Tod in Kreuzberg - Christian Ditfurth - E-Book
SONDERANGEBOT

Tod in Kreuzberg E-Book

Christian Ditfurth

3,7
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Platten-Rosi ist tot. Ihre Leiche lag auf der Admiralbrücke. Dort, wo Kreuzberg überlaufen wird von Touristen. Wo Immobilienspekulanten die Mieter verdrängen, um Luxuswohnungen für die Reichen zu bauen. Rosi war eine Freundin der Okerstraßen-WG gewesen. Von Matti, dem abgebrochenen Studenten und Taxifahrer. Von Dornröschen, hinter dessen Dauergähnen sich ein hellwacher Verstand verbirgt. Von Twiggy, der fast alles beschaffen kann und geheimnisvollen Geschäften nachgeht.

Die Polizei behauptet, den Mord aufgeklärt zu haben, und erschießt den Tatverdächtigen auf der Flucht. Doch Dornröschen weiß, dass Rosi Machenschaften der Kolding AG aufgedeckt hat, jenes Immobilienhais, der den halben Gräfekiez aufgekauft hat. Rosi führte in einer Bürgerinitiative den verlorenen Kampf gegen die »Aufwertung von Wohnraum«. Sie schreckte vor militanten Aktionen nicht zurück.

Die Okerstraßen-WG stößt auf einen Sumpf der Korruption. Spekulanten, Politiker und Bürokraten schieben sich die Beute zu. Als die WG dem Mörder nahekommt, schlägt er zurück. Brutal und gnadenlos.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 513

Bewertungen
3,7 (18 Bewertungen)
7
4
2
5
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Informationen über dieses Buch: www.cditfurth.de

Copyright © 2012 by Carl’s Books, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Bürosüd Covermotiv: © LOOK-foto / H. & D. Zielske

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09067-8V003

www.penguin.de

Für Franziska

Die Kapitelüberschriften sind Songtitel von Gene.

Prolog

Post-Rudi hatte Rosi an der Ecke Hasenheide/Fichtestraße abgesetzt. Sie waren einen trinken gewesen im Clash, und jetzt wollte Rudi heim, weil er morgen früh rausmusste und Rosi sowieso nicht mitkommen würde. Das hatte ihm ein paar Minuten die Laune verhagelt, aber er nahm natürlich trotzdem das Papppäckchen mit, das Rosi ihm gegeben hatte, mit der Bitte, es verschlossen für sie aufzubewahren. Den Kneipenbesuch war sie ihm schuldig gewesen, schließlich hatte er Konny seine Uniform geliehen und sie nicht mehr zurückbekommen, nachdem die Katastrophe geschehen war. Es war gut ein Jahr vergangen seitdem, aber noch immer wachte Rosi mit diesen schrecklichen Bildern auf. Der Golf mit laufendem Motor, die beiden Typen darin, wie die Räder quietschten, als sie auf Konny in der Postleruniform losrasten und ihn totfuhren. Es war Mord gewesen, aber die Bullen hatten ihr nicht geglaubt, hatten sie als Hysterikerin abgetan. Ja, sie war ausgerastet, aber wie soll man einen klaren Gedanken fassen, wenn vor den eigenen Augen ein Freund ermordet wird? Rosi sah Konnys Leiche immer wieder übers Auto fliegen, wie eine Puppe, ohne Kontrolle über die Glieder. Und in ihr bohrte die Frage, ob sie schuldig geworden sei. Ob sie es hätte verhindern können.

Sie ging die Fichtestraße hoch, rechts das Cochon de Bourgeois, ein französisches Restaurant für Leute mit Brieftasche. Hinter sich hörte sie Schritte.

Hätte sie Konny warnen können? Dieser Gedanke plagte sie. Hätte sie nicht ahnen müssen, dass die Typen im Golf Konny ermorden wollten, sie hatten schließlich mit laufendem Motor gewartet? Immer wieder sagte sie sich, dass es erst nach dem Mord klar geworden war, ihr jedenfalls. Es konnte so viele Gründe geben, warum zwei Typen parkten und den Motor nicht ausschalteten. Aber das tröstete sie nicht. Konny war tot.

Rosi hörte es trappeln in ihrem Rücken. Dann ein Schlurfen.

Auf der anderen Seite sah sie die graue Betonmasse des Gasometers mit seinen zubetonierten Fenstern, die aussahen wie große Schießscharten. Oben aufgesetzt auf den Koloss, der im Krieg als Hochbunker gedient hatte, ein Kasten aus Stahl und Glas. Licht brannte. Links, nach einer Lücke, ein mehrstöckiges weißes Haus, auch viel Glas, modern, teuer, Eigentumswohnungen. Es wurde viel gebaut, die Reichen eroberten den Gräfekiez. Wer die steigenden Mieten nicht bezahlte, musste gehen, nach Neukölln, Moabit, in den Wedding oder noch weiter an den Rand Berlins. Bis auch dort die Immobilienhaie auftauchten.

Sie erreichte die Kreuzung zur Urbanstraße, die den Kiez sechsspurig teilte. Die Fußgängerampel war rot, Rosi schaute nach beiden Seiten, auch hinter sich, aber da ging nur ein Pärchen Hand in Hand zur Körtestraße. Sie gackerte hell, es hallte. Rosi querte die Urbanstraße, nachdem ein Taxi vorbeigeschlichen war. Sie blickte dem Auto nach und glaubte einen Augenblick, Matti sitze hinterm Steuer. Ihn hatte sie schon eine Weile nicht mehr gesehen. Vielleicht will ich’s nicht, er erinnert mich an Konny, dachte sie. Er, Twiggy und Dornröschen, die Okerstraßen-WG, die hatten angezettelt, was so schrecklich endete. Doch mit Dornröschen hatte sie gestern telefoniert und sich gewundert, dass es einfach so ging, ohne dass sie weinen musste. Sie hatte sich überwunden, weil es wichtig war und ihr niemand besser helfen konnte als Dornröschen. Bei dieser Sache.

Die Grimmstraße schloss sich an die Kreuzung in nördlicher Richtung an. Die Fahrbahnen waren geteilt durch Grün und einen Spielplatz.

Ein gutes Stück vor ihr spazierte ein Mann mit schwarzen Haaren und einer Lederjacke. Er hatte einen federnden Schritt. Er sah bestimmt nicht schlecht aus. Vom Kanal her wehte ihr ein lauer Wind ins Gesicht.

Hinter ihr trappelte es leise. Sie drehte sich um und sah nichts. Vielleicht einen Schatten, der hinter einer Hausecke verschwand. Einbildung, sagte sie sich. Einbildung. Du spinnst. Da ist niemand. Und wenn doch? Na und? Sie spürte den Schweiß auf der Stirn, unter den Armen. Sie fröstelte.

Ein Klicken, nicht weit von ihr. Sie zuckte zusammen und lief schneller. Sie hatte es nicht mehr weit. Nur bis zum Ende der Grimmstraße. Ein paar Häuser noch, vor dem Casolare. Sie sah schon das Trafohäuschen, übersät mit Graffiti, gegenüber dem italienischen Restaurant. Dessen Fenster waren dunkel.

Der Mann vor ihr ging langsamer. Auf der Höhe des Schuppens blieb er stehen. Rosi sah es aufglimmen. Das Licht des Feuerzeugs zeigte ein kantiges Gesicht, lange Koteletten. Rosi fror. Sie hielt an, der Mann blickte beiläufig in ihre Richtung. Sie starrte ihn an und wusste in diesem Augenblick, dass er auf sie wartete. Warum? Warum auf mich? Sie ging weiter, stoppte. Schritte hinter ihr. Es waren zwei, mindestens zwei. Sie drehte sich um und erkannte die beiden Männer. Der eine gedrungen, kräftig, in Jeans und Pullover, Bürstenschnitt. Der andere groß und schlaksig, im Anzug, ein leichter, dunkler Stoff. Er trug weiße Sportschuhe und halb lange schwarze Haare. Sie wandte sich ab und rannte auf den Mann am Schuppen zu. Er musste ihr helfen. Sie sah ihn lächeln und wusste schlagartig, dass die drei Männer zusammengehörten. Treibjagd, dachte sie. Und: Komisch, was man denkt, bevor es geschieht. Als sie an dem Mann vorbeirennen wollte, schoss seine Hand zu ihrem Oberarm und umklammerte ihn mit ungeheurer Kraft. Sein Gesicht zeigte Gleichgültigkeit. Dann hatten die beiden anderen aufgeschlossen. Rosi spürte den Schlag nicht, der ihren Schädel zertrümmerte.

1: Mayday

Es war dieser Freitag, an dem Dornröschen beim Mau-Mau verlor. Das war so wahrscheinlich gewesen wie das Ende des Nahostkonflikts oder die deutsche Fußballmeisterschaft für Energie Cottbus. Aber es geschah, und Matti hätte nicht gestaunt, wenn Gullydeckel sich in fliegende Untertassen verwandelt hätten oder Pils vom Himmel geregnet wäre. Noch verblüffender war nur, dass Dornröschen die historische Niederlage locker wegsteckte, ihren Tee austrank, einen Gutenachtgruß murmelte, in ihrem Zimmer verschwand und zu telefonieren begann, und dies mit einer Stimme, die Mattis Siegesfreude wegblies wie der Sturm ein Staubkorn. Sie klang weich und wach, sie lachte, gurrte, gluckste. Nur ein Tauber wäre nicht darauf gekommen, dass am anderen Ende ein Mann war. Aber sie sprach zu leise, sodass er und Twiggy ihre Worte nicht verstanden.

Der süßliche Duft des Joints lag in der Luft.

Twiggy streichelte mechanisch Robbis Kopf, und Matti spürte, wie die Verzweiflung anklopfte. Sie saßen eine Weile wie erstarrt, dann maunzte Robbi, streckte sich, bearbeitete Twiggys wabblige Oberschenkel im Milchtritt, sprang auf den Fußboden und untersuchte seine Fressschale.

Matti holte zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank, öffnete sie, stellte eine vor Twiggy ab und setzte sich wieder.

»Dornröschen war im Kopf nicht dabei«, murmelte der. »Ganz woanders.« Er zeigte zur Tür ihres Zimmers.

»Hm.« Matti trank einen Schluck und stellte die Flasche auf den Tisch.

Robbi schmatzte. Es knackte, als er ein Trockenfutterstückchen durchbiss.

Matti spürte die Angst und versuchte sie zu verstehen. Er hatte doch auch Liebesbeziehungen mit anderen Frauen gehabt, zuletzt mit Lily, die Erinnerung schmerzte. Er hatte sie seitdem nicht mehr gesehen. Seine Gedanken folgten ihr kurz, dann schob er ihr Bild weg. Wenn Dornröschen sich mit einem Mann einließ, was dann? Würde sie ausziehen? Würde die Okerstraßen-WG sich auflösen? Ohne Dornröschen wären er und Twiggy allein, einsam zu zweit. Sie hielt alles zusammen, am Ende bestimmte immer sie. Sie hatte einen legendären Ruf in der Szene, galt als Masterbrain. Matti spürte Gefühle in sich, wie schon manchmal zuvor, Gefühle, die unbestimmt waren, die ihn Wärme und Rührung empfinden ließen. Nicht immer, aber es gab Augenblicke. Wenn Dornröschen sie verließ, was würde aus ihnen werden?

Twiggy trank und brummte etwas.

»Wer ist das?«, fragte Matti. Seine Augen zeigten zu Dornröschens Zimmer. Sie lachte gerade ein bisschen zu aufgeregt.

Twiggy zuckte mit den Achseln. Er sah traurig aus, seine klugen schwarzen Augen schimmerten.

»Seit wann?«, fragte Matti.

Twiggy hob eine Hand und ließ sie wieder auf den Tisch sinken.

»Verfluchte Scheiße«, stöhnte Matti. Sie hatten sich gerade wieder zusammengelebt nach dem Abenteuer, bei dem Norbi und Konny ermordet worden waren. Sie hatten lange kaum darüber gesprochen. Doch Monate später, als sie nach einer Mau-Mau-Partie alle drei angetrunken waren und einen zweiten Joint intus hatten, da hatte Dornröschen erklärt, sie müssten jetzt mal reden. So gehe es nicht weiter, das Schweigegelübde gelte schließlich nur für Robbi. Sie diskutierten bis zum Morgen und noch weiter. Bis jeder gesagt hatte, was geschehen war, wie es zu beurteilen sei und wie sie damit umgehen sollten. Matti gelang es, seinen Schuldkomplex zu polstern, schließlich hatte er die Katastrophe ausgelöst, als er die verfluchte DVD geklaut hatte, deren Inhalt mittlerweile einigen Herren den Job gekostet hatte. Ein kleiner Trost nur. Aber immerhin. Doch jetzt drohte Schlimmeres. Wenn Dornröschen sich verliebt hatte, was würde passieren? Würde ein Typ auftauchen und sich einfach an den Küchentisch setzen? Das konnte Matti sich nicht vorstellen. Er schaute sich um in der Küche, sah die Espressomaschine, die Twiggy besorgt hatte. Sah den Gettoblaster, in dem leise Something in the Water von Gene lief, einer Band, die ihnen Platten-Rosi empfohlen hatte. Sah Dornröschens Teekanne, den Küchenplan an der Wand und den alten Bosch-Kühlschrank. Aber er hätte sich nicht umschauen müssen, um sicher zu sein, dass hier niemand mehr hineinpasste, egal wie groß die Küche war. Hier lebten Dornröschen, Twiggy, Robbi und Matti, und hier hatte kein anderer etwas zu suchen.

»Und wenn sie auszieht?« Twiggys Frage stand in der Luft. Matti schnaufte einmal, während Dornröschen gluckste. Sie tranken, wechselten einen Blick und starrten vor sich hin.

Unvorstellbar, dachte Matti. Nur war in der jüngsten Zeit so viel geschehen, das unvorstellbar gewesen war. Wenn sie auszog, was würde aus ihnen? Einen Moment überlegte er, ob er in Dornröschens Zimmer gehen, ihr das Telefon aus der Hand nehmen und sie fragen sollte. Sie hatte kein Recht abzuhauen. Sie gehörten zusammen, und wenn sie es noch nicht kapiert hatte, dann wurde es Zeit, es ihr zu erklären.

Natürlich ging er nicht.

Sie tranken schweigend die Flaschen leer, sogar Robbi maunzte nicht, als hätte er begriffen, wie ernst die Lage war. Er streckte sich und schlich in den Flur, wo er sich vor Twiggys Tür setzte. Normalerweise hätte er gejault und an der Tür gekratzt oder wäre beleidigt zu Matti gestelzt, aber er saß still da und leckte seine Vorderpfote, als wäre es ihm peinlich, nicht den Rabauken oder die Diva zu geben.

Durch den Flur hörte man Dornröschens Gemurmel.

»Wenn sie einen hat, vermiesen wir es dem«, sagte Twiggy leise. »Was bildet dieses Arschloch sich eigentlich ein?«

Matti nickte bedächtig. »Das ist eine Idee.« Und er malte sich aus, wie sie den Kerl vorführten in einem Streit über die Revolution, den Niedergang des Kapitalismus oder die Unvermeidlichkeit imperialistischer Kriege. Während er es sich ausdachte, kamen ihm diese Begriffe vor wie Schlagworte, inhaltsleer, ausgeleiert. Altes Zeug, das mancher vor sich hertrug, um sich besser zu fühlen. Aber irgendwie musste Dornröschen erkennen, dass sie ins Klo gegriffen hatte. Wollen wir doch mal sehen. Was kann so ein Typ ihr schon bieten in so einer Stinozweierbeziehung? Sie wird bald kapieren, was sie an uns hat und was an dieser Lusche. Aber dann fiel ihm ein, dass Dornröschen sich nie in einen Loser verlieben würde. Es mochte sein, dass sie morgen früh mit Glatze herumlief oder dass sie vom Fahrrad stieg und einem Idioten, der ihr nachgepfiffen hatte, ins Cabrio spuckte, aber sie würde sich nicht in den Falschen verlieben.

Nein, sie mussten es anders machen. Vielleicht sollten sie ihn Tag und Nacht überwachen, bis herauskam, dass er mal was mit einer Sozentusse gehabt hatte, einer Sozialfaschistin, wie Dornröschen sie nennen würde, wenn sie zu viel Gras geraucht hatte.

»Hm«, brummte Twiggy.

Das Gemurmel aus Dornröschens Zimmer kam Matti vor wie Psychokrieg. Wie lange redete sie schon?

Plötzlich war Stille. Dornröschens Tür klackte. »Gute Nacht, Jungs!« Weg war sie.

»Puh«, blies Twiggy.

Matti trank seine Flasche leer und holte zwei neue aus dem Kühlschrank, öffnete sie und stellte eine vor Twiggy.

Sie saßen bis morgens um drei und schwiegen, ausgenommen drei »Tja« von Matti und zwei »Hm« von Twiggy und schließlich »Gute Nacht!«. Der Sechserpack, den Matti gerade gekauft hatte, war leer, und die angebrochene Flasche Aldi-Rotwein auch.

Dornröschen riss die Vorhänge auf. Matti blinzelte. Sie trug ihren Bademantel, die Haare lagen wirr, und in ihren Augen las Matti Angst.

»Was ist?«

»Komm! Steh auf!« Sie winkte ihn hoch. Dann verließ sie das Zimmer, und Matti hörte, wie sie mit Twiggy das Gleiche veranstaltete. »Los!«

Matti zog eine Trainingsjacke an und tappte in die Küche. Auf dem Tisch eine Zeitung und ein Becher. Robbi saß auf einem Stuhl und jaulte. Matti holte das Thunfischfutter aus dem Kühlschrank und füllte das Schälchen. Dornröschen kam mit Twiggy im Schlepptau. Sie tippte auf die Berliner Zeitung, deren Lokalteil aufgeschlagen auf dem Küchentisch lag. Ein Foto und eine Überschrift: »Mord im Gräfekiez«. Das Bild zeigte Rosi.

Matti und Twiggy starrten regungslos auf das Foto.

»Vorgestern«, sagte Dornröschen. »Ihre Leiche wurde auf der Admiralbrücke gefunden.«

Matti überkam ein saublödes Gefühl. »Jetzt machen sie uns fertig«, sagte er.

Dornröschen setzte sich und rührte in ihrem Teebecher. »Nein. Das ist eine andere Geschichte. Und ich glaube, ich weiß, was für eine es ist.«

Die beiden Männer setzten sich an den Tisch und blickten sie an.

»Rosi hatte was herausgefunden …«

»Woher weißt du das?«, drängelte Twiggy.

Dornröschen rührte weiter in ihrem Becher und dachte nach. »Also, ich habe vor Kurzem mit ihr telefoniert, am Tag ihres Todes … Ich bin vielleicht eine der Letzten, mit der sie gesprochen hat … Da werden die Bullen ja bald hier aufschlagen … Die checken bestimmt die Anruferliste auf Rosis Handy.« Sie gähnte noch einmal.

Mattis Hand knallte auf den Tisch. »Was ist los?«

Dornröschen gab sich unbeeindruckt. »Rosi hat was herausgefunden«, wiederholte sie. Ihre großen grünen Augen blickten erst Matti an, dann Twiggy.

Robbi kratzte an Twiggys Oberschenkel, und der nahm den schwarz-weißen Kater auf den Schoß, wo er sich gleich hinfläzte, um seine Streicheleinheiten zu empfangen.

»Und was?«, fragte Matti.

»Sie hat in der Stadtteilzeitung angerufen. Am Telefon wollte sie nicht viel sagen.«

»Aber sie hat was gesagt?« Matti ärgerte sich über Dornröschens Zögern. Gedanken irrten durch sein Hirn: dass er irgendwie schuld sein könnte, weil es eine Racheaktion war für die Geschichte von vor einem Jahr, dass Dornröschen vielleicht auszog, dass alles zusammenbrach, was seine Welt ausmachte. Er wusste, dass nichts bliebe, wie es war, aber nicht jetzt, jetzt durfte sich nichts ändern. Die WG musste bleiben, wie sie war, Dornröschen musste bleiben, was sie war, er brauchte die Sicherheit, den Zufluchtsort, weil er sich so mies fühlte seitdem und weil er doch auch mit Lily nicht fertig war, ihm immer noch Nächte einfielen, in denen sie zusammen gewesen waren. Er wachte oft auf mit ihrem Gesicht vor Augen, mit ihrem Lächeln, sah, wie sie nackt aus dem Bett stieg und langsam zur Küche ging, als wünschte sie, dass er sie beobachtete. Er sah sie im Tagtraum, wie sie ihm in der Küche gegenübersaß und den Fuß des einen Beins unter den Oberschenkel des anderen steckte. Und wie sie ihn angrinste.

Dornröschen rührte in ihrem Becher und dachte nach. Dann sagte sie endlich: »Es geht um eine Immobiliengeschichte. Gräfekiez, die Verdrängung der alten Mieter durch neue, reichere Mieter. Gentrifizierung eben«, murmelte sie vor sich hin. »Allein wegen dieses schrägen Begriffs ist mal einer in U-Haft gewandert, dieser Soziologe …«

»Ja, das wissen wir doch alles. Was hat Rosi gesagt?« Matti kochte, aber er traute sich nicht, seine Wut rauszulassen, weil sie vielleicht auf dem Absprung war. Wenn sie darüber nachdachte, ob sie ausziehen sollte, genügte womöglich ein falsches Wort von ihm, und sie war weg.

»Nun mal los«, brummte Twiggy.

»Also«, sagte Dornröschen gähnend, »Rosi war da einer Immosauerei auf der Spur. Es geht um den Deal eines ausländischen Konzerns mit einem Bezirksstadtrat und einem Typen aus dem Senat oder so ähnlich. Da soll Knete geflossen sein, aber sie hat nicht gesagt, für was und von wem.«

»Und warum erzählt sie dir das?«, fragte Matti.

»Weil wir die Geschichte bringen sollten in der Stadtteilzeitung.«

»In der Stadtteilzeitung?« Twiggy ließ den Mund ein paar Sekunden offen, schloss ihn und sagte: »Also wenn die einen Typen vom Senat geschmiert haben, ist das eine Nummer größer.«

Dornröschen blähte die Backen und pustete über den Tisch. »Wahrscheinlich hat sie geglaubt, dass die alle unter einer Decke stecken.«

Matti winkte. »So blöd war sie nicht.« Seltsam, in der Vergangenheitsform über sie zu sprechen.

»Oder sie war sich ihrer Sache nicht sicher«, sagte Twiggy.

»Aha, und was sagt uns das?«, fragte Dornröschen.

Twiggy verzog sein Gesicht. »Dass die bei einer … großen Zeitung ihre Behauptungen genau geprüft hätten.«

»Du wolltest sagen, bei einer richtigen Zeitung«, schnappte Dornröschen.

Es ist gerade so, als würden wir über ein Minenfeld laufen, dachte Matti.

»Und dass wir jeden Scheiß drucken«, fügte Dornröschen hinzu.

»Nun regt euch ab«, sagte Matti, und im Stillen sagte er es auch zu sich.

Robbi streckte sich, eine Pfote krallte in die Tischkante, dann versank sie wieder.

Schweigen.

Endlich Twiggy: »Und wenn es doch ein Racheakt ist, wenn der Hintermann noch einen Hintermann hatte und der alle umbringen lässt, die mit der Sache zu tun hatten?«

Matti fröstelte. War es auszuschließen, dass sie einen von dieser Mafia nicht enttarnt hatten und dass der nun die Rechnung beglich? Sie hatten ihm ein Riesengeschäft versaut, ein paar Milliarden Gründe, sich zu ärgern.

»Jetzt zähl doch mal eins und eins zusammen«, sagte Dornröschen betont geduldig. »Rosi hat eine Sauerei rausgekriegt, ruft mich an und wird ermordet.«

»Und woher weiß der, der sie umgebracht hat, dass Rosi dich angerufen hat?«, fragte Twiggy. »Und wenn er es weiß, bringt er dich dann auch um? Könnte doch sein, der glaubt, du weißt das, was Rosi herausgefunden hat.«

Wieder Schweigen.

»Wenn wir wüssten, was Rosi ausgeheckt hat, wüssten wir mehr«, sagte Matti. »Dann hätten wir wenigstens eine Ahnung davon, wem sie auf die Pelle gerückt ist.«

Dornröschen nickte.

»Und wie finden wir es raus?«, fragte Twiggy.

»Indem wir ihre Bude durchsuchen. Da wird sie das Zeug ja haben«, erwiderte Dornröschen.

»Es sei denn, sie hat es versteckt.« Matti kratzte sich am Ohr. »Das wissen wir aber erst, wenn wir ihre Wohnung auf den Kopf gestellt haben.«

»Da sind bestimmt die Bullen gewesen und haben die Tür versiegelt«, sagte Twiggy. »Also nicht schon wieder die Polizeitour. Ich habe noch vom letzten Mal die Schnauze voll.«

»Warum? Hat doch geklappt«, widersprach Matti. »Und wenn Werner uns die Polizeimarke leiht …«

»Dann weiß es ein paar Wochen später die halbe Stadt«, sagte Dornröschen. Beim letzten Mal hatte Werner das Großmaul sich seinen Beinamen wieder verdient. Inzwischen wusste jeder, dass die Okerstraßen-WG einen von Werners genialen Plänen verwirklicht hatte und dass dabei die Hundemarke, die er einem Bullen bei einer heroischen Maikeilerei am Kotti abgenommen hatte, eine entscheidende Rolle spielte. Leider konnte Werner nicht die ganze Geschichte erzählen. »Underground«, sagte er dann, wenn er im Clash, vorzugsweise vor jungen Genossinnen, von seinen Heldentaten raunte. »Ganz geheim, eine Aktion, die den Staat im Mark getroffen hat.«

Es klingelte an der Tür. Und gleich wieder und wieder.

»Die Bullen«, sagte Matti gelassen. Er ging zur Wohnungstür und öffnete sie. Davor stand in einem abgetragenen braunen Anzug Hauptkommissar Schmelzer, fett, rote Flecken im Gesicht, die Halbglatze mehr betont als getarnt durch eine daraufgeklebte extralange Strähne seines grauen Haars. In seiner Begleitung ein bürstenkopfiger Jungbulle in Zivil in Jeans und schwarzem Lederblouson. Sie kannten sich lange, Schmelzer und die Okerstraßen-WG. Am Anfang hatte Feindschaft gestanden, mittlerweile verzichtete er aber darauf, die WG mit Durchsuchungen zur Gestapozeit zu belästigen, worin sich womöglich Dankbarkeit zeigte für ein unverhofftes Zusammenwirken. Aber das war eine andere Geschichte.

»Wir müssen mit Frau Damaschke sprechen«, sagte Schmelzer.

Matti überraschte sich selbst, als er die Tür weit öffnete und zur Seite trat. Schmelzer hob die Augenbrauen und trat ein, der Jungbulle folgte ihm, ein wenig schüchtern, wie es sich gehörte, wenn man in eine Keimzelle des Terrors vordrang.

Die Zeitung war vom Küchentisch verschwunden, Twiggy und Dornröschen taten gelangweilt, als Schmelzer auftauchte.

Aber dann fragte Twiggy scharf: »Wie kommen die hier herein?«

»Lass mal«, sagte Dornröschen ruhig. »Wir machen einen Deal.« Ein Blick zu Schmelzer. »Sie dürfen mich hier befragen, aber meine Genossen bleiben da. Klar?«

Schmelzer wechselte einen kurzen Blick mit dem Jungbullen. Der hatte zwei Millionen Fragezeichen im Gesicht.

»Gut«, sagte Schmelzer. »Frau Damaschke, Sie haben gehört …«

Dornröschen wischte die Frage weg mit einer knappen Handbewegung.

»Sie waren die letzte Person, mit der Frau Weinert telefoniert hat, bevor sie ermordet wurde.«

Dornröschen erwiderte nichts.

Schmelzer räusperte sich. »Um was ging es in dem Gespräch?«

Dornröschen gähnte. »Um so einiges.«

Schmelzer warf ihr einen erstaunten Blick zu.

»Na, um das, was zwei Freundinnen zu bereden haben. Shopping, Männer …«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

Dornröschen ließ ihre Augen Schmelzers Figur abtasten. »Das würde ich nicht schaffen.«

»Ihrer … Freundin wurde der Schädel eingeschlagen. Und Sie spielen Versteck mit der Polizei.« Schmelzer setzte eine enttäuschte Miene auf.

Matti, Twiggy und Dornröschen wechselten Blicke. Wohl fühlte sich Matti nicht. Sie wollten doch, dass der Mörder gefasst wurde, keine Frage. Aber sie trauten den Bullen nicht, und dies seit der DVD-Geschichte noch weniger als zuvor.

»Wir denken darüber nach, ob mir was einfällt«, sagte Dornröschen.

Schmelzer schnaubte.

»Ich stehe unter Schock«, sagte Dornröschen. »Teilamnesie, das verstehen Sie doch, oder?«

Schmelzer schüttelte den Kopf. Dem Jungbullen traten die Augen aus den Höhlen, er ging einen Schritt auf Dornröschen zu und bremste abrupt.

»Und aus diesem Zustand kann mich nur eines befreien: die liebevolle Zuwendung meiner Genossen.«

Matti erhob sich unter den misstrauischen Blicken des Jungbullen, stellte sich hinter Dornröschen und begann ihr sanft die Schultern zu massieren. Robbi streckte sich maunzend, lief über die Tischplatte zu Dornröschen und setzte sich auf ihren Schoß. Sie kniff ihn zart am Ohr, was ihn schnurren ließ wie einen Trabimotor mit Fehlzündungen. Der Jungbulle beobachtete die Szenerie mit aufgerissenen Augen, rote Flecken weiteten sich in seinem Gesicht. Schmelzer schüttelte den Kopf. »Sie haben meine Nummer. Wenn Ihnen was einfällt, rufen Sie mich an. Sie wissen, dass die Behinderung einer polizeilichen Ermittlung strafbar ist …«

»Ich schicke Ihnen ein Attest, in dem mir …«, sagte Dornröschen, ohne ihr Gesicht von Robbi abzuwenden.

Schmelzer winkte ab. »Ist schon klar.« Mit den Augen zeigte er dem Jungbullen, dass sie gehen würden. Aber der stand wie erstarrt und glotzte Dornröschen an.

»Kommen Sie«, sagte Schmelzer, in seiner Stimme mischten sich Mitleid und Ungeduld. Wenn er nicht gerade im Phlegma ertrank, brauchte ein Polizist Jahrzehnte, um solche Typen auszuhalten wie diese WG, und vielen gelang es nie. Manche Kollegen sehnten sich danach, diese Leute mal richtig ranzunehmen, und bei Demos taten sie es auch.

Der Jungbulle räusperte sich, es klang wie das Knurren eines gereizten Rottweilers, und folgte Schmelzer hinaus. Twiggy stellte sich in den Küchentürrahmen und beobachtete den Abmarsch, bis die Wohnungstür zuknallte.

»Und nun?«, fragte Matti.

»Mit wem hast du telefoniert?«, murmelte Twiggy.

Dornröschen war inzwischen in sich versunken.

»Das kannst du nicht machen«, sagte Twiggy.

Dornröschen hob langsam die Augen und starrte Twiggy an. »Was kann ich nicht machen? Außerdem, wir haben zurzeit gerade ein paar andere Probleme.«

»Du kannst dich nicht einfach mit so einem Typen einlassen«, sagte Twiggy.

»Was machen wir jetzt mit den Bullen?«, fragte Matti. »Vielleicht sagst du denen doch, was du weißt. Das wäre ein … taktischer Kompromiss.« Er hätte das Wort am liebsten zurückgeholt und heruntergeschluckt.

Dornröschen guckte Matti an, dann Twiggy. Und dann schrie sie, die noch nie geschrien hatte: »Seid ihr vom wilden Affen gebissen? Hat euch irgendjemand was ins Bier geschüttet?« Ihre Hand knallte auf die Tischplatte, mit einem Fauchen sprang Robbi auf den Boden und fegte geduckt aus der Küche.

»Rosi wurde umgebracht, nachdem sie mit mir gesprochen hat. Und vielleicht wurde sie ermordet, weil sie mit mir geredet hat«, zischte sie. »Und ihr habt keine anderen Sorgen als diesen Scheiß …« Scheiß. Das Wort blieb in der Luft hängen.

Twiggy und Matti wechselten ängstliche Blicke. Und Matti dachte, wenn sie so reagiert, dann denkt sie an Auszug. Dann hat sie es nicht mehr nötig, sich zu beherrschen. Dann hat sie die Nase voll von uns und unserer WG. Wie konnte es so weit kommen? Wenn nicht alles in die Brüche gehen sollte, mussten sie sich zusammenreißen. Er schickte Twiggy einen mahnenden Blick und schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Was machen wir mit den Bullen?«, fragte Matti.

Dornröschen fixierte ihn kurz und guckte dann auf die Tischplatte.

Twiggy setzte Teewasser auf und stellte ihre beiden Kannen bereit, auffällig laut. Er holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und packte sie auf den Tisch. »Hunger?«, fragte er leise in Dornröschens Richtung. Aber sie antwortete nicht. Sie gähnte, und Matti schöpfte Hoffnung.

Der Wasserkocher begann zu zischen. Twiggy füllte Tee in eine Kanne, auf die andere legte er das Sieb. Immer wieder warf er ihr kurze Blicke zu, aber sie starrte weiter auf die Tischplatte. Als sie wieder gähnte, blickten die beiden sie erwartungsvoll an.

»Wir paktieren nicht mit den Bullen«, sagte Dornröschen. »Der Schmelzer mag ein nützlicher Idiot sein, aber das macht ihn nicht zum guten Bullen. Es gibt keine guten Bullen, diese Möglichkeit steckt nicht drin im Begriff des Bullen. Ich dachte, das hättet ihr kapiert.«

Die beiden Männer guckten schuldbewusst. Twiggy ähnelte einem hypertrophen Pudel, Matti versuchte den Dackelblick.

»Habt ihr schon vergessen, dass die Bullen die Morde an Konny und Norbi vertuschen wollten?« Sie tippte sich an die Schläfe und schüttelte den Kopf. »Rosi hat eine Riesensauerei aufgedeckt, und wenn wir das denen« – ihr Finger wies in Richtung Tempelhof, zum Polizeipräsidium – »überlassen, war das am Ende ein Unfall. Oder ein Vergewaltigungsversuch, die Arme hätte sich mal besser nicht wehren sollen. Da wurden Bonzen geschmiert, damit die Immohaie Wowis Berlin verschönern können, und ihr wollt mich zu den Bullen schicken …«

Nichts einfacher als das. Sie brauchten Werners Hundemarke nicht, sondern nur Dornröschens Frechheit, mit der sie sich als Rosis Schwester ausgab, die behauptete zu wissen, dass Rosi bei der Wohnungsnachbarin einen Schlüssel hinterlegt hatte. Die Frechheit wurde vierfach belohnt: Die Nachbarin war da, die Bohnenstange mittleren Alters mit wirren roten Haaren und Sommersprossen war dumm genug, Dornröschens Märchen zu glauben, sie hatte einen Schlüssel, und die Wohnung war nicht versiegelt. »Jetzt finde ich bestimmt meine Halskette wieder. Sie ist nicht wertvoll, aber sie ist von der Großmutter«, säuselte Dornröschen in der passenden Mischung von Trauer und Trost. Matti verkniff sich das Grinsen. Das fiel ihm leicht, er musste nur daran denken, wie Dornröschen telefoniert hatte in der letzten Nacht. Das Grauen hatte ein Bild.

Es war eine winzige Zweizimmerwohnung im dritten Stock, die sie unter den Blicken der Bohnenstange betraten. Das Erste, was Matti auffiel, waren die Wärme und der Geruch von Feuchtigkeit. Wie in der Sauna. Er fasste an den Heizkörper im Flur, er war warm, der Thermostat stand auf der höchsten Stufe. Auch in den anderen Zimmern waren die Heizkörper eingeschaltet. Matti drehte die Thermostaten auf null und öffnete die Fenster. Eine Sommerbrise zog durch die Wohnung, sie wirbelte Blätter vom Schreibtisch. Das war ihr Arbeits-und-Wohnzimmer gewesen. An der Seitenwand stand ein Zweisitzer, Leder, abgesessen, mit glänzenden Stellen. Über der Rückenlehne hing ein Tuch mit Elefantenmotiven. Vor dem Sofa stand ein eckiger Holztisch mit Doppelplatte. Auf der unteren quetschten sich Zeitungen, Papier, Broschüren, die obere war leer. Sie gingen durch die anderen Zimmer. Überall war es ordentlich, als hätte Rosi gerade aufgeräumt.

»Das sieht so aus, als hätte jemand die Bude durchsucht«, sagte Dornröschen, als sie in der Küche standen.

Twiggy blickte sie ungläubig an.

»Es ist zu ordentlich«, sagte Dornröschen.

»Und die aufgedrehten Heizkörper«, sagte Matti, »die Wärme soll die Spuren verfälschen, älter machen.«

Twiggy nickte. »Wasser und Fettsäure verdunsten, aber so schnell nun auch wieder nicht.«

»Vielleicht war Rosi einfach nur kalt am Abend, und sie hat vergessen, die Heizkörper runterzudrehen. Hier ist es ziemlich feucht. Kann doch sein, dass sie so die Bude trockener kriegen …« Matti guckte sich um, als könnte er etwas finden, um die Frage zu klären.

»Und dafür eine Schimmelpilzfarm aufmachen wollte«, widersprach Twiggy.

»Bleibt ruhig, Jungs«, sagte Dornröschen. »Wir halten fest: Es ist zu warm, und die Bude ist zu ordentlich. Wir suchen jetzt Unterlagen über Immohaie im Gräfekiez.«

»Zu Befehl«, sagte Matti. Er begann im Wohnzimmer, Dornröschen nahm sich das Schlafzimmer vor und Twiggy die Küche.

Matti setzte sich aufs Sofa und zog die Stapel zwischen den Tischplatten hervor. Zeitschriften, Broschüren, eine mit dem Titel Wir bleiben hier!, Papiere. Matti blätterte alles durch, bis er auf eine blaue Aktenmappe stieß. Sie war unbeschriftet. Er schlug sie auf und sah Protokolle einer AG Gegen Mieterhöhungen. In der ersten Zeile stand jeweils das Datum, in der zweiten waren die Teilnehmer aufgelistet: Achim, Lisbeth, Willi, Karin, Jens, Rosi, Karla, Klaus, Susanne. Im nächsten Protokoll fehlte Jens, dafür waren Gerd und Udo L. erschienen. Den anderen Udo fand Matti im vierten Protokoll. Udo K. schien aber selten aufzutauchen. Rosi war immer da gewesen. Er überflog die Protokolle, es ging um Mieterhöhungen nach Hausverkäufen. Es tauchte immer wieder ein Name auf: Kolding AG. Matti begriff schnell, dass das ein Immobilienkonzern war, mit Sitz in Rotterdam. Offenbar war die Kolding AG der aktivste Käufer, er wickelte fast zwei Drittel der Transaktionen ab, genauer gesagt, er kaufte, verkaufte aber nie. Willi: Kolding kauft am liebsten Häuser, die in einem schlechten Zustand sind. Je schlechter das Haus, desto höher der Profit. Matti legte die Mappe auf den Schoß, den Finger an der Stelle, wo Willis These stand. Eigentlich ganz einfach, dachte er. Verrottetes Haus billig kaufen, renovieren, Eigentumswohnungen oder Luxusmietbuden rein, und schon fließt die Kohle. Jedenfalls in so einem Viertel wie dem Gräfekiez. Die Leute bezahlen für den Landwehrkanal, die Kneipen, den riesigen Kinderspielplatz, die Ruhe und die Lage mitten in Berlin. Und dafür zahlen sie an Kolding. Das ist ungefähr so, als hätte man eine Gelddruckmaschine im Keller. Das Schärfste waren die Paul-Lincke-Höfe an der Ecke Reichenberger und Liegnitzer Straße, wo reiche Pinkel ihre Ferraris und Pseudogeländewagen direkt vor dem Wohnzimmer parkten, eine Provokation, CarLoft genannt, nur möglich, weil ein Wachunternehmen diese Häufung von Börsenjunkies und Werbefuzzies vor dem Zorn Kreuzbergs schützte.

Matti blätterte weiter. Von Aktionen war die Rede. Wie kann man Zuzüglern die Hölle heiß machen?, fragte Karla laut Protokoll. Sie schlug Sprayaktionen vor, Lärmattacken, Schimpfkanonaden. Man kann so einen geleckten Wichser ruhig mal anpöbeln, wenn Markt am Maybachufer ist.

Klaus gab offenbar den Strategen, jedenfalls warnte er vor den langfristig negativen Folgen. Man dürfe sich nicht von der Bevölkerung entfernen, und die finde solche Aktionsformen eher abschreckend.

Aber Karla war gar nicht einverstanden. Wenn man mit radikalen Aktionen Erfolg hat, gewinnt man auch die Mehrheit der Leute. Außerdem habe sie noch keinen anderen Vorschlag gehört, der irgendwas bringen würde. Es gibt nur die Möglichkeiten: Aktion oder Resignation. Rosi stimmte ihr zu: Wenn wir nichts Richtiges unternehmen, können wir auch gleich kapitulieren.

In anderen Protokollen entdeckte Matti Hinweise, dass der Streit unentschieden blieb, sich die Bürgerinitiative grob in zwei Fraktionen teilte, in Radikale wie Karla und Rosi und Weicheier wie Klaus. Diese Art von Strategen kannte Matti, die verbargen ihre Feigheit hinter einer endlosen Kette von Worten.

»Und?«, fragte Dornröschen. Sie lehnte am Türrahmen.

»In dieser Ini gab es Leute wie Rosi oder so eine Karla, die standen auf Aktionen. Und diese anderen, du weißt …«

Dornröschen winkte ab.

»Es geht um einen holländischen Immohai, der hier dick eingestiegen ist«, sagte Matti nachdenklich.

Twiggy erschien hinter Dornröschen.

»Rosi kämpft gegen den Immohai, sie hat heiße Infos über den Konzern und Leute vom Senat, also muss Rosi weg«, sagte Twiggy.

»Ich weiß nicht.« Matti schüttelte den Kopf.

»Was weißt du nicht?«, fragte Dornröschen.

»Das ist mir zu einfach.«

»Meistens sind die einfachen Dinge wahr«, erwiderte Dornröschen schnippisch.

»Und meistens hat Dornröschen recht«, sagte Twiggy.

Matti nahm die Protokolle mit, sonst fanden sie nichts. Sie verließen die Wohnung. Vor der Tür wartete die Bohnenstange. Mit einem zuckersüßen Lächeln fragte ihr Froschmaul: »Nun, haben Sie die Kette gefunden?« Ihre Augen streiften hektisch über die drei Freunde. Matti, der als Letzter hinausgekommen war, versteckte die Mappe hinter seinem Rücken.

»Ja«, säuselte Dornröschen und griff in die Tasche.

Der Bohnenstange Augen folgten Dornröschens Hand, aber als die ihre leere Hand aus der Tasche zog, atmete sie einmal durch und wendete sich abrupt ab.

»Ihr Schlüssel«, sagte Twiggy.

Die Bohnenstange schnappte den Schlüssel, als Twiggy ihn hinhielt, und verschwand in ihrer Wohnung.

Sie gingen zur Admiralbrücke. Je näher sie ihr kamen, desto langsamer liefen sie. Die Vögel zwitscherten, am blauen Himmel zeichnete ein Flugzeug, ein silbrig glänzender Punkt nur, Kondensstreifen. Ein weißes Cabrio rollte fast lautlos vorbei, darin ein junges Paar, ÜBerlin von R. E. M. verklang mit dem sich entfernenden Auto. Hier konnte kein Mord geschehen sein, dachte Matti. Dann wäre es düster, es gäbe kein Zwitschern und keine Musik.

Das Kopfsteinpflaster der Brücke glänzte im Sonnenlicht. Der Mittelstreifen, abgetrennt durch Steinpoller, ein paar waren beschmiert. Ein rundes Schild, 2,8 t, schwarze Schrift auf weißem Grund, rot umrandet. Auf beiden Seiten je drei auf alt getrimmte Laternen, die mittleren trugen Doppellampen.

Sie betraten den Mittelstreifen und standen gleich vor der Umrisszeichnung. Überall waren Kronkorken in den Teer getreten, der die Pflastersteine verfugte. Ein paar schwarze Flecken glänzten, Rosis Blut.

2: Speak To Me Someone

Ülcan saß hinter dem fleckigen Monsterschreibtisch in dem Kabuff, das er sein Büro nannte. Die Luft war voller Zigarettenqualm, vor sich hatte Mattis Chef die Sportseiten der Milliyet, und offenbar war der türkische Fußball in der Krise oder wenigstens Trabsonspor. Jedenfalls guckte Ülcan trübe aus seinen großen schwarzen Augen auf Matti, der pünktlich zur Tagesschicht erschienen war und das reinste aller Gewissen hatte. In den letzten Monaten hatte er funktioniert wie ein Uhrwerk, hatte tonnenweise Fahrgäste von hier nach dorthin gefahren, hatte sich das Gemecker über die Scheißregierung, Hertha BSC, die Kommunisten oder den Osten angehört, ohne ein einziges Mal deutlich zu werden, hatte es sogar hingenommen, dass ihm einer ins Auto kotzte, empfand sich auf der Straße als Ritter der Höflichkeit und lieferte das Geld rechtzeitig beim Taxibesitzer ab. Aber er hatte natürlich keine Sekunde erwartet, dass der es ihm dankte. Vielleicht sollte er es als Anerkennung betrachten, dass ihn Ülcan nicht mit einer Schimpfkanonade bombardierte, sondern ihm nur einen kurzen traurigen Blick zuwarf und irgendwas brummte, was Matti als Gutenmorgengruß verstand. Matti nahm den Schlüssel vom alten E-Klasse-Benz vom Brett und verließ das Büro. Er schloss die Tür, damit Ülcan seine Selbsträucherung fortsetzen konnte, und stieg ins Auto. 289 765 Kilometer stand auf dem Tacho. In der Ablage vor dem Automatikwahlhebel lag immer noch die gelbe Broschüre mit den Weisheiten des Konfuzius, aber Matti hatte schon ewig nicht mehr hineingeschaut. Vor einem Jahr hatte er täglich darin gelesen, aber es war eine Scheißzeit gewesen, und das Büchlein erinnerte ihn daran. Doch wegwerfen wollte er es auch nicht. Noch nicht. In der Ecke des Hinterhofs rostete immer noch das Kreidlermoped, dessen massenhafte Nutzung vor ein paar Jahrzehnten die demografischen Nöte Deutschlands um einige Promille vergrößert hatte, wobei der Schwund vor allem die Dorfjugend traf, was in Mattis Augen die Sache nicht unbedingt dramatisierte.

Er startete den Diesel und fuhr in Richtung Hermannplatz, als sein PDA piepte. Die Tour von der Lenaustraße 41 zur Oderstraße in Friedrichshain nahm er an, die alte Dame wartete schon vor der Tür. Sie trippelte mit Handtasche und Hut ins Taxi, überm Arm trug sie trotz der Augustwärme einen Mantel.

»Die Oderstraße kennen Sie doch wohl?«, fragte sie skeptisch, als sie auf der Rückbank saß.

»Ja«, sagte Matti trocken.

»Na, nicht jeder Taxifahrer im Westen kennt sich drüben aus«, sagte sie spitz.

»Am Traveplatz«, erwiderte Matti. Eine Tour, die sich nicht lohnte.

Die Dame schwieg.

Der Duft eines Parfüms zog unter Mattis Nase. Warum erinnerte er ihn an Lily? Sie hatte anders gerochen.

Sie fuhren über die Friedel-, Ohlauer und Wiener auf die Skalitzer Straße. Dann über die Oberbaumbrücke und die Gleise der S-Bahn in die Warschauer Straße, um rechts in die Boxhagener Straße hineinzufahren, und schon waren sie am Ziel. Auf dem Traveplatz spielten Kinder, auf Bänken saßen Mütter mit Kinderwagen und beobachteten das Treiben. Die Dame gab ihm sogar Trinkgeld und trippelte schweigend davon.

Der Tag blieb schön, und Matti fuhr viele Leute durch Berlin. Einen steifen Geschäftsmann nach Schönefeld, zwei missgelaunte junge Frauen zum Hauptbahnhof, schottische Touristen zum KaDeWe, ein Franzose zu Fuß fragte bei einem Ampelstopp auf dem Zebrastreifen nach dem Café Kranzler, das er nicht wiedererkannt hatte. Eine drittklassige Filmschauspielerin zeigte sich beleidigt, womöglich weil Matti sie nach fünf Minuten immer noch nicht gefragt hatte, ob sie nicht Darstellerin in der Serie Soundso sei, womit sie ihn dann jedenfalls mit piepsiger Stimme zutextete. Als er am Nachmittag einen großmäuligen Niederbayern vom Café Einstein in der Kurfürstenstraße zum Tempelhofer Ufer fahren musste, beschloss Matti, dass er genug gearbeitet hatte, und kehrte zurück zur Garage, deren Graffiti-verschmiertes Tor wie fast immer geschlossen war, weil Ülcan nicht aufpasste und seinen Hintern nicht hochbekam. Fuck you stand da in krakeliger Sprayschrift. Matti überhörte Ülcans Gemecker, knallte die Bürotür zu, schwang sich auf sein Damenfahrrad und radelte gemächlich los.

Am U-Bahnhof Boddinstraße kaufte er ein Sechserpack Astra Pils. Als er die Treppen in der Okerstraße 34c hochgestiegen war, ahnte er schon vor der Haustür die Vorzeichen der Katastrophe. Irgendetwas war anders. Er schloss die Tür auf und hörte nichts. Kein Geklapper in der Küche, kein Reden, kein Geräusch aus dem Badezimmer, nichts. Und doch wusste er, dass seine Freunde da waren. Dornröschen zieht aus, dachte Matti. Ihm wurde übel. Er blieb stehen und spürte, wie er zu schwitzen begann. Dann ein Rascheln in der Küche. Matti schlich sich fast an. Als er in die Küche kam, saßen Dornröschen und Twiggy am Tisch. Darauf lag aufgeschlagen ein Telefonbuch. Twiggy wendete sein Gesicht wie in Trance Matti zu. Dornröschen starrte irgendwohin.

»Robbi«, sagte Twiggy. »Robbi.«

Schlimme Gedanken schossen durch Mattis Hirn. Der Kater aus dem Fenster gestürzt, erstickt, in der Waschmaschine zu Tode geschleudert, in der Badewanne ertrunken, Nachhall von Twiggys Ermahnungen. Und bloß keine Fenster kippen, die Katzenfalle Nummer eins!

»Er verliert Haare«, sagte Twiggy.

Matti verstand erst nicht. Er blickte auf den Boden und sah schwarz-weiße Fellhaarbüschel. Er stellte den Sechserpack auf den Tisch. »Wo ist er?«

Twiggy deutete zu seinem Zimmer. Und vor Mattis innerem Auge erschien ein Bild: der Kater an Schläuchen im Krankenbett, Katzenschwestern in Weiß um ihn herum.

Matti ging in Twiggys Zimmer. Robbi lag zusammengekringelt auf dem Bett und öffnete ein Auge halb, als er Matti hörte. Das Auge war tranig und schloss sich gleich wieder. Matti betrachtete den Kater, dann streichelte er ihn und sah ausgedünnte Stellen im Fell. Zurück in der Küche, sagte er: »Wir müssen zu Dr. Schneider.«

»Dr. Schneider ist nicht mehr. Den hat die große schwarze Katze geholt«, erwiderte Twiggy. »Was glaubst du, warum das Branchentelefonbuch hier liegt?« Er deutete darauf.

Matti setzte sich an den Küchentisch. »Habt ihr schon einen gefunden?«

Twiggy schüttelte den Kopf. »Das sind bestimmt alles Giftmischer. Außerdem hat Robbi Angst vor jedem Tierarzt außer Dr. Schneider.« Den Doktortitel würde er in keinem anderen Fall über die Lippen kriegen, aber Dr. Schneider hatte Robbi schon mehrfach das Leben gerettet, jedenfalls wenn man wie Twiggy davon ausging, dass das geringste Unwohlsein lebensbedrohlich sein musste für den armen Kater. Dr. Schneider hatte ein Gespür für Katzen und vor allem für ihre Besitzer gehabt. Er behandelte eher den Katzenhalter als das Tier, wodurch in vielen Fällen auch das Tier wundersam gesundete.

»Na, man kann jetzt nicht sagen, dass Robbi freiwillig zu Schneider ging«, sagte Matti.

»Du hast doch die Protokolle mitgenommen?«, warf Dornröschen ein.

Matti stutzte und sagte: »Ja, klar. Liegen in meinem Zimmer, auf dem Schreibtisch.«

Twiggy blickte von einem zur anderen. »Hey!«

»Mann, Twiggy, Robbi hat die Mauser. Katzen verlieren Haare, wenn es warm wird«, sagte Matti.

»Aber Robbi verliert nicht nur Haare, er ist auch so … apathisch.«

Fast hätte Matti gesagt, dass der Kater immer apathisch sei, außer wenn er was fressen wollte, aber das traute er sich nicht.

»Sabine«, sagte Dornröschen nachdenklich. »Die hat auch eine Katze.«

»Die aus der Redaktion?«, fragte Matti.

Dornröschen nickte und gähnte.

Matti erinnerte sich, er hatte Sabine ein-, zweimal gesehen, eine lebhafte Kleine mit kurzen schwarzen Haaren.

Dornröschen wählte Sabines Nummer auf dem Handy.

»Du hast doch eine Katze. Zu welchem Tierarzt …?«

Sie hörte eine Weile zu und sagte dann: »Alles andere später, wir haben einen Notfall.« Ihr Blick fiel auf Twiggy.

Der Arzt hatte nicht mal einen Doktortitel, dafür lag seine Praxis in der Kienitzer Straße, neben dem Polnischen Schulverein. Twiggy hatte lange auf Robbi eingeredet, um ihn zu überzeugen, in den Katzentransportkorb zu steigen. Aber als der nach einer Viertelstunde die freundliche Einladung immer noch missachtete, setzte Matti ihn kurzerhand in den mobilen Katzenknast. Es ging so schnell, dass weder Robbi noch Twiggy einen Laut des Protests herausbekamen. Matti schloss den Deckel, und da erklang das erste Maunzen des Katers. Es ging allen durch Mark und Bein.

»So, jetzt schnell!« Für Dornröschen kam Widerspruch nicht infrage.

Twiggy nahm vorsichtig den Korb. »Ist gar nicht so schlimm«, sprach er hinein. Robby maulte nur umso lauter.

Im Wartezimmer ängstigten sich sieben Hunde, vier Katzen, ein Meerschweinchen und ein Kanarienvogel. Der Besitzer eines Schäferhunds und die am Hals tätowierte Halterin eines Bullterriers mit einem stählernen Maulkorb unterhielten sich lautstark über die Vorzüge verschiedener Hunderassen, um sich darauf zu einigen, dass neben Bullterriern und Schäferhunden womöglich Hirtenhunde oder Huskies bestehen könnten, dann aber lange nichts komme.

Dornröschen, Twiggy, Matti und Robbis Korb fanden in einer Ecke Platz. Robbi drängte sich in eine Ecke des Knasts und schwieg. Der Korb stand auf Twiggys Schoß, und der flüsterte fortlaufend etwas hinein. Er saß in der Mitte.

Matti beugte sich nach vorn: »Und was machen wir jetzt?«

»Wir gehen gleich ins Sprechzimmer«, sagte Twiggy und redete wieder auf Robbi ein.

»Nein, mit Rosi.«

Dornröschen beugte sich auch nach vorn. »Wir klappern die Leute von der Ini ab, die wissen vielleicht was.«

»Puh«, stöhnte Matti.

»Fällt dir was Besseres ein?«

Nach einer guten Stunde waren sie endlich dran. Herr Kwiatkowski trug einen schwarzen Schnauzer und war mürrisch. Sein Deutsch hatte einen osteuropäischen Einschlag. Er untersuchte Robbi eingehend, und der ließ nach einem Fauchen alles über sich ergehen, als hätte er mit seinem neunten Katzenleben abgeschlossen. Er ertrug sogar die Kanüle, mit der ihm der Arzt Blut abnahm.

Als Robbi wieder im Korb saß, schüttelte Kwiatkowski den Kopf. »Dem Tier fehlt nichts. Kerngesund.«

»Aber er verliert doch Haare«, sagte Twiggy.

Der Arzt schüttelte bedächtig seinen Kopf. »Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, aber …« Er schüttelte wieder den Kopf.

»Ja, was denn?« Twiggy starrte ihn an.

Kwiatkowski hob die Brauen. »Etwas Psychosomatisches«, sagte er. Er klang ungläubig.

»Wie bitte?«, fragte Matti.

»Der Kater zeigt diese Symptome, weil er sich … unwohl fühlt.« Kwiatkowski blickte zum Korb, zuckte mit den Achseln, setzte an, etwas zu sagen, schloss aber den Mund wieder.

Twiggy schaute in die Runde. Sein Blick blieb an Dornröschen hängen und verfinsterte sich. Er stampfte einmal auf, erschrak und starrte auf Robbis Korb, nahm ihn und marschierte aus dem Sprechzimmer.

Zurück in der WG-Küche, herrschte eisiges Schweigen. Der Kater lag schlapp auf Twiggys Schoß.

Matti räusperte sich.

Twiggy blickte irgendwohin.

Dornröschen rührte in ihrem Tee, der längst kalt geworden war.

Endlich sagte Matti: »So geht das nicht weiter.«

»Nein«, sagte Twiggy. »So geht das nicht weiter.«

Dornröschen rührte.

»Was ist los?«, fragte Matti. »Willst du ausziehen, alles hinschmeißen?«

Dornröschen rührte.

»Jetzt sag’s doch!«, maulte Twiggy.

»Ihr seid bescheuert«, sagte Dornröschen, gähnte und ging. Ihre Zimmertür klackte.

Die beiden Männer blickten sich an. Matti fühlte sich hilflos. Es war alles Mist. Dornröschen war in der ungnädigen Phase ihrer schnippischen Periode. Da gab es nichts, das half.

Twiggy knurrte, Robbi warf ihm einen gelangweilten Blick zu.

»Also, lass uns nachdenken«, sagte Matti. »Wenn wir mit diesen Ini-Leuten reden wollen …«

Twiggy nahm den Kater auf den Arm, stand schwerfällig auf und verließ die Küche.

Matti wurde wütend. Er holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und trank sie in drei Zügen leer. Er kramte herum, bis er Weinbrandreste fand, die er ebenfalls in sich hineinschüttete. Unter der Spüle entdeckte er eine halb volle Rotweinflasche, er zog den Korken heraus und nahm einen großen Schluck. Und spuckte ihn gleich wieder aus, Essiggeschmack würgte im Hals, und er hätte sich fast übergeben. Matti beugte sich zum Wasserhahn und spülte seinen Mund aus. Dann stellte er sich in den Flur und brüllte: »Habt ihr alle eine Meise? Rosi wurde ermordet, und ihr macht auf beleidigt. Ist euch das egal? Wollt ihr Rosi den Bullen überlassen? Tolle Genossen!«

Er nahm sich eine Flasche Bier und setzte sich wieder an den Küchentisch. Nach dem zweiten Schluck hörte er Schritte. Dornröschen kam klein herein und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie seufzte. Ein paar Sekunden später erschien auch Twiggy.

»Also«, sagte Matti. »Je länger wir warten, desto weniger kriegen wir heraus.«

Dornröschen nickte. Twiggy muffte noch.

»Also, die Ini abgrasen«, sagte Dornröschen nachdenklich. Ihre Hand sank auf die Tischplatte und hob sich wieder, um ein paar Millimeter darüber zu verharren. »Warum haben die eigentlich Wortprotokolle geführt?«

Schweigen.

»Also«, sagte Twiggy. »Wir rücken denen auf die Pelle. Und was erfahren wir?«

»Hm«, erwiderte Matti.

»Motive«, sagte Dornröschen. »Und über die Motive finden wir den Mörder und den, der dahintersteckt.«

»Und die erzählen uns brav alles, weil wir so nette Leute sind.« Matti schniefte.

»Lass mich mal machen«, sagte Dornröschen gelassen.

Karin wohnte an der Kreuzung Gräfestraße/Böckhstraße über einem Stehcafé in einer Wohnung mit vergilbter Raufasertapete und einem abgetretenen Linoleumboden. Adresse und Telefonnummern standen in den Protokollen, und Dornröschen hatte nicht lang gebraucht, um sich bei ihr einzuladen. Karin war schwer beeindruckt, als Dornröschen auftauchte. »Ich hab viel von dir gehört«, murmelte sie. »Und dich auch ein paarmal gesehen. Und du bist wahrscheinlich Matti«, stotterte sie, während Twiggy das Gesicht verzog. »Und Twiggy …« Sie hielt ein paar Sekunden die Hand vor den schmallippigen Mund, atmete hörbar aus und sagte: »Dann kommt mal rein.«

Rothaarig, dünn und klein trippelte sie vor ihnen her in die Küche. Sie blieb neben der Tür stehen und beobachtete, wie die WG sich an den Tisch setzte. »Wollt ihr was trinken?«, fragte sie.

»Danke.« Dornröschen zeigte auf den freien Stuhl am Kopfende, und Karin setzte sich vorsichtig, als könnte der Stuhl jeden Augenblick zusammenbrechen. Sie starrte Dornröschen an.

»Wir haben dich angerufen, weil du in den Protokollen stehst«, sagte die und zeigte auf die Mappe, die vor Matti lag.

Karin legte den Kopf auf die Seite und hatte große grüne Augen. Auf der Nase hielten Sommersprossen eine Versammlung ab.

»Es geht um Rosi«, sagte Dornröschen, und Karins Augen wurden größer. Sie zog die Brauen hoch und kratzte sich an der Wange.

»Sie ist tot«, sagte Twiggy vorsichtig.

Karin nickte hektisch.

»Und wir wollen herausfinden, wer sie umgebracht hat.«

»Ja«, sagte Karin.

»Sie wusste etwas über die … Immobiliengeschichten hier«, erklärte Dornröschen.

»Ja.«

»Und wir halten es für möglich, dass sie etwas veröffentlichen wollte, das jemanden so genervt hat, dass er sie umbringen musste.«

»Meint ihr?«

Matti sah seine Finger auf der Tischplatte tanzen und hielt an, als ihn Dornröschens Blick strafte.

»Hat sie dir irgendwas erzählt?«, fragte Dornröschen freundlich.

»Nööö.« Karin zog das Wort in die Länge und ließ es verklingen.

»Du hast dir keine Gedanken gemacht, wer Rosi umgebracht haben könnte?«, warf Matti ein.

Karins Gesicht zuckte. »Na, diese Kolding-Typen«, sagte Karin. Schweigen, dann: »Vielleicht.«

»Habt ihr mit denen mal was zu tun gehabt?«, fragte Twiggy.

»Ja.« Karin nickte. »Die haben mal eine Sitzung von uns besucht, wollten uns … einseifen. Das sind … smarte Typen, ohne Schlips, mit Jeans, Turnschuhen und so. Ist ihnen aber nicht gelungen.«

»Und dann?«, fragte Dornröschen.

Karin zögerte, stand auf und verließ die Küche. Sie kehrte mit einem Blatt Papier zurück und legte es auf den Tisch: Hört auf oder ihr seid tot.

Dornröschen zog das Blatt vor sich und betrachtete es. Dann schob sie es zu Matti. Der nahm es in beide Hände und hielt es gegen das Licht des Küchenfensters. Schwarze Laserdruckerschrift auf Kopierpapier. Er reichte es Twiggy, der es kurz anschaute und seine Augen auf Karin richtete. Sie war bleicher geworden.

»Haben das alle bekommen?«, fragte Dornröschen.

Karin nickte hektisch.

»Per Post?«

»Mit der Post.«

»Wann?«

»Vor drei Wochen oder so.«

»Und was habt ihr dagegen getan?«

Sie zuckte mit den Achseln und legte ihren Kopf schief.

»Hm«, sagte Matti. »Zu den Bullen seid ihr nicht gegangen?«

Karin schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«

»Da wart ihr euch einig?«

»Bananen-Udo, also Udo Kommer, der wollte zu den Bullen, aber wir haben ihn überstimmt.«

»Kennt ihr den?«, fragte Matti.

Twiggy schnäuzte sich, steckte das Taschentuch in die Hosentasche und sagte: »Der ist okay. Hat im Hamburger Großmarkt malocht und ist seit gut zwei Jahren hier. Ihr erkennt ihn wieder, wenn ihr ihn seht.«

»Und warum will der dann zu den Bullen?«, fragte Matti.

»Manchmal fangen die sogar Mörder«, schnappte Twiggy.

»Und was macht er jetzt, wenn er keine Bananenkisten mehr schleppt?«

»Ist bei Schwarze Risse, im Buchladenkollektiv im Mehringhof«, sagte Dornröschen. »Ich erinnere mich. Aber zurück zu den Kolding-Leuten. Die waren bei euch, haben versucht euch einzuseifen, sind auf die Schnauze gefallen, und danach habt ihr diesen Liebesbrief bekommen? In dieser Reihenfolge?«

Karin nickte beflissen.

»Und ihr glaubt, der Brief stammt von denen?«

Karin nickte. »Von wem denn sonst?«

»Bananen-Udo glaubt das auch?«, fragte Matti.

»Alle glauben das«, erwiderte Karin. »Wer soll es denn sonst sein?«

»Und warum sind die so sauer auf euch?«

»Mensch, Matti, das ist doch klar.« Karin klang gereizt. »Wir haben Aktionen gegen die gemacht und gegen diese Spießer mit der dicken Kohle …«

»Was für Aktionen?«, fragte Twiggy.

»Gesprayt und so …«

»Und was ist das ›Und so‹?«

Karin wurde noch bleicher.

»Ist gut«, sagte Dornröschen.

Matti fielen Zeitungsberichte ein von brennenden Autos, eingeworfenen Fensterscheiben und krumm getretenen Luxusfahrrädern.

»Haben die Kolding-Fritzen euch auf die militanten Aktionen angesprochen?«, fragte Dornröschen geduldig.

Karin nickte.

»Und ihr habt es abgestritten?«

»Wir haben gelacht«, sagte Karin.

»Habt ihr solche Aktionen gemacht?«, fragte Matti.

Karin grinste verschämt.

»Ist doch okay«, sagte Twiggy im Tonfall eines Oberarztes nach einer kritischen Operation zu den Angehörigen im Krankenhausflur. »Ich würde mir auch was einfallen lassen, um die Pisser zu vergraulen. Nur, hat’s was gebracht?«

»Aber wir müssen doch was tun!«, sagte Karin. »Ein Haus nach dem anderen wird gekauft und luxussaniert. Die Mieten steigen, es werden Mietwohnungen versteigert, stell dir das mal vor, das ist doch pervers. Darin leben Leute, oft schon seit Jahrzehnten, und dann werden die mit ihren Wohnungen einfach versteigert. Wer bietet das Meiste?« Ihre Hand schnellte hoch, als wollte sie sich melden. »Da kann man nicht herumsitzen und jammern, da muss man was tun, wenn die so mit Menschen umspringen.«

»Sagen wir es so: Die Kolding-Fritzen glaubten, dass ihr hinter den Aktionen steckt. Deshalb sind sie aufgetaucht, deshalb könnten sie den Drohbrief verfasst haben und deshalb könnten sie Rosi umgebracht haben.« Dornröschen kratzte sich an der Nase. »Was haben die euch gesagt, als sie aufgetaucht sind?«

Karin überlegte. »So genau weiß ich das gar nicht mehr. Nichts Genaues. Von Geld war die Rede, von Zusammenarbeit, dass die Betroffenen einbezogen und irgendwie entschädigt werden sollen …«

»Haben die euch Geld angeboten, damit ihr Ruhe gebt?«, fragte Matti.

Karin schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, da waren so Sprüche wie: Man kann über alles reden … Ach ja, die laberten, dass sie uns vielleicht als Experten hinzuziehen könnten.«

»Hat jemand in der Ini das gut gefunden?«, fragte Matti.

»Nein!« Das kam prompt. »Wir haben öffentliche Sitzungen in der Weltküche, hin und wieder kommen Leute vorbei, wenn es sie gerade erwischt hat mit Mieterhöhungen oder Umwandlungen in Eigentumswohnungen. Und dann kamen eben diese drei Typen, ganz cool, gut gelaunt und fanden uns toller, als wir uns selbst fanden. Sie hätten Verständnis, für alles. Aber irgendwann müsse man vernünftig reden. Wir könnten nicht bis zu unserem Lebensende … der hat wirklich gesagt: bis zu unserem Lebensende …« Karin legte ihre Stirn in Falten. »Na ja.« Sie kratzte sich an der Wange. »Also, wir könnten nicht bis zu unserem Lebensende solche Sachen machen.« Sie klang verächtlich.

»Und woher konnten die so genau wissen, was ihr macht?«, fragte Dornröschen.

»Ach, das weiß fast jeder hier. Wir diskutieren das, wir verteilen Flugblätter … nur die konkrete Planung und die Aktion selbst, also, was wir machen, wann wir es machen und so weiter, das wird im engeren Kreis geklärt.«

»Sicher, dass ihr keinen Spitzel habt?« Matti blickte Karin aufmerksam an.

Sie überlegte, schüttelte bedächtig den Kopf, rieb sich an der Nase und stöhnte leise. »Wer sollte das Schwein sein?«

Matti zuckte mit den Achseln. »Wenn du es nicht weißt oder ahnst?«

Sie stützte ihr Gesicht auf die Hände und dachte nach. »Nein, das glaube ich nicht.«

»Aber die Kolding-Leute wussten einiges über euch.«

»Glaubst du, die haben bei uns einen eingebaut? Ich kenne jeden, der bei uns mitmacht.«

»Und was ist mit Bananen-Udo, der kommt aus Hamburg. Sagt er. Und der wollte zu den Bullen mit dem Brief«, sagte Dornröschen. »Legst du für den auch deine Hand ins Feuer?«

Karin verzog ihr Gesicht.

»Habt ihr euch über den in Hamburg erkundigt?«

»Ich nicht«, sagte Karin. »Ich spitzle doch niemandem nach.«

»Klar«, sagte Matti. »Aber fragen heißt nicht spitzeln.«

»Hat Udo erzählt, was er in Hamburg gemacht hat?«

»Ja, war bei den Antiimps, bis es ihm zu langweilig wurde. Hat er gesagt.«

Dornröschen tauschte Blicke mit Matti und Twiggy und nickte.

Zurück in der Okerstraße, rief Matti Gaby an, die mit Werner dem Großmaul in einer WG in der Adalbertstraße wohnte. Ob sie einen zuverlässigen Genossen bei den Hamburger Antiimps kenne. Gaby fragte nicht groß nach, sondern gab Matti die Nummer von Aliza, die sei in Ordnung. Er solle sich auf sie berufen, Aliza würde dann Gaby fragen und Matti zurückrufen. Eine Viertelstunde nach Mattis Anruf hatte er Aliza auf dem Handy. Sie hatte eine leise Stimme. »Bananen-Udo oder Udo Kommer, sagt dir der Name was?«

Rauschen, dann: »Nein. Wir haben hier einen Udo, aber der wohnt im Schanzenviertel und nicht in Berlin.«

»Vor zwei Jahren etwa soll der nach Berlin gezogen sein.«

Wieder Rauschen. »Keine Ahnung«, sagte Aliza. »Wirklich nicht.«

Nachdem Matti das Gespräch beendet hatte, saßen sie eine Weile schweigend am Küchentisch.

»Was hat der Spitzel mit dem Mord zu tun?«, fragte Dornröschen endlich.

Robbi schlich sich von seinem Krankenlager in Twiggys Zimmer auf dessen Schoß und sah elend aus. Twiggy streichelte ihn sanft über den Kopf, der Kater schnurrte leise und machte sich lang. Twiggy betrachtete eingehend ein Haarbüschel und schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung«, sagte Matti.

»Wenn er überhaupt einer ist«, sagte Twiggy und ließ das Fellbüschel auf den Boden schweben. Er verfolgte es mit den Augen, bis es gelandet war.

»Also, er will mit dem Drohbrief zu den Bullen, er ist erst seit zwei Jahren in Berlin, und er hat über seine Vergangenheit gelogen«, sagte Matti. »Ich finde, das reicht.«

»Du bist Lily-geschädigt«, erwiderte Twiggy. »Das ist halt ein Angeber, wäre nicht der erste.«

Matti blies die Backen auf und entließ die Luft.

»Nun ist es gut«, sagte Dornröschen. »Nicht schon wieder Streit.« Sie nippte an ihrem Tee. Patti Smith röhrte My Generation, Dornröschen blickte auf ihr Handy, lächelte und wies den Anruf ab. »Udo taucht selten auf bei den Ini-Sitzungen, behaupten die Protokolle. Das spricht dagegen, dass er spitzelt.«

»Es sei denn, er hat den Schwachsinn mit den Wortprotokollen erfunden«, sagte Matti. »Dann braucht er nur die Aufnahme oder deren Abschrift.«

»Raffiniert«, spöttelte Twiggy.

Matti warf ihm einen giftigen Blick zu.

»Ich weiß, warum Robbi krank ist«, sagte Twiggy. »Ihr seid schuld. Dornröschen vor allem. Das ist doch ein Scheißklima hier, mir fallen auch bald die Haare aus.« Er starrte gegen die Wand.

»Können wir vielleicht beim Thema bleiben«, sagte Dornröschen betont ruhig.

»Seit wann bestimmst du, was das Thema ist?«, fragte Twiggy.

»Wir wollten über Rosi sprechen, du auch«, erwiderte Dornröschen trocken.

Twiggy streichelte Robbi und schwieg.

»Okay«, sagte Matti, »wenn Bananen-Udo ein Spitzel ist, was sagt uns das?«

Dornröschen zuckte mit den Achseln. »Was sollen wir sonst machen, außer nach Auffälligkeiten zu suchen?«

Schweigen.

»Wir knöpfen uns Udo vor«, sagte Matti. »Und dann werden wir sehen.«

Udo Kommer wohnte im dritten Stock eines Mietshauses in der Nostitzstraße mit restaurierter Fassade, weiß getüncht, davor parkende Autos, zwei Fahrräder an einem Ständer angeschlossen. Ein lauer Wind blies die Straße hinunter, wirbelte Staub auf und wehte die Körnchenwolke auf die Fahrbahn.

Sie standen vor der Haustür und fanden das Klingelschild. Bevor Matti drückte, sagte er: »Der wohnt gar nicht im Gräfekiez. Wenn irgendeine Hütte gentrifiziert ist, dann die hier.«

»Ah, pünktlich wie die Maurer«, sagte Udo, der sie vor der Wohnungstür erwartete. Das Treppenhaus war neu und edel, dunkel gebeiztes Holz, weiße Kacheln an der Wand, keine Kritzeleien. Matti entdeckte ein zweites Schloss an Udos Wohnungstür und, als sie in der Wohnung waren, einen Stahlbügel von innen. Sie liefen über einen weichen Teppich in ein Wohnzimmer mit Ledersofa und Ledersesseln um einen Glastisch auf Chrombeinen, darauf eine Teekanne und vier Tassen. Im Regal standen eine Bang & Olufsen-Anlage, in der Ecke ein Loewe-Flachbildschirm.

Udo war groß und dünn und trug einen Kinnbart, der sein Gesicht noch verlängerte. Das war knochig, die schwarzen Augen lagen tief in den Höhlen. Er zeigte auf die Sitze und schenkte ungefragt ein. Matti war der Typ auf den ersten Blick unsympathisch. Udo setzte sich auf den freien Sessel und deutete auf Zucker und Milch.

»Schön, dass du gleich Zeit für uns gefunden hast«, sagte Dornröschen, die ihn angerufen hatte.

»Ehrensache.« Udo lachte verdruckst.

»Es geht um den Mord an Rosi …«

»Schlimme Sache, ich habe sie gemocht«, warf Udo ein.

»Sie war eine Freundin von uns.« Dornröschen blickte ihn aufmerksam an.

»Ich weiß, sie hat es erwähnt. Schlimme Sache«, wiederholte er.

»Wir glauben, sie wurde ermordet, weil sie an den Aktionen teilnahm«, sagte Matti. »Und dass vielleicht die Kolding-Leute damit zu tun haben.«

Udo lehnte sich zurück und blickte zur Decke. »Keine Ahnung. Komische Sache.«

»Die hätten ein Motiv«, sagte Twiggy.

Udo nickte. »Klar. Den Drohbrief kennt ihr?« Er wartete, bis Matti nickte. »Den haben wir gekriegt, nachdem die Jungdynamiker uns besucht hatten. Mag Zufall sein. Oder auch nicht.«

»Rosi wollte mir was geben, damit ich es in der Stadtteilzeitung veröffentliche«, sagte Dornröschen. »Weißt du was davon?«

Udo überlegte und schüttelte den Kopf.

»Wie gut hast du Rosi gekannt?«, fragte Twiggy. Matti hörte dessen Stimme an, dass er den Typ genauso wenig mochte.

»Nicht so gut. Ich fand sie … nett, zuverlässig, sehr aktiv, immer mit dabei …«

»Du ja nicht so«, sagte Matti.

Udo blickte ihn ein paar Sekunden fragend an. »Ich habe nicht viel Zeit. Aber wenn, dann häng ich mich rein.«

»Von dir stammt die Idee mit den Wortprotokollen«, sagte Dornröschen.

Udo nickte.

»Warum?«

»Um die Debatte zu dokumentieren.«

»Keine Angst, dass das den Bullen in die Hände fällt?«

»Nein, außerdem steht nicht alles drin. Wir nehmen das auf, dann tippt es einer ab. Aber es wird nicht alles abgeschrieben. Du verstehst …« Er blinzelte.

»Das ja, aber nicht, warum das überhaupt aufgenommen wird.«

»Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens halten wir so jeden auf dem gleichen Stand, zum Beispiel mich, ich bin viel auf Achse. Zweitens können wir das später einem linken Archiv geben. Unsere Diskussionen stehen gewissermaßen stellvertretend für Debatten, wie sie in Antigentrifizierungsinitiativen geführt werden. Drittens, und das gehört dazu, werte ich die Protokolle aus als Teil meiner Doktorarbeit in Soziologie an der FU. Das nennt man Feldforschung und teilnehmende Beobachtung.« Er sah bedeutend aus.

Matti blickte sich um. Alles teuer, alles ziemlich neu. »Und viertens wäre deine Feldforschung für die Bullen ein gefundenes Fressen.«