Tageswandler 1: Mira - Al Rey - E-Book
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Tageswandler 1: Mira E-Book

Al Rey

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Beschreibung

Mira reist nach Norwegen. Der Notar ihrer verstorbenen Eltern hat sie eingeladen, um ihr ein Erbstück zu überreichen. Dadurch wird sich an ihrem Leben jedoch nichts ändern. Sie ist eine totale Einzelgängerin und das aus gutem Grund. Menschen, die sie mag, verunglücken, als würde ein Fluch an ihr haften. Kurz nach dem Termin mit dem Notar muss Mira erkennen, dass eben dieser Fluch Vampire magisch anzieht. Anzheru verschleppt sie und es sieht nicht aus, als wollte er sie je wieder gehen lassen... bereits erschienen: Band 2 Anzheru, Band 3 Letizia, Band 4 Shaun, Band 5 Gigi, Band 6 Igor und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 7 Yero

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Inhaltsverzeichnis

Tageswandler 1

Über die Autorin

Widmung

Prolog

Gewahrsam

Subordination

Clan

Suche

Vermutung

Gewissheit

Impuls

Diplomatie

Schild

Erwachen

Gefährten

Tove

Besuch

Heimkehr

Leibwache

Schach

Geschenk

Verrat

Ausgleich

Ball

Beistand

Eigenschaften

Fell

Ächtung

Adler

Horatio

Impressum

Tageswandler 1

~Mira~

Von Al Rey

Über die Autorin

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland. Tageswandler 1 – Mira ist ihr Debüt und entstand als Geburtstagsgeschenk.

Kontakt:

al-rey.jimdofree.com

[email protected]

Widmung

Für Isabelle

und Nathalie

Prolog

Norwegen. Ausgerechnet ein Land, in dem es bekanntermaßen sehr kühl und manche Tage im Jahr vollkommen finster war. Mira wäre viel lieber nach Süden in ein warmes Land geflogen. Missmutig sah sie aus dem kleinen Flugzeugfenster hinab auf die weite Ostsee. Bald kam die skandinavische Küste in Sicht. Nicht eine Wolke stand am Himmel und daher war der Blick frei auf die berühmten Fjorde. Schier endlos erstreckten sich die zerklüfteten Felsklippen am Horizont und genauso der dunkle Wald, der nur hin und wieder von kleinen Städten unterbrochen wurde. Der atemberaubende Anblick lenkte Mira wenigstens eine Weile von dem ab, was ihr bevorstand. Sie besaß keine Familie mehr. Ihre Eltern waren gestorben, als sie gerade zwei Jahre alt gewesen war. Sie war adoptiert worden, doch vor eineinhalb Jahren war sie ausgezogen und gab sich seitdem keine große Mühe, den Kontakt zu ihren Adoptiveltern aufrecht zu erhalten. Nun hatte sich nach all den Jahren ein Notar namens Gunwald Larsson aus Oslo gemeldet, der eine Hinterlassenschaft ihrer leiblichen Eltern besaß. Seine Einladung hatte Mira mitten in den Semesterferien erreicht. Sie hatte lange gezögert, da sie nichts mit ihren Eltern verband. Nicht eine Erinnerung war ihr geblieben. Dennoch hatte Mira sich entschieden, der Einladung zu folgen. Während der langen Reise von Brüssel nach Oslo waren ihre Gelenke ganz steif geworden. Sie war auffallend groß für ein Mädchen, ganze 1,82 Meter. Ihre Beine hatten kaum Platz zwischen den Flugzeugsitzen gehabt. Unbeholfen stakste Mira die schmale Treppe hinab, froh darüber, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nachdem sie ihre blaue Reisetasche im Terminal wieder gefunden hatte, machte sie sich auf den Weg zum Hotel. Das Treffen mit dem Notar sollte erst am folgenden Tag stattfinden. Zum Glück, denn es dämmerte bereits und im Dunkeln fand Mira sich nicht einmal in ihrer Heimatstadt gut zurecht. Im Hotelzimmer angekommen stellte sie positiv überrascht fest, dass es sogar einen Fernseher darin gab. In ihrem eigenen, winzigen Appartement zu Hause in Brüssel besaß Mira keinen. Obwohl sie kein Wort Norwegisch verstand, ließ sie das Gerät den ganzen Abend eingeschaltet. Den Bildern nach handelte es sich um einen Soap-Marathon. Leider gelang es Mira nicht, sich wirklich abzulenken. Ihr war unwohl bei dem Gedanken, etwas von ihren leiblichen Eltern zu lesen oder in der Hand zu halten. Niemals zuvor hatte sie einen Hinweis auf sie erhalten. Einige Monate nach ihrem Tod hatte die Familie Blanchard sie bei sich aufgenommen. Allerdings währte das Familienglück nur kurz. Nach kaum einem Jahr erkrankte ihr Adoptivbruder, der kleine Julien, an Leukämie. Auch Miras Spielkameraden passierten über die Jahre hinweg immer wieder Unfälle, manche wurden sogar krank. Irgendwann hatte Mira begonnen, diese Schicksale mit ihrer Gegenwart in Verbindung zu bringen. Sie schien das Unheil magisch anzuziehen. Natürlich sprach diesen Gedanken niemand aus, aber die Blicke ihrer Adoptivmutter Ester waren immer argwöhnischer geworden. Zunehmend hatte sie Mira spüren lassen, dass sie sich in ihrer Nähe nicht mehr wohl fühlte. Als sie vor etwa vier Jahren einmal gezwungenermaßen zusammen einkaufen gegangen waren, waren sie auf offener Straße von einer Gruppe Männer angegriffen worden. Aufgrund ihrer Verletzungen hatten sie sogar ins Krankenhaus gemusst. Nachdem sie beide nach Hause zurückgekehrt waren, hatte Ester freiwillig kein Wort mehr mit Mira gesprochen. Sie hatte stets ihr die Schuld an dem Überfall gegeben. Die Männer waren nie gefasst worden. Über die Jahre hatte Mira daher ihre Überlebensstrategie perfektioniert. Oder besser gesagt die Überlebensstrategie für die anderen. Je mehr sie sich abschottete, desto weniger Unfälle passierten um sie herum. Nur ein einziges Mädchen an der Uni redete mehr als jeder andere mit ihr. Ihr Name war Jacky und sie schrieben von Zeit zu Zeit gemeinsam an ihren Hausarbeiten. Da Mira sich permanent weigerte, mit ihr auszugehen, kamen sie sich nicht näher und dafür war Jacky bisher nichts passiert. Die Einsamkeit war ein akzeptabler Preis dafür. Durch eine Hinterlassenschaft ihrer Eltern würde sich daran garantiert nichts ändern. Vielleicht war sie der Einladung des Notars nur aus Pflichtgefühl gefolgt, sie wusste es selbst nicht so genau.

Schlafen konnte Mira kaum. Die Nacht verging schleppend. Schon kurz vor Sonnenaufgang begab sie sich unter die Dusche. Das warme Wasser betäubte ihre Bedenken, doch die angenehme Trance verging schnell wieder. Der Termin war auf 11:30 Uhr angesetzt, folglich hatte Mira reichlich Zeit zu frühstücken und die kürzeste Verbindung mit der Straßenbahn zu ihrem Zielort herauszusuchen. Das Büro des Notars lag in einem der teuren Außenbezirke von Oslo. Den Menschen, die Mira auf dem Weg von der U-Bahn zur Adresse des Notars begegneten, war schon an der Kleidung ihr Vermögen anzusehen. Sie fühlte sich völlig fehl am Platz in ihren zerrissenen Jeans und der abgetragenen Lederjacke. Ein kühler Wind kam auf. Mira verschränkte die Arme vor der Brust, um sich warm zu halten. Sie war wirklich froh darüber, dass sie bereits morgen wieder nach Belgien fliegen würde. Dort herrschten spätsommerliche 23 Grad Celsius, bei denen man keine Jacke tragen musste. Mira fragte sich ernsthaft, ob die Temperaturen in Norwegen jemals über 14 Grad stiegen. Vor dem Haus des Notars zögerte sie erneut eine ganze Weile. Gunwald Larsson nahm ihr letztendlich die Entscheidung ab, ob sie klingeln wollte, und kam ihr munter aus seiner Tür entgegen. Er war ein rundlicher Mann um die sechzig.

„Mira Blanchard?“, fragte er freundlich. Auf Englisch wäre Mira mit Sicherheit auch zu Recht gekommen, aber zu ihrem Glück sprach Larsson fließend Französisch. Er hieß sie etwas umständlich willkommen und bat sie, ihm durch sein Haus ins Büro zu folgen. Die geschmackvoll eingerichteten Zimmer zeugten ebenfalls davon, dass man als Notar in Norwegen reichlich Geld verdiente. Mira hatte das Gefühl, in seinem Besuchersessel zu versinken.

„Ihre Eltern haben vor über zwanzig Jahren einmal hier gewohnt. Wenn ich mich damals nicht völlig getäuscht habe, war Ihre Mutter schwanger, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe.“ Sein warmherziges Lächeln war gut gemeint, doch Mira war nicht in der Stimmung, sich auf seine Erinnerungen an ihre Eltern einzulassen. Larsson verstand ihre abwehrende Miene und öffnete den Safe in der hölzern vertäfelten Wand hinter seinem Schreibtisch. Er nahm ein kleines Kästchen heraus, das er vor Mira auf den Tisch stellte.

„Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Es war nicht leicht, Sie zu finden, Mira.“

„Vielen Dank.“ Sie versuchte, ihm ein aufrichtiges Lächeln zu schenken und verabschiedete sich bald darauf. Zügig verließ sie den Stadtbezirk, das Kästchen befand sich unangetastet in ihrer Tasche. Sie hatte es nicht über sich gebracht, es in Larssons Gegenwart zu öffnen. Während der Fahrt begann es zu regnen. Mira zog die Kapuze ihres Shirts unter der Jacke hervor und setzte sie auf. Das schwarze lange Haar passte kaum darunter. Zu beiden Seiten ihres Gesichts quoll es unter dem hellen Stoff hervor. Kurz bevor sie ausstieg, fiel ihr ein Mann auf, der ebenfalls eine Kapuze trug. Aus dem Schatten, den sie warf, schien er Mira unablässig anzustarren. Zum Glück stieg er nicht hinter ihr aus. Sie kehrte auf direktem Weg zum Hotel zurück. Angespannt stellte sie die Tasche ab und zog die Jacke aus. Ganz langsam holte Mira das Aluminiumkästchen aus ihrer Umhängetasche und setzte sich auf die Bettkante. Sie hielt den Atem an, als sie versuchte, den etwas verrosteten Schnappverschluss zu öffnen. Es klickte. Mira atmete tief durch und öffnete die Schatulle. Darin lag sage und schreibe ein Stein. Ungläubig nahm Mira den schwarzen, kühlen Stein heraus und drehte ihn in der Hand. Auf der Unterseite befand sich eine Gravur in einer sehr altmodischen, geschwungenen Schrift.

»Ich schwöre

Ich werde einen Weg finden«

Mit einem Schnauben steckte Mira den Stein in ihre Hosentasche und warf das unansehnliche Kästchen in den Mülleimer ihres Hotelzimmers. Sie rieb sich die Stirn. Dafür war sie nach Norwegen gekommen. Einen Stein! Sie ließ sich aufs Bett fallen und schloss die Augen, in der Hoffnung die Wut bändigen zu können. Sie hatte nicht viel erwartet, aber wenigstens irgendeinen Bezug. Doch keinen Stein und eine sinnlose Inschrift… Einen Weg wohin denn bloß? Und wer?

Der Regen peitschte mittlerweile regelrecht gegen das hohe Fenster. Mira war vor Erschöpfung eingenickt und hatte den gesamten Nachmittag verschlafen. Jetzt beschloss sie, noch irgendetwas aus diesem Abend zu machen und begab sich in die Hotelbar. Eigentlich trank sie nicht gerne Alkohol, aber ein Glas Wein konnte auf diese ernüchternde… Was war es eigentlich? Eine Erkenntnis? Was auch immer, es würde nicht schaden. Der Barkeeper erwies sich als jung, hübsch und der englischen Sprache mächtig. Gedankenverloren sah Mira ihm eine Weile bei der Arbeit zu, bis er ihren Blick erwiderte. Er schien nicht abgeneigt zu sein, obwohl Miras Erscheinungsbild um einiges von dem der norwegischen Frauen abwich. Kohlrabenschwarze Haare waren hier offenbar eine Seltenheit. Aus trainierter Höflichkeit lächelte sie den hochgewachsenen blonden Mann an und suchte sich dann doch lieber einen Platz am Fenster, zu weit weg von ihm, um ein Gespräch anzufangen. Der letzte Junge, den sie gemocht hatte, war vier Tage nach ihrem ersten Treffen vor ein Auto gelaufen.

„Na, hat dich der Kellner gelangweilt?“

Mira warf einen Blick in die Fensterscheibe links von ihr, in der sie auch die Spiegelung des Mannes am Nebentisch sehen konnte. Seine Augen schienen beinahe schwarz zu sein, was Mira ein ungutes Gefühl gab. Wortlos trank sie einen großen Schluck von ihrem Rotwein.

„Muss ich das als »Ja« auffassen?“ Er schien sich köstlich zu amüsieren. Vor ihm auf dem Tisch stand eine unberührte Schale mit Erdnüssen. Er bleckte merklich die Zähne. Mira lief ein kalter Schauer über den Rücken. Warum konnte das ständige Unheil, das sie umgab, nicht solche Menschen fernhalten? Zügig trank sie ihr Glas leer und flüchtete aus der Bar, ohne ein Wort zu dem aufdringlichen Kerl am Nebentisch gesagt zu haben. Statt auf den Aufzug zu warten, nahm sie lieber die Treppe. Auf dem Korridor angelangt zerrte sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer aus der Hosentasche. Mira würde sofort packen und nur noch darauf warten, dass sie zum Flughafen fahren konnte.

„Warum so abweisend?“

Mit einem entsetzten Keuchen fuhr sie herum. Der unheimliche Mann aus der Bar stand hinter ihr im Flur. Wie zur Hölle hatte er es geschafft, sie so schnell und lautlos zu finden? Mira wich mit dem Schlüssel in der Hand ein paar Schritte zurück.

„Verschwinden Sie! Sofort!“, presste sie hervor.

„Nicht doch. Als ob ich dir widerstehen könnte.“ Mit einem breiten Grinsen kam er immer näher. Das aschblonde Haar fiel ihm in die Stirn. Seine tiefschwarzen Augen schienen Mira regelrecht zu durchbohren. Plötzlich stand er direkt vor ihr und drängte sie rückwärts gegen ihre Zimmertür. Die eine Hand presste er auf ihren Mund. Mit der anderen nahm er ihr den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Mira wehrte sich mit aller Kraft, doch er stieß sie erbarmungslos durch den Raum. Sie landete unsanft bäuchlings auf dem Bett. Als sie sich aufrappelte, war die Tür bereits wieder von innen verschlossen, aber dafür das Fenster geöffnet worden. Eisige Luft zog herein. Der aschblonde Mann warf sich auf sie und drückte sie zurück aufs Bett. Mira schluchzte ängstlich auf. Er war so unfassbar schnell. Und kalt.

„Ganz ruhig meine Große“, flüsterte er ihr ins Ohr. Drei weitere blasse Gestalten kamen durchs Fenster herein. Dabei waren sie im dritten Stock! Mira zappelte hilflos in seinen Armen und begann vor Verzweiflung zu weinen. Bevor sie auch nur einmal um Hilfe hatte schreien können, hatten sie sie auf den Rücken gedreht und alle ihre Gliedmaßen überstreckt auf dem Bett fixiert. Sie zogen so sehr an ihren Armen, dass es fürchterlich in den Gelenken stach. Durch den Tränenfilm in ihren Augen konnte Mira gerade noch erkennen, dass einer von ihnen der Mann im Kapuzenpulli war, der sie in der U-Bahn angestarrt hatte. Eine Hand hielt ihr den Mund zu. Andere betasteten ihre Oberschenkel. Als sich eine unter ihr Shirt und eisig kalt über ihren Bauch schob, brachte Mira trotz allem einen erstickten, verzweifelten Laut heraus.

„Du hast nicht zu viel versprochen, James. Sie ist wirklich umwerfend.“

Hohles Glucksen war die Antwort. Einer von ihnen öffnete ihren Gürtel. Plötzlich hielten sie inne. Mira blinzelte angestrengt. Noch ein schwarz gekleideter Mann war lautlos durchs Fenster hereingekommen. Das wurde ja immer besser.

„Seid ihr völlig verrückt geworden?“ Die Frage war offenbar an Miras Angreifer gerichtet. Einer erhob sich, Mira spürte zwei Hände weniger, die sie bedrängten.

„Wen haben wir denn da? Anzheru, das Oberhaupt des Nördlichen Clans, persönlich. Welche Ehre.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Mira konnte im Augenwinkel sehen, dass er sich schwungvoll vor dem Neuankömmling verneigte.

„Lasst sofort von ihr ab! Ihr seid mitten unter Menschen. Und das ist nicht euer Jagdgebiet.“

Trotz seines gebieterischen Tonfalls ließen die übrigen Mira nicht los. Ihr Wortführer schnaubte verächtlich. „Als ob du sie nicht selbst zehn Meilen gegen den Wind gerochen hättest! Wir waren eben schneller als unsere hochgeschätzten Nachbarn.“

Die drei Männer über Mira lachten leise.

„Willst du auch etwas abhaben, obwohl es ebenfalls nicht dein Jagdgebiet ist, Anzheru?“

Das Lachen wurde etwas lauter. Auf einen Wink ihres Wortführers ritzte einer ihrer drei Peiniger Miras Wange an. Gerade so tief, dass es ein wenig blutete. Es musste eine ziemlich kleine Klinge gewesen sein. Mira hatte sie gar nicht gesehen. Augenblicklich veränderte sich die Stimmung im Raum. Die Männer packten noch fester zu, wenn das überhaupt möglich gewesen war. Die drei Paar Augen über ihr hatten normale, dunkle Farben gehabt, jetzt nahmen sie ein seltsames Blau an. Stechendes, eisiges Blau. Das war gar nicht möglich! Sicher spielten Miras Sinne ihr vor lauter Panik nur einen Streich.

„Nein“, lautete die Antwort.

„Dann verschwinde, Anzheru! Mach dir keine Sorgen, wir legen sie hinterher in die Badewanne. Es wird aussehen als…“

„Nein, ihr befindet euch auf fremdem Territorium!“ Anzherus Stimme war ganz ruhig geworden. Der Raum wurde plötzlich von einem tiefen, unmenschlichen Grollen erfüllt. Mira spürte, dass der Druck auf ihren Beinen nachließ. Nur noch einer der Männer hielt sie gepackt und presste ihr die Hand auf den Mund. Er zog sie grob auf die Füße und hielt sie zwischen sich und die anderen Wahnsinnigen wie einen Schutzschild. Sie schlichen langsam auf Anzheru zu, der mit dem Rücken zum Fenster stand. Der Angriff lief so schnell ab, dass Mira mit den Augen kaum folgen konnte. Nur das ohrenbetäubende Krachen hörte sie. Als die Männer wieder innehielten, blutete einer heftig im Gesicht, einer hielt sich den merkwürdig verdrehten Arm und der dritte hielt sich vorn über gebeugt den Brustkorb. Anzheru selbst hatte nur ein paar Kratzer an den Armen. Das Fenster war gesplittert und das Fußende des Hotelbetts zertrümmert. Die Männer gaben ein aggressives Knurren von sich, doch sie wichen zurück.

„Dem nächsten, der es wagt, trenne ich einen Arm ab.“

Niemand schien an Anzherus Worten zu zweifeln. Widerwillig wurde Mira frei gegeben und sie verschwanden einer nach dem anderen mit hasserfüllten Blicken durch das Fenster. Nur Anzheru blieb zurück. Miras Knie gaben nach all der Anspannung nach. Völlig kraftlos sank sie zu Boden und blieb zwischen dem kleinen Nachtschränkchen und der angelehnten Badezimmertür sitzen. Anzheru kam näher. Auch seine Augen waren eisblau, sein Blick schien jedoch weniger stechend. Sein rotbraunes Haar war zu einem strengen Zopf zurückgebunden und bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seiner hellen Haut. Er war groß, schlank, nicht zu muskulös –jedes andere Mädchen hätte ihn mit Sicherheit für sehr attraktiv gehalten. Was man von dem fürchterlichen James und seinen Kumpanen nicht behaupten konnte.

„Hast du Knochenbrüche?“ Ausdruckslos sah er auf Mira hinab. Vorsichtig bewegte sie die Finger, dann die Füße und streckte einmal die Beine.

„Ich glaube nicht.“ Mira musste husten. Sie hatte kaum atmen können, solange einer der Männer ihr den Mund zugehalten hatte. Ihre Kehle brannte, als hätte sie versucht, Feuer zu schlucken. Anzheru ging vor ihr in die Hocke, sodass sie sein ebenmäßiges Gesicht aus der Nähe betrachten konnte. Er atmete konzentriert durch die Nase. Kurz wandte er den Blick ab, dann hob er die Hand, um Miras verletzte Wange zu berühren. Nur einen Zentimeter entfernt hielt er inne, da sie ihn ängstlich anstarrte.

„Wer bist du?“

Anzheru antwortete nicht, sondern strich mit den Fingerspitzen über die kleine Wunde. Es kribbelte auf der Haut und seine Finger waren eisig kalt. Mira hatte das Bedürfnis, sich an der Wange zu kratzen. Aber da war keine Wunde mehr! Was sie als nächstes sah, steigerte ihre Angst und ihr Entsetzen ins Unermessliche. Anzheru leckte sich ihr Blut von den Fingern. Sie war davon ausgegangen, dass James und die anderen sie vergewaltigt, misshandelt und wohl auch getötet hätten. Aber was war das? Mira öffnete den Mund, um zu schreien, doch sie brachte nur einen unbestimmten Laut heraus. Um seine sonst so reglosen Mundwinkel zuckte ein wissendes Lächeln, aber dann begann Anzheru zu husten, als hätte er sich die Zunge verbrannt. Trotz aller Panik kam Mira nicht um ein ironisches Glucksen herum. Blut schmeckte nun einmal ekelhaft. Als Anzheru ihr wieder den Blick zuwandte, lag ernsthaftes Interesse darin. Das verhieß absolut nichts Gutes. Ruckartig stand der blasse Mann auf und griff sich Miras Sachen und ihre Umhängetasche. Er stopfte alles achtlos zurück in ihre blaue Reisetasche. „Ist das alles?“

Mira nickte stumm und kämpfte sich mühsam auf die Füße. „Was soll das?“ Sie musste sich mit beiden Händen an der Wand abstützen, so wenig gehorchten ihr ihre Beine.

„Du kannst nicht hier bleiben, sie werden zurückkommen. Also werde ich dich mitnehmen“

„Ich fliege morgen nach Hause!“ Trotz der geradezu greifbaren Gefahr empfand Mira plötzlich Wut. Bei den anderen vieren war wenigstens abzusehen gewesen, was sie vorhatten.

„Sicher nicht.“ Sein absolut ruhiger Tonfall verschlimmerte das Ganze noch.

„Komm.“ Er streckte ihr allen Ernstes eine feingliedrige, weiße Hand entgegen.

„Den Teufel werde ich tun!“, knurrte Mira. Anzheru seufzte verärgert, dann stand er plötzlich wieder direkt vor ihr und legte ihr einen Finger an die Lippen. Einen Augenblick lauschte er aufmerksam. „Wir müssen uns beeilen.“

Mira schlug mit beiden Händen gegen seine Brust, in der Hoffnung er würde wenigstens einen Schritt zurück machen. Sie war so sehr daran gewöhnt, andere auf Abstand zu halten, dass auch körperliche Nähe unangenehm war. Sie hätte genauso gut die Wand schlagen können. Anzheru schien es überhaupt nicht gespürt zu haben. Er packte ihr linkes Handgelenk und zog sie einfach mit sich in Richtung Fenster. Mira sträubte sich, doch es war hoffnungslos. „Nein! Lass mich los!“

„Sei jetzt still“, erwiderte er ungerührt. Sein ruhiger Tonfall war zum aus der Haut fahren. Mit der freien Hand hatte er sich die Reisetasche geschnappt, den rechten Arm schlang er um Miras Hüfte.

„Doch nicht aus dem…“ Bevor sie den Satz zu Ende kreischen konnte, verlor Mira den Boden unter den Füßen.

„Fenster“, murmelte Anzheru und zog sie einfach weiter. Er hatte den Sprung aus dem dritten Stock so weich abgefedert, dass Mira nichts davon gespürt hatte. Als ob das alles normal wäre, zerrte er sie weiter über die Straße auf ein schwarzes Auto zu. Der kalte Regen durchnässte sie sofort.

„HILFE!“

Irgendjemand auf der Straße musste Mira doch hören. Anzheru drehte sie gewaltsam zu sich und starrte ihr in die Augen. Mira blieb die Luft weg. Nach und nach schwand ihre Wahrnehmung. Es schien nichts mehr auf der Welt zu geben, außer diesen eisigen, durchdringenden Augen. Dann wurde langsam alles schwarz.

Gewahrsam

Es war dunkel. Dunkel und kalt. Mira konnte sich auf dem harten Boden kaum rühren. Ihre Gliedmaßen waren bleiern schwer und irgendetwas schien auf ihren Brustkorb zu drücken, obwohl sie auf der Seite lag. Langsam setzte sie sich auf. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Nur langsam kehrten die Erinnerungen an James, seine fürchterlichen Kumpane und schließlich Anzheru zurück, der sie aus ihrem Hotelzimmer entführt hatte. Wie hatten sie bloß den Sprung aus dem dritten Stock überlebt? Niemand konnte mit einem zusätzlichen Gewicht von fast sechsundsiebzig Kilo so tief fallen und unbeschadet aufkommen. Geschweige denn auch noch weitergehen, als wäre nichts gewesen. Das ging alles nicht mit rechten Dingen zu. Mira studierte seit drei Semestern Literaturwissenschaften, nicht Medizin, aber das war einfach nicht möglich. Dieser rothaarige Kerl mit den durchdringenden, eisblauen Augen hatte sich ihr Blut von den Fingern geleckt… Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Mira straffte die Schultern. In ein paar Schritten Entfernung öffnete sich eine Tür. Das hereinfallende Neonlicht war so grell, dass Mira nur den Umriss der Gestalt sehen konnte, die lautlos auf sie zukam. Derjenige packte sie am Arm und zog sie auf die Füße. Mira musste sich noch einige Sekunden die Hand vor Augen halten, bis sie klar sehen konnte. Bis dahin hatte Anzheru sie bereits am Arm eine kleine Treppe hinunter gezerrt. Jetzt befanden sie sich auf einem Flur, der zum Glück nicht von Neonröhren sondern von kleinen, runden Schirmlampen erhellt wurde. Die wenigen Türen waren geschlossen. Anzheru öffnete die letzte auf dem Flur und entließ Mira endlich aus seinem eisernen Griff in ein hell gefliestes Badezimmer. Sie rieb sich den Oberarm. Die Hände dieses Mannes waren so fürchterlich kalt, dass es auf der Haut schmerzte. Ihr war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass ihr Entführer vor der Tür stand, aber immerhin musste sie nicht darum betteln, ins Bad zu dürfen. Im Moment zumindest. Nachdem sie sich erleichtert hatte, blieb Mira am Waschbecken stehen und betrachtete sich im Spiegel. Wie nicht anders zu erwarten war, sah sie furchtbar aus. Als sie die Ärmel ihres Shirts hochschob, fielen ihr einige dunkelblaue Flecken auf. James und die anderen hatten ihr nur durch Druck Hämatome zugefügt. Ihre Beine würden wohl kaum besser aussehen. Plötzlich wurde die Tür von außen aufgerissen.

„Wie lange brauchst du denn noch?“ Anzheru schaute sie ungeduldig an. Verunsichert schob Mira ihre Ärmel wieder herunter.

„Das verheilt doch von allein, oder?“ Er wies auf ihre Arme.

„Ja.“ Mira biss sich angespannt auf die Unterlippe. Das wusste er nicht? Mit ein paar langen Schritten durchquerte Anzheru den Raum und öffnete einen kleinen, weißen Schrank neben dem Waschbecken. Er reichte ihr ein Handtuch und ein Stück Seife heraus.

„Wasch dich. Du stinkst nach Angst. Und nach ihnen.“

Es war klar, dass er James und die anderen meinte. Waren sie nicht seines gleichen? Zumindest kannten sie sich mit Namen. Mira drückte das weiche Handtuch an sich. Es war ein recht erbärmlicher Schutzschild angesichts eines Mannes, der sie mühelos mit einem Arm tragen konnte. Sie hatte ihn gefragt, wer er war. Eine andere Frage war wohl passender. „Was bist du?“

Das recht große Menschen-Mädchen stand mit hochgezogenen Schultern und unsicherer Miene vor ihm. Trotz allem schien sie nicht so viel Angst wie andere Menschen vor ihm zu haben. Dass jemand wütend wurde und mit beiden Fäusten gegen seine Brust schlug, statt sich wimmernd seinem Schicksal zu ergeben, hatte Anzheru lange nicht erlebt. Er hob mit den Fingerspitzen ihr Kinn an, damit sie den Hals strecken musste. Er konnte das Blut spüren, das verheißungsvoll in ihren Adern pulsierte. Zornig schlug sie gegen seine Hand. Das sollte wohl ein erneuter Versuch sein, ihn loszuwerden. Allerdings hatte sie dem darauffolgenden schmerzerfüllten Laut nach zu urteilen nur sich selbst wehgetan. Anzheru ließ von ihr ab. Der Geruch von James und seiner Gruppe, der immer noch an ihr haftete, war ekelhaft.

„Du wirst sehen. Gib mir deine Sachen.“ Er hatte vor, sie zu verbrennen. Das Mädchen starrte entgeistert zurück.

„Was ist?“

„Ich werde mich garantiert nicht vor dir ausziehen!“, presste sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Anzheru erinnerte sich dunkel daran, dass eines seiner Clan-Mitglieder davon erzählt hatte, wie empfindlich Menschen-Frauen in dieser Hinsicht waren. Er hätte ihr das Shirt und die ohnehin schon rissige Jeans mühelos abnehmen können, aber er wollte dieses Mädchen nicht unnötig gegen sich aufbringen. Es war einfacher, wenn sie sich freiwillig fügte, und das würde er sicher nicht erreichen, indem er ihr bei der ersten Gelegenheit seinen Willen aufzwang.

„Rühr dich nicht von der Stelle“, sagte er ruhig. Sie schnappte nur hörbar nach Luft. Anzheru verließ das Bad und begab sich nach unten ins Kaminzimmer, wo er den Inhalt der Reisetasche auf einem großen Tisch ausgebreitet hatte. Ein kleines Notebook, ein Handy, ein Portemonnaie, einmal Wechselkleidung und Flüssigshampoo, das furchtbar süßlich roch. Mehr hatte das Mädchen nicht bei sich gehabt. Das Shampoo hatte Anzheru umgehend entsorgt, da es ihm lieber war, ihren eigenen Geruch wahrzunehmen statt einen künstlichen. Mit der Kleidung über dem Arm ging er wieder nach oben. Anzheru gab sich Mühe, das Mädchen nicht zu erschrecken, als er das Bad wieder betrat. Sie stand immer noch vor dem Spiegel und krallte die Finger in das beige Handtuch. Ihr misstrauischer Blick verriet auch ihren Zorn. Wortlos schnappte sie ihm ihre Sachen aus der Hand und wartete darauf, dass er den Raum verließ.

„Wie lautet dein Name?“

Sie antwortete nicht. Langsam begann ihre Sturheit ihn wirklich zu ärgern. Anzheru schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie taumelte rückwärts gegen das Waschbecken. An ihren Augen konnte er ablesen, dass es schmerzte, aber er hatte keinen Knochen brechen hören.

„Wie heißt du, Mädchen?“, wiederholte er drohend.

„Mira.“ Ihre Stimme bebte.

„Schön, Mira. Lass mich eins klarstellen. Du gehörst jetzt mir. Und das bedeutet, du gehorchst.“

Ihre Augen weiteten sich entsetzt. Offenbar verschlug es ihr die Sprache.

„Und jetzt dusch dich ab.“

Er ließ sie einfach stehen. Mira zitterte heftig. Wie kam er auf die Idee, sie besitzen zu können wie eine… Sklavin. Es fiel ihr schwer, über dieses Wort nachzudenken. Auch die warme Dusche half kein bisschen, die erhoffte kurze Trance blieb aus. Ihre Wange schmerzte immer noch. In diesem Augenblick wünschte Mira sich so sehr, die Einladung des Notars ignoriert zu haben. Sie könnte jetzt in ihrem winzigen Appartement im warmen Brüssel sitzen und sich in eins ihrer geliebten Bücher vergraben, aber nein. Sie war in einem fremden Land unmenschlichen Wesen in die Fänge geraten und ein anderes hatte sie gerettet, um sie zu verschleppen und in seinem Haus gefangen zu halten. Dieses Mal hatte das Unheil sie selbst getroffen, das sie schon so lange verfolgte. Und das alles nur wegen eines lächerlichen Steins! Am liebsten hätte Mira ihn aus dem geschlossenen Fenster geschleudert, statt ihn in die Tasche ihrer frischen Hose zu stecken, als sie sich anzog. Allerdings wollte sie lieber nicht wissen, was Anzheru tat, wenn sie sein Haus demolierte. Hastig zog sie sich das Shirt über den Kopf. Nicht dass ihr Entführer wieder ins Bad kam, bevor sie angezogen war. Dieses Mal rührte sich allerdings nichts. Unsicher drückte Mira die Klinke herunter und öffnete die Tür. Anzheru lehnte rechts neben ihr mit verschränkten Armen an der Wand. Sein Blick war nachdenklich auf den Boden geheftet. Als Mira einen Schritt über die Türschwelle machte, sah er sie wieder mit diesem unergründlichen Interesse an. Er sog konzentriert die Luft ein.

„Besser.“

Das war alles. Anzheru bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie befanden sich offenbar in der ersten Etage einer Villa. Der Raum, in dem Mira aufgewacht war, musste der Dachboden sein. Er öffnete eine der Türen auf dem Flur und ließ ihr den Vortritt. Es war ein kleines Schlafzimmer mit einem Bett, einem schmalen, dunklen Kleiderschrank und einer kleinen Kommode. Sämtliche Möbel waren alt, aber geschmackvoll.

„Sei brav, dann darfst du hier schlafen und ich sperre dich nicht wieder auf den Dachboden“, sagte Anzheru gewohnt gefühllos. Mira wandte sich zu ihm um. Er bleckte einem Raubtier gleich die Zähne. Von diesem Augenblick an nahm sie einfach hin, dass er ein Vampir war, auch wenn es dem gesunden Menschenverstand widersprach.

„Was heißt brav?“, fragte Mira mit bebender Stimme. Erst danach fiel ihr auf, dass sie die Antwort lieber gar nicht kennen wollte.

„In erster Linie Gehorsam. Wenn ich etwas sage, gehorchst du aufs Wort.“ Er kam näher. „Des Weiteren haust mein Clan auf diesem Gelände. Wenn du ihnen begegnest, wirst du schweigen und in meiner unmittelbaren Nähe bleiben. Ich werde dich nur dieses eine Mal warnen. Zwing mich nicht dazu, dich vor anderen Vampiren zu disziplinieren.“

Vor körperlicher Gewalt würde er nicht zurückschrecken, das hatte er bereits bewiesen. Mira zuckte heftig zusammen, als er die Hand hob. Anstatt sie ein zweites Mal zu schlagen, zog Anzheru jedoch nur ihren Scheitel nach. Es war schon fast abstoßend zärtlich. Mira wollte davon laufen, so weit weg wie nur möglich.

„Du bist groß, das gefällt mir.“ Er überragte sie nur um wenige Zentimeter. Sie erschauderte, als er sie im Genick packte. Anzheru zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Wieder konnte Mira sich nicht rühren.

„Nimm es mir nicht übel, ich muss etwas überprüfen.“ Er legte die andere Hand geradezu sanft in ihren Rücken und senkte die Lippen auf ihren Nacken. Seine messerscharfen Zähne konnte sie zum Glück nicht sehen, als er zubiss. Die Lähmung verursachte auch so genug Panik. Mira konnte keinen Laut von sich geben, als er zu trinken begann. Es war nicht so schmerzhaft wie befürchtet, aber es fühlte sich widerlich an, wenn er schluckte. Der Vampir trank weniger, als sie erwartet hatte. Nach nur vier Schlucken hörte er auf und leckte über die Wunde. Außerdem entließ Anzheru sie endlich aus seinem geistigen Griff. Mira tastete kurz nach ihrem Hals und fand keine Verletzung. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal Narben davon tragen, wenn er sie immer direkt heilte. Ihr gesamter Körper fühlte sich plötzlich seltsam taub an. Wie viel Blut brauchte ein Vampir eigentlich? Und wie oft?

„Du musst dich auf meinen Rhythmus einstellen, also nachts wach sein und tagsüber schlafen. In zwei Stunden geht die Sonne auf. Solange wirst du noch wach bleiben.“ Seine Stimme holte Mira aus ihren ausschweifenden Gedanken zurück.

„Ich bin überhaupt nicht müde“, erwiderte sie wie in Trance. „Auch gut.“ Anzheru zuckte mit den Schultern. Er legte eine Hand auf seinen Brustkorb und verzog das Gesicht. War ihm ihr Blut nicht bekommen? Ein schwacher Trost. Als er endlich gegangen war, zog Mira geistesabwesend den schwarzen Stein aus ihrer Hosentaschen und verstaute ihn in der Kommode. Er war wohl kaum von Nutzen. Sie legte sich zitternd ins Bett, konnte jedoch kaum die Augen schließen. Würde sein Biss genügen, damit sie sich jetzt in ein Monster verwandelte? Oder konnte dieser Vampir sich wirklich, solange er wollte, von ihr ernähren und sie würde ein Mensch bleiben?

Gegen Mittag war Mira doch vor Erschöpfung eingenickt. Anzheru weckte sie am frühen Abend, die Dämmerung war noch nicht vollständig vorüber. Sie rieb sich die brennenden Augen, während sie sich aufsetzte. Ganz so lichtempfindlich wie manche Filme es vermuten ließen, waren Vampire wohl doch nicht.

„Du schläfst nicht lange, oder?“, fragte Mira vorsichtig.

„Ich schlafe nie. Ich lebe bereits lange genug, um das nicht mehr zu müssen.“

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu, aber den ignorierte er. Der Vampir führte sie von dem kleinen Gästezimmer ins Erdgeschoss in einen gemütlich anmutenden Wohnraum mit offenem Kamin. Die Möblierung seiner Villa schien durchweg sehr spärlich zu sein. Mira hatte nur kurze Blicke in ein paar der anderen Zimmer erhaschen können, da Anzheru es wahnsinnig eilig hatte. Merkwürdig eigentlich, er hatte doch alle Zeit der Welt. Das prasselnde Feuer im Kamin war das erste im Haus, das Mira ein wenig aufmunterte. Davor lag ein dunkles Fell, das groß genug war, um von einem Bären zu stammen. Es gab sogar samtene, dunkelrote Polstermöbel und einen Fernseher, der irgendwie zu modern wirkte. Und endlich war es einmal warm. Mira hätte sich hier wohlfühlen können, wäre da nicht ein Vampir gewesen, der sich am anderen Ende des Raumes über ihre ausgebreiteten Sachen auf einem Esstisch beugte. Zu Miras Entsetzen öffnete er gerade ein reich verziertes Kästchen, in dem ein gebogenes Messer lag. Ausdruckslos wandte er sich mit der Klinge in der Hand zu ihr um. „Zieh dein Shirt aus. Am besten legst du dich auf den Bauch.“

Das glaubte er doch nicht wirklich? Mira sprintete in Richtung Tür, Anzheru bekam sie jedoch meilenweit vor der Schwelle mit seiner freien Hand zu fassen. Er schleifte sie am Gürtel zurück zum Kamin.

Das Mädchen kreischte wie am Spieß, dabei wusste sie gar nicht, was auf sie zukam. Anzheru zog ihr die Füße weg, sodass sie bäuchlings auf dem Bärenfell landete. Mira blieb die Luft weg, dennoch kroch sie ein paar Zentimeter vorwärts. Ein wenig entnervt kniete Anzheru sich auf sie. Sein Gewicht genügte endlich, um das Mädchen auf dem Boden zu fixieren. Er legte das Zeremonienmesser seiner Familie auf die steinerne Kante des Kamins, sodass die Klinge durch die Flammen gereinigt wurde. Danach machte er sich daran, das dünne Shirt Miras Rücken hinaufzuschieben.

„Nein!“, keuchte sie und versuchte schon wieder, nach ihm zu schlagen. Obwohl er unsterblich war, konnte Anzheru durchaus Schmerz empfinden. Aber Mira war beim besten Willen nicht dazu in der Lage, ihm ernsthaft weh zu tun. Es fühlte sich eher so an, als würde ein Kätzchen nach ihm schlagen, das seine Krallen noch nicht richtig benutzen konnte.

„Streck die Arme vor, sonst zerreiße ich es. Und du bekommst nichts von mir!“, drohte er ungeduldig. Das Fell erstickte ihre widerwilligen Laute nur zum Teil, doch Mira gehorchte. Anzheru legte ihr Shirt bei Seite, strich sorgfältig ihr Haar aus ihrem Nacken und nahm dann das Zeremonienmesser zur Hand. Er konnte fühlen, wie schnell das Herz des Mädchens raste. Ihre Lungen mussten schmerzen, so hastig und unregelmäßig wie sie atmete. Hatte sie nur Angst oder schämte sie sich etwa schon, nur weil sie im BH vor ihm auf dem Boden lag?

„Du musst still halten. Ich werde dir das Siegel meiner Familie geben. In meiner Welt ist dies leider unumgänglich für dich.“ Um sicher zu gehen, presste Anzheru die linke Hand in ihr Genick. Als er den ersten Schnitt unterhalb ihres Nackens setzte, schrie Mira schmerzerfüllt auf. Das Siegel würde nur den Durchmesser von drei seiner Fingerkuppen haben, aber für das Mädchen schien jeder einzelne Millimeter, den er durch ihre Haut schnitt, die Hölle zu sein.

Mira krallte die Finger so fest in das dunkle Fell, dass ihre Knöchel weiß hervor traten. Was wollte er ihr denn noch alles antun? Machte es ihm Spaß, sie zu quälen? Sie atmete erleichtert auf, als er ihr Genick losließ. Endlich war Anzheru fertig mit seinem verdammten Siegel.

„Ich werde nur die Blutung stoppen, damit eine deutliche Narbe entsteht. Mit diesem Siegel gehen wir einen Bund ein“, erklärte er ungerührt. „Es bedeutet, du gehörst allein mir. Kein anderer Vampir darf dich anrühren, geschweige denn dein Blut nehmen. Im Gegenzug werde ich dich beschützen.“ Sanft strich er über die frische Wunde. Mira spürte, dass ihr Blut versiegte. Doch Anzheru dachte offenbar nicht daran, endlich von ihr herunter zu gehen. Die kühlen Finger zogen ihre Wirbelsäule nach. Etwa beim neunten Wirbel hielt er inne. „Dieser hier ist ein wenig schief im Vergleich zu den anderen. Er war einmal verletzt, nicht wahr?“

Mira befreite ihr Gesicht aus dem Fell. „Ja.“

„Schränkt es dich in irgendeiner Form ein?“

„Nein“, würgte sie hervor.

„Wie ist das passiert?“, fragte Anzheru seelenruhig weiter.

„Es… war ein Unfall.“ Mira suchte fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung. Es ging den Vampir nichts an, dass sie nach einem Einkauf auf der Straße schwer verletzt worden war. Die Erinnerung an Esters Vorwürfe war schon schlimm genug. Sie spürte, dass Anzheru das Gewicht nach vorn verlagerte. „Versuch erst gar nicht, mich anzulügen. Dein Herzschlag verrät dich.“

Was er sonst mit ihr anstellen würde, wollte sie sich gar nicht vorstellen. Mira wand sich widerwillig am Boden, woraufhin Anzheru die Knie fester gegen ihren Rumpf drückte. Seine Körpertemperatur kam ihr gar nicht mehr so niedrig vor wie am vergangenen Morgen. Sank ihre Eigene etwa schon, weil er von ihr getrunken hatte? Langsam schien Anzheru die Geduld zu verlieren. Er lehnte sich so weit vor, dass sie seinen Atem im Nacken spüren konnte. „Ich höre. Oder ist etwa schon eine erste Lektion in Gehorsam fällig?“

Mira schluckte schwer gegen den Kloß in ihrem Hals an. Niemandem hatte sie jemals von dieser Sache erzählt. So kurz gefasst wie möglich berichtete sie von der Straßenbande, die der Polizei sogar schon bekannt dafür gewesen war, ihre Opfer mit Brecheisen anzugreifen.

„Hast du es gesehen? Das Brecheisen meine ich.“

„Nein, es ging alles viel zu schnell. Warum ist das denn wichtig?“ Mira drückte ihr Gesicht in das Fell unter ihr. Anzheru erhob sich plötzlich. Sofort schnappte sie sich, so schnell sie konnte, ihr Shirt und zog es wieder an.

„Schon gut. Vergiss die Frage.“ Anzheru wischte das Messer in einem Tuch ab und ging hinüber zum Tisch, während Mira sich auf die Füße kämpfte.

Er verstaute das Zeremonienmesser in seinem Kästchen. Als Anzheru sich wieder umwandte, starrte das Mädchen ihn wütend an. Offenbar reagierten auch Menschen ziemlich gereizt darauf, wenn man ihnen Schmerzen zufügte. Selbst wenn es einen guten Grund dafür gab. Nebenbei musterte er sie von oben bis unten. „Ich werde bald verreisen. Bis dahin sollten wir uns noch um deine Garderobe kümmern. Wenn ich Besuch habe, kann ich dich wohl kaum so präsentieren.“

„Präsentieren?“ Sie gab sich absolut keine Mühe, ihren Zorn zu verbergen. „Wem?“

„Ein anderes Clan-Oberhaupt wird mich nächsten Monat besuchen. Wir haben etwas… Diplomatisches zu besprechen und nebenbei wird er neugierig sein.“

Auf einen fragenden Blick schob Anzheru die Hände in die Taschen seiner Hose. „Ich bin nicht gerade bekannt dafür, mir Sterbliche nach Hause zu holen. Es wird sich herumsprechen und er wird wissen wollen, was mich in deinem Fall umgestimmt hat. Abgesehen davon, dass dein Blut besser riecht als das der meisten Menschen, bist du schön. Das macht die Sache leicht.“ Das war längst nicht die ganze Wahrheit, aber es musste genügen. Mira errötete ein klein wenig. Und offenbar nicht nur vor Zorn. „Und dieses Siegel verhindert, dass er mich massakriert?“

Er nickte. „Es gibt ein paar Gesetze, an die wir uns alle halten müssen.“

Anzheru verzog das Gesicht. „Das explizite Gesetz, dass man die Menschen eines anderen Vampirs nicht anrühren darf, stammt aus einer wesentlich unzivilisierteren Zeit. Ich halte das für selbstverständlich.“

„Die Ansicht, dass man Menschen besitzen kann wie einen Sack Getreide, ist wohl auch schon ziemlich alt!“ Mira verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. Er zuckte mit den Schultern. „Das ändert sich unter uns Vampiren nie. Du wirst einsehen, dass es seine Vorteile hat, nur einem von uns zu gehören. Ansonsten ergeben sich nämlich Situationen wie neulich in deinem Hotelzimmer.“

„Und wann darf ich nach Hause?“ Mira war bewusst, wie überflüssig diese Frage war. Anzheru reagierte wider Erwarten jedoch nicht ungeduldig.

„Da bist du jetzt“, sagte er in einem erstaunlich sanften Tonfall. „Und du kannst mir glauben, dass du wesentlich mehr wert bist als ein Sack Getreide. Du…“

Ein elektronisches Pling unterbrach ihn. Anzheru klappte einen angeschalteten Laptop auf dem Tisch auf, der zum Glück sein eigener war. Miras Notebook lag mit ihren übrigen Sachen daneben. Nach einem kurzen Augenblick wandte er sich ihr wieder zu. „Ich habe einen Freund gebeten herzukommen. Er braucht noch bis morgen Abend.“

Anzheru bedeutete Mira wieder, ihm zu folgen. In seiner Villa gab es tatsächlich eine Küche, wofür auch immer er eine brauchte. Massive Holzschränke und eine offene Feuerstelle in der Mitte des Raumes bildeten einen harten Kontrast zu einem leise surrenden Kühlschrank und einer Mikrowelle.

„Du musst essen. Sieh dich um.“ Der Vampir lehnte sich in den Türrahmen. Mira schaute skeptisch in die Schränke hinein. Anzheru besaß außer einem schier unerschöpflichen Teevorrat immerhin eine Packung Salz, etwas Reis und einiges an Trockenfleisch. Es schmeckte fürchterlich, aber es half gegen ihren knurrenden Magen. Nachdem sie unter Anzherus Aufsicht etwas von dem gegarten Fleisch herunter gewürgt hatte, das seinem Namen alle Ehre machte, verschwand Mira kurz nach oben ins Bad. Sie musste ihr Shirt nicht ausziehen. Es genügte, den Kragen nach hinten zu schieben, damit sie das Siegel im Spiegel sehen konnte. Blutrot schimmerte ein abstraktes Auge in ihrer Haut. Über der linken Seite fand sich eine Art Flamme. Obwohl sie schon oft in sehr alten Büchern geblättert hatte, kannte Mira dieses Symbol nicht. Was auch immer es darstellen sollte, ihr wurde einen Augenblick schlecht. Dieses Zeichen bedeutete, dass sie nun Anzheru gehörte. Wie ein Stück Vieh, dem man ein Brandzeichen verpasst hatte. Auch wenn es sie angeblich vor anderen Vampiren schützte, weinte Mira ein paar stumme Tränen. Hoffentlich konnte er sie nicht hören. Erst als Anzheru nach ihr rief, verließ sie das Bad und ging langsam wieder nach unten. Seine Stimme schien aus dem Raum gegenüber dem Kaminzimmer zu kommen. Hastig trocknete Mira ihre Wangen mit ihren Ärmeln und öffnete die Tür, die einen Spalt breit offen stand. Dieser Raum war tatsächlich eine Bibliothek! Sie empfand ein wenig Trost, als sie die zahlreichen Lederbände und auch modernere Bücher erblickte. Die Bibliothek ihrer Uni war ihr absoluter Lieblingsort. Endlich gab es irgendetwas Vertrautes in diesem Haus. Anzheru stand vor einem der Regale und suchte etwas. Er wandte sich kurz zu ihr um, als Mira den Raum betrat. „Wir werden den Tag nutzen müssen, um dir genug zum Anziehen zu besorgen. Bis dahin findest du mich hier.“

Das Mädchen schien ihm gar nicht zuzuhören. Sie ging an den Bücherregalen entlang und berührte ein paar der eingestaubten Bände geradezu ehrfürchtig.

„Interessierst du dich etwa für alte Bücher?“ Es war nicht das, was Anzheru von modernen, sterblichen Frauen gehört hatte. Mira warf ihm einen glückseligen Blick zu. „Ja. Ich liebe Bücher. Egal wie alt sie sind.“

Es war das erste Mal, dass sie ihn weder zornig noch ängstlich ansah. Anzheru schöpfte ein wenig Hoffnung, dass sie ihn noch nicht endgültig abgrundtief hasste. Behutsam folgte er ihr in einigem Abstand, bis Mira vor dem Regal stehenblieb, in dem er einige aramäische und lateinische Schriften aufbewahrte.

„Wow. Wie alt sind die hier?“

„Älter als ich.“

Mira gluckste. Ihr Sarkasmus störte, aber an dieses Geräusch hingegen könnte Anzheru sich gewöhnen.

„Wie alt bist du denn?“, fragte sie erstaunlich unbefangen.

„Ich dachte immer, darüber sprechen Menschen nicht gern“, antwortete er ausweichend. Mira zuckte die Achseln und schlug einen phönizischen Geschichtsband aus dem nächsten Regal auf. „Ich bin zweiundzwanzig, falls du das wissen möchtest.“

Im Vergleich zu seinem Alter war das tatsächlich wenig, aber es deckte sich mit dem, was Anzheru bei ihrer ersten Begegnung geschätzt hatte.

„Ich wünschte, ich könnte das lesen“, sagte sie gedankenverloren.

„Da drüben stehen ein paar englische Bücher“, merkte er an.

„Französisch?“ Ihre Augen leuchteten hoffnungsvoll auf.

„Ja, dort hinten.“ Er wies an die Wand gegenüber der Tür. „Ist das deine Muttersprache?“

Mira nickte und schwebte in die Richtung, in die er sie gewiesen hatte. Sie suchte sich etwas heraus und hockte sich direkt auf den Boden vor dem deckenhohen Regal, statt sich an den großen Lesetisch zu setzen. Im Stillen war Anzheru froh, dass Mira sich selbstständig beschäftigen konnte. Vermutlich lenkte es sie von ihrem Schmerz und ihrer Wut ab. Vorerst zumindest. Er selbst widmete sich wieder einem der Bände von Gregor Senorus, dem Vampir, der vor vielen Jahrhunderten die Blutarten der Menschen beschrieben hatte. Das, was die Sterblichen mittlerweile unter Blutgruppen verstanden, war nur ein Teil davon. Nach ein paar Stunden hörte er ein dumpfes Geräusch. Mira war das Buch aus den Händen geglitten und ihr Kopf war nach links gegen das Regal gesunken. Ihr ruhiger und gleichmäßiger Atem bestätigte Anzheru, dass sie schlief.

Subordination

Mira erwachte bei Tageslicht. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Offenbar lag sie auf der Rückbank eines fahrenden Autos. Anzheru saß am Steuer, sein Profil war auch von schräg hinten nicht zu verkennen. Leichter Nieselregen sammelte sich auf den Scheiben. Mira sah dahinter nur dichten Wald, der hin und wieder durch kleine Lichtungen unterbrochen war.

„Wo fahren wir hin?“, fragte sie gerade heraus.

„Nach Oslo. Dort finden wir sicher Kleidung für dich.“

„Und das Tageslicht?“

„Das macht nichts. Es soll den ganzen Tag regnen.“

Mira hatte irrwitzigerweise einen Augenblick gehofft, dass die Sonne diesen besitzergreifenden Vampir pulverisieren würde. Aber dieses Risiko würde er wohl kaum eingehen, um T-Shirts für sie einzukaufen. So viele Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Wo sollte sie bloß anfangen? Mira beschloss, lieber nicht mit der aller wichtigsten anzufangen. Sie wollte behutsam testen, wie viel Anzheru freiwillig preisgab.

„Holen Vampire sich öfter Menschen als… Vorrätige Nahrungsquelle nach Hause?“

Anzheru antwortete erst nach einem kurzen Zögern. „Manche von uns tun das oft, ja. Vampire meines Clans manchmal auch. Es kann durchaus passieren, dass du auf unserem Gelände auch Menschen antriffst.“

Mira erschauderte. Offenbar bemerkte er das.

„Keine Sorge, du musst dir nicht mit ansehen, was mit ihnen geschieht.“

„Wie gütig.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Werden sie auch zu Vampiren, wenn ihr sie aussaugt?“

„Nein.“ Anzheru schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Eine Verwandlung ist wesentlich aufwendiger. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie viele wir sonst schon wären.“

Das beruhigte Mira tatsächlich ein wenig. Von den paar Schlucken, die er getrunken hatte, würde sie wenigsten nicht zum Monster werden.

„Und… Wie lange…“ Sie musste schwer gegen den Kloß in ihrem Hals ankämpfen. „Willst du mich behalten, bis du…“ -mich tötest- brachte sie nicht heraus. Anzheru schien ihre Gedanken zu erraten. „Ich habe nicht die Absicht, dich zu töten, Mira. Sei jetzt still.“

Sie parkten in einem der Parkhäuser mitten in der City. Anzheru holte eine kleine Dose aus dem Handschuhfach. Darin lagen dunkle Kontaktlinsen. Mira sah ihn verwundert an, während er sie einsetzte.

„Mir ist durchaus bewusst, welche Wirkung meine Augen auf Sterbliche haben. Wir achten darauf, nicht zu sehr aufzufallen.“

Damit meinte Anzheru wohl alle Vampire. Außerdem gab er sich sichtlich Mühe, sich so langsam wie ein Mensch zu bewegen. Mira wurde schwindlig bei dem Gedanken, mit ihm bummeln zu gehen. Es war so grotesk normal. Benommen ging sie hinter dem Vampir her.

„Möchtest du zuerst etwas essen?“, fragte er. Mira nickte stumm. Sie verließen gerade das Parkhaus.

„Dann hör erst einmal auf, die Fäuste zu ballen. Du wirkst ziemlich verkrampft.“

Das würde sich so schnell nicht ändern. Missmutig verschränkte Mira stattdessen die Arme vor der Brust. Anzheru atmete hörbar aus, als er stehen blieb. Offenbar strapazierte sie bereits jetzt seine Geduld. Sanft aber bestimmt zog der Vampir ihre Arme auseinander. „Solange wir hier in der Stadt sind, wirst du dich vollkommen normal verhalten und mich weder wütend noch abweisend ansehen. Hast du das verstanden?“

„Soll ich etwa so tun, als wärst du mein Freund?“, erwiderte Mira sarkastisch.

„Das ist ein akzeptabler Vorschlag. Ein Paar beim Einkauf ist eine gute Tarnung.“ Der leicht gereizte Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Anzheru legte den linken Arm um ihre Taille und lehnte sich so weit vor, dass er ihr direkt ins Ohr flüstern konnte. „Du wirst nicht einmal daran denken, wegzulaufen. Schließlich willst du doch nicht, dass ich ein Blutbad unter den Menschen anrichte, die dann sehen, wie ich dich wieder einfange.“

Da hatte er allerdings Recht. Mira atmete durch, um sich zu beruhigen. Neben seiner Drohung machte ihr auch seine körperliche Nähe zu schaffen.

„Was sonst?“, wisperte sie, um noch nicht klein bei zu geben. Anzheru überlegte kurz. „Die Strafe, die ein Vampir für Ungehorsam erhält, würdest du nicht überleben. Also werde ich mir stattdessen irgendeine Demütigung ausdenken, die dich zur Vernunft bringt.“ Er umfasste ihre Hand wie eine Eisenfessel. „Und gib dir ein bisschen Mühe beim Schauspielern. Soweit ich es beurteilen kann, gehen menschliche Frauen gerne einkaufen.“

„Ich nicht.“

Der Vampir ignorierte ihren Einwand, was wohl zur Gewohnheit wurde. In einem Café bekam Mira ein sehr reichhaltiges Frühstück, während er eine Tasse Kaffee verkommen ließ. Dann ging es weiter in die Einkaufsmeile von Oslo. Dafür dass Anzheru selbst keine menschlichen Bedürfnisse hatte, dachte er wirklich an alles, sogar Socken. Eine gewisse Fürsorglichkeit konnte Mira ihm daher leider nicht absprechen. In der Abteilung für Unterwäsche versuchte sie verzweifelt, Anzheru wegzuschicken. „Ich komme schon allein zurecht. Oder sind hier etwa irgendwo Vampire, die mich angreifen könnten?“

„Nein, das nicht“, gab er ungerührt zurück. „Aber wenn ich mit aussuche, kommen wir schneller voran.“

Dass Mira am liebsten im Erdboden versunken wäre, während er ihr einen Bügel nach dem anderen reichte, interessierte ihn nicht. In dieser Angelegenheit war der Vampir völlig schmerzfrei. Wenigstens bestand Anzheru nicht auch noch darauf, dass sie ihm die Dessous an sich zeigte. Dieses kleine bisschen Distanz ließ er ihr, ohne dass sie darum betteln musste. Nachdem sie die Unterwäscheabteilung hinter sich gelassen hatten, entspannte Mira sich wieder ein wenig. Hier unter all den Menschen tat Anzheru nichts Schlimmeres, als sie an der Hand weiter zu ziehen. Nebenbei schien Geld für ihn keine Rolle zu spielen. Mira befürchtete, dass sie an diesem einen Tag mehr einkaufen würden, als sie selbst überhaupt besaß. Wobei das auch nicht schwierig war, ihre eigene Garderobe in Brüssel füllte kaum zwei Waschmaschinen. Er reichte ihr gerade einen Pullover in die Umkleidekabine, der die Dicke eines Schaffells hatte. „Mir fehlt das Empfinden dafür, wann die Kälte in meinem Haus für dich unangenehm wird. Brauchst du so etwas?“

Mira nickte eifrig. Seit zwei Nächten fror sie jämmerlich in den Räumen der Villa, sie hatte jedoch nicht ein Wort darüber verloren, um ein kleines bisschen Stolz zu wahren. Sie streifte den Wollpullover über und zupfte ihn zurecht. Anzheru musterte sie zufrieden.

„Gut, damit wirst du wohl eine Weile hinkommen. Wir bringen das jetzt zum Auto.“ Er wies nachlässig auf die Einkaufstüten. „Es fehlen nur noch ein paar Kleider.“

Mira schluckte. „Wozu das denn?“

„Glaubst du ernsthaft, du darfst in Jeans und Pullover herumlaufen, wenn ich hohen Besuch erwarte?“, fragte er, als ob die Antwort ganz offensichtlich auf der Hand läge. Kühle Finger schlossen sich um Miras Hand. Wie immer wenn sie von Geschäft zu Geschäft gegangen waren. Während sie zum Parkhaus zurückgingen, überlegte sie fieberhaft, wie sie ihn davon abbringen konnte. Es gab nichts, worin Mira sich so unwohl fühlte wie in Kleidern. Sein schwarzes Auto kam viel zu schnell näher. Zufällig fiel ihr Blick auf das Emblem der Automarke, als sie vor dem Kofferraum standen. Vier Ringe griffen auf gerader Linie ineinander.

„Das ist ein Audi, oder?“, fragte sie gedankenverloren.

„Richtig.“ Anzheru verstaute die Taschen, als wäre es das Normalste der Welt, dass ein Vampir eine Sterbliche einkleidete.

„Sind Autos auch unter Vampiren Statussymbole?“ Es war ein plumper Versuch, Zeit zu schinden, aber Anzheru ging auf die Frage ein.

„Nein, ich habe diesen Wagen, weil er sich gut fährt, nicht weil deutsche Autos weltweit beliebt sind.“

„Ihre Autos, ja“, sagte Mira trocken. Anzheru schloss den Kofferraum ab und wollte sich offensichtlich wieder auf den Weg machen. Sie blieb jedoch stehen und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden.

„Feindseligkeiten unter Nationalitäten spielen unter uns ebenfalls keine große Rolle. Ab seiner Verwandlung zählt für einen Vampir nur noch, welchem Clan er angehört. Selbst wenn es sich um Franzosen und Deutsche oder Nord- und Südkoreaner handelt. Komm jetzt.“

„Schmeckt Blut immer gleich? Egal woher ein Mensch kommt?“ Sie senkte die Stimme ein wenig, da sich ihnen zwei plaudernde Frauen mit ihren Taschen näherten.

„Nein, es hängt ein wenig von der Ernährung ab.“ Anzherus Augen wurden schmaler.

„Was darf ich denn nicht essen, damit du mein Blut nicht eklig findest?“

Der Vampir verzog keine Miene. „Versuch nicht, mich mit so einem Unsinn zu überlisten.“

Mira zuckte mit den Schultern. Einen Versuch war es ihr wert gewesen, auch wenn er sie sofort durchschaut hatte. In der Gewalt eines Vampirs griff man eben nach jedem Strohhalm. Mit einem entnervten Schnauben wollte Anzheru wieder ihre Hand nehmen, doch sie entfernte sich schnell genug aus seiner Reichweite und verschränkte die Finger hinter dem Rücken. Das war unklug gewesen, denn er legte beide Arme um sie und zog ihre Finger wieder auseinander. „Du schaffst das sowieso nicht. Mach dir keine Hoffnungen, dass irgendein Vampir dir widerstehen könnte, wenn du nur zur freien Verfügung stehen würdest.“

Etwas Ähnliches hatte der Vampir vor ihrer Hotelzimmertür auch gesagt. Mira fragte, woran das lag.

„Das erkläre ich dir ein anderes Mal. Wir müssen jetzt weiter, ich will heute Abend zurück sein.“

„Ich hasse Kleider.“ Etwas Besseres war ihr nicht eingefallen.

„Das kümmert mich nicht.“ Mit diesen Worten zerrte er sie aus dem Parkhaus hinaus.

Das Geschäft, das er ausgesucht hatte, führte alles von Trachten bis hin zu modernen Abendkleidern in jeder erdenklichen Länge und Farbe. Anzheru bat eine der Verkäuferinnen, eine Vorauswahl zu treffen. Mira streifte auch selbst ein wenig durch die unzähligen Gänge voller Designerroben. Das Geschäft war gut besucht. Eine ganze Gruppe bildhübscher Norwegerinnen schien auf der Suche nach Brautjungfernkleidern zu sein. Andere schleiften ihre gestresst wirkenden Männer über die Etagen des Hauses. Mira musste schmunzeln, als sie einen Mann entdeckte, der neben einer der zahlreichen Umkleidekabinen eingenickt war. Sie betrat einen Gang, in dem auch Kleider in ihrem Lieblingsblauton hingen. Als sie mit Bedauern feststellte, dass diese zu kurz waren, lief ihr plötzlich ein eiskalter Schauer über den Rücken. Mira wandte den Blick nach links. Ein Mann stand am Ende des Ganges und starrte sie durchdringend an. Er war klein und hager, aber mit Sicherheit wahnsinnig stark. Mit Entsetzen sah Mira, dass sich seine Augen blau färbten. Und sie konnte sich nicht rühren. An diesem Vampir war etwas zutiefst Beängstigendes. Er würde sie angreifen, egal wie viele Menschen sie umgaben. Ganz langsam bewegte er sich auf sie zu. Endlich legte sich ein vertrauter Arm von hinten um ihre Taille. Mira konnte Anzherus Gesicht nicht sehen, doch die Drohung darin war spürbar. Er schob die Schulter wie einen Schild vor sie. Der hagere Vampir, dessen Adern unter seiner Haut durchschimmerten, machte sichtlich erbost ein paar Schritte rückwärts und wandte sich ab. Anzheru verharrte noch in dieser Haltung, bis der fremde Vampir aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Mira atmete tief durch, als sein Arm sich nicht mehr ganz so fest um ihre Taille schlang. Er schien seinen Teil des Bundes, den er ihr aufgezwungen hatte, sehr ernst zu nehmen. Zitternd wandte Mira sich um und klammerte sich in seine Jacke.

„Keine Sorge, er hat das Gebäude verlassen“, sagte Anzheru ruhig.

„Ich ziehe deines Gleichen wirklich an wie das Licht die Motten. Sechs Vampire in drei Tagen sind mir definitiv zu viele. Oder war das wieder einer aus dem Hotel?“

„Nein, James und die anderen haben Oslo verlassen.“

Mira legte den Kopf ein wenig zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen. „Warum bist du dir da so sicher?“

„Ich habe meine Augen und Ohren überall.“ Er hielt sie noch immer im Arm. Dieses Mal wehrte sie sich nicht dagegen. So groß die Angst auch war, dass er sie wieder beißen würde oder was auch immer Anzheru von ihr wollte, im Augenblick beschützte er sie. Vielleicht war Mira nicht an den allerschlimmsten Vampir geraten. Kleider anzuprobieren war nach diesem Erlebnis gar nicht mehr so schlimm. Sie spielte brav mit, obwohl einige der Kleider viel zu kurz für ihren Geschmack waren. Manche der Frauen, die vorbei gingen, musterten Anzheru und dann Mira mit unverhohlenem Neid. Sie schienen überzeugt, dass der gutaussehende, rothaarige Mann tatsächlich ihr Freund oder sogar noch mehr war. Es machte die Situation nur grotesker. Anzheru selbst schien sich seiner Anziehungskraft nicht bewusst zu sein. Zumindest schenkte er den interessierten Blicken keine Beachtung. Er suchte vier Kleider aus, darunter ein Blaues -in Miras Lieblingsblau- und sie machten sich endlich auf den Rückweg, jedoch nicht ohne noch einige Lebensmittel für die folgenden Tage mitzunehmen. Mira war ziemlich erschöpft, doch an Schlaf war noch nicht zu denken.

„Also warum finden mich die Vampire plötzlich alle so anziehend? Zu Hause in Brüssel ist mir das nie passiert.“ Und bestimmt gab es Vampire in Belgien. Anzheru antwortete eine ganze Weile nicht.

„Es gibt Menschen, die eine besondere… Gabe besitzen. Wie sie zu Stande kommt, wissen wir nicht genau, aber in dir ist sie jetzt erwacht. Genauer gesagt an dem Nachmittag bevor ich dich gefunden habe.“ Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Es scheint zufällig zu sein, in welchem Alter die Gabe erwacht. Der Jüngste, von dem ich weiß, war gerade einmal sieben.“

Mira erschauderte bei der Vorstellung, dass eine Horde hungriger Vampire über einen kleinen Jungen herfiel. „Und worin besteht diese Gabe?“

„Zu wärmen.“

Ihr verständnisloser Blick brachte Anzheru zum Schmunzeln. „Normalerweise kühlt Menschenblut im Körper eines Vampirs sehr schnell ab.“

„Aber meins nicht?“

„Genau. Um ehrlich zu sein, war ich sehr überrascht, wie anders sich das anfühlt. Es ist das erste Mal, dass ich von einem solchen Menschen getrunken habe.“

Er hatte gehustet und sich den Brustkorb gehalten. Ein seltsamer Satz schwirrte Mira durch den Kopf. „Das meintest du mit Ich muss etwas überprüfen?“

Anzheru nickte. Auch wenn es im ersten Moment wohl unangenehm gewesen war, musste die Wärme den Vampir faszinieren. Das verrieten sein Tonfall und seine Mimik. Also hatte Mira sich doch nicht eingebildet, dass er sich weniger kalt angefühlt hatte, als er am Vorabend auf ihrem Rücken gesessen hatte. Sie senkte den Blick auf das Armaturenbrett. „Wenn mein Blut für dich so großartig ist, wie kommt es dann, dass du dich beherrschen kannst?“

„Ich sagte doch, ich habe nicht die Absicht, dich zu töten“, erwiderte er abweisend. Mira schwieg eine Weile. Diese Antwort gab keinen Aufschluss über Anzherus Motive, aber offenbar wollte er das nicht erklären. Es gab noch etwas anderes, das sie brennend interessierte. „Wieso kann ich mich nicht bewegen, wenn ein Vampir mich anstarrt?“

„Du musst ihm schon in die Augen sehen, sonst funktioniert es nicht. Wir sind in der Lage, einen Menschen zu lähmen oder sogar ganz außer Gefecht zu setzen, wie du weißt. Ein etwas überflüssiger Vorteil bei der Jagd, aber recht nützlich, wenn man störrische Mädchen zum Schutz in Gewahrsam nimmt.“

Mira verzog das Gesicht. „Und das können alle?“

„Ja, weibliche Vampire sind darin sogar noch wesentlich talentierter. Sie bekommen von Menschen so ziemlich alles, was sie wollen.“ Diese Bemerkung klang ein wenig nach Bedauern.

„Nur von Menschen?“, bohrte Mira nach. Anzheru warf ihr einen warnenden Blick zu. „Vielleicht gibt es ein paar Vampirinnen, die mächtig genug sind, um ihres Gleichen zu beeinflussen.“

„Dich auch?“ Aus allem, was sie bisher gesehen hatte, schloss Mira, dass Anzheru ein sehr mächtiger Vampir war. Die Vorstellung, dass ihn ein zartes, elfenhaftes Mädchen mit eisblauen Augen nach Lust und Laune um den Finger wickeln konnte, war recht amüsant.

„Ich hatte vor, dir zu erlauben, dich frei im Haus zu bewegen, solange ich verreist bin. Möchtest du lieber auf den Dachboden gesperrt werden?“

„Also ja.“ Mira unterdrückte ein Lachen. Eine winzige Schwäche gefunden zu haben, war ihr seinen Zorn wert.

„Überspann den Bogen nicht“, warnte Anzheru sie mit einem sachten Kopfschütteln.

„Woher soll ich wissen, wo die Grenzen deiner Geduld sind, wenn ich sie nicht ausreize?“, gab sie ironisch zurück. Der Vampir schwieg daraufhin. Als Mira langsam die Augen zufielen, machte sie sich allerdings keine großen Sorgen, auf dem finsteren Dachboden aufzuwachen.

Später wachte Mira davon auf, dass der Wagen hielt. Sie standen vor einem schmiedeeisernen Tor. Anzheru stieg aus und unterhielt sich leise mit zwei Frauen, die offenbar Wache standen. Er nickte, dann kehrte er zum Wagen zurück. Im Vorbeifahren bemerkte Mira, dass die beiden Wachen sie teils neugierig teils argwöhnisch auf dem Beifahrersitz musterten. Anzheru hatte wohl nicht gelogen, als er gesagt hatte, er habe zuvor nie Menschen-Mädchen hergebracht. Mira hatte nun zum ersten Mal die Gelegenheit, sich auf dem Gelände des Clans umzusehen. Im Zentrum lag ein großes Gebäude. Es hatte keine Burgzinnen oder ähnliches und trotzdem mutete es wie eine Festung an. Zu beiden Seiten schlossen sich wesentlich kleinere Häuser an. Einige Autos waren davor geparkt. Anzheru stellte den Audi neben einem der riesigen Jeeps ab.

„Du wartest“, sagte er knapp, bevor er wieder ausstieg. Mira hatte zwar noch keine Anstalten gemacht, sich abzuschnallen, aber damit stand es fest. Seinem Clan wollte er sie nicht präsentieren. Während Anzheru im Hauptquartier seines Clans beschäftigt war, hatte Mira Zeit nachzudenken. Was konnte dieser Vampir noch von ihr wollen außer ihrem Blut? Irgendeinen Grund musste es geben, sonst wäre sie längst nicht mehr am Leben. Mira fröstelte. Wenn er ihr nicht mehr verriet, vielleicht gab es Hinweise in seinen Büchern? Wonach musste sie suchen? Anzheru kam zurück. Der Weg zu seiner Villa war weiter als erwartet. Warum er wohl die Nähe seiner Vampire mied? Er half Mira, die Einkaufstüten nach oben ins Gästezimmer zu bringen.

„Dusch dich ab und zieh dich um, mein alter Freund wird bald eintreffen“, sagte Anzheru im mittlerweile gewohnten Befehlston.