicht viel außer Leichenteilen und Trümmern. Immer wieder war der Botschaftsrat aufgetaucht. Als würde es helfen, wenn der Druck machte. De Bodt hatte es schließlich gereicht: »Sie behindern unsere Ermittlungen. Verschwinden Sie. Wir können das auch übers Auswärtige Amt klären …«

Tatsächlich war Kamalow nicht mehr aufgetaucht.

Uhlenhorst hatte um zwei Uhr am Morgen erklärt, dass es sich wohl um Semtex gehandelt habe. Wie viel, wusste er nicht. »Immerhin genug, um einen Bus zu zerfetzen.«

Wie einen Pappkarton. De Bodt versuchte zu verstehen, was sie besprachen. Er fand keinen Sinn.

Die Zander kommandierte ihre Armee von Rechtsmedizinern. Eine grauenhafte Arbeit. »Die Identifizierung kann dauern. Vielleicht werden wir nie alle Opfer kennen.«

»Das BKA hat Sie angefordert.« Tilly blickte ihn an. »Seit Sie hier sind …«

»Nur mit meinen Mitarbeitern.«

»Geht klar.«

Wahrscheinlich hätte ich auch den Thron der Königin von Saba fordern können, dachte de Bodt und sagte nichts. Es gab keine Bekennerschreiben. Der IS schwieg, dabei hätte er es doch nötig gehabt, Blutbäder für sich zu reklamieren.

»Wir haben nichts erhalten. Nicht von Islamisten, von überhaupt niemandem …«, sagte Tilly, als könnte er de Bodts Gedanken lesen.

»Vielleicht wieder die Russen?«, warf Yussuf ein.

»Oder der Ku-Klux-Klan?«, erwiderte Salinger.

»Wer keine Fantasie hat, soll schweigen«, erwiderte Yussuf.

Aber das war routinierte Alberei, der alles fehlte, was sie sonst ausmachte. Nicht mal Bitterkeit steckte drin.

Das große Nichts, dachte de Bodt. Sagte es. Fügte an: »Wer sprengt …?« Warum das Offensichtliche fragen? »Welche Erklärungen kann es geben?« Fuhr fort: »Erstens islamistische Terroristen, die möglichst viele Ungläubige in die Dschahannam schicken wollen. In den Ofen für die Ungläubigen. Zweitens jemand, der jemanden töten wollte und diesen mitsamt dem Bus in die Luft gejagt hat …«

»Der hätte aber wissen müssen, dass sein Opfer eine Stadtrundfahrt machen wollte. Dass es ausgerechnet in diesen Bus steigen wollte«, sagte Salinger. Hielt den Zeigefinger an die Lippe. »Stimmt, wäre möglich.«

»Oder dem Täter war es egal, wo er sein Opfer umbrachte, und es hat zufällig den Bus erwischt«, sagte Yussuf.

»Vielleicht soll der Anschlag den Tourismus treffen«, sagte de Bodt. »Schick doch deinem Kollegen in Paris den Hinweis. Dass sie aufpassen …«

»Vielleicht galt der Anschlag dem russischen Botschafter«, sagte Salinger. »Hatten wir doch schon. Russische Diplomaten, die serienweise aus dem Leben scheiden …«

»Man könnte fast denken, du hast was gegen Russen«, sagte Yussuf. »Dann hätte der Täter ein paar Variablen zu viel berechnen müssen.«

»Variablen, was du für Wörter kennst.«

Jetzt wäre unter normalen Umständen etwas geflogen, ein Radiergummi oder ein Kugelschreiber.

Tilly verfolgte die Witzelei mit gerunzelter Stirn. De Bodt fand sie schal. Aber es war ihre Manier, mit dem Schrecken umzugehen. Wenn man durch Leichenfetzen gewatet war, konnte man das Leben für sinnlos halten. Zusammenklappen. Zyniker werden. Oder so tun, als ginge alles weiter wie vorher.

De Bodt fragte sich, wie er es verarbeitete. Er begriff das Blutbad als eine Straftat, die er aufklären musste. Den Schrecken nahm er persönlich. Als Angriff, als Beleidigung.

»Na, dann wird ja bald dein Russenspezi mit seiner Haushälterin auftauchen«, sagte Salinger.

7.

»Schon wieder Berlin«, sagte Katt. Tonlos.

Merkow wusste, dass sie de Bodt und seine Mitarbeiter nicht ausstehen konnte. Den Möchtegern-Philosophen. Arrogant, selbstsicher. Mit seinen Zitaten, die alle nur nervten. »Wird Zeit, dass wir was Vernünftiges machen.« Seit einer Ewigkeit erstickte er in Routinearbeiten. Hatte seinen Präsidenten nach Nordkorea begleitet. In diese Karikatur eines Operettenstaats, gebaut auf Konzentrationslagern und Atombomben. Auf der Tour nach Weißrussland durfte Katt mitreisen. Zuvor hatte sie gemeckert, als sie im Büro rumsaß und nichts zu tun hatte. Sie sollte Akten sortieren, die Hinterlassenschaft des GRU-Skandals, den sie aufgedeckt hatten. Wobei sich Merkow fragte, ob er seinem Präsidenten einen Gefallen getan hatte. Oder dessen Plan durchkreuzt. Der Präsident hatte sich nichts anmerken lassen. Hatte die GRU-Führung rasiert. Sich öffentlich distanziert. Merkow fand es schwierig zu verstehen, was der Präsident wollte. Der schwebte im Allgemeinen. Hatte nichts zu tun mit den kreativen jungen Leuten, die Wahlen im Westen manipulierten und Hasskampagnen steuerten. Nichts zu tun mit Russia Today und den anderen Fake-News-Produzenten. Obwohl er die RT-Chefin selbst eingesetzt und gepriesen hatte. Nichts zu tun mit den Separatisten in der Ostukraine. Obwohl es die nicht gäbe ohne russisches Geld, russische Söldner und russische Waffen.

So unklar es war, so hilfreich war es für Merkow. Wenn sein Chef alles und nichts wollte, konnte Merkow sich immer auf den Willen des Präsidenten berufen.

»Irgendwann landen wir im Lager«, sagte Katt gern.

Sie hatte recht. Irgendwann würde der Präsident Merkow und Katt wegschaffen lassen. Aus welchem Grund auch immer. Aber noch zeigte ihm der Chef dieses Wachslächeln im Wachsgesicht. Im letzten Fall war Merkow nützlich gewesen. »Diese Verschwörung konnte nur aufgedeckt werden durch die hervorragende Arbeit unserer Sicherheitsorgane.« Hatte der Präsident erklärt. Besser kann man sich nicht absetzen. Auch vom eigenen Plan. Aber Merkow glaubte heute dies und morgen das. Er hatte sich fast daran gewöhnt. Es gehörte zur Aura des Präsidenten. Er würde vielleicht nie erfahren, ob der Präsident die Anschläge auf den Westen befohlen hatte.

»Schon wieder Berlin«, bestätigte Merkow. »Willst du hierbleiben?«

Sie lächelte. Tatsächlich. Jedes Lächeln verdampfte ein Molekül der Finsternis. Ihrer Jugend, ihrer Ausbildung, als das KGB Vater und Mutter gewesen war.

»Unseren Botschafter hat es erwischt. Bombenexplosion vor unserer Vertretung. Die haben einen Bus hochgejagt, um einen Anschlag auf uns zu tarnen. Sagt der SWR.« Der Auslandsnachrichtendienst.

»Diplomatin möchte ich nicht sein, jedenfalls keine russische. Zu kurzes Haltbarkeitsdatum.«

»Ob die Mordserie jetzt weitergeht, obwohl wir die Täter gestellt haben? Vielleicht haben wir uns geirrt. Ein Grund mehr, nach Berlin zu fahren.«

»Zu Hegels Wiedergänger.«

»Mit Hegel schließt die Philosophie überhaupt ab«, sagte Merkow trocken.

»Fängst du jetzt auch mit dem Scheiß an?« Sie grinste. Tatsächlich. Wieder ein Molekül weniger.

»Hast du das nicht bei deinen KGB-Genossen gehört? Stammt von Engels.«

8.

Am Konferenztisch im Polizeipräsidium am Tempelhofer Damm. Blick auf den Flughafen, heute Vergnügungsparadies. Für Menschen, die wegen des freien Blicks in die Großstadt gezogen waren.

»Sorry«, sagte der BKA-Ministerialdirektor Becker. Drahtig, sportlich. Messerscharfer Haarschnitt wie in Langley, Virginia. Glaubte man Hollywoodfilmen, in denen CIA-Agenten auftauchten. Becker hatte klare Augen. Und vermutlich lange Jahre geübt, um den stahlharten Blick zu trainieren. Er fasste den Fall zusammen. Emotionslos.

»Ich habe bei den Kollegen von BND und Verfassungsschutz nachgefragt. Die haben nichts Konkretes. Natürlich sind russische Diplomaten gefährdet. Moskau hat sich einen Haufen Feinde gemacht und die falschen Freunde.«

Tilly saß neben ihm. Auf der anderen Seite der Generalstaatsanwalt und der Polizeipräsident. Der die Nase gerümpft hatte, als de Bodt zu spät erschien. Die Tage der Kanzlerin waren gezählt. Sie würden bald mit ihm abrechnen können.

Gegenüber der Leitung saß ein kleiner Mann. Der an seiner Brille herumfummelte. Sich durch die Haare strich, wenn er die Brille auf die Nase gesetzt hatte. Um sie gleich wieder abzunehmen. Er erschrak fast, als der BKA-Mann ihn fragte. »Sie haben im Kanzleramt auch keine Erkenntnisse, Herr Zahn?«

Der schüttelte den Kopf. »Bei uns gehen tagtäglich Drohungen ein, auch gegen die Russen. Oder gegen uns und die Russen. Zuletzt gehäuft wegen dieser Ostsee-Pipeline. Aber es gab nichts Ungewöhnliches. Wir sind und bleiben Volksverräter, Russenknechte und geldgeile Arschlöcher.«

»Das ist ja beruhigend«, erwiderte Becker. Musterte Zahn. Schien das Gehirn zu schütteln, ohne den Kopf zu bewegen. »Was sind unsere Arbeitshypothesen? Wir werden in Richtung Terrorismus ermitteln müssen. Tschetschenen, Syrer, IS und was es da noch gibt.«

»Der russische Präsident hat von einem Anschlag auf Russland gesprochen«, sagte Tilly.

»Vielleicht ist es Zufall, dass der Bus vor der Botschaft hochging?«, fragte de Bodt.

Becker zeigte auf den Superbildschirm an der Wand. Drückte auf eine Fernbedienung.

Das Video zeigte den Bus. Vor ihm Autos, hinter ihm Autos. Der Bus fuhr Richtung Brandenburger Tor. Dann stoppte er hart. Die Fahrerin eines C-Klasse-Mercedes vor ihm hatte auf die Bremse getreten. Die Bremsleuchten grellten.

»Zufall?«, fragte Becker. »Die Kamera hängt auf der gegenüberliegenden Straßenseite.«

De Bodt sah, wie die Passagiere nach vorn wippten. Sah das linke Bremslicht des Busses leuchten. Es folgte ein Blitz, der Bus zerriss in einem Feuerball. Etwas flog nah an der Kamera vorbei. Eine Hand.

»Wir haben bei den Russen angefragt, ob die uns ihre Überwachungsvideos geben können«, sagte Becker. Er zeigte in Gestik und Stimme Selbstgewissheit. »Aber ich glaube, dass dieses Video eine Spur ist. Wir suchen die Fahrerin dieses Mercedes. Wir haben das Kennzeichen … Aber sie liegt im Krankenhaus. Schwer zu sagen, ob sie überlebt.«

»Spulen Sie zurück und dann in Zeitlupe nach vorn ab sechzig Sekunden vor der Explosion«, sagte de Bodt.

»Gern«, sagte Becker. Er hatte zwar schon alles gesehen, aber bitte …

»Stopp!«, sagte de Bodt. »Sehen Sie das?«

»Was?«, fragte Becker.

Tilly runzelte die Stirn.

»Wirkliche Seelen und Leiber gelangten da nimmer hinunter, sondern nur Schattengebilde und wunderlich blässliche Schemen.«

»Wie bitte?« Becker schüttelte jetzt auch den Kopf mit dem Hirn.

»Ich habe in der Nacht Lukrez gelesen, die Zeilen blieben hängen. Aber Lukrez hat meinen inneren Blick geschärft für Schemen. Schauen Sie genau hin. Da spiegelt sich was in der Windschutzscheibe des Mercedes. Wie ein Schatten.«

»Wir leben in einer Stadt, da spiegelt sich alles Mögliche in Scheiben.«

»Hier ist es ein Elektroroller samt Fahrer. Der wollte die Straße überqueren, hat nicht aufgepasst und die Frau im Mercedes zur Vollbremsung gezwungen. Deshalb hat der Bus gebremst. Deshalb ist die Bombe vor der Botschaft hochgegangen. Hätte der Bus nicht gebremst, wäre sie einige Meter später explodiert.«

Becker zoomte in das Standbild. Das unschärfer wurde. »Kann sein«, murmelte er, »muss aber nicht.«

»Fragen Sie Ihre Techniker. Die werden Reste eines Elektrorollers finden. Und vermutlich die Leiche des Fahrers. Ihre These besagt, dass die Frau im Mercedes ein Selbstmordkommando unternommen hat …«

»Vielleicht wusste sie nur, dass sie bremsen sollte?«, fragte Tilly leise. »Also, jetzt, wo Sie es sagen … kann sein, ein Rollerfahrer …«

»Das wäre jedenfalls eine Erklärung, die sich überprüfen lässt. Außerdem liegt sie nah …«

»Ockham, ich weiß«, sagte Tilly.

9.

»Wir haben Reste eines Elektrorollers gefunden«, sagte Uhlenhorst. »Ich habe das BKA schon informiert.«

»Und der Fahrer?«, fragte Salinger.

»Vergiss es«, sagte Uhlenhorst. »Dessen Überreste sind in Mitte verstreut. Wenn wir die Leiche identifizieren können, dann kriegen wir auch raus, wem der Roller gehörte …«

»Das nutzt nichts«, sagte de Bodt. »Der wollte die Straßenseite wechseln und hat nicht aufpasst. Deswegen musste die Frau bremsen.« Er saß auf dem Stuhl neben der Tür. »Wir werden überschüttet mit Spuren. Und keine führt zu den Tätern.«

»Dein Optimismus ist ansteckend«, sagte Salinger. »Wie war’s beim BKA?«

»Vergiss es.«

Noch übler war, dass Becker seine Sklaven jeden Abend sehen wollte. Um sich auszutauschen.

»Ich werde dir das Händchen halten«, sagte Uhlenhorst. »Tagsüber arbeiten wir, am Abend bewundern wir dieses Genie der Kriminologie. Was kann es Schöneres geben!«

»Darin ist jedermann einig, dass Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegenzusetzen sei«, sagte de Bodt leise.

»Vielen Dank, das hilft uns echt weiter«, sagte Salinger.

»Ich wollte doch nur mit Kant sagen, dass sich Genie nicht übertragen lässt.« De Bodt lächelte. »Wir gehen also umsonst zu Beckers Erleuchtungsrunden.«

»Vielen Dank, das erdet mich«, sagte Uhlenhorst.

»Vielleicht kümmern wir uns um den Massenmord vor unserer Nase«, sagte Yussuf. Nachdem er sein Rendezvous per Handy abgeblasen hatte.

»Jasmin?«, fragte Salinger.

Yussufs Gesicht färbte sich rötlich. Er fuhr sich durch die blonde Tolle. »Nichts, gar nichts. Ich habe die einschlägigen Portale abgeklappert. Kein Bekenntnis, nicht mal klammheimliche Freude. Außer auf einer Islamistenseite. Die freuen sich über die Strafe Allahs für die Ungläubigen.«

»Wir brauchen die Biografie jedes Opfers. Wurden die Verletzten schon vernommen?«, fragte de Bodt.

Yussuf nickte. »Die Kollegen haben angefangen. Das BKA hat Krüger in die Krankenhäuser geschickt. Bisher gibt es noch keinen Bericht.«

»Außer in den Medien«, sagte Salinger.

Die hatten es auch schon bei de Bodt versucht. Doch der hatte wortlos aufgelegt. Die Blätter überschlugen sich. Im Netz wurde gehetzt gegen Muslime. Die natürlich dahintersteckten. Die Rechtspartei trommelte lauter denn je gegen die »Asylantenschwemme«, die den Terror nach Deutschland gespült habe. Der Hass raste durchs Internet. Da halfen keine Uploadfilter. Wo eine Lüge gelöscht wurde, sprossen zehn neue.

Es klopfte, die Tür öffnete sich. Tilly. Nach ihm betraten Merkow und Katt das Büro.

»Das Auswärtige Amt und die Kanzlerin persönlich bitten Sie, gut mit unseren Kollegen aus Moskau zusammenzuarbeiten. Der Innensenator …«

»Willkommen«, sagte de Bodt, nachdem er sich vom Stuhl erhoben hatte.

Salinger bestarrte ihren Monitor, als gäbe es nur den in der Welt. Yussuf winkte.

»Bitte halten Sie Herrn Merkow auf dem Laufenden«, sagte Tilly.

»Das ist ganz leicht«, sagte Yussuf. »Wir haben Leichen und Trümmer. Sonst nichts.« Blickte auf den Bildschirm. »Und es war Semtex, sagt die KTU.«

10.

»Mein Präsident glaubt, dass der Anschlag der Botschaft galt«, sagte Merkow. Katt nickte. De Bodt musterte Merkow. Sie saßen im Café Eliza in der Sorauer Straße in Kreuzberg.

»Na, Geheimkonferenz?«, fragte Anne, die Café-Chefin.

Aber niemand schien es zu hören. Sie stellte drei Teebecher auf den Tisch. »Dritter Aufguss für dich. Die beiden davor für die anderen. Ich hoffe, es ist recht so. Muss ich den nicht wegschütten. Wir wollen doch die Welt retten, oder?« Sie verschwand um die Ecke.

»Ihr Präsident nimmt sich zu wichtig«, sagte de Bodt.

»Alle Welt ist gegen Russland«, erwiderte Merkow.

»Stimmt doch«, sagte Katt.

»Wenn Ihr Präsident so weitermacht, schafft er, was er beklagt. Paranoid. Aber lassen wir das …« De Bodt blickte Merkow an. »Der Anschlag galt eher nicht der Botschaft. Dieser Rollerfahrer soll mit Absicht … damit Sie glauben können, was Sie gerade erklärt haben?«

»Ich bitte Sie!«, sagte Merkow.

»Wenn jemand Ihren Botschafter umbringen will, dann wirft er im passenden Augenblick eine Bombe. Verlässt sich auf keinen Fall auf einen Plan, der den Namen nicht verdient hätte. Zu viele Risiken, eher unwahrscheinlich, dass es klappt. Dass der Bus genau in diesem Moment an dieser Stelle ist, dass der Botschafter in diesem Augenblick im Garten steht. Dass ein Trümmerteil ihn trifft. Es war unwahrscheinlich, dass es ihn traf. Er hatte Pech.«

Merkow nickte. Er hatte ja selbst nicht dran geglaubt. »Was dann?«

»Die üblichen Verdächtigen«, sagte de Bodt. »Wir verhören die Überlebenden. Vielleicht hat einer von denen jemanden gesehen. Einen, der etwas in den Bus legte und wieder verschwand …«

»Es sei denn, es war ein Selbstmordattentäter«, sagte Merkow.

»Gewiss.«

De Bodts Telefon klingelte. »Ja, Ali?«

Er hörte zu. Beendete das Gespräch. Überlegte. »Der IS verbreitet, dass er es war …«

»Aber Sie glauben es nicht?«

»Ich glaube gar nichts. Und ich weiß noch weniger. Der IS hat schon viel erklärt. Ali sagt, das komme aus Kanälen, die bisher IS-Meldungen gebracht hätten.«

»Ich nehme an, Ihr BND weiß mehr«, sagte Merkow.

»Damit wird sich jeder Geheimdienst der Welt beschäftigen. Auch weil wir wissen müssen, ob die tatsächlich noch in der Lage sind, so eine Operation zu stemmen. Wobei, wenn es ein selbst ernannter Feind der Ungläubigen war, der sich mit dem Bus in die Luft gesprengt hat …«

»Semtex kann man nicht im Supermarkt kaufen«, sagte Merkow. »Außerdem gibt es Markierungsstoffe. Mit deren Hilfe kann man herausfinden, wo es hergestellt wurde.«

»Wir haben noch keine Markierungsstoffe gefunden, nur Reste von Nitropenta und Hexogen. Es handelt sich demnach um Semtex H«, sagte de Bodt. »Ich fürchte, wir werden keine Markierungsstoffe mehr entdecken.«

»Was heißt …«

»Dass der IS, dessen finsteren Überreste sich irgendwo in Löchern vergraben haben, in der Lage wäre, Semtex herzustellen. Oder dass Leute, die sich in Deutschland dem IS angeschlossen haben, dazu fähig wären.«

Merkow wechselte einen Blick mit Katt.

»Ja, ich halte das auch für unwahrscheinlich«, sagte de Bodt und setzte den Becher an.

Merkow lächelte. »Demnach wäre es ein Staat …«

»Oder ein Chemie-Unternehmen. Oder jemand, der Zugang zu Nitropenta und Hexogen hat und in der Lage ist, daraus Sprengstoff herzustellen.«

»Oder eine medizinische Forschungseinrichtung«, sagte Katt. »Das Zeug erweitert Gefäße. Wie Glycerintrinitrat. Nebenwirkungen gleich null.«

Merkow blickte sie erstaunt an.

De Bodt nickte. »So habe ich es auch gelesen.« Die Zander hatte ihm eine Mail geschickt. »Wer außer Ihrer Regierung und unseren amerikanischen Freunden käme infrage? Vor allem aber, warum? Sollten es nicht der IS & Co. sein, welchen Grund kann jemand haben, einen Touristenbus in die Luft zu jagen …?«

»Einen Touristenbus vor der russischen Botschaft in die Luft zu jagen«, sagte Merkow.

»Schön, jetzt haben Sie Ihre Pflicht getan. Meiner Ansicht nach hat die russische Botschaft nichts damit zu tun … es sei denn, um eine falsche Spur zu legen. In der Nähe Ihrer Botschaft wäre er auf jeden Fall hochgegangen, auch wenn der Rollerfahrer nicht die Vollbremsung erzwungen hätte. Nur konnte niemand wissen, dass der Botschafter im Garten war. Sie haben kugelsichere Fenster, nehme ich an. Der Schaden kann so groß nicht sein.«

»Vielleicht dient der Anschlag dem Zweck, uns einzuschüchtern«, sagte Merkow.

De Bodt musterte ihn kurz. Grinste innerlich. Klar, der musste sich an seinen Auftrag klammern. Sonst hätte er gleich heimfahren können. Vielleicht langweilte er sich zu Hause? »Wie schön, dass Sie uns die Arbeit abnehmen«, sagte de Bodt.

»Wir helfen gern.«

De Bodt sah Salingers Gesicht vor sich. Er wusste, was sie sagte, säße sie am Tisch. Das Bild löste sich auf. »Wir werden uns die Biografie jedes Opfers anschauen müssen. Ob das weiterführt, weiß ich nicht. Aber sonst haben wir nichts.«

11.

Die Zander ließ sich durch nichts daran hindern. Sie tänzelte vor der Maschine. Ein Schritt rechts, ein Schritt links. Das Ohr zum Kaffeeautomaten geneigt. Dass da bloß nichts falsch zischte oder brummte. Vermutlich hörte sie es, wenn sich eine Schraube im Innern um einen Nanometer löste. Sie stellte eine Espressotasse vor de Bodt. Am Schreibtisch ihr gegenüber. Auf der Platte lagen Akten.

Den zweiten Espresso stellte sie vor sich ab. »Ich versteh schon. Aber wie wollen Sie herausfinden, wer die oder das Opfer sein sollten? Das BKA verlangt alle Obduktionsakten. Aber ich mach Ihnen gern Kopien.«

»Die lassen die durch ihre Rechner laufen. Vielleicht bringt das was.«

»Vielleicht nicht«, sagte die Zander.

»Wir schließen die Kinder aus«, sagte de Bodt.

Die Zander nickte. »Sechzehn Tote.« Sie öffnete eine Akte. »Zweiundachtzig minus sechzehn, bleiben sechsundsechzig. Wir sprechen nur von den Opfern im Bus?«

De Bodt nickte.

»Alle anderen sind Zufallsopfer. Ich hoffe nur, wir finden heraus, wer im Bus umgekommen ist und wer außerhalb.«

»Suchen Sie nach Semtexspuren. Die Leute im Unterdeck müssten solche Spuren aufweisen.«

»Was täten wir ohne Ihre genialen Ideen?«

»Sorry …«

Die Zander lächelte. »Das BKA klappert die Kliniken ab. Suchen Zeugen unter den Verletzten.«

»Werden kaum welche finden.«

»Muss aber sein. Sie sind doch jetzt auch Kuli von denen …«

»Bisher haben die mich übersehen bei der Arbeitsverteilung.«

»Das glaube ich nicht«, sagte die Zander.

12.

»Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie erreichbar blieben«, sagte Becker. Sie hatten de Bodt in Tillys Büro bestellt.

De Bodt erinnerte sich all der Anrufe, die er nicht angenommen hatte. Weil er die Nummer kannte.

»Ihre Kollegen befragen gerade Zeugen. In den Krankenhäusern. Ist nicht angenehm, ich weiß. Aber Sie sollten vollen Einsatz zeigen. Wir müssen diese Verbrecher kriegen«, sagte Tilly.

»Ich zeige vollen Einsatz. Nur ermittle ich nicht mit den Füßen, sondern mit dem Kopf.«

»Herr Kollege!«, schnappte Tilly.

Becker winkte ab. »Wir wissen, der Kollege wandelt ungern auf ausgetretenen Pfaden. Wir haben es hier mit einem Großverbrechen zu tun. Wir müssen unser Vorgehen koordinieren …«

»Ich hatte in den letzten Jahren verschiedentlich mit Großverbrechen zu tun …«, sagte de Bodt. Klang wie: Sie werden sich doch erinnern, was Sie im Fernsehen gesehen und in der Zeitung gelesen haben.

»Wir sind uns Ihrer Verdienste bewusst«, sagte Becker. »Sie hatten ein paar … Treffer …«

»Leider hab ich nicht Lotto gespielt. Hätte ich glatt was gewonnen.«

Schweigen.

Becker und Tilly wechselten einen Blick. De Bodt las darin: Aufpassen, der Typ hat Beziehungen nach ganz oben.

»Wie stellen Sie sich Ihre Zusammenarbeit mit dem BKA vor, Herr Kollege?«, fragte Becker.

»Sie machen Ihres, ich mach meines. Wenn wir was finden, informieren wir alle.« Er musterte Beckers Gesicht. Der war nicht dumm. Gewiss wuchs bei diesem Gespräch Beckers Gewissheit, dass er besser ohne de Bodt arbeitete als mit ihm. Das war de Bodts Absicht.

»Diese täglichen Runden am Abend bringen mir nichts«, sagte de Bodt. »Erkenntnisse nehmen wenig Rücksicht auf den Dienstplan.«

»Aber wir müssen die Zügel straff halten«, sagte Becker. »Wir müssen die Kollegen motivieren. Uns austauschen. Was uns heute unwichtig erscheint, ist morgen vielleicht der Schlüssel zur Lösung des Falls. Verstehen Sie das nicht?«

»Ich bin kein Pferd«, sagte de Bodt.

13.

Adrian saß am Strand unterm Sonnenschirm. Seine Augen waren ihr gefolgt, als sie wegging. Sie folgten ihr, als sie zurückkam. In der Hand eine Plastiktüte. Er hatte eine Münze geworfen, sie gefangen. Gesehen, dass sie auf die falsche Seite fallen würde. Als er die Hand öffnete, lag sie richtig.

»Du bescheißt mich wieder«, hatte Jane gesagt.

»Klar. Sonst müsste ja ich Proviant besorgen.«

Sie hatte ihn geküsst und war losgegangen. Er beobachtete sie gern. Sie wiegte in den Hüften, nicht auffällig. Er mochte es. Adrian hatte sie an der Uni entdeckt. Sie lange umworben, obwohl sie einen Freund hatte. Adrian stand zufällig am Ausgang des Instituts, als sie herauskam. Er tauchte in Bars und Restaurants auf, die sie mit ihrem Freund besuchte. In einer Bar war dem schließlich der Kragen geplatzt. Er schlug zu, als Adrian sich an der Theke zwischen ihn und Jane drängte. Angeblich, um ein Glas Wein zu holen. Natürlich hatte der Typ keine Chance. Der war auch zu jung für sie gewesen. Fand Adrian. Jane mochte keine Männer, die auf andere losgingen. Aber Männer, die sich verteidigten. Adrian wusste es. Irgendwie. Jedenfalls hatte er seinen Plan darauf gebaut. Und gewonnen. Eigentlich erreichte er immer, was er wollte. Obwohl er manchmal kämpfen musste. Aber er war intelligent, hartnäckig und konnte sich verhalten, wie andere es erwarteten. Irgendwer hatte ihn mal Chamäleon genannt. Es hatte ihn nicht verletzt. Das Chamäleon erreichte auch, was es wollte. Nicht gefressen werden zuerst. Gab es eine klügere Überlebensstrategie?

14.

Sie trug einen Kopfverband. Sonst schien die Frau unversehrt. Sie hatten ein Bett im Elisabeth-Krankenhaus am Potsdamer Platz für sie gefunden. De Bodt setzte sich auf einen Stuhl.

»Ihre Kollegen waren schon da«, sagte eine leise Stimme. Man hatte sie bewusstlos auf dem Mittelstreifen Unter den Linden entdeckt. Ein Körper war gegen sie geschleudert worden. Hatte die Splitter abgefangen wie ein Schild.

»Wenn Sie nicht mit mir sprechen können oder wollen, gehe ich gleich wieder.«

»Nein, nein, ist schon gut. Ihre Augen wanderten zu einer Thermoskanne auf dem Nachttisch. Aus Stahl, auf Rädern. Wie überhaupt das ganze Zimmer rein funktional eingerichtet war. Über ihrem Kopf hing eine Fernbedienung, um Hilfe zu rufen. Mit ihr konnte sie auch die Lichter ein- und ausschalten. Neonröhren erzeugten kaltes Licht.

»Ob Sie mir Tee besorgen können …?«

De Bodt nahm die Kanne und fand das Schwesternzimmer. Ließ die Kanne füllen. Kehrte zurück.

»Danke.« Sie nickte in Zeitlupe. »Ich kann Ihnen kaum helfen … eigentlich gar nicht.«

»Machen Sie sich keinen Druck. Schildern Sie einfach, was Sie wissen. Lassen Sie sich nicht drängen.«

Er zähmte seine Ungeduld. Es wäre sinnlos gewesen, sie zu bearbeiten. Dass die Aufklärung dieses Großverbrechens mit jeder Minute schwieriger würde. Und so weiter.

Er schenkte ihr Tee ein. Sie trank einen Schluck. »Es war eigentlich ein schöner Tag gewesen. Ich hatte früher Schluss gemacht, war ja Freitag. Ich arbeite bei einem Immobilienmakler in der Mittelstraße … aber das wissen Sie bestimmt.«

De Bodt nickte. Krüger hatte es in der Akte notiert.

»Ich wollte nicht gleich heimgehen. Das Wetter …« Sie trank einen Schluck. »Ich war plötzlich … weg. Ich kann mich nicht einmal an einen Schlag erinnern. Dass mich ein Opfer mit seinem Körper geschützt hat … irgendwie ist er für mich gestorben.« Sie schüttelte den Kopf. Auch in Zeitlupe.

»Sie sind unschuldig. Wenn Sie nicht da gewesen wären, der Mann hätte es genauso wenig überlebt.«

»Das habe ich mir tausendmal gesagt. Und doch fühle ich mich … beschissen … Entschuldigung.« Trank noch mal. »Haben Sie schon was herausgefunden?«

De Bodt schüttelte den Kopf. »Wir wissen nur, dass es Semtex war. Die meisten Bomben bei Anschlägen werden mit Kunstdünger zusammengemischt. Semtex ist was für Profis. Soldaten, Geheimdienste … vielleicht ein Chemie-Unternehmen.« Das Vorstandszimmer der BBC stand ihm vor Augen. Er musste sich des Anblicks nicht erinnern. Er trug ihn mit sich wie eine chronische Krankheit. Das Blutbad im Vorstandszimmer. Sein erster Fall in Berlin. Als er Salinger kennenlernte.

»Ist Ihnen vor der Tat etwas aufgefallen?«

»Dass es viele Touristen gab. Kam mir vor wie Slalom um Reisegruppen.«

»Sie haben den Bus gesehen?«

»Ja. Ich hatte schon länger überlegt, da mal mitzufahren. Obwohl ich Berlinerin bin. Gott sei Dank …«

»Irgendwas Besonderes …?«

»Nein. Er fuhr los. Dann habe ich woanders hingeblickt. Dann …«

»Der Bus musste bremsen …«

»Habe ich nicht gesehen.«

15.

Er machte manchmal etwas, das keinen Sinn hatte. Wie um sich davon zu überzeugen, dass er so nicht weiterkam. Er misstraute seiner Wahrnehmung. Immer wieder. Die Zeugenvernehmung im Krankenhaus hatte nichts ergeben. Aber er wollte mit einem Opfer sprechen. Immerhin hatte die Zeugin ihn daran erinnert, dass es ein Freitag im Sommer war. Das Wochenende. Solchen Kleinkram übersah er leicht. Kam am Samstag ins Büro. Die Bürozeiten interessierten ihn ohnehin nicht.

Vielleicht wollte er auch nur jemanden sehen, der noch lebte. Nachdem er über das Schlachtfeld gelaufen war. In der Nacht nach dem Anschlag hatte er sich übergeben. Gezittert. Schweißausbrüche. Er gewöhnte sich nicht an Tatorte. Und an so einen schon gar nicht.

Er fuhr zum Tatort. Stellte sich an die Bushaltestelle, die abgesperrt war. Sah die Kriminaltechniker und Rechtsmediziner in ihren weißen Anzügen. Mit Handschuhen. Mützen. Uhlenhorst kam. Wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sagte nichts. Zeigte zum Absperrband. »Warum jagt die niemand in die Luft?«

Kameras. Mikrofone. In die gesprochen wurde, mit dem Rücken zum Tatort. Fotografen drängten sich nach vorn. Weiter hinten Übertragungswagen. Radio und Fernsehen.

Die Medien berichteten rund um die Uhr. Auf den öffentlich-rechtlichen Kanälen hetzte eine Sondersendung die nächste. Journalisten hatten nach de Bodt gefragt. Aber die Pressestelle wusste, dass er nichts sagen würde. Zumal das BKA und der Generalbundesanwalt zuständig waren.

Krüger stellte sich vor ihn. De Bodt hatte ihn nicht gesehen. Vor seinen Augen schienen Weichzeichnerlinsen zu sitzen. Alles unscharf. Wie bei einem Schwindelanfall. Und die Übelkeit meldete sich zurück.

»Sie wollen helfen. Gute Idee«, sagte Krüger.

De Bodt blickte an ihm vorbei. Seine Augen folgten einer Kollegin, die irgendwas aus dem Geäst eines zerfetzten Baums zog. Sie war zu weit entfernt, als dass er hätte erkennen können, was es war.

»Haben Sie etwas gefunden, das nicht im Ermittlungsprotokoll steht?«

»Nein. Aber ich berichte dem Ministerialdirektor Becker.«

De Bodt zog Uhlenhorst an der Schulter zur Seite. »Kommst du klar?«

»Nein«, sagte Uhlenhorst. Rote Augen, aschfahles Gesicht. »Niemand kommt damit klar. Du auch nicht.«

»Stimmt«, sagte de Bodt. »Ich darf es mir nur nicht anmerken lassen.«

Salinger und Yussuf näherten sich.

»An die Arbeit!«, schnauzte Krüger.

Sie überhörten es. »Wie war es in der Klinik?«, fragte Salinger. Während Yussuf sich Überzüge über die Schuhe stülpte.

»Wie erwartet.«

16.

Lebranc frühstückte. Er hatte Floire zum Bistro gegenüber geschickt. Der hatte sich Kaffee und Croissants mitgebracht. Musste nicht raten, was Lebrancs Daumen bedeutete. Der auf die Tür zum Vorzimmer wies. Das Geplapper seines Assistenten zum Frühstück, dagegen war Waterloo ein Spaziergang gewesen. Sie hatten einen Bankräuber gejagt. Der aus Dummheit oder Panik einen Wachmann erschlagen hatte. Ein überflüssiges Verbrechen. Hätten sie den Mann nicht aus einer Bar gezerrt, hätte der sich wohl gestellt. Er hatte gequatscht, und ein Spitzel hatte es Floire gesteckt. Das war das einzig Nervige an diesem Fall. Lebranc erfuhr, dass Floire einen Spitzel im Milieu hatte. Was erlaubte sich der Grünschnabel noch hinter Lebrancs Rücken? In diesem Fall konnte er sich nicht beschweren. Zumal der Bankräuber gleich gestand. Mehr, als die Polizei ihm vorwarf. Er hatte natürlich nicht nur diesen einen Bankautomaten mit Gas gefüllt und gesprengt. Auf einen Schlag waren neun Überfälle in Paris aufgeklärt. Beim letzten war ein Wachmann auf Routinerundgang aufgetaucht. Die Banken hatten die Wachen verstärkt. Und der Bankräuber hatte den Hammer in der Hand gehabt. Sein Anwalt würde versuchen, die Mordanklage zu widerlegen. Totschlag, keine Absicht. Vielleicht würde er damit durchkommen. Vielleicht nicht. Wenn Lebranc die Sache längst vergessen hatte.

Das Telefon klingelte. »Kommen Sie bitte zum Chef«, sagte die Frauenstimme. Eine der Vorzimmerdamen des Polizeipräfekten. Floire kannte die alle mit Namen. Natürlich.

Der Polizeipräfekt saß da in voller Montur. Als erwartete er einen Fotografen. Kein Staubkorn auf der Uniformjacke. Die Orden wie mit dem Lineal gereiht. Er wies auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Wo Kollegen schon Tode gestorben waren. Wenn sie runtergemacht wurden. Man hörte das Geschrei noch im Treppenhaus. Das letzte Opfer hatte es gewagt, die Kulturministerin zur Kasse zu bitten. Parken im Halteverbot.

»Sie haben einen begabten Assistenten«, sagte der Polizeipräfekt.

Der Tag war versaut. Egal, was noch kam. Lebranc zwang sich zu nicken. »Gewiss.«

Der Präfekt musterte ihn. »In Berlin wurde ein Bus in die Luft gesprengt. Sie haben davon gehört …«

»Ja.«

»Neun französische Staatsbürger wurden getötet. Darunter unser Staatssekretär für Verteidigung, Antoine Millet.«

»Um Himmels willen, ich wusste …«

»Ich auch nicht. Es kam gerade vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Sie haben noch nicht alle Opfer identifiziert. Wir wissen nur, dass der Staatssekretär tot ist. Seine Frau vermutlich auch. Sie wurde aber noch nicht identifiziert. Sie hat ihren Gatten nach Berlin begleitet. Privatbesuch. Ihre Tochter studiert dort …«

»Um Himmels willen«, wiederholte sich Lebranc.

»Der hilft auch nicht«, sagte der Polizeipräfekt trocken.

»Natürlich.«

»Sie fahren nach Berlin. Sehen Sie zu, dass Sie die Reisekosten diesmal begrenzen. Nehmen Sie Ihren schlauen Assistenten mit. Kriegen Sie raus, ob es ein Anschlag auf unsere Regierung war. Offiziell werden wir jede Spekulation darüber zurückweisen. Aber ich bin befugt, Ihnen zu versichern, dass unser Präsident extrem besorgt ist. Er hat mit der Bundeskanzlerin telefoniert … obwohl derzeit Eiszeit herrscht. Die Bundeskanzlerin besteht darauf, dass wir die Ermittlungen der deutschen Kollegen vor Ort verfolgen. Niemand ist dazu besser geeignet als Sie.« Der Präfekt legte seinen Kopf fast auf die Schulter.

Lebranc fragte sich, ob der Präfekt ihn auf den Arm nahm. Ob er wusste, dass Lebrancs gepriesene Erfolge wenig mit Lebranc zu tun hatten. Weniger als mit de Bodt. Der den französischen Kollegen aufs Podium der Pressekonferenzen schob und selbst unsichtbar blieb. Selbstverständlich würde die Pariser Regierung die Leistung der eigenen Polizisten nie anzweifeln. Jedenfalls nicht öffentlich. Vielleicht schickten die ihn nur deswegen nach Berlin. Dass er wieder die Lorbeeren einheimste. Lebranc wechselte einen Blick mit dem Chef. In dessen Augen stand – nichts.

»Zu Befehl.«

17.

Die Liste. Die immer länger wurde. Immer neue Namen kamen hinzu. Die Identifizierung war ein grauenhaftes Handwerk. Leichenteile sortieren. Die Rechtsmedizin war überfüllt mit Leichen. Die gekühlt werden mussten. Die Zander und ihre Hilfstruppen nahmen DNS-Proben. »Hätte ich gewusst, dass das …, ich hätte Botanik studiert.« Sie blickte ihn an. Erschöpft. Zerschlagen. »Antoine Millet und seine Frau Suzanne … ihn haben wir gefunden, sie noch nicht.« Sie deutete zur Tür. Irgendwo lagen die Reste der Frau. »Mit Glück am Ende alle zusammen in einem Blechsarg.«

»Die Pariser Kollegen wollen wissen, ob der Staatssekretär das Ziel des Anschlags war«, sagte de Bodt.

»Und die Russen fühlen sich als Opfer wegen ihres Botschafters«, sagte die Zander. »Ich habe ganz vergessen … wollen Sie einen Espresso? Den letzten haben Sie einfach stehen lassen.«

»Danke, nein. Tut mir leid.« Unter normalen Umständen hätte er es nicht gewagt, das Angebot auszuschlagen. Aber der Kaffee hätte seinem Magen den Rest gegeben. Er fühlte die Übelkeit, seit er den Tatort gesehen hatte. Er kriegte die Bilder nicht aus dem Kopf. Sie hatten ihm den Schlaf geraubt. Er hatte mit offenen Augen auf dem Bett gelegen. Schloss er sie, sah er Leichenteile. Blut. Hirnmasse. Am Morgen hatte er in Salinger und Yussufs Gesichtern gelesen. Als spiegelten sie, was er fühlte.

»Jetzt mischen noch ein paar andere mit. Russen, Franzosen«, sagte sie. »Hab schon gehört, dass dieser Merkow wieder im Lande ist.«

De Bodt nickte.

Die Tür in de Bodts Rücken öffnete sich. Ein Weißbekittelter legte eine schmale Mappe auf den Schreibtisch und verschwand. In der Tür sagte er: »Das müssen Sie sich unbedingt ansehen … und der Hauptkommissar de Bodt auch.«

Die Zander schlug die Mappe auf, las. »Scheiße.« Schob die Mappe zu de Bodt.

Der las. »Das hat uns noch gefehlt.«

18.

»Na, toll«, sagte Salinger.

Yussuf brummte irgendwas, den Kopf hinterm Bildschirm verborgen.

»Jetzt traben hier gleich die Kollegen aus der Botschaft an«, sagte de Bodt. Sie hassten ihn, seit er den Russen einen CIA-Mann ausgeliefert hatte. Obwohl er alles dementierte, glaubte ihm niemand.

Sie erschienen in Begleitung des Kriminalrats Tilly. »Die beiden Herren möchten Sie gern unter vier Augen sprechen.«

»Zwölf«, sagte de Bodt. »Es gibt nichts, was meine Mitarbeiter nicht hören dürften.«

»Kommen Sie mit. Bitte!«, sagte Tilly.

Die beiden Besucher blickten ihn ernst an. CIA vermutlich. Offiziell vielleicht Zeugen Jehovas oder Baptisten. Jedenfalls trugen sie Einheitslook. Graue Anzüge, der eine ein weißes, der andere ein himmelblaues Hemd. Krawatten. Strenger Haarschnitt. Der eine schwarze Haare, der andere hellbraune. De Bodt hatte sich schon oft gefragt, ob die Schauspieler nach den wirklichen Agenten hergerichtet wurden. Oder die Agenten nach den Schauspielern.

In Tillys Büro setzten sie sich an den Konferenztisch. Nur de Bodt nicht. Der lehnte mit dem Gesäß am Fensterbrett. Neben Tillys Gummibaum.

Der Hellbraune blickte de Bodt an. Der erwartete etwas Martialisches wie: Bei nächster Gelegenheit räumen wir Sie aus dem Weg. Stattdessen: »Die GRU-Sache haben Sie gut hingekriegt.« Klang wie: Dafür, dass Sie kein CIA-Agent sind. »Im Bus saß der Chef unserer Europaabteilung.«

»Der CIA«, sagte de Bodt.

Der Schwarzhaarige nickte. »Harold Knickerbocker.«

De Bodt hatte den Namen in der Akte gelesen. Die Zander hatte ihm berichtet, dass die Botschaft sie nerve mit Anfragen.

»Darf man fragen, was er in Berlin wollte?«

»Fragen schon.«

»Wie sollen wir ermitteln, wenn Sie uns keine Informationen geben?«

»Die brauchen Sie nicht. Wir haben den Bus nicht gesprengt.«

»Aus humanistischen Gründen würden Sie so etwas nie tun.«

»Sie sagen es.«

»Wie sollen wir ein Motiv ermitteln, wenn wir nicht erfahren, was Knickerbocker in Berlin tat? Vielleicht wurde der Bus gesprengt, weil …«

»Nein«, sagte der Schwarzhaarige.

»Wer dann?«

»Das zu ermitteln ist Ihre Aufgabe.«

De Bodt verließ Tillys Büro. Sah im Augenwinkel noch dessen Gesicht. Rot angelaufen. Vor Wut.

19.

Wie schön war es im Süden gewesen. Sie hatten sich wunderbar verstanden. Auf dem Rückflug hatte Jane sich an ihn geschmiegt.

Aber jetzt saß er im Büro seines Chefs. Der hockte klein auf seinem Sessel, die Füße berührten kaum den Boden. Der Kopf war überproportional groß. Ob es daran lag, dass der Chef der intelligenteste Mensch war? Mindestens weit und breit. Der Chef hatte nicht nur ein Elefantengedächtnis, das jeden Elefanten erblassen ließe. Seine Auffassungsgabe war legendär. Niemand vermochte so schnell zu kombinieren. So sicher das fehlende Teil im Gestrüpp finden. Jeder Kollege war glücklich, wenn die Bitte um ein kleines Spiel an ihm vorüberging. Hätte er Schachturniere gespielt, der Chef wäre Großmeister gewesen. Wenn nicht Weltmeister.

Der Chef persönlich führte Iwan, den Agenten. Den niemand kannte außer dem Chef. Dessen Informationen niemand kannte außer dem Chef. Dessen Bedeutung niemand kannte außer dem Chef.

»Du gehst nach Berlin. Diese Busgeschichte.«

Adrian nickte.

»Gleich morgen früh. Du wirst jeden Kontakt zu unseren Leuten meiden. Du wirst in einem Touristenhotel einchecken. Und beobachten. Jeden Abend will ich einen Bericht. Josef wird dir einen VPN einrichten und einen Code geben. Er weiß schon Bescheid.« Adrian hörte genau hin. Der Chef sprach leise und wiederholte sich nicht. »Verstanden?«

Adrian nickte.

»Josef gibt dir einen italienischen Presseausweis und eine Akkreditierung bei der Bundespressekonferenz. Du sprichst Italienisch wie ein Italiener? Steht in deiner Personalakte. Ist geflunkert?« Der Chef lächelte. Kniff ein Auge zu. Das andere musterte Adrian.

»Nein, Chef.« Er hatte zweieinhalb Jahre in Rom gearbeitet. Die Vorbereitung auf den Job, seine Sprachbegabung und das Leben in Italien. Er log seinen Chef nicht an.

»Das ist keine starke Deckung, du weißt das. Wenn jemand gräbt, lässt er dich auffliegen. Also, halte dich zurück.«

»Natürlich. Kein Leichtsinn.«

»Das sagst du so dahin …« Der Chef blickte ihn an. Die Augen tief in den Höhlen. »Ich mag keine Abenteuer.«

»Ich auch nicht. Jedenfalls nicht im Beruf.«

»Ich weiß, Adrian. Das ist einer der Gründe, warum ich dich schicke und niemand anderen. Und weil du kaltblütig bist. Es kann sein, dass etwas aus dem Ruder läuft. Die haben in Berlin einen Polizisten … einen besonderen Polizisten. De Bodt … merkwürdiger Name.«

»Ich habe von ihm gehört«, sagte Adrian.

»Wenn du weißt, was der weiß, weißt du genug.«

»Wenn er zu viel weiß?«

»Wenn auch nur das geringste Risiko besteht, schalte ihn aus. Lass es wie einen Unfall aussehen.«

20.

»Der Staatssekretär für Verteidigung aus Paris, ein CIA-Agent. Das sieht aus wie ein Geheimdiensttreffen im Touribus«, sagte Yussuf. »Und dann noch der russische Botschafter als Opfer.«

»Vielleicht. Dort fiele es am wenigsten auf«, erwiderte Salinger.

De Bodt saß auf seinem Stuhl neben dem Eingang. »Wir haben keine Wahl. Wir müssen jede Opferbiografie anschauen. Hoffen wir, dass das BKA bald mehr liefert. Bisher haben die nicht viel.«

Er hatte auf Weisung des Polizeipräsidenten die Besprechung am Abend besucht. Becker war kleinlaut gewesen. Berichtete von der zähen Arbeit der Pathologen.

»Haben die Rechtsmediziner weitere Opfer identifiziert?«, fragte de Bodt.

»Es melden sich mehr und mehr Leute. Die nichts mehr gehört haben von ihren Verwandten oder Freunden.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Ich bedaure es natürlich, dass wir Sie nicht zufriedenstellen können.«

»Die menschliche Vernunft findet nur in einer vollständig systematischen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit.«

»Wie bitte?«

»Kant.«

21.

»Wir müssen uns zuerst die Opfer anschauen, nach denen keiner fragt«, sagte de Bodt.

Salinger blickte ihn an. »Aha.«

»Das ist vielleicht ein Irrweg. Aber was Besseres ist mir nicht eingefallen.«

»Glaubst du, der Staatssekretär hat keine Familie?«

»Warum sollte den jemand in einem Touristenbus umbringen wollen?«

»So kann man gleich noch einen Haufen Ungläubige in die Hölle schicken.«

»Aber die preisen sich doch laut.« Er blickte Salinger an. Lange. Sie erwiderte den Blick. »Schließen wir diese Figuren aus«, sagte de Bodt.

»Wer dann?«, fragte Yussuf. Versteckte das Gesicht hinter seinem Monitor. Die Tasten klackten im Dreivierteltakt.

»Ich bin Bulle und kein Hellseher«, sagte de Bodt.

»Das hab ich aber anders in Erinnerung.« Salinger lächelte ihn an.

22.

Immer noch Flughafen Tegel. Glücklicherweise keine Boeing 737 Max. Solms war gern geflogen in der alten 737. Das sicherste Flugzeug der Welt. Ein bisschen eng, ein bisschen laut. Und doch hatte er immer gelächelt, wenn er in eine 737 gestiegen war. Er packte seine Aktentasche. Flug nach London Heathrow. BA 983, Abflug 12 Uhr 25. Er würde noch am Abend zurückkehren. Der Hinflug war pünktlich. Er zeigte am Schalter seine Bordkarte und den Personalausweis. Legte seine Aktentasche aufs Transportband. Wartete, bis sie kontrolliert war, und nahm sie wieder. Betrat den Warteraum, fand einen freien Platz. Setzte sich.

Solms schloss die Augen. Doch die Anspannung wich nicht. Er ahnte, wie die Kollegen vom MI5 reagieren würden. Sie würden ihm vielleicht nicht gleich glauben. Aber sie würden ihn nicht für verrückt halten. Er hatte bisher niemanden eingeweiht, nicht einmal seinen Präsidenten. Er brauchte Beweise. Vielleicht waren die Kollegen in London schon auf etwas gestoßen. Wer, wenn nicht die? Die britische Spionageabwehr war die beste in Europa. Sie hatte auch die meisten Mittel. Sie hatte den Draht zu FBI und CIA. Die Amis weihten sie in Geheimnisse ein. Sie ließen sich davon auch nicht durch diesen Präsidenten abhalten. Dem Absprachen egal waren. Und die Wahrheit sowieso. Der mit der Wut eines verhaltensgestörten Achtjährigen um sich schlug.

Nein, der Kollege Sir Hugh Simon kannte Solms schon lang. Sie hatten zusammengearbeitet, als Simon Abteilungsleiter Terrorismus gewesen war. Wenn er einem sein Geheimnis anvertrauen konnte, dann Simon. Mehr als seinem Chef im Amt.

Er hatte Business-Class gebucht. Die heutzutage den Namen nicht verdiente. Sie trennte nur der Vorhang von der Economy-Class. Und die Verpflegung war besser. Was kratzte einen das bei so einem Flug? Wo man schon landete, während man noch kaute?

Aber er mied das Gedränge. Schon immer. Doch nun umso mehr. Er sah überall Männer, die ihn töten wollten. Ihm eine Spritze ins Bein stachen. Ihm das Messer in den Bauch rammten. Hörte das Ploppen des Schalldämpfers. Das Auto, das heranraste. Darin Leute mit Maschinenpistolen, die ihre Magazine in seinen Körper leerten. Er hatte sich der Paranoia geziehen. Über sich gelacht. Diese Ängste waren paranoid. Er wusste es. Warum hatte er sie? Früher hatte er sich nur vor Dingen gefürchtet, die ihn bedrohten. Da brauchte es keine Gespinste. Er hatte sie, seit eine seiner Quellen ihm diese Sache berichtete hatte. Er kannte die Quelle schon seit gut sieben Jahren. Ihre Informationen waren immer brauchbar gewesen. Jedenfalls nicht irreführend. Aber diesmal? Vielleicht war er in eine Falle getappt? Ein Gegenspiel? Aber von wem? Die üblichen Verdächtigen. Die Frage cui bono? unterstellte, dass es so was wie einen objektiven Nutzen gab. Woher sollte man wissen, wer was wann für nützlich hielt?

Er arbeitete zu lange beim Verfassungsschutz, um Unmögliches für unmöglich zu halten. Je länger er grübelte, desto tiefer zog es ihn in die Tiefen des Wahns.

Fast hätte er den Aufruf überhört. Flieg da hin. Frag. Dann siehst du weiter. Dann den Präsidenten unterrichten. Und der das Kanzleramt. Es hat keinen Sinn, hektisch zu werden. Er musste einen Schritt nach dem anderen machen. Er brauchte mehr Informationen. Dass sein Chef ihn nicht auslachte. Wenigstens. Vielleicht hatte Simon auch Hinweise. Vielleicht trauten sie sich noch nicht, sie weiterzugeben. Sobald er im Amt war, würde er nach Köln fahren, den Präsidenten aufsuchen. Ihm berichten, dass ihn vorgestern Abend beim Italiener in der Friedrichstraße ein Mann angesprochen hatte. Höflich, schüchtern fast. Ob er ihm eine Geschichte erzählen dürfe.

Er hatte den Kopf geschüttelt. War nicht in der Laune, sich vollquatschen zu lassen. Dann sagte der andere aber: »Sie erinnern sich an die GRU-Sache vor einiger Zeit?«

An die erinnerte sich nicht nur jeder Nachrichtendienstler. Schön gesagt: die GRU-Sache. Die man auch als verbrannte Erde beschreiben könnte.

Insofern wunderte Solms sich nicht übers Thema, sondern dass dieser Mann ihn darauf ansprach.

Der nahm ein Augenzwinkern als Erlaubnis, sich an den Tisch zu setzen. Und begann zu erzählen. Mit leiser, gleichförmiger Stimme. Unaufgeregt.

Seitdem sah er die Welt mit anderen Augen.

Noch am Abend hatte er Ferdinand gefragt. Seine Quelle, die sich den Namen selbst gegeben hatte. Die schon für die Stasi gearbeitet hatte. Die sich ein Leben ohne Spitzelei nicht vorstellen wollte. Er traf Ferdinand an einem Imbiss am Bahnhof Zoo. Ferdinands Idee. Solms wies ihn an, der Sache nachzugehen.

»Brauche ich nicht«, sagte Ferdinand. »Der Mann hat vermutlich recht.« Er kannte Leute, die so manches aufschnappten. »Warum muss ich danach fragen?« Er linste Solms schräg an.

»Ich wollte noch was überprüfen. Vielleicht ist es eine Falle? Bis wann brauchst du?«

»Bis morgen, mit etwas Glück«, sagte Ferdinand.

Aber Ferdinand war nicht im Hotel aufgetaucht. Sie waren zum Frühstück verabredet gewesen.

Er nahm sich zwei Zeitungen, die am Eingang des Flugzeugs lagen. Kaum saß er, blätterte er in der Berliner Morgenpost. Auf Seite 3: Leichenfund in Spandau. Dazu ein beschissenes Foto. Doch Solms erkannte ihn sofort. Ferdinand.

23.

»Könnte sein, dass die auf die gleiche Party wollten«, sagte de Bodt. »Der Staatssekretär für Verteidigung aus Paris, der CIA-Fritze Knickerbocker …«

Die Tür öffnete sich. Lebranc.

»Bonjour Monsieur.« De Bodt erhob sich von seinem Stuhl neben der Bürotür.

»Der Kollege an der Pforte hat mich erkannt und durchgewinkt«, sagte Lebranc. »Vielleicht …«

Hinter Lebranc betrat Floire das Büro. Grinste Yussuf an, hob den Daumen. Yussuf hob seinen Daumen und grinste zurück. Erhob sich vom Stuhl und umarmte Floire.

Lebranc beobachtete es mit hochgezogener Augenbraue.

»Wir haben Konferenz«, sagte Salinger zu Engel. Welche die Telefonmuschel mit der Hand bedeckte, nickte und gleich weiterplapperte.