Tagebuch der arabischen Revolution - Karim El-Gawhary - E-Book

Tagebuch der arabischen Revolution E-Book

Karim El-Gawhary

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Beschreibung

Monatelang hat Karim El-Gawhary fast nonstop vom Aufstand in der arabischen Welt berichtet: in Facebook-Postings, Twitter-Tweets, in seinem Blog, in Zeitungsreportagen und natürlich im TV. In dieser Zeit ist er zum Gesicht der arabischen Revolution im ORF geworden. Sein Buch ist ein Zeitdokument der besonderen Art, der Leser wird noch einmal hautnah auf eine Reise mitgenommen: zu den Vorboten der Revolution, dem ersten Aufflammen in Tunesien, den Tagen des Zorns auf dem Tahrir-Platz und dem Kampf der libyschen Rebellen um Freiheit und Würde. Das Buch schließt mit den Monaten nach der Revolution in Ägypten, wo sich entscheiden wird, ob der demokratische Neubeginn in der arabischen Welt Bestand haben kann.

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Karim El-Gawhary

TAGEBUCH DER

ARABISCHEN REVOLUTION

Karim El-Gawhary

TAGEBUCH DER

ARABISCHEN REVOLUTION

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00832-7 Copyright © 2011 by Verlag Kremayr & Scheriau KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien unter Verwendung von Fotos aus dem Archiv des Autors Satz und typografische Gestaltung: Kurt Hamtil, Wien Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Willkommen im neuen Arabien

Wir sind alle Khaled Said

Tunesien: Der Aufstand beginnt

Kairo: Die Tage des Zorns

Arabische Welt im Aufstand

Libyen: Der lange Kampf der Rebellen

Der Blick in die arabische Kristallkugel

Danksagung

Willkommen im neuen Arabien

Auf dem Abdel-Moneim-Riad-Platz im Zentrum Kairos, nicht weit vom Tahrir-Platz entfernt, schiebt sich ein Mann langsam in seinem klapprigen, alten Rollstuhl voran. Zwischen seine Schenkel hat er einen Topf schwarzer Farbe geklemmt. In der Hand hält er einen Pinsel. Mühsam beugt er sich herunter, um den Bordstein anzustreichen. Er kommt nur langsam voran. In der nächsten halben Stunde wird er gerade mal ein paar Meter schaffen. Den Bürgersteig zu verschönern ist, einen Tag nach dem Sturz des Pharaos Hosni Mubarak, sein persönlicher Beitrag zur ägyptischen Revolution.

Noch vor wenigen Wochen hat er sich mit seinem Rollstuhl wahrscheinlich an einer der Straßenkreuzungen an den Reihen der wartenden Fahrzeuge entlanggeschoben, um bei Rot an deren Fenster zu klopfen und ein wenig Geld zu erbetteln. Doch an diesem Tag lächelt er und antwortet auf die Frage, was er denn da mache, mit einem kurzen: „Das ist jetzt mein Land.“ Dann taucht er den Pinsel wieder ein und beugt sich in Zeitlupe wieder herunter. Gibt es ein besseres Symbol dafür, wie nicht nur dieser Mann, sondern ein ganzes Land seine Würde wiedergefunden hat?

Die ganze Welt hielt in den ersten Wochen der Revolution Anfang des Jahres 2011 den Atem an. Durch ihre schiere Masse und ihre unglaubliche Sturheit, immer wieder friedlich auf die Straße zu gehen, brachten die Araber auch die repressivsten Regime ins Wanken. Die Faszination dieser Freiheitsbewegungen entstand auch dadurch, dass die reale Macht des Volkes auch im fernen Europa greifbar und erfahrbar wurde. Was da geschah, mutete wie ein modernes Politmärchen an, dessen Inspirationskraft sich kaum jemand entziehen konnte. Und es blieb nicht bei einem Land – es wurde die Zeit der Tausendundeinen Revolution.

***

Es ist ein Privileg, ein wahres Geschenk des Schicksals, als Journalist und Zeitzeuge live in Tunis, Kairo und Bengasi dabeigewesen zu sein. Vor 20 Jahren habe ich während der Operation Wüstensturm von Bush Senior aus der Region zu berichten begonnen. Ich habe zwei palästinensische Intifadas begleitet, einen weiteren Krieg im Irak, diesmal mit Bush Junior, einen im Libanon, einen im Gazastreifen. Während der Präsidentschaftswahlen im Iran musste ich das Scheitern des grünen Aufstands gegen Ahmadinedschad miterleben. Es waren allesamt besondere, meist tragische Momente, aber auch verbunden mit dem Gefühl, gerade an dem Ort zu sein, an dem etwas Wichtiges geschieht, etwas, das die Welt zum Teil wochenlang in Atem hielt. Die Geschichten aus diesen Zeiten waren meist traurige Geschichten, von Menschen, die in diesen Kriegen lebten und überlebten und nicht selten starben. Viele Bekannte und sogar enge Freunde, die bei sinnlosen Anschlägen ums Leben kamen, habe ich über die Jahre verloren. All die Kriege und Attentate hatten eines gemeinsam: Sie brachten kaum Veränderungen und wenn, dann meist zum Schlechteren.

***

Als ich Anfang Januar in Tunis am Flughafen an der Passkontrolle stand, bekam ich eine Gänsehaut, nicht vor Angst, sondern vor gespannter Erwartung. Als mich der Grenzbeamte im revolutionären Tunesien begrüßte, fragte er mich, was ich über „ihre“, die tunesische, Revolution denke. Ein arabischer Polizist sprach von „unserer Revolution“, mit mir, einem Journalisten, der ein paar Wochen zuvor für die Einreise zur Arbeit als Reporter im Polizeistaat Tunesien kein Visum bekommen hätte. Jetzt stempelte er die Einreiseerlaubnis beiläufig während des Gesprächs in meinen Pass und wünschte mir einen angenehmen revolutionären Aufenthalt. Bei der Annahme des Gepäcks drehte ich mich mehrmals ungläubig zu dem Beamten um. „Willkommen im neuen Arabien“, dachte ich mir und hatte keine Ahnung, welcher weitere Wirbelwind meiner Region bevorstand.

Die bekam ich erst, als die Tunesier immer wieder fragten, wann es bei uns in Ägypten losgehe. „Sobald ich zurück zu Hause bin“, witzelte ich, und hatte wieder keine Ahnung, wie schnell dieser Scherz Wirklichkeit werden würde. Ich war gerade zurück in Kairo, da hatten die ägyptischen Jugendlichen via Facebook für ihre eigenen Tage des Zorns mobilisiert. Meine revolutionäre journalistische Achterbahnfahrt wollte nicht aufhören.

Gut, dachte ich mir, wenn die Umwälzung in Ägypten klappt, dem bevölkerungsreichsten arabischen Staat, dem Herzstück der arabischen Welt, der Umm El-Dunia, der Mutter der Welt, wie die Ägypter ihr Land nennen, dann, da war ich mir sicher, steht der gesamten arabischen Welt ein revolutionärer Tsunami bevor. Dabei war ich überzeugt, dass der Wandel Länder wie Libyen zuletzt erreichen würde. Gaddafis Reich war für mich das Bollwerk der unterdrückerischen Regime in der Region, eine Art arabisches Nordkorea. Auch dort würde die Geschichte nicht vorüberziehen, dachte ich mir. Aber die Revolution würde dort zuletzt ausbrechen.

Ich hatte mich wieder getäuscht. Es dauerte nicht lange, und ich packte in Kairo meine Koffer, um mich in die Hochburg der libyschen Rebellen, ins befreite Bengasi, aufzumachen.

***

Die Revolutionen begannen überall auf ähnliche Weise: Den Anfang machten meist Jugendliche, die zuvor mit der alten, stets stagnierenden Politik der arabischen Welt nichts am Hut hatten. Sie entwickelten neue Methoden, mit modernen Medientechnologien wie Blogs, Facebook und Twitter die Regime einfach zu überrumpeln. Sie taten es ohne jegliche charismatische Führung, als revolutionäres Kollektiv, dem kein Sicherheitsapparat beikommen kann.

Die Revolutionen hatten ein wichtiges gemeinsames Merkmal: Die Menschen hatten über Nacht ihre Angst verloren. So las ich auf Twitter folgenden Eintrag: „Als wir furchtlos auf die Polizeiketten zugestürmt sind und die Polizisten auch noch vor uns davonliefen, dachte ich das erste Mal: Das ist eine Revolution.“ Erst war es eine kleine Gruppe, die sich nicht mehr einschüchtern ließ. Dann eine große Masse, die die Sicherheitsapparate mit einer Mischung aus Polizei, Staatssicherheit und angeheuerten Schlägern nicht mehr kontrollieren konnten.

Aber es war mehr als das: Menschen aus allen Gesellschaftsschichten hatten sich der Revolution angeschlossen – Studenten, Anwälte, Ärzte, Lehrer, Bauern, Beamte, Arbeitslose, und Beduinen, was sich in Kairo einmal in einer äußerst brenzligen Situation als sehr hilfreich erwies: Als Mubaraks Schläger auf Kamelen und Pferden den Tahrir-Platz attackierten, rutschte dort zunächst allen das Herz in die Hose. Doch auf dem Platz bei den Demonstranten waren auch ein paar Beduinenjungs, die wussten, wie man ein Pferd in den Schwitzkasten nimmt und mit einem gekonnten Seitenschwung zu Boden zwingt, und dieses Wissen gaben sie den anderen weiter. Da nützten den Reitern auch ihre Knüppel nichts mehr: Am Ende hatte Mubarak die ganze Gesellschaft mit ihrem geballten Wissen gegen sich. Dagegen konnte er nichts mehr ausrichten. Drei Jahrzehnte Willkür, Korruption und Misswirtschaft hatten einen Volksaufstand im wahren Sinne des Wortes provoziert.

Dieser zog sich durch alle Generationen. Eine Anwältin in Kairo erzählte mir die Geschichte ihrer 16-jährigen Tochter, die Tag und Nacht auf dem Tahrir-Platz war. Eines Morgens erhielt die Anwältin einen panischen Anruf einer Bekannten, die ihr erzählte, dass sie unter ihrem Fenster gerade Karawanen mit Pferden und Kamelen sehe, auf denen mit Knüppeln bewaffnete Reiter säßen, die auf dem Weg zum Tahrir-Platz seien und sicherlich nichts Gutes im Sinn hätten. Die Anwältin ließ in ihrer Kanzlei im Zentrum Kairos alles liegen und stehen und lief zum Tahrir-Platz, um ihr einziges Kind dort heil herauszuholen. Als sie ankam und ihre Tochter schließlich fand, während gleichzeitig die Schläger über den Platz herfielen, schrie sie sie an, was sie denn hier noch mache und warum sie sich nicht in Sicherheit gebracht habe. Die Tochter sah ihre Mutter nur entgeistert an und schrie zurück, was sie hier zu suchen habe, jetzt müsse sie nicht nur den Tahrir, sondern auch noch ihre Mama vor den Schlägern schützen. Am Ende hatten beide den Platz erfolgreich verteidigt.

***

Gerade einmal ein halbes Jahr vor der Revolution hatte ich als Journalist selbst begonnen, mit den neuen Medien zu experimentieren. Zunächst, indem ich meinen eigenen Blog mit dem Namen „Arabesken“ (blogs.taz.de/arabesken) begann und dort auch über die Willkür der arabischen Regime meine Einträge schrieb. Dann, indem ich meine eigene Facebookseite facebook.com/Karims.Arabesken und mein Twitter-Konto twitter.com/gawhary eröffnete. Das war zu einer Zeit, als uns die ersten Statistiken überraschten, die besagten, dass es in Ägypten bereits mehr Facebook-Nutzer als Tageszeitungs-Leser gäbe. Das war an sich schon bemerkenswert. Dass ausgerechnet Blogs, Facebook und Twitter die neuen Instrumente werden sollten, mit denen zum Aufstand mobilisiert wurde, das hatten sich selbst die Internet-Aktivisten in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können.

Was liegt da näher, als die Ereignisse selbst mit Blog-Einträgen, Facebook-Postings und Twitter-Tweets wiederzugeben? Indem es diese mit Zeitungsreportagen und Live-Gesprächen für Radio und Fernsehen mischt, versucht dieses Buch etwas Neues: mit aus dem Moment geschriebenen und gesprochenen Beiträgen eine Unmittelbarkeit herzustellen und den Leser auf eine ungestüme, ungewöhnliche revolutionäre Abenteuerreise mitzunehmen. Das Buch ist ein Rückblick, ein Zeitdokument, das die Leser direkt zu den Orten und Zeiten bringt, an denen die Revolution stattgefunden hat. Nach dem Raumschiff-Enterprise-Motto: „Scotty, beame mich zum Tahrir-Platz!“

Dies ist keine Analyse, keine Nacherzählung oder Aufzählung der Ereignisse, die die arabische Welt praktisch über Nacht umwälzten. In vielerlei Hinsicht waren diese zu groß, zu schnell, zu komplex für uns Journalisten, um sie zu begreifen, zu beschreiben und in erklärbaren Portionen an die Leser, Zuschauer und Zuhörer weitergeben zu können. Die Jugendlichen auf der Avenue Bourguiba in Tunis, auf dem Tahrir-Platz in Kairo und die Revolutionäre vor dem Gerichtsplatz in Bengasi, sie alle haben in einer Geschwindigkeit Geschichte geschrieben, mit der wir Journalisten nur atemlos versuchen konnten mitzuhalten. Meist liefen wir den Ereignissen hinterher, angesteckt von ihrer Wichtigkeit und dem Enthusiasmus jener, die sie vorantrieben.

Es sind Nahaufnahmen aus der Revolution: Denn hier geht es nicht um die arabische Revolution als Studienobjekt, es geht um die zahllosen Menschen, die sie getragen haben, ihre persönlichen Motive und ihre Träume. Was hat sie bewegt, nach drei Jahrzehnten Herrschaft Hosni Mubaraks auf die Straße zu gehen? Was bedeutet es, plötzlich seine Angst zu verlieren, im Tränengasnebel zu stehen, von der Polizei niedergeknüppelt zu werden, seinen Freund neben sich zu sehen, der von einem Scharfschützen des Regimes niedergestreckt wird, und doch am nächsten Tag wieder auf die Straße zu gehen? Welche Verzweiflung, welcher unglaubliche Mut, aber auch welcher Optimismus steckt dahinter? Warum sind eigentlich immer mehr und noch mehr Menschen auf den Tahrir-Platz gekommen?

***

Exemplarisch dafür, wie die Ereignisse immer mehr Menschen in ihren Bann gezogen und gegen das Regime mobilisiert haben, ist die Geschichte des ägyptischen Chirurgen Tarek Hilmi, der mitten in der Revolutionszeit in einer bekannten Talkshow einer privaten ägyptischen Fernsehstation einen denkwürdigen Auftritt hatte, der vieles erklärt: wie die Jugendlichen den Anfang machten, wie langsam eine ganze Familie zu Revolutionären wurde und wie eine Geschichte ein Millionen-Fernsehpublikum dazu zu brachte zu sagen: „So geht es nicht weiter, wir müssen etwas unternehmen.“

Er sei ein völlig unpolitischer Mensch, erzählte Hilmi in der Talkshow „10 Uhr abends“ im ägyptischen „Dream TV“ am 7. Februar 2011, geleitet von der prominenten Moderatorin Mona Schazly. Sein Leben habe sich bisher zwischen seiner Familie zu Hause und dem Operationssaal im Krankenhaus abgespielt. Zunächst kamen hauptsächlich Jugendliche auf den Tahrir-Platz, die sich über Facebook verabredet hatten. Eine von ihnen war Tarek Hilmis Tochter, die ihrem Vater in den ersten Tagen verkündete, dass sie nun auch zum Tahrir gehe, weil alle ihre Freunde dort seien. Ihr Vater und auch ihr Bruder versuchten es ihr auszureden. Das sei zu gefährlich und „Was haben wir mit Politik zu tun?“, meinten sie. Die junge Frau ließ sich aber nicht davon abhalten. Bald darauf erhielt der Arzt einen Anruf von seinem Sohn, der noch kurz zuvor versucht hatte, seiner Schwester den Tahrir auszureden. „Papa“, sagte er am Telefon, „einige meiner besten Freunde wurden auf dem Tahrir verletzt, ich muss dort hin.“ Weder Tochter noch Sohn kamen nach Hause, sie übernachteten auf dem Platz. Der Arzt erzählt in der Talkshow weiter, dass er kurz darauf einen Anruf von seiner Tochter erhalten habe. Sie flehte ihn an, selbst auf den Platz zu kommen. Es gebe zu viele Verletzte, und Ärzte wie er würden dringend in dem improvisierten Krankenhaus des Platzes gebraucht. Tarek Hilmi war überzeugt, dass seine Tochter übertreibe. Aber er ließ sich trotzdem überreden, ein kleines Team zusammenzustellen und auf den Platz zu kommen. Er sollte den Platz tagelang nicht mehr verlassen.

Dann erzählte er in der Talkshow von seinen eigenen Erlebnissen, von einem 13-jährigen Jungen, den die Schläger Mubaraks am Rand des Platzes in ihre Fänge bekommen hatten. Er hatte eine tiefe Schnittwunde quer über den Kopf. Der Arzt vernähte die Wunde, doch als er sie verbinden wollte, lief der Junge davon. „Ich habe keine Zeit, ich muss unseren Platz verteidigen“, rief er noch. In der Talkshow gerät Tarek Hilmis Stimme ins Stocken, bricht, er kann nicht mehr weitersprechen. Lange versucht die Moderatorin ihn zu beruhigen, bevor der Arzt die Geschichte weitererzählen kann. Er habe den Jungen noch einmal gesehen, führt er weiter aus. „Mit einem Kopfschuss, einem Loch im Kopf – er war tot.“

Die Show, „10 Uhr abends“ hat ein Millionenpublikum. Am nächsten Tag, einem Dienstag, es war ein Tag, an dem die Aktivisten auf dem Tahrir-Platz nicht besonders mobilisiert hatten, das war meist dem Freitag vorbehalten – an diesem Dienstag fanden sich mehr Menschen auf dem Platz ein als je zuvor, weit über eine Million.

Es gab viele solche Geschichten, die die Menschen auf die Barrikaden gebracht haben und die erklären, warum sie immer zahlreicher auf den Tahrir-Platz kamen, warum sie eine kritische Masse erreichten, mit der kein Sicherheitsapparat der Welt mehr umgehen kann. Auch wenn beileibe nicht jeder und jede auf den Platz kam, am Ende hatte ein ganzes Land den Tahrir-Platz als Konzept im Kopf und trug ihn im Herzen. Das war das Ende des Unrechtsregimes Mubaraks, wovon zuvor kaum jemand zu träumen gewagt hatte.

***

Hätte man ahnen können, dass der arabischen Welt ein solches Erdbeben bevorsteht? Jahrzehntelang hatten die ägyptischen Intellektuellen von einer bevorstehenden Explosion gesprochen. Das erste Mal habe ich solchen Diskussionen Anfang der 1990er Jahre zugehört, als ich nach Kairo gezogen war. Es könne so einfach nicht weitergehen. Die Schere zwischen Arm und Reich werde immer größer, die Korruption, die Willkür, die Unterdrückung immer unerträglicher. Demnächst werde es, müsse es knallen. Sie haben es so oft wiederholt, bis sie es selber nicht mehr glaubten.

Aber ich erinnere mich auch an den großartigen, inzwischen verstorbenen ägyptischen Politologen Mohammed Sid Ahmad, der mir jungem Journalisten in seiner Wohnung auf der Nilinsel Zamalek oft und oft in druckreifen Worten in meinen Notizblock diktiert hatte, wie die arabische Welt funktioniert. Auch er sprach immer wieder von der bevorstehenden Explosion und lachte schon selber darüber. Aber er sagte auch: „Wenn hier in Ägypten die Revolution ausbricht, wirst du 24 Stunden vorher keinen Schimmer haben, was dir bevorsteht.“

Aber vielleicht hätte man doch auch ohne Kristallkugel den Gang der Dinge voraussagen können, auch wenn nach jahrzehntelanger arabischer Autokraten-Herrschaft und vollkommener politischer Stagnation alles vermeintlich unveränderbar aussah. Man hätte diese von einer Armada von Sicherheitsapparaten geschützten Systeme als das ansehen können, was sie waren: historische Auslaufmodelle, mit denen kein Staat mehr zu machen war.

Ägypten schien mit seinem 83-jährigen, greisen Präsidenten wie politisch paralysiert. Zumal diese Lähmung mit der Diskussion, ob nicht die Macht Hosni Mubaraks weiter an seinen Sohn Gamal vererbt werden könnte, für eine Ewigkeit festgeschrieben schien. Die Mächtigen schienen fest im Sattel zu sitzen. Nicht zuletzt, weil man sie in Europa und in den USA als Garanten der Stabilität hofierte. Ab und an gab es Anzeichen eines wachsenden Unmuts, wenn die immer gleichen 200 Verdächtigen der Kifaya, der „Es reicht“-Bewegung, wieder einmal an einer Straßenecke Kairos protestierten. Oder wenn die Arbeiter der staatlichen Textilfabriken in den Ausstand gingen.

Doch der Sicherheitsapparat schlug jeden Protest nieder. Er war sich seiner Sache sicher. So sicher, dass zwei Polizisten in Alexandria im Juni 2010 auf offener Straße, vor Passanten als Augenzeugen, einen Jugendlichen zu Tode prügelten. Wer sollte in einem Land, das seit Jahrzehnten mit Notstandsgesetzen regiert wurde, die den Sicherheitsdiensten uneingeschränkte Macht gaben, schon etwas dagegen sagen können?

Normalerweise wäre ein solcher Vorfall bestenfalls in irgendwelchen Menschenrechtsberichten aufgetaucht, die bestenfalls von einem halben Dutzend ausländischer Journalisten gelesen worden wären, die dann das Ganze bestenfalls in irgendeinem Bericht über Ägypten erwähnt hätten. Aber manchmal wird die Würde einmal zu viel mit den Füßen getreten. Denn nicht das Brot, sondern dieses altmodisch klingende Wort „Würde“ sollte in den folgenden Monaten im Zentrum des arabischen Aufstands stehen.

Und die Polizistenschläger in Alexandria, die hatten ihre Rechnung ohne Facebook gemacht …

Wir sind alle Khaled Said

Arabesken, tazblog 11.6.2010

Khaled war ein netter, junger Ägypter. Eine traurige Geschichte über Polizeifolter und Notstandsgesetze

Khaled Said war ein 28-jähriger Ägypter aus Alexandria. Am 6. Juni 2010 ging er in ein Internetcafé im Zentrum der ägyptischen Hafenstadt Alexandria. Zwei ägyptische Sicherheitsbeamte kamen hinzu und wollten scheinbar seine Personalien feststellen und ihn durchsuchen.

Als Khaled zu viele Fragen nach dem Grund der Intervention stellte, wurde er bereits im Internetcafé von den beiden Offizieren niedergeschlagen, die ihn dann auch mitnahmen und auf der Straße weiterschlugen. Bevor Khaled ohnmächtig wurde, habe er laut Zeugen immer wieder geschrien: „Hört auf mich zu schlagen.“ Kein Haftbefehl, keine Gefahr in Verzug – einfach auf Grundlage des vor wenigen Wochen erneut verlängerten, seit 29 Jahren geltenden Notstandsgesetzes.

Warum die Polizisten hinter Khaled her waren, ist unklar. Die Polizei behauptet, Khaled sei ein Drogenkonsument oder Dealer gewesen. Laut der Polizei soll er an einer Überdosis gestorben sein, als er versucht habe, die Drogen herunterzuschlucken. Laut einer anderen Version soll Khaled die beiden Polizisten bei einem Drogengeschäft gefilmt haben.

Das Foto seiner entstellten Leiche zeigt einen bis zur Unkenntlichkeit geschlagenen Menschen. Khaleds Bekannte erzählen auf Facebook, dass Augenzeugen aus dem Internetcafé systematisch eingeschüchtert wurden, um keine Aussagen zu machen.

Khaled war kein Terrorist, er war nicht flüchtig, es gab keinen Haftbefehl gegen ihn. Khaled ist auch kein Einzelfall. Ägyptische Menschenrechtsorganisationen sprechen seit Jahrzehnten von der systematischen Anwendung von Folter in ägyptischen Polizeistationen.

Auf Facebook wurde nun eine Seite mit dem Titel „Wir sind alle Khaled Said“ auf Englisch und Arabisch eröffnet, um gegen die Polizeibrutalität in Ägypten zu protestieren.

Arabesken, tazblog 16.6.2010

Erster Erfolg im Fall Khaled Said

Dank Facebook, YouTube und den ägyptischen Bloggern wird der Fall Khaled Said nun auch von offizieller Seite aufgerollt. Der ägyptische Oberstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmud hat nun eine zweite Autopsie der Leiche von Khaled Said angeordnet. Dessen Familie, der Besitzer des Internetcafés, in dem Khaled verhaftet wurde, und ägyptische Menschenrechtler klagen zwei Polizisten an, Khaled in Alexandria auf offener Straße totgeprügelt zu haben. Die Polizei behauptet, der junge Mann sei gestorben, nachdem er vor seiner Verhaftung Drogen heruntergeschluckt habe, die er bei sich trug.

Khaleds Familie behauptet, die Polizei habe es auf Khaled abgesehen, weil er im Besitz eines Videos war, das mutmaßlich die Polizei dabei zeigen soll, wie sie konfiszierte Drogen untereinander aufteilt.

Arabesken, tazblog 25.6.2010

Sie haben ihn totgeprügelt, aber sein Fall ist nicht totzukriegen

Mehrere tausend Menschen haben heute im ägyptischen Alexandria gegen Polizeigewalt, Folter und die seit fast 30 Jahren geltenden Notstandsgesetze protestiert.

Anlass war der Fall Khaled Said, ein junger Mann, der am 6. Juni auf offener Straße mutmaßlich von zwei Polizisten zu Tode geprügelt worden war. Laut der offiziellen Version, an der nach zwei Autopsien der Leiche immer noch festgehalten wird, soll Khaled an einem Tütchen mit Drogen erstickt sein, das er kurz vor dem Auftauchen der Polizisten heruntergeschluckt haben soll.

Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat jetzt die ägyptischen Behörden aufgerufen, den Fall zu untersuchen und gegen die beiden Polizisten vorzugehen. Untersucht werden sollen auch deren Vorgesetzte und der zuständige Staatsanwalt, der in ersten Ermittlungen weder Beweise gesammelt noch Zeugen befragt habe.

„Die Zeugenaussagen und ein Foto von Khaled Saids völlig entstellter Leiche weisen darauf hin, dass er von den Polizisten in der Öffentlichkeit auf brutalste Weise zusammengeschlagen wurde“, sagt Joe Stork, Nahost-Direktor von Human Rights Watch.

Angeführt wurde die heutige Demonstration in Alexandria übrigens von dem Friedensnobelpreisträger und ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed El-Baradei, der möglicherweise den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak bei den nächsten Präsidentschaftswahlen herausfordern will. El-Baradei hatte am Nachmittag auch symbolisch die Familie Khaleds in Alexandria besucht.

In einer ersten Reaktion nach der Demonstration hat El-Baradei eben gerade getwittert: „Von diesem Tag an wird das Volk Polizeigewalt und Folter nicht mehr einfach hinnehmen“, schreibt er.

Ich wünschte, er hat Recht.

Arabesken, tazblog 5.7.2010

Ägypten: Nach Folter vom Balkon der Polizeiwache geworfen?

Das sogenannte Tok-Tok, eine Art Motor-Rikscha, ist das Taxi der Armen in Ägypten. Vor allem auf dem Land und in den Armenvierteln Kairos ist das Tok-Tok inzwischen, dank des billigen Fahrpreises, eines der beliebtesten Verkehrsmittel geworden. Den Behörden sind die meist nicht lizenzierten, verkehrsgefährdenden Gefährte allerdings ein Dorn im Auge.

In der Nildelta-Stadt Mansoura steht das Tok-Tok nun im Zentrum eines neuen Falles von Polizeibrutalität, wie die unabhängige ägyptische Tageszeitung Al-Masry Al-Youm berichtet. Laut dem Nadim-Zentrum, einer ägyptischen Menschenrechtsorganisation zur Rehabilitierung von Folteropfern, sollen zwei Polizisten den 18-jährigen Tok-Tok-Fahrer Mohammed Salah Mahmud auf die Wache mitgenommen haben. Sie sollen ihn auf der Wache gefoltert haben, bevor sie ihn vom Balkon im vierten Stock des Gebäudes warfen.

Laut Polizeiangaben war Mahmud im Rahmen einer Kampagne gegen die nicht registrierten Tok-Toks festgenommen worden. Die Polizei behauptet, sie habe gerade das Protokoll aufgenommen, als Mahmud darum bat, die Toilette benutzen zu dürfen, und sich dann selbst vom Balkon stürzte.

Das Nadim-Zentrum erklärt, dass Mahmud in das El-Salam-Krankenhaus in Mansoura gebracht worden sei, und zweifelt die Polizeiversion an. Laut einem ersten Bericht des Krankenhauses hatte Mahmud innere Blutungen, eine schwere Gehirnerschütterung, ein zerschmettertes Knie und Knochenbrüche an Armen und Beinen sowie eine Schädelfraktur. Etwas viel für einen selbstmörderischen Sturz vom Balkon.

Laut internationalen Menschenrechtsorganisationen sind Prügel und Folter ein systematischer Bestandteil der Polizeiarbeit in Ägypten.

Erst in den letzten Wochen hat der Fall Khaled Saids in Alexandria Furore gemacht. Der junge Mann war nach Augenzeugenberichten am 6. Juni in Alexandria auf offener Straße von der Polizei totgeprügelt worden. Nach massivem öffentlichem Druck und einer Kampagne auf Facebook wurden inzwischen zwei Polizisten in Zusammenhang mit dem Fall festgenommen. Unklar ist allerdings noch, wofür sich die Polizisten verantworten müssen. Die Rede ist lediglich von Amtsmissbrauch, einer illegalen Verhaftung und Folter, nicht aber von Totschlag.

Arabesken, tazblog 27.7.2010

Heute beginnt der Prozess im Fall des von der ägyptischen Polizei mutmaßlich zu Tode geprügelten Khaled Said

Heute beginnt in Alexandria der Prozess im Fall Khaled Said.

In Erwartung möglicher Auseinandersetzungen in und vor dem Gerichtsgebäude hat die Polizei scharfe Sicherheitsmaßnahmen angekündigt. Sympathisanten der Familie haben 3000 Poster drucken lassen, die das Foto der völlig entstellten Leiche Saids zeigen.

Lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen haben angekündigt, Beobachter zu dem Prozess zu entsenden. Saids Anwalt hat unterdessen erklärt, dass er zum Prozessauftakt die Anklage von „verprügelt“, auf „zu Tode geprügelt“ abändern möchte.

Laut offiziellen Berichten der Gerichtsmedizin soll Khaled an einem Tütchen mit Haschisch erstickt sein, das er beim Auftauchen der Polizisten heruntergeschluckt haben soll. Dieses Ergebnis der Obduktion wurde allerdings öffentlich, auch von ehemaligen, anerkannten ägyptischen Gerichtsmedizinern, als fabriziert angezweifelt. Augenzeugen hatten berichtet, dass die Polizisten so lange auf Khaled eingeprügelt hätten, bis dieser sich nicht mehr bewegt habe.

Der Fall hat auch international zu Protesten geführt, etwa letzten Samstag bei einer kleinen Aktion vor den Vereinten Nationen in New York.

In Ägypten wird unterdessen eine ganz neue Art mutiger Musikvideos produziert und über YouTube verbreitet, wie z.B. jener mit dem Titel „Zu viel Angst, um es laut zu sagen“. Darin geht es um Folter und Folteropfer unter fast 30 Jahren Notstandsgesetzen. Das Video zeigt auch den wachsenden Widerstand dagegen, besonders im Fall Said, nachdem sich Menschen, in Schwarz gekleidet, zu einem stillen Protest an der Uferpromenade in Alexandria zusammengefunden hatten.

Arabesken, tazblog 27.7.2010

Körperverletzung, Totschlag oder Folter? Weswegen stehen die ägyptischen Polizisten im Fall Khaled Said vor Gericht?

Die Beantwortung dieser Frage wurde erst einmal beim heutigen Prozessauftakt vertagt.

Heute hat in Alexandria das Verfahren gegen zwei ägyptische Polizisten begonnen, die den jungen Ägypter Khaled Said auf offener Straße zu Tode geprügelt haben sollen. Nach einer kurzen Beratung wurde der Prozess auf den 25. September vertagt. Die beiden Angeklagten bleiben in Haft.

Ein Team von Anwälten, das die Familie des toten 28-jährigen Khaled Said vertritt, verlangte zuvor, für das Verfahren mehrere Zeugen einzuberufen, darunter den Chef der Sidi- Gabr-Polizeistation, in der die beiden Angeklagten arbeiteten. Ihm wird öffentlich vorgeworfen, den Vorfall vertuscht haben zu wollen. Geladen werden sollen auch die Gerichtsmediziner, die in zwei Obduktionen bestätigt haben, dass der Tote nicht an den Prügeln der Polizisten, sondern an einem Tütchen mit Haschisch gestorben sein soll, das er beim Eintreffen der Polizisten heruntergeschluckt haben soll. Geladen werden soll auch ein anderer ehemaliger Gerichtsmediziner, der dieses Ergebnis in der Öffentlichkeit als „fabriziert“ abgelehnt hatte. Auch die Sanitäter, die den leblosen Körper Saids abgeholt hatten, sollen aussagen, sowie die Augenzeugen, die beobachtet hatten, wie das Opfer von den Polizisten geprügelt wurde, bis es sich nicht mehr bewegt habe.

Das Anwaltsteam Saids forderte, die Anklage gegen die Polizisten von Körperverletzung im Amt auf Totschlag abzuändern. Außerdem solle untersucht werden, ob es sich um eine Form von Folter gehandelt habe.

In einer Erklärung drückte die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International die Sorge aus, dass die Augenzeugen des Vorfalls eingeschüchtert werden könnten. Dort heißt es:

„Wenn es in diesem Fall Gerechtigkeit geben soll, dann muss sichergestellt werden, dass sowohl die Zeugen als auch die Familie des Opfers und alle anderen, die die Wahrheit ans Licht bringen wollen, vor Drohungen, Gewalt und Einschüchterungen geschützt werden, um vor Gericht frei aussagen zu können.“

Ein Freund Saids war laut Amnesty International letzte Woche von neun Unbekannten mit Messern angegriffen worden.

Welche symbolische Bedeutung der Fall Khaled Said inzwischen in Ägypten erlangt hat, das zeigen die heutigen Szenen vor dem Gerichtsgebäude in Alexandria. Trotz des großen Aufgebots der Polizei kam es dort erneut zu Protesten gegen Polizeigewalt und Folter und gegen die seit fast drei Jahrzehnten in Ägypten geltenden Notstandsgesetze.

Arabesken, tazblog 6.8.2010

Mutige Frau erzählt im ägyptischen Fernsehen von ihrer Vergewaltigung durch die Polizei

In einem sensationellen Beitrag des privaten ägyptischen Fernsehsenders Modern Misr, der nun auch auf YouTube kursiert, erzählt eine Frau in Schwarz öffentlich von ihrer Vergewaltigung, und das auch noch durch die Polizei: „Ich habe beschlossen, dieses Risiko einzugehen, um den Verantwortlichen des Landes zu zeigen, was die ägyptische Polizei mit den Menschen macht.“

Die Geschichte der Frau, die dort mit verschleiertem Gesicht erscheint, wurde in den letzten Tagen zum Gesprächsstoff Nummer Eins in Ägypten. Sie erzählt, dass sie an einer Straßensperre auf einer Landstraße im Nildelta von Polizisten nach ihren Papieren gefragt, anschließend in einen Polizeikleintransporter gezerrt und dort von den Polizisten vergewaltigt wurde. An einem Punkt in ihrer Erzählung bricht ihre Stimme und man kann nur ahnen, dass hinter dem Schleier die Tränen fließen, während sie ihr Taschentuch fester umgreift.

„Ich dachte eigentlich, die Polizei ist zu deinem Schutz da, aber ich wurde eines Besseren belehrt“, sagt sie und warnt alle Frauen: „Wenn ihr ein Polizeiauto seht, dann müsst ihr vorsichtig sein.“

Die Polizisten fühlten sich offensichtlich in doppelter Hinsicht sicher: Vergewaltigungen werden in Ägypten nur selten angezeigt, weil die Frauen in der konservativen islamischen Gesellschaft ihre Ehre und die ihrer Familie schützen wollen. Dass eine Frau öffentlich im Fernsehen von ihrer Vergewaltigung erzählt, ist ein absolutes Novum. Außerdem kann die Polizei sich darauf verlassen, dass Fälle von Polizeigewalt und Willkür nach fast 30 Jahren Notstandsgesetzen meist vertuscht werden. Die Unbekannte hat die Vergewaltigung vor ihrem Fernsehauftritt auch der Polizei gemeldet, die den Vorfall untersucht.

Der Vergewaltigungsvorwurf ist der letzte in einer Serie von Anklagen, die der ägyptischen Polizei Gewaltexzesse und Willkür vorwerfen. Der prominenteste Fall, über den auch in diesem Blog berichtet wurde, war der des jungen Mannes Khaled Said.

Offensichtlich hat der Fall Khaled Said dazu geführt, dass sich nun mehr und mehr Ägypter und Ägypterinnen trauen, Fälle von Polizeigewalt auch in der Öffentlichkeit vorzubringen und staatliche Rechenschaftpflicht einzuklagen.

„Die Polizei im Dienst des Volkes“, lautete früher der Slogan der ägyptischen Polizei. Später wurde das Ganze abgewandelt in die Losung: „Das Volk und die Polizei im Dienste der Heimat.“ Nach dem Verständnis der meisten Ägypter bedeutet der neue Slogan, dass die Polizei nicht im Dienste der Bürger, sondern hauptsächlich zum Schutz des Regimes unterwegs ist.

Arabesken, tazblog 11.10.2010

„Ja zu Vater Mubarak, wir wollen mehr von deiner Weisheit“

Immer wieder hat das Land am Nil in den letzten Monaten Demonstrationen gegen das Regime erlebt, etwa im Fall des jungen, von der Polizei in Alexandria auf offener Straße erschlagenen Ägypters Khaled Said. Mit dieser Einseitigkeit soll jetzt Schluss sein. Ägyptens aufmüpfige Oppositionelle und Dissidenten bekommen auf der Straße Konkurrenz.

Eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „Die 4.-Mai-Bewegung“ ruft zu einer Demonstration zur Unterstützung des seit fast drei Jahrzehnten regierenden Präsidenten Hosni Mubarak auf. Marschiert werden soll am 14. Oktober, quer durch die Kairoer Innenstadt. Der Name der neuen Gruppe, die sich selbst als „unabhängig und patriotisch“ bezeichnet, bezieht sich übrigens fantasievoll auf Mubaraks Geburtstag. Dessen Unterstützung wird übrigens gleich auf die ganze Familie ausgeweitet. Denn im Fall, dass der 82-jährige Hosni Mubarak nächstes Jahr nicht zu den Wahlen antritt, will die neue Gruppe mit ihren 918 Mitgliedern dessen Sohn Gamal als Kandidaten unterstützen.

Auf der Facebook-Seite heißt es: „Präsident Mubarak hat bewiesen, dass er ein Sicherheitsgarant für das Land ist und ein wahrer Wächter über dessen Demokratie.“ (!!?!!)

Und weiter heißt es dort: „Er ist der Vater aller Ägypter und aus diesem Grund unterstützen wir ihn, um zu sagen: Ägypten braucht deine Weisheit.“

Einer der Administratoren der Facebook-Seite ist der Fabrikbesitzer Wael El-Toukhy. Der hat seinen 1300 Mitarbeitern für den Tag der Unterstützungsaktion gleich einmal freigegeben und ein paar Busse zur Verfügung gestellt, um sie zur Demonstration zu karren.

Die andere Seite schläft natürlich auch nicht. Sie hat bereits eine neue Facebook-Seite gegründet mit dem Titel: „Am 4. Mai tragen wir alle Schwarz.“

Was der Fall Khaled Said bewirkte

Mit Facebook und Twitter fand ein Fall wie der von Khaled Said zehntausendfache Verbreitung, wurde kommentiert, mit anderen geteilt und ständig mit aktuellen Neuigkeiten weitergesponnen. Dadurch waren die offiziellen Zeitungen gezwungen, ebenfalls davon zu berichten, da die Zensur den Fall Khaled Said nicht mehr auf den Index setzen konnte. Schließlich waren selbst die Gerichte gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen.

Damit war Khaled Said sicherlich einer der Tropfen, die am Ende das ägyptische Fass zum Überlaufen brachten, auch wenn das zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen konnte.

Stattdessen wandte sich die arabische Öffentlichkeit zunächst in eine ganz andere, ebenfalls vollkommen unerwartete Richtung: Tunesien. Bis zu diesem Zeitpunkt war dieses Land vor allem für zwei Dinge bekannt: als Urlaubsparadies, in dem die Europäer billig in unmittelbarer Nachbarschaft Sonne tanken konnten, und als brutaler Polizeistaat. Ersteres stand in den Werbeprospekten, über Zweiteres sprach man nicht – oder besser gesagt, man konnte nicht darüber sprechen, wie das Beispiel eines ägyptischen Kollegen zeigt, der vor einigen Jahren bei einer Nachrichtenagentur in Tunis seinen neuen Job antrat. Bereits nach seinen ersten, leicht kritischen Berichten war er den Behörden ein Dorn im Auge. Als er eines Tages nach seiner Arbeit in der Garage sein Auto holen wollte, wurde er Zeuge einer Vergewaltigung. Er eilte der Frau zu Hilfe, der Täter lief davon. Als die Frau ihn völlig aufgelöst aufforderte, mit ihr als Zeuge zur Polizei zu gehen, damit sie Anzeige erstatten konnte, willigte er ein. Aber auf der Polizeiwache lief es dann ganz anders als erwartet. Er landete im Hinterzimmer des Geheimdienstes und die Frau bezichtigte ihn, er habe versucht, sie zu vergewaltigen. Nach mehreren Stunden heftigen Verhörs zwinkerte ihm schließlich einer der Geheimdienstoffiziere zu, mit den Worten: „Du siehst, was wir mit dir machen können. Du hast 24 Stunden Zeit, deine Koffer zu packen und abzureisen.“ Und genau das tat mein Kollege dann auch.

Und ausgerechnet in diesem Tunesien, über das international niemand sprach und wo keiner im Land sich traute, den Mund aufzumachen, schlägt die Geburtsstunde der arabischen Revolution.

Tunesien: Der Aufstand beginnt

Arabesken, tazblog 26.12.2010

Worüber an Weihnachten nicht berichtet wurde: Elendsaufstand in tunesischer Kleinstadt

Vielleicht liegt es daran, dass Al-Kaida oder sonstige Islamisten darin keine Rolle spielen. Oder die Medien schlafen einfach ihren Weihnachtsschlaf. Möglicherweise passt das Ganze auch nicht so recht ins Bild von Tunesien mit seinen traumhaften Mittelmeerstränden und Wintergolfplätzen. Aber der Elendsaufstand der Jugendlichen in und rund um die tunesische Kleinstadt Sidi Bouzid wurde bisher medial ignoriert. Daher nun ein paar Zeilen dazu, obwohl der Maghreb normalerweise nicht zu meinem Berichtsgebiet gehört.