Tageswandler 4: Shaun - Al Rey - E-Book

Tageswandler 4: Shaun E-Book

Al Rey

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Beschreibung

Unsterbliche zu jagen ist ein einträgliches Geschäft für Shaun. Er wurde für diesen Job mit den Stärken seiner Gegner ausgestattet, hat als Hybrid aber keine ihrer Schwächen. Wenn alles vorbei ist, wird er in sein normales Leben zurückkehren. So ist jedenfalls der Plan, bevor er auf die Vampire Mira und Anzheru stößt. Sie und alle ihre Verbündeten sind weit mehr, als es zu Beginn den Anschein hat... bereits erschienen: Band 1 Mira, Band 2 Anzheru, Band 3 Letizia, Band 5 Gigi und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 6 Igor und Band 7 Yero

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Inhaltsverzeichnis

Tageswandler 4

Über die Autorin

Widmung

Prolog

Erkenntnis

Vampirin

Chip

Flucht

Irrtum

Wahrheit

Scharfschütze

Eskalation

Subjekte

Begabte

Hacker

Benjamin

Hund

Schneeeule

Heilerin

Entscheidungen

Igor

Impressum

Tageswandler 4

~Shaun~

Von Al Rey

Über die Autorin

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.

Kontakt:

al-rey.jimdofree.com

[email protected]

Widmung

Für Jule

Prolog

Der Überwachungsmonitor flimmerte heftig. Shaun überlegte ernsthaft, ob es nicht sinnvoller war, selbst über den Flughafen zu marschieren. Schließlich war kaum etwas zu erkennen. Neben ihm drehte Hugh sich nun schon die dritte Zigarette, seit sie mit Keith ihre Schicht begonnen hatten. Ein sicheres Zeichen dafür, dass auch er langsam die Geduld verlor. Irgendwo im Vereinigten Königreich vermutete ihr Auftraggeber ihre Feinde. Die drei Söldner und noch ein zweites Team warteten jetzt schon seit über drei Wochen auf dem Flughafen London Heathrow auf einen ersten Hinweis.

„Vielleicht fliegen sie gar nicht mit öffentlichen Linien“, murmelte Hugh mit der Zigarette im Mundwinkel und durchsuchte seine Taschen nach seinem Feuerzeug.

„Du weißt, wie egal diese Vermutung dem General ist“, blockte Shaun die Diskussion sofort ab. Befehl war Befehl.

„Shaun!“, meldete sich ihr dritter Kamerad über Funk, der gerade eigenmächtig einen Rundgang machte. „Da sind gerade zwei Subjekte aus Italien eingetroffen. Sie wollen weiter nach Schottland.“

Shaun suchte unter den zahllosen Videoübertragungen nach der einen, die das Gate für den entsprechenden Flug zeigte. Als er sie gefunden hatte, betrachtete er den überschaubaren Menschenstrom einen Augenblick, dann griff er zum Funkgerät. „Geht das etwas genauer, Keith? Wen meinst du?“

„Einen Mann und eine schwangere Frau. Ihn kannst du nicht übersehen, der ist ziemlich groß.“

Shaun entdeckte das Paar, das Hand in Hand über den Gang lief. Ihr gewölbter Bauch war ebenfalls unübersehbar.

„Bist du nah genug dran für den Scanner?“, fragte er ins Funkgerät hinein.

„Gib mir noch ein paar Sekunden“, gab Keith zurück. Einen Moment später meldete er sich wieder. „Also entweder haben sie beide ordentlich Fieber, oder es ist normal, dass ihre Temperatur bei 38 Grad liegt.“

„Gestaltwandler also.“ Shaun griff sich seine bereitliegende Ausrüstung. Hugh drückte zuvor noch seine Zigarette aus. „Dass die beiden keine Vampire sind, hätte ich dir gleich sagen können. Zu gesunde Gesichtsfarbe.“

Shaun schnaubte nur und sie machten sich auf den Weg. Am Eingang der Wartehalle trafen sie auf Keith. Shaun näherte sich dem verdächtigen Paar von vorn, Hugh und Keith machten einen großen Bogen, um ihnen die Fluchtwege abzuschneiden.

„Guten Tag. Würden Sie mir bitte folgen“, forderte er die beiden Gestaltwandler unmissverständlich auf, als er sie erreichte. Sie blieben ruhig sitzen und musterten ihn eindringlich.

„Was ist denn, Officer?“, fragte die Schwangere freundlich. Ihrem Gesicht nach war sie Anfang zwanzig. Shaun vermutete jedoch, dass sie schon wesentlich älter war.

„Ihr Gepäck ist bei der Kontrolle aufgefallen. Bestimmt nichts Ernstes, aber Sie wissen ja… die Vorschriften.“

„Außer dieser Tasche haben wir kein Gepäck“, erwiderte der kräftig gebaute Mann und wies auf die kleine Reisetasche zu seinen Füßen. „Sie müssen uns verwechseln.“

Shauns Miene wurde eisern. „Ihr zwei steht jetzt auf und folgt mir. Sonst seid ihr nämlich gleich zwei tote Terroristen. Und das ist immer noch wesentlich glaubwürdiger, als dass ihr euch in Tiere verwandeln könnt.“

„Wer bist du?“, knurrte der Gestaltwandler bedrohlich leise, doch die schwangere Frau legte ihm eine Hand auf den Arm. „Bitte, Marcus. Nicht hier unter hunderten von Menschen.“

Wenige Minuten später erreichten sie den Verhörraum, den ihnen die Flughafenpolizei für solche Fälle überließ. Keith und Hugh hatten zu ihnen aufgeschlossen und bewachten die beiden, während Shaun noch kurz in ihr Büro verschwand, um zu telefonieren. Die Nummer ihres Bosses war auf der ersten Kurzwahltaste eingespeichert.

„Ich hoffe, es ist wichtig“, meldete sich seine kratzige Stimme.

„Wir haben zwei Subjekte am Londoner Flughafen, General.“ Shaun wunderte sich im Stillen immer noch darüber, dass sein Boss darauf bestand, mit seinem militärischen Rang angesprochen zu werden. Schließlich war er seit Jahren nicht mehr im Dienst der Armee. Näheres über seine Entlassung wusste allerdings niemand.

„Und?“, fragte der General ungeduldig.

„Eins davon ist schwanger.“

Einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Shaun begann, mit den Fingerspitzen auf dem Rand eines Monitors zu trommeln.

„Das könnte höchst interessant sein. Bringt sie her. Das hat ab jetzt oberste Priorität!“ Der General legte ohne ein weiteres Wort auf. Shaun straffte die Schultern und marschierte in den Verhörraum hinüber. Die beiden Gestaltwandler fühlten sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Weder hatten sie Platz genommen, noch hatte der große Mann mit den dunklen Haaren die Reisetasche abgestellt. Es fehlte wohl nicht mehr viel und sie würden zum Angriff übergehen. Dennoch setzte Shaun sich gelassen auf die Tischkante.

„Was wollt ihr von uns?“, fragte der männliche Gestaltwandler ohne Umschweife.

„Ihr werdet mit uns kommen“, antwortete er kühl. „Macht kein Theater, dann wird es auch nicht ganz so schmerzhaft.“

Der Gestaltwandler fuhr sich mit der Zunge über die Zähne wie eine Raubkatze. Im Bruchteil einer Sekunde ließ er die Tasche fallen und sprang in einer riesigen schwarzen Panthergestalt auf Shaun zu.

Zu Marcus‘ Erstaunen wich ihm der seltsame Soldat mit Leichtigkeit aus. Dass diese drei Männer keine gewöhnlichen Flughafenpolizisten sein konnten, war ihm sofort bewusst gewesen, als ihr Anführer sie angesprochen hatte. Sie rochen fremdartig und sie bewegten sich nicht so plump wie Sterbliche. Auch Tove hatte sich verwandelt und griff einen der Männer an, doch auch ihre Attacke ging ins Leere. Einer der Soldaten warf eine Rauchgranate auf den Boden. Der leicht violette Rauch, der sich rasend schnell im Raum ausbreitete, brannte fürchterlich in der Kehle und vernebelte die Sicht. Marcus hustete unwillkürlich gegen das Kratzen in seinem Hals an, aber es schien nur noch schlimmer zu werden.

„Idiot! Der Frau darf nichts passieren!“, brüllte der Wortführer der Soldaten. Um Tove ging es also. Und um das Baby, das seit fast sieben Monaten in ihr heranwuchs, daran gab es für Marcus keinen Zweifel mehr. Blind vor Zorn ging er zum nächsten Angriff über. Dieses Mal erwischte er einen der Soldaten mit der Pranke. Sein Körper wirbelte durch die Luft und sprengte die Tür aus ihren Angeln. Wie viele Sterbliche in der Nähe sein mochten, interessierte Marcus nicht mehr. Sie mussten aus diesem fürchterlichen Rauch heraus. Er hörte Tove gequält husten. Hastig folgte er ihrer Stimme, bekam sie zu fassen und zerrte sie hinaus auf den Gang, auf dem der Rauch weniger dicht war. Marcus spürte, dass seine Kräfte zunehmend nachließen. Was auch immer in diesem violetten Gas enthalten war, es schwächte ihn und seine Geliebte. Die drei Soldaten schienen hingegen immun gegen seine Wirkung zu sein. Sie gingen von der Verteidigung zum Angriff über. Ihr Anführer schoss mit einer Handfeuerwaffe auf ihn, die anderen beiden stürzten sich auf Tove. Marcus verspürte brennende Schmerzen in der Brust. Die Kugeln waren nicht wieder ausgetreten, sondern von seinen Rippen gestoppt worden. Ihm blieb die Luft weg.

„NEIN!“, hörte er die Stimme seiner Gefährtin durch den dichten Schleier, der sich zunehmend über alles legte. Marcus sank auf die Knie.

„Schafft sie weg“, befahl der Soldat gelassen, der auf ihn geschossen hatte. „Um den hier kümmere ich mich.“

Marcus musste sich auf den Fäusten abstützen.

„Ich hab‘ dich ja gewarnt.“ Der Soldat beugte sich zu ihm herunter. „Aber Sturheit und Aggressivität ist unter den Unsterblichen sehr weit verbreitet, wenn ich mich nicht irre.“

„Was bist du?“, keuchte der Gestaltwandler angestrengt. Shaun verzog die Mundwinkel. „Nun, zum Teil bin ich wie du. Aber das verstehst du noch früh genug, Marcus. Jetzt nimm brav die Hände auf den Rücken.“

Stattdessen hustete er heftig, obwohl sich das Gas langsam verzog. Die Schwangere schrie nach ihm. Shaun wollte ihn gerade endgültig auf dem Boden festnageln, als der Gestaltwandler plötzlich hochschnellte. Er erwischte ihn mit voller Wucht unterm Kinn, wobei Shaun sich auf die Zunge biss. Ein zweiter unkontrollierter, wütender Schlag traf ihn an der Schulter. Shaun nahm ein leises Knacken wahr, als sein Schlüsselbein brach und er zu Boden ging. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass er sich einen Knochen brach. Dennoch ließ es ihn die eine Sekunde innehalten, die der Gestaltwandler brauchte, um sich aus seiner unmittelbaren Reichweite zu entfernen. Shaun schmeckte Blut. Mit der Waffe im Anschlag stemmte er sich auf die Knie hoch. Wider Erwarten lief der Gestaltwandler nicht in die Richtung seiner schwangeren Frau. Sondern direkt auf die Flughafenpolizisten zu, die mittlerweile am anderen Ende des Ganges aufgetaucht waren. Shaun fluchte leise. Natürlich starrten sie Marcus nur entsetzt an und hielten ihn nicht auf. Und jetzt war es auch zu spät, um zu schießen. Der Gestaltwandler drängte sich an den Polizisten vorbei und ergriff die Flucht.

„Was zur Hölle ist hier passiert?“, rief einer der uniformierten Männer. Shaun erhob sich wortlos. Inzwischen hatte sich eine erstaunliche Menge Blut in seinem Mund gesammelt, daher antwortete er lieber nicht. Er winkte ihnen nur und lief in menschlicher Geschwindigkeit Keith, Hugh und der Schwangeren hinterher. Erst als Shaun die ungenutzte Einfahrt erreichte, in der sie ihren Van geparkt hatten, spuckte er das Blut aus. Keith beobachtete ihn dabei und hob die Brauen. „Hast du dir auf die Zunge gebissen?“

„Ja und wie“, brummte er.

„Verdammt kräftiger Bursche. Verfolgen wir ihn?“

„Nein.“ Shaun schüttelte entschieden den Kopf. „Wir haben die Frau, das genügt. Alles andere kann jetzt Team zwei übernehmen.“

Sie stiegen in den hinteren Teil des Vans. Keith hatte die Gestaltwandlerin an beiden Handgelenken angekettet. Sie sah ein wenig mitgenommen aus, doch auf den ersten Blick schien sie sich problemlos zu erholen. Hugh lenkte den Wagen bereits aus der Einfahrt, während Shaun und Keith sich noch anschnallten. Einige Minuten vergingen in tiefem Schweigen. Die Gestaltwandlerin musterte sie alle nacheinander. Letztendlich blieb ihr durchdringender Blick an Shaun hängen.

„Möchtest du etwas sagen?“, fragte er irgendwann, damit sie endlich aufhörte, ihn so anzustarren.

„Wie habt ihr uns gefunden?“

Selbstverständlich meinte sie nicht nur sich und ihren flüchtigen Gefährten. Shaun stützte die Ellbogen auf die Knie. „Ihr habt wirklich gut darauf geachtet, im Schatten zu bleiben oder Geschichten über euch zu Legenden zu machen. Aber es gab da eben jemanden, der es Leid war, sich zu verstecken.“

Ihre grünen Augen weiteten sich ein wenig. Die Erkenntnis verraten worden zu sein war nie schön, Shaun konnte ihr Entsetzen durchaus nachvollziehen. Sie fing sich allerdings recht schnell wieder.

„Und jetzt glaubst du, du weißt, mit wem du dich anlegst?“, fragte sie überraschend selbstsicher. Keith konnte sich ein belustigtes Schnauben nicht verkneifen. Shaun lehnte sich noch ein wenig weiter vor. „Ja, das wissen wir, meine Liebe.“

Sie schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf. „Du hast keine Ahnung.“

Nach einigen Stunden Fahrt nahmen sie die Fähre zum Festland. Die Gestaltwandlerin verhielt sich erstaunlich ruhig. Hin und wieder schloss sie die Augen, als würde sie lauschen. Shaun vermutete, dass sich der Fötus in ihrem Bauch bewegte. Es interessierte ihn normalerweise herzlich wenig, was aus gefangenen Subjekten wurde, aber was würde die Forschungsabteilung wohl mit einer Schwangeren anfangen? Dr. Morgan konnte es nicht ausstehen, wenn Söldner ihr Labor betraten. Shaun würde wohl nie etwas darüber erfahren, außer er zog sich in den kommenden Tagen eine nennenswerte Verletzung zu und musste im Labor verarztet werden. Aber das war sehr unwahrscheinlich. Sobald sie die belgische Grenze überquert hatten, dauerte es nur noch eine halbe Stunde, bis sie den Außenposten der Firma erreichten, in dem Dr. Morgan sich derzeit aufhielt. Shaun hatte nie geplant, als Söldner für eine Firma wie diese zu arbeiten. Nun war es eben so gekommen und sie bezahlten wirklich gut. Der General erwartete ihren Van persönlich auf dem Innenhof des alten Produktionsgeländes. Er begutachtete die schwangere Gestaltwandlerin, während Shaun, Keith und Hugh sie von der Ladefläche holten und ihr Handschellen anlegten. Das genügte dem General offenbar schon. Er nickte ihnen zufrieden zu und verschwand wieder in seine Kommandozentrale, von der aus er mit den Söldner-Teams weltweit kommunizierte. Dr. Morgan lief wie immer hastig von einem Labortisch zum anderen, als Shaun mit seinem Team in der Schleuse zum Labor ankam.

„Ihr braucht sie gar nicht erst herein zu bringen!“, rief sie ihnen mit ihrer hohen, nasalen Stimme entgegen. „Ich wechsle morgen den Stützpunkt.“

Shaun spürte, dass sich der Widerstand der Gestaltwandlerin erhöhte, während sie die Wissenschaftlerin in ihrem weißen Kittel auf sich zukommen sah. Sie hatten ihr die Arme auf den Rücken gedreht, um sie zu fesseln. Shaun verdrehte ihren linken Arm weiter im Gelenk. „Nicht bewegen.“

„Was du nicht sagst“, knurrte die Gestaltwandlerin angriffslustig. Die Wirkung des Giftgases konnte noch nicht verflogen sein, doch ihr Kampfgeist war offenbar schon wieder hell wach.

„Faszinierend!“, sagte Dr. Morgan mehr zu sich selbst als zu Shaun und seinem Team. Die Sicherheitsvorschriften für sie und ihre Assistenten bestimmten eigentlich, dass sie sich den Gefangenen nicht nähern durften, wenn sie wach waren. Dr. Morgan kümmerten die Vorschriften jedoch recht wenig. Gedankenlos streckte sie eine Hand nach dem Gesicht der schwangeren Gestaltwandlerin aus. Nur weil Shaun gerade noch reagieren konnte, gelang es der Leopardenfrau nicht, ihr die Finger abzubeißen. Mit aller Gewalt rang er sie zu Boden und fixierte sie zwischen seinen Knien. Keith setzte sich auf ihre Beine.

„Sie dürfen sie nicht unterschätzen, nur weil sie schwanger ist, Doktor“, ermahnte er die Wissenschaftlerin, obwohl er wusste, dass es ihr egal war. Dr. Morgan winkte nur ungeduldig ab und wies sie an, die Gestaltwandlerin in eine Transportzelle zu verfrachten. „In der Lagerhalle links vom Labor stehen ein paar. Ich untersuche sie frühestens morgen.“

Shaun und Keith schleiften die Gestaltwandlerin in besagte Richtung, während Hugh ihnen das Tor zur Halle öffnete. Die Leopardenfrau knurrte sie finster an, als sie die Transportzellen sah. Es handelte sich um Panzerglaswürfel. Shaun wusste nicht genau, woraus sie bestanden, aber sie waren unheimlich stabil. Allerdings waren sie auch relativ klein, die schwangere Leopardenfrau würde darin nur sitzen können. Hugh drückte auf die Taste am Deckel des vordersten Kubus, woraufhin sich der Verschluss mit einem lauten Zischen öffnete. Ein Laborassistent hatte Shaun einmal erklärt, dass sich zwischen der Membran des Deckels und dem Rand des Kubus ein Vakuum bildete, weshalb selbst die Unsterblichen die Transportzellen nicht aufbrechen konnten. Wie das funktionierte, hatte der Söldner nicht verstanden, es brauchte ja auch nur zu funktionieren. Sie steckten die Gestaltwandlerin wie befohlen in den Kubus, verschlossen den Deckel und verließen die Lagerhalle anschließend wieder. Shaun hatte zwar bemerkt, dass eine weitere Transportzelle belegt gewesen war, aber das Subjekt darin kannte er zur Genüge seit seinem letzten Ausbruchsversuch. Ihm brauchte er keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Neugierig folgte er Hugh und Keith in die Einsatzzentrale. Wahrscheinlich hatten sie neue Befehle und mussten nicht an den Flughafen von London zurück.

Tove tastete den Deckel ihres merkwürdigen Gefängnisses ab. Leider fand sich nirgendwo eine Schwachstelle, die Luftlöcher darin waren zu winzig, um hineingreifen zu können. Das Panzerglas ließ sich weder mit Tritten beschädigen, noch durch Druck auseinanderzerren. Resigniert lehnte sie sich zurück. Das Kind trat so fest wie noch nie gegen ihre Bauchdecke. Bestimmt spürte es ihre eigene Wut und auch ihre Furcht. Tove strich über ihren Bauch. „Hab keine Angst. Sie werden alles tun, um uns zu finden. Wir sind nicht allein auf der Welt.“

Ihr selbst half dieser Gedanke auch ein wenig. Schließlich besaß Asheroth ihre Signatur. Vielleicht hatte Marcus es schon bis zu ihm nach Aberdeen geschafft. Er war im Moment ihre größte Hoffnung. Mit zusammen gekniffenen Lippen warf Tove einen Blick nach rechts. Sie hatte befürchtet, dass noch mehr Unsterbliche hier sein würden und ausgerechnet in dem Kubus, der ihrem am nächsten stand, lag ein bleicher Körper. Dem Geruch nach handelte es sich um einen Vampir. Er war fast nackt und lag mit dem Rücken zu ihr, weshalb sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Dennoch kam er ihr irgendwie bekannt vor. Tove überlegte fieberhaft, um wen es sich handeln mochte. Auf seinem Glaskubus stand ein Gerät, auf dessen Bildschirm immer wieder eine gezackte Linie erschien. Einige dünne Kabel führten von dem Gerät durch die Luftlöcher zum Körper des Vampirs. Offenbar maß es seinen Herzschlag. Tove beschlich ein ungutes Gefühl, nachdem sie eine Minute lang mitgezählt hatte. Selbst für einen Vampir schlug sein Herz unheimlich langsam. Plötzlich zuckte er heftig zusammen. Dann drehte er sich quälend langsam auf den Rücken. Tove schluckte schwer. Über seinen gesamten Oberkörper zogen sich zahllose schnurgerade Narben in unterschiedlichen Heilungsstadien. War er etwa mit einem Skalpell aufgeschnitten worden? Sein Gesicht wirkte seltsam ausgemergelt wie Pergament. Dennoch erkannte sie den Vampir wieder, der damals die Garde der Leibwache gegen sie in den Kampf geführt hatte. Sein Name war Marek, er war der stellvertretende Hauptmann der Garde und er hatte nach Cinrics und Dragos Tod die Schlacht aufgegeben. Mehr wusste sie nicht über ihn. Das spielte auch keine Rolle, Tove empfand sofort Mitgefühl für ihn. Und das obwohl er ihr nicht unbedingt freundlich gesinnt sein würde. Leise flüsterte sie seinen Namen. Marek riss die Augen auf und starrte in ihre Richtung. Sie glühten eisblau, als wäre er mitten im Kampf um sein Leben. Vermutlich lag Tove damit gar nicht so falsch, seine Kräfte mussten fast völlig aufgezehrt sein. Nach ein paar Atemzügen schloss er die Augen wieder, bewegt hatte er sich keinen Millimeter mehr. Bedrückt lehnte Tove den Kopf gegen die Scheibe ihrer Transportzelle. Das Kind und die Nachwirkungen des Kampfgases machten sie unheimlich müde. Als sie am nächsten Morgen in aller Frühe in einen Transporter verladen wurden, nahm Tove nur noch verschwommen wahr, dass sie der Söldner begleitete, der auf Marcus geschossen hatte. Während der Fahrt schlief sie endgültig ein.

Erkenntnis

Bitter kalter Regen prasselte unaufhörlich auf ihn herab. Marcus hatte es nicht gewagt, noch einmal in die Nähe von Menschen zu gehen. Zu Fuß hatte er sich immer weiter nach Norden geschleppt. Nicht ein einziges Mal war er stehen geblieben, bis er endlich die Festung der Vampirältesten nahe Aberdeen gefunden hatte. Die Schusswunden in seiner Brust heilten nur sehr langsam, das Atmen fiel ihm schwer. Marcus tastete nach seinen unteren Rippen. Er war sich nicht mehr ganz sicher, wie lange er gebraucht hatte. Das Giftgas der Soldaten hatte noch eine ganze Weile nachgewirkt. Die Mauern der Vampirfeste schienen gar nicht mehr so weit entfernt, als Marcus über einen Stein stolperte und der Länge nach hinschlug. Seine Erschöpfung ließ nicht zu, dass er wieder aufstand. Trotzig streckte er die Arme vor und zog sich ein paar Zentimeter über den Boden. Da war plötzlich das Geräusch von Schritten, ein bekannter Geruch. Mühsam öffnete Marcus die Augen. Er wurde auf die Seite gedreht. Etwas unscharf erkannte er Asheroths Gesicht über sich. Wie immer bleich und starr. Seine dunklen Augen durchbohrten ihn wie Dolche.

„Du musst mir helfen“, würgte Marcus hervor. „Sie haben Tove!“

Der Vampir stellte überraschenderweise keine Fragen. Er wuchtete ihn auf seine Schultern und trug ihn den Rest des Weges in seine Festung. Marcus hielt die Augen geschlossen. Auch als Asheroth ihn bäuchlings auf einem kalten Metalltisch ablegte und begann, seinen Brustkorb abzutasten.

„Bring mir Skalpelle. Es stecken vier Kugeln in seiner Brust“, forderte der Vampirälteste von jemandem, den Marcus nicht sehen konnte. Bestimmt war es Leandros oder der Junge mit den markanten blauen Augen. Asheroth drückte auf einige Punkte an seinem Rücken, woraufhin Marcus endgültig die Besinnung verlor. Als er wieder zu sich kam, lag er mit nacktem Oberkörper auf einem Bett. Es war dunkel vor dem kleinen Fenster, aber immerhin hatte es endlich aufgehört zu regnen. Er setzte sich auf, atmete tief durch und zog das Shirt an, das neben seinem Bett bereitgelegt worden war. Offenbar hatte der Vampirälteste alle Kugeln gefunden und entfernt. Seine Wunden waren verheilt. Dennoch fühlte Marcus sich hundsmiserabel. Tove war verschleppt worden und er hatte sie nicht beschützen können. Wie sollte er Asheroth erklären, was vorgefallen war, wenn er selbst nicht wusste, von wem genau sie angegriffen worden waren? Nur eins wusste er mit Bestimmtheit. Es waren keine gewöhnlichen Sterblichen gewesen. Das Geräusch sich nähernder Schritte ließ Marcus aufhorchen. Asheroth und auch die beiden anderen Ältesten betraten wenige Sekunden später sein karges Quartier. Mit so großem Interesse hatte er nicht gerechnet.

„Nun? Was genau wolltest du mir sagen?“, begann Asheroth das Gespräch ohne jegliche Umschweife. Marcus schilderte ihnen die Ereignisse am Londoner Flughafen so genau wie möglich.

„Warum wollten sie nur Tove?“, fragte Asheroth, als er geendet hatte.

„Ich bin nicht sicher, ob sie sie wollen…“, setzte Marcus zögerlich an. „Sie ist schwanger.“

Das Ausgleichsgeschöpf seiner Geliebten schnaubte bedrohlich, wobei seine Mimik immer noch starr blieb. Marcus unterdrückte den kalten Schauer, der ihm den Rücken hinauf kriechen wollte. Achilleas rieb sich derweil die Stirn. „Warum kommt mir das so bekannt vor?“

„Dieses Mal kämpfen wir nicht gegen die Werwölfe“, mahnte Commodus an. „Was auch immer diese Geschöpfe genau waren, wir müssen die Situation ernst nehmen. Ich informiere die Clans und alle anderen Unsterblichen, die ich erreichen kann.“

Marcus erhielt keine Gelegenheit zu fragen, auf welchen Krieg mit den Werwölfen die Vampire anspielten. Asheroth stob aus dem Raum, Achilleas folgte ihm auf dem Fuß. Der Panthermann gab Commodus die Nummer von Vincent für den Fall, dass er sie nicht sowieso kannte, dann lief er Asheroth und Achilleas hinterher. Sie wollten doch nicht etwa ohne ihn aufbrechen? Erst in der großen Eingangshalle der Festung holte er die beiden Ältesten ein. Sie standen sich gegenüber, die anwesenden Leibwachen hielten gehörigen Abstand zu ihnen.

„Wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren!“, grollte Asheroth.

„Verrate mir wenigstens, was du darüber denkst.“ Achilleas‘ Gelassenheit seinem Bruder gegenüber war beneidenswert.

„Wir wurden verraten! Oder wie erklärst du dir, dass diese Soldaten Kampfgas gegen Gestaltwandler besitzen?“

Marcus senkte den Kopf. Er teilte diese Befürchtung.

„Was bedeutet; zum Teil bin ich wie du?“, fuhr Achilleas unbeirrt fort. „Wie haben die Sterblichen es geschafft, ihre Soldaten so stark zu machen?“

Asheroth hob ungeduldig die Arme. „Das weiß ich, wenn ich einen von ihnen studiert habe. War das dann alles? Ich will nicht noch mehr Zeit verlieren!“

„Großvater?“, rief eine weibliche Stimme. Marcus wandte sich irritiert um. Ein blondes Mädchen mit eisblauen Augen betrat die Halle aus dem Korridor gegenüber. Sie war recht zierlich für eine geborene Vampirin und äußerlich ungefähr sechzehn.

„Was ist geschehen?“, fragte sie verunsichert. Asheroth streckte ihr eine fahle Hand entgegen, die sie ohne das geringste Zögern ergriff. Marcus kam nicht umhin, verblüfft die Brauen zu heben.

„Es tut mir leid, aber ich muss fort. Sag Anzheru, er soll dich persönlich abholen und die öffentlichen Flughäfen meiden.“ Asheroth zog sie näher an sich und küsste sie auf den Haaransatz. „Ich muss nach Tove suchen.“

„Ich komme mit dir. Gib mir eine Minute, um meine Sachen zu holen.“ Achilleas setzte sich in Bewegung. Tatsächlich war er barfuß.

„Du hast eine halbe“, grollte Asheroth leise. Das Mädchen löste sich aus seinem Arm. Marcus dämmerte langsam, um wen es sich handeln musste.

„Bist du nicht die Kleine von Violetta und Konstantin?“, fragte er, um sicher zu gehen. Sie nickte sacht. „Sie wurden vor sechs Jahren getötet. Mira und Anzheru haben mich in ihre Familie aufgenommen.“

Davon hatte Marcus nichts gewusst. Tove hatte die Welt sehen wollen, nachdem sie sich die ersten siebzehn Jahre ihres Lebens immer hatte verstecken müssen. Seit sie damals nach dem Kampf gegen Dragos Hunde gemeinsam aufgebrochen waren, hatten sie sich nur ein einziges Mal telefonisch bei ihren verbündeten Vampiren gemeldet. Und das bevor es einen neuen Familienzuwachs unter ihnen gegeben hatte. Betreten erwiderte der Gestaltwandler den Blick der geborenen Vampirin. Er wollte lieber nichts dazu sagen.

„Anzheru wird ein paar Tage brauchen, um eine solche Reise vorzubereiten, oder?“, fragte Letizia wenig begeistert an Asheroth gewandt. Er nickte streng. „Du wirst auf ihn warten. Und bis dahin wirst du brav auf Commodus hören.“

Sie warf ihm noch einen trotzigen Blick zu, dann schwebte sie elfengleich hinaus. Letizia sah ihrer Mutter nicht nur äußerlich ähnlich, sie bewegte sich auch so anmutig wie sie.

„Ich komme auch mit“, sagte Marcus. Asheroth verneinte jedoch mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre sein Wort automatisch Gesetz.

„Aber natürlich! Ich will meine Gefährtin zurück!“, hielt der Gestaltwandler fassungslos dagegen. Was fiel diesem Vampir eigentlich ein?

„Nein, du bleibst hier. Dein Körper hat sich noch nicht vollständig von dem Giftgas erholt.“ Asheroth verschränkte die Arme vor der Brust und würdigte ihn nicht einmal mehr eines Blickes.

„Du brauchst doch sowieso noch Zeit, um sie zu finden. Bis dahin hat sich das erledigt.“ Marcus war lauter geworden als nötig. Die Leibwachen rührten sich aber noch nicht. Offenbar würde sich niemand einmischen.

„Das kümmert mich nicht“, grollte der Vampirälteste bedrohlich. „Du wirst mir weder zur Last fallen, noch ein zweites Mal versagen.“

Der Panthermann fletschte zornig die Zähne. „Das kann nicht dein Ernst sein!“

Sobald er nur einen Schritt auf Asheroth zu gemacht hatte, erschien Leandros an seiner Seite und schob sich in seinen Weg. Ähnlich wie sein Gebieter verzog der Leibwächter keine Miene, dennoch lag eine unmissverständliche Drohung in seiner Haltung. Marcus schnaubte, was schon beinahe wie das Knurren seiner Panthergestalt klang. Asheroth beachtete ihn jedoch kaum. Achilleas kehrte mit einer länglichen Tasche in die Eingangshalle zurück, woraufhin die beiden Vampirältesten allein aufbrachen. Marcus blieb voller Zorn zurück. Er hatte geahnt, dass Asheroth ungehalten reagieren würde. Es überraschte ihn auch nicht, dass der Vampir ihm die Schuld an Toves Entführung gab. Aber nutzlos in der Festung zurückbleiben zu müssen, trieb ihn zur Weißglut. Leandros‘ eiserne Miene tat ihr Übriges.

„Stell seine Entscheidungen nicht in Frage“, sagte der Leibwächter überflüssigerweise. Marcus schnaubte erneut. „Was würdest du denn tun, wenn Kila in Gefangenschaft gerät?“

„Mich auf meinen Gebieter verlassen“, antwortete der stämmige Vampir prompt. „Wenn er mir nicht hilft, würde er mich immer noch von meinem Dienst freistellen, damit ich nach ihr suchen kann.“

Der Gestaltwandler marschierte kopfschüttelnd davon. Die Ergebenheit der Leibwachen gegenüber den Ältesten kannte wohl keine Grenzen. Er beschloss, die Festung der Vampire auf eigene Faust zu verlassen. Asheroth besaß seine Signatur nicht, dennoch wartete Marcus bis zum Morgengrauen, um ihm und Achilleas vorsichtshalber reichlich Vorsprung zu lassen. Lautlos schlich er in seiner Panthergestalt auf den Wehrgang hinauf. Das Tor der Festung war geschlossen, also musste er einen anderen Weg hinaus finden.

„Du verlässt uns?“, fragte plötzlich eine tiefe ruhige Stimme hinter ihm. Marcus fuhr herum. Commodus stand im Schatten eines Turmes in einigen Metern Entfernung. Widerwillig nahm er seine erste Gestalt an, um mit dem Vampir zu reden. „Ich kann nicht hier herumsitzen! Tove… Unser Kind!“

Der Hüne unter den Ältesten nickte bedächtig. „Ich kann deine Sorge nachvollziehen, aber bedenke, was mein Bruder gesagt hat. Dein Körper hat sich noch nicht vollkommen regeneriert.“

Marcus wandte sich kurz ab. Mit Asheroth zu streiten machte einen unfassbar wütend. Commodus hatte hingegen eine Art an sich, die es wesentlich schwieriger machte, lauthals zu widersprechen.

„Wo willst du hin?“, fragte der Älteste. „Ohne Pass. Ohne Geld.“

Der Gestaltwandler rieb sich die Stirn. „Aufs Festland. Ich glaube nicht, dass sie in Großbritannien geblieben sind.“

„Wie kommst du darauf?“

„Es ist nur so ein Gefühl!“, gab Marcus unwirsch zu. Der Vampirälteste schaute ihn skeptisch an, was durchaus berechtigt war. Trotzdem schwang er sich behände auf die Zinnen der Mauer, um sich endlich auf den Weg zu machen.

„Ich sehe, ich kann dich nicht umstimmen, Marcus“, sagte Commodus immer noch genauso ruhig wie zu Beginn ihres Gesprächs. „Aber nimm wenigstens das hier mit.“

Er warf ihm eine Rolle Geldscheine zu. Marcus fing sie auf und bedankte sich zögerlich.

„Meine Gemahlin reist derzeit quer durch Europa. Falls du sie zufällig treffen solltest, sag ihr, sie möge bitte nach Hause kommen“, fügte der Vampirälteste hinzu.

„Hast du sie nicht angerufen, um sie zu warnen?“, fragte Marcus ungläubig. Seines Wissens nach hüteten die Vampire ihre Gefährtinnen wie ihre Augäpfel.

„Natürlich habe ich das, aber… sie besitzt ein großes Talent dafür unauffällig zu bleiben und meint, dass sie ihre Reise wie geplant fortsetzen möchte. Vielleicht kann dein Bericht sie umstimmen.“

Wie ausgerechnet eine Frau wie Elvera unauffällig bleiben wollte, war Marcus vollkommen schleierhaft. Sie war damals kurz vor der Schlacht gegen Drago, Cinric und ihr gesamtes Gefolge auf der Bildfläche erschienen. Ihre Willensstärke hatte vielen ihrer Verbündeten Mut gegeben. Zudem war sie so wunderschön, dass man sie schlicht nicht übersehen konnte. Dennoch versprach Marcus dem hünenhaften Vampir, nach ihr Ausschau zu halten.

Asheroth drückte die Handflächen auf den Boden. Das Echo von Toves Schritten hatte ihn von London nach Belgien geführt. Achilleas kauerte direkt neben ihm im nassen Gras. Vor ihnen lag ein stillgelegtes Produktionsgelände, auf dem sich vier Geschöpfe befanden. Ihre Schritte waren fremdartig, nur eines spürte Asheroth deutlich. Sie waren stark und trotzdem noch sehr jung.

„Ist sie hier?“, flüsterte Achilleas.

„Nein, ihr Echo ist mehrere Tage alt. Sie haben sie fortgebracht.“

Ihre Spur führte nach Osten. Dennoch wollte Asheroth nicht sofort weiter. Eines der Geschöpfe entfernte sich gerade von den anderen.

„Lass uns herausfinden, womit wir es zu tun haben.“

Achilleas nickte grimmig, legte seine Tasche im Gras ab und folgte ihm lautlos in den Gebäudetrakt, in dem sich ihre Feinde aufhielten. Sie griffen ohne jede Begrüßung an, obwohl dies unter den Unsterblichen nicht üblich war. Der Soldat fuhr entsetzt zu ihnen herum und duckte sich gerade noch unter Asheroths erstem Hieb weg. Achilleas fiel ihm in die Seite und stieß ihn so heftig gegen die Wand, dass sie unter der Wucht des Aufpralls einbrach. Der Soldat rappelte sich wenig beeindruckt wieder aus den Trümmern auf und ging zum Gegenangriff über. Asheroth stellte nebenbei fest, dass er die Bewegungen ihres Gegners recht gut vorausahnen konnte. Wenigstens das hatte der Soldat mit anderen Geschöpfen gemein. Asheroth wich ihm mühelos aus und trat ihm seitlich gegen sein ungeschütztes Knie. Der Soldat strauchelte nur einen kurzen Moment. Achilleas rammte ihm, ohne zu zögern, einen Dolch ins Rückgrat, woraufhin Asheroth ihm die Kehle durch schnitt. Sein Blut roch wie erwartet fremd und sogar bitter, allerdings lag auch der unverkennbare Geruch eines Vampirs darin. Asheroth beschlich ein grausiger Verdacht. Durch den Lärm waren die übrigen Geschöpfe im Gebäude aufgeschreckt worden. Sein Tastsinn verriet ihm, dass sie bereits auf der Treppe zu diesem Korridor waren. Achilleas riss seinen Dolch aus dem Rückgrat ihres Gegners und stieß ein zweites Mal direkt neben den Halswirbeln zu. Mittlerweile ließen die Kräfte ihres Gegners merklich nach, aber er setzte sich immer noch zur Wehr. Achilleas wich einem unkontrollierten Schlag aus und zuckte zusammen. Ein kleiner, metallener Pfeil steckte in seiner Schulter. Die Wunde, die er verursacht hatte, war kaum der Rede wert. Das konnte jedoch nur eins bedeuten. Gift. Asheroth benutzte den schwer verletzten Soldaten als Schild, als die drei anderen am Ende des Korridors auch auf ihn schossen. Achilleas zog den Pfeil aus seiner Schulter und stieß ein durchdringendes Grollen aus, bevor er sich auf die Neuankömmlinge stürzte. In dem kurzen Moment, in dem sein Bruder die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog, berührte Asheroth den schwer verletzten Soldaten im Gesicht, dann am Hals. Anschließend griff er in den klaffenden Schnitt und trennte seinen Kopf mit einem kräftigen Ruck vom Körper. Der erste Soldat war tot. Zufrieden stellte der Älteste fest, dass diese Geschöpfe wie er selbst diesem einen Grundsatz unterlagen. Die übrigen überwältigten die beiden Vampire effektiver, um Zeit zu gewinnen. Asheroth spürte nämlich, dass Achilleas langsamer wurde. Als wieder Stille herrschte, legte er die Hand auf die Schulter seines Bruders. „Ich denke nicht, dass es dich umbringen wird.“

„Wie beruhigend“, erwiderte Achilleas trocken. „Ich spüre meinen Arm kaum noch.“

Asheroth nickte. „Es lähmt, aber das sollte sich wieder geben.“

Der Spartaner machte eine wegwerfende Handbewegung mit dem anderen Arm. „Was zum Henker sind die?“

„Hybriden.“

Darauf hob Achilleas fragend die Brauen. „Aus uns und den Gestaltwandlern?“

„Ja.“ Asheroth ging in die Hocke, um einen der Toten näher zu untersuchen.

„Aber es müssen doch einige sein. Wenn so viele verbotene Hybriden geboren worden wären, wäre es dir doch mit Sicherheit nicht entgangen.“

„Da hast du Recht, Bruder.“ Er ertastete einen winzigen metallischen Gegenstand in der Brust des toten Hybriden. Mit Hilfe seines eigenen Dolches setzte Asheroth einen gezielten Schnitt, um ihn herauszuholen. Es handelte sich um eine Art Chip, aus dem zwei Drähte herausragten, die kaum dicker als Haare waren.

„Sie wurden nicht als Unsterbliche geboren. Irgendwie haben sie einen Weg gefunden, sich unsere Stärken künstlich anzueignen.“ Asheroth erhob sich. „Ich schlage vor, wir bitten Anzheru und Mira um Hilfe. Wenn das Interesse dieser Hybriden an Tove wirklich so groß ist, wie Marcus befürchtet, wird sie sicher gut bewacht.“

Achilleas nickte schwach. Inzwischen hatte sich sein Herzschlag auf den eines Schlafenden verlangsamt. Asheroth musste ihn auf dem Weg hinaus stützen. Glücklicherweise fand sich auf dem Innenhof ein Wagen. Er setzte seinen Bruder auf den Beifahrersitz und holte anschließend seine Tasche. Während Asheroth den Wagen vom Hof lenkte, wählte er die Nummer seines Sohnes. Bereits nach dem zweiten Freizeichen meldete sich Anzheru mit einem angespannten Unterton. „Commodus hat mir gesagt, was du vorhast. Seid ihr in Schwierigkeiten?“

„Das kann ich noch nicht genau abschätzen. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn ihr uns beisteht.“

„Ich bin schon auf dem Weg nach Aberdeen, um Letizia abzuholen. Mira wird euch helfen. Sofern diese Geschöpfe lichtempfindlich sind.“

Asheroth seufzte leise. „Auch das kann ich noch nicht sagen.“

„Aber mittlerweile bist du ihnen begegnet, nicht wahr?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Gegen wen kämpfen wir, Vater?“

„Gegen die Menschen.“ Asheroth biss sich auf die Unterlippe. „Sie haben künstliche Hybriden erschaffen.“

Anzheru erwiderte nichts und unterbrach die Verbindung. Das Nötige war gesagt. Achilleas hielt sich immer noch mit aller Kraft wach. Asheroth überließ ihm das Gespräch mit Mira, um ihn zu beschäftigen. Sie verabredeten einen Treffpunkt, von dem aus sie gemeinsam mit der Tageswandlerin und ihrer Leibwache nach dem nächsten Stützpunkt ihrer Feinde suchen würden.

Vampirin

Ein paar recht ereignislose Tage waren vergangen, seit Shaun, Keith und Hugh die schwangere Gestaltwandlerin abgeliefert hatten. Wie üblich hatten sie seitdem die Teams und ihren Einsatzort gewechselt. Shaun hatte Dr. Morgan nur für eine Etappe ihrer Reise begleitet, nun saß er in einer kleinen unauffälligen Einrichtung der Firma mitten in Deutschland fest. Zu seinem Erstaunen hatte Dr. Morgan den Vampir, der unter der Bezeichnung VA1 geführt wurde, in diesem Stützpunkt zurückgelassen und nur die Leopardenfrau mitgenommen. Warum sie VA1 nicht mehr brauchte, hatte ihm niemand gesagt. Meistens erhielten die Teams ihre Befehle vollkommen unabhängig voneinander, weshalb Shaun nicht einmal wusste, was Keith und Hugh gerade taten. Den General hatten sie jedenfalls nicht begleitet, als auch er Belgien verlassen hatte. Über die Befehle der Laboranten erfuhr Shaun erst recht nichts. Als er gerade eine Runde um das alleinstehende Laborgebäude drehte, rief ihn eins seiner jetzigen Team-Mitglieder über Funk. „Komm sofort rein. Der General will dich sprechen.“

Shaun bejahte knapp. Mit diesem Team war nicht viel anzufangen. Das wusste er, seit sie es nicht einmal geschafft hatten, VA1 in seinem Gefängniskubus in Ruhe zu lassen. Vier erwachsene Männer hatten allen Ernstes an die Scheibe geklopft und Witze gerissen, bis die bleiche, ausgezehrte Kreatur aufgewacht war und entsprechend reagiert hatte. Hoffentlich würden ihm bei der nächsten Rotation wieder fähigere Männer zugeteilt werden. Er eilte hinauf in den Raum, der mit einem großen Bildschirm für Videokonferenzen ausgestattet worden war. Das leicht aufgedunsene Gesicht des Generals erwartete ihn bereits. Allerdings wirkte er seltsam zufrieden, während sie sich begrüßten.

„Sie können VA1 jetzt eliminieren, Subjekt 12. Wir haben heute großartiges Material erhalten.“

Shaun nickte. Das einzige, das er an diesem Job noch mehr verachtete als unfähige Söldner waren ihre Bezeichnungen. Der General und auch Dr. Morgan sprachen sie ausschließlich mit ihren Personalnummern an. Er besaß mit 12 tatsächlich die Niedrigste.

„Muss ich mich auf Lieferungen einstellen?“, fragte er mit aller Begeisterung, die er angesichts seines Teams aufbringen konnte. Der General überlegte einen Augenblick. „Das ist durchaus möglich. Wir…“

Ein schriller Alarm unterbrach ihn. Shaun wandte sich wortlos ab und stürmte hinaus. War etwa jemand auf die Idee gekommen, VA1 aus seinem Kubus zu lassen? Er stellte sich vor, wie er denjenigen zusammenfalten würde, als er die Überwachungsmonitore erreichte. Mit dem Gefangenen war alles in Ordnung. Das Team allerdings hatte sich geschlossen nach unten begeben. Die Außenkamera zeigte eine weibliche Gestalt, die vor dem leergeräumten Labor aufgetaucht war. Dieses Gebäude war im Gegensatz zu dem alten Produktionsgelände in Belgien bereits mit Temperaturscannern ausgerüstet worden. Der Alarm war offenbar ausgelöst worden, weil die Scanner sich bewegende Körper mit sehr niedriger Temperatur erfasst hatten. Aber die schwarzhaarige Frau konnte es nicht sein, sie besaß laut der Anzeige normale 36 Grad Körpertemperatur. Wenn die Vampire glaubten, sie mit einem menschlichen Köder überlisten zu können, hatten sie sich geirrt. Shaun übersprang die Treppe, die nach unten führte. Diese Fähigkeit gefiel ihm am besten an seinem Hybridenkörper.

„Da sind Vampire!“, zischte einer der Söldner, als er sie erreichte. Shaun warf ihm einen finsteren Blick zu. „Das weiß ich auch! Ihr zwei geht vor, wir geben euch Deckung.“

„Und die Frau?“

„Schont sie, wenn möglich“, knurrte Shaun und schluckte den sarkastischen Kommentar herunter, der ihm auf der Zunge lag. Als ob es nicht selbstverständlich wäre, Zivilisten nach Möglichkeit eben nicht zu erschießen. Mit entsicherten Waffen marschierten die beiden Söldner auf die schlanke Frau zu, während Shaun und die zwei übrigen Männer zurückblieben und die Umgebung sicherten. Bestimmt hielten sich die Vampire hinter den seichten Hügeln in Deckung.

„Alles in Ordnung?“, rief der größere der beiden Söldner, als sie nur noch wenige Schritte von der Frau entfernt waren.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie leise und griff sich an den Hals. Shaun vermutete, dass sie gebissen worden war. Das verwandelte sie nicht, aber wahrscheinlich war ihr schwindlig und sie fürchtete sich. Es rührte sich immer noch nichts außer den Grashalmen, die vom Wind niedergedrückt wurden. Shaun warf wieder einen kurzen Blick zu der Frau. Ihre Augen glühten.

„Sag du es mir!“, grollte sie und plötzlich war es vor dem Laborgebäude mitten in der Nacht taghell. Shaun konnte nicht anders, als eine halbe Sekunde lang ungläubig hinzustarren. Seine beiden Kollegen gingen sofort zu Boden, die anderen in seiner Nähe eröffneten blindlings das Feuer, trafen jedoch nichts. Der Mann rechts von Shaun wurde von einem Speer durchbohrt, der auch noch in die Gebäudewand einschlug. Hektisch machte Shaun einen Satz rückwärts. Hier konnte er nicht mehr gewinnen, aber er musste unbedingt Meldung an das derzeitige Hauptquartier des Generals machen. Er erreichte gerade einmal die obere Hälfte der Treppe, bevor ihn das gleißend helle Licht erfasste. Es war nicht wie Feuer, trotzdem hatte Shaun das Gefühl, lebendig zu verbrennen. Der Schmerz fraß sich durch seine Kehle in seine Lungen. Der Aufschlag auf den Betonstufen der Treppe kam ihm dagegen lächerlich vor. Das Licht verschwand so plötzlich, wie es sich ausgebreitet hatte.

„Sie haben dich tatsächlich nicht erkannt.“

Die männliche Stimme drang nur sehr undeutlich zu Shaun durch. Er versuchte, weiter nach oben zu kriechen, aber es war aussichtslos. Schritte näherten sich, dann packte ihn eine Hand, zerrte ihn auf den Treppenabsatz und drehte ihn auf den Rücken.

„Woher sollten sie auch wissen, dass ich eine Vampirin bin“, sagte die schwarzhaarige Frau über ihm. Jetzt waren ihre Augen normal wie die eines Menschen. Niemand würde vermuten, dass sie Licht erzeugen konnte. Sie wirkte so unschuldig. Und nebenbei war sie auch noch schön.

„Der hier lebt noch.“

„Ändere das. Wir durchsuchen das Gebäude“, rief ihr ein anderer Vampir zu. Sie musterte Shaun eindringlich. Erst jetzt registrierte er, dass er nicht atmen konnte. Unter großen Schmerzen und elend langsam winkelte er seinen Arm soweit an, dass er nach seiner Kehle tasten konnte. Sein bloß liegendes Fleisch fühlte sich immer noch grauenhaft heiß an, aber wenigstens schien er nicht mehr zu brennen. Die schwarzhaarige Vampirin packte ihn an den Haaren und schleifte ihn mit sich in den Konferenzsaal, aus dem die aufgeregte Stimme des Generals über die Lautsprecher zu hören war.

„Subjekt 12! Machen Sie sofort Meldung! Was geht da vor?“, brüllte er. Als die Vampirin für ihn auf dem Bildschirm erschien, blieb ihm sein nächster Befehl im Halse stecken. Shaun konnte sich kaum rühren. Sie hielt ihn immer noch gepackt. Wenigstens sein verbranntes Gesicht musste im Radius der Kamera liegen.

„Da Sie die angreifende Partei sind, schlage ich vor, Sie beginnen.“ Ihre Stimme war so weich und gleichzeitig so schneidend, dass sie keinen Widerspruch duldete. Shaun konnte trotz allem nicht umhin, zu erschaudern.

„Wir sind die Angreifer?“, wiederholte der General abfällig. „Ihr Parasiten versteckt euch seit Jahrhunderten und tötet unschuldige Menschen, wie es euch gefällt. Aber das hat jetzt ein Ende!“

Die Vampirin erwiderte nichts, sie neigte nur leicht den Kopf. Eine Ader an der Stirn des Generals trat bedrohlich hervor. „Für Monster wie euch ist kein Platz in dieser Welt.“

„Woher, glauben Sie, kommen wir?“, fragte die Vampirin.

„Was spielt das schon für eine Rolle?“, giftete der General zurück. Shaun war selbstverständlich nicht mit solchen Hintergrundinformationen versorgt worden. Ob sie überhaupt vorlagen?

„Ich werde nicht ruhen, bis ich euch alle ausgerottet habe!“

„Nun, hier liegt schon der entscheidende Unterschied zwischen uns. Wir trachten nicht danach, die Sterblichen zu vernichten“, setzte ihm die Vampirin entgegen.

„Natürlich nicht! Der Jäger rottet seine Beute niemals ganz aus, sonst verhungert er selbst.“ Der General schnaubte verächtlich. Die Vampirin blieb vollkommen ruhig. Shaun nahm erst jetzt bewusst wahr, dass ihre Fingerspitzen warm waren. Die Scanner hatten fehlerfrei funktioniert.

„Und wenn ihr uns alle vernichtet habt, was dann?“, fragte sie. „Was ist dann mit diesen Männern?“

Sie zog Shaun an den Haaren ein Stück in die Höhe. Er spürte, dass die verbrannte Haut an seiner Kehle weiter aufriss. Mehr als einen kratzigen Laut bekam er dennoch nicht heraus.

„Ihr werdet sie nicht mehr brauchen. Werdet ihr auch sie alle vernichten, bevor sie sich gegen euch auflehnen? Macht verführt.“

„Nein, das wird nicht nötig sein.“ Der General grinste sie selbstgefällig an. Dann beendete er die Übertragung, ohne ein einziges Mal auch nur angedeutet zu haben, dass sie Shaun gehen lassen sollte. Offensichtlich war er gerade aufgegeben worden. Als sie endlich seine Haare losließ, sank er kraftlos zu Boden. Ein weiterer Vampir betrat den Raum. Er war groß, blond und blutüberströmt.

„Der Rest der Anlage ist verlassen“, sagte er mit einem herablassenden Blick auf Shaun. „Er ist der letzte.“

„Ich will ihn mitnehmen. Ich werde ihn befragen, wenn er wieder atmen kann.“ Die Vampirin musterte Shaun erneut. „Er scheint der Stärkste in diesem Stützpunkt gewesen zu sein. Er heilt sogar aus eigener Kraft.“

Der Blonde nickte. „Das wird interessant werden.“

„Er ist mein Gefangener“, warnte ihn die warme Vampirin. „Asheroth und du werdet vorerst die Finger von ihm lassen.“

„Wie du wünschst, Liebes.“ Mit einem ergebenen Lächeln ging der Blonde an ihr vorbei und wuchtete Shaun auf seine Schultern. Auf dem Rasen vor dem Gebäude wurden sie schon erwartet. Einer der Vampire trug ebenfalls einen Mann über der Schulter. Shaun konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber es konnte sich nur um VA1 handeln.

„Wie geht es ihm?“, fragte die warme Vampirin besorgt.

„Sie haben ihn extrem ausgezehrt. Ich bekomme ihn nicht einmal dazu zu trinken“, antwortete eine harte erbarmungslose Stimme. Sehen konnte Shaun den zugehörigen Vampir nicht mehr. Der Blonde ließ ihn einfach fallen und er landete mit dem Gesicht im Dreck.

„Ich kümmere mich darum. Gib ihn mir“, hörte er die Vampirin sagen.

„Den hier nehmen wir mit.“ Offenbar verstanden die Vampire diese Aussage des Blonden gleichzeitig als Befehl. Mindestens drei Männer knieten sich auf Shaun und begannen, seine Arme und Beine zu verschnüren.

„Was ist das?“, fragte einer der Vampire und zerrte an seinem ohnehin schon verdrehten Arm. Er fuhr mit dem Finger über die Stelle, an der Shaun sein Peilsender eingesetzt worden war. Seine Verletzungen mussten ihn zum Teil freigelegt haben. Im nächsten Moment spürte Shaun einen brennenden Schmerz in seinem Unterarm. Er wollte aufschreien, doch es drang nur ein heiseres Röcheln aus seiner Kehle, während der Vampir seelenruhig den Peilsender aus seinem Arm herausschnitt. Danach hörte Shaun ein metallisches Knirschen. Der Sender war zerstört. Die Firma hatte keine Chance mehr, ihn zu finden. Falls der General denn überhaupt nach ihm suchen ließ. Ein paar Sekunden später konnte Shaun sich keinen Millimeter mehr rühren. Woraus auch immer dieses Seil bestand, selbst im vollen Besitz seiner Kräfte würde er es nicht zerreißen können. Die Vampire schleiften ihn mit sich. Darum, dass Shaun eine Infektion durch den Dreck in seinen offenen Wunden davontragen könnte, schienen sie sich nicht zu sorgen. Er wurde in den Fußraum eines Militärhubschraubers gewuchtet. Eine eisig kalte Hand zerrte ihn ins Sitzen und hielt seinen Kopf gepackt, während sie abhoben. Die warme Vampirin hielt Subjekt VA1 im Arm. Nachdem sie die Hand eine Weile auf seinen Brustkorb gedrückt hatte, schlug er die Augen auf. Sie glühten eisblau. Und richteten sich unmittelbar auf Shaun.

„Trink.“ Die Vampirin hielt ihm ihr Handgelenk hin. Ungläubig sah VA1 zu ihr auf. Shaun glaubte auch nicht ganz, was er da beobachtete. Es hatte immer geheißen, dass Vampire kaltherzig und gnadenlos waren. Nun halfen sie einander und waren sogar bereit, ihr Blut zu opfern.

„Marek“, ermahnte sie ihn nachsichtig. „Dein Körper ist so gut wie blutleer und Wärme allein wird dich nicht heilen.“

Zum Glück nahm der Vampir ihr Angebot an. Shaun war sich sicher, dass sonst er dran gewesen wäre. Sie schloss die Augen, während er aus ihrem Handgelenk trank. Zum einen war Shaun erstaunt darüber, wie kontrolliert es ablief, zum anderen widerte es ihn ungemein an, dabei zuzusehen. Als die warme Vampirin erschauderte, ließ VA1 abrupt von ihr ab.

„Meine Güte…“, murmelte sie entsetzt.

„Warum wollte ich wohl nicht, dass du dir das ansiehst?“, knurrte er. „Die wussten nicht, dass ich die meiste Zeit über wach war.“

Shaun zuckte zusammen, soweit sein Zustand und seine Fesseln es zuließen. Er hatte nur ein einziges Mal zufällig beobachtet, wie Dr. Morgan Zellproben aus dem Körper des Vampirs entnommen hatte. Im Grunde hatte sie VA1 lebendig aufgeschnitten und jedes seiner Organe beschädigt. Shaun warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Seine Haut regenerierte sich zusehends. Die Geschwindigkeit seiner Heilung war schon fast beunruhigend. VA1 starrte düster zurück. Betont langsam erhob er sich.

„Ich will ihn lebend!“, fuhr die warme Vampirin ihn an.

„Ja…“ Er kam trotzdem auf Shaun zu. Der Vampir hinter ihm zerrte seinen Kopf hoch. Trotz allem wagte er es, diesen Marek direkt anzusehen. Noch nie hatte er so tiefe Verachtung in den Augen eines anderen gesehen. Der Vampir schlug ihn unvermittelt mit der Faust ins Gesicht. Shaun registrierte noch, dass sein Kiefer gebrochen sein musste, bevor er das Bewusstsein verlor.

Marek setzte sich Mira gegenüber auf den einzigen freien Platz im Hubschrauber und tastete seine rechte Hand ab. Offenbar war sein Körper noch längst nicht wieder bereit zu kämpfen. Er hatte sich gerade zwei Mittelhandknochen gebrochen. Die Tageswandlerin schüttelte sacht den Kopf, schien ihm den kleinen Ausbruch aber nicht übel zu nehmen, nach allem, was sie in seinen Erinnerungen gesehen hatte. Wie gern er das Hybridengeschöpf auf der Stelle in Stücke gerissen hätte. Marek kannte ihn. Dieser Mann hatte seine einzige Chance vereitelt, aus dem Labor der grässlichen Frau im weißen Kittel zu entkommen. Dabei hatte sein Gesicht noch nicht einmal eine Regung verraten, der Hybrid hatte lediglich seine Arbeit getan. Achilleas saß neben Mira und musterte ihn eindringlich. „Kannst du wieder klar denken?“

Marek nickte.

„Wie lange warst du in Gefangenschaft? Ich dachte, ich höre nichts von dir, weil du bei Jacky bist.“ Sein Gebieter machte ihm tatsächlich keinen Vorwurf. Dennoch fühlte Marek sich hundsmiserabel, da er nicht einmal diese erste Frage beantworten konnte. „Nein, sie… hat mich abgewiesen“, stammelte er stattdessen.

„Das ist jetzt wirklich nebensächlich. Was wollten sie mit deinem Blut?“, fragte Asheroth ungeduldig. Der Leibwächter wandte ihm das Gesicht zu. Asheroth würde erfahrungsgemäß erst aufhören, wenn er alles Relevante erfahren hatte. Es war ratsam, ihm zu berichten, so demütigend es auch werden würde. Den Biss eines Ältesten wollte Marek in diesem Zustand wirklich nicht riskieren.

„Welcher Tag ist heute?“, fragte er trotzdem so ruhig wie möglich und erschauderte, als Mira ihm antwortete. Es waren über dreizehn Monate vergangen, seit er den Hauptsitz des Östlichen Clans enttäuscht verlassen hatte und auf dem Rückweg nach Aberdeen gefangen genommen worden war. Die Männer, die ihn am Flughafen von Moskau aufgegriffen hatten, hatten im ersten Moment wie Gestaltwandler gerochen. Um keinen Krieg zu provozieren, war Marek ihnen gefolgt und daraufhin in einen Hinterhalt geraten. Seine Erklärung stimmte Asheroth seiner Miene nach kaum milder. Der Älteste verurteilte ihn nur mit seinem Blick dafür, dass er nicht aufmerksamer gewesen war.

„Die Sterblichen wollten herausfinden, welcher unserer Zellen unsere Macht entspringt“, fuhr Marek etwas heiser fort. „Dass es unser Blut ist, war ihnen schnell bewusst, aber sie wollten unbedingt eine Alternative.“

„Um Männer wie ihn zu erschaffen?“ Achilleas wies auf den gefesselten Hybrid auf dem Boden des Hubschraubers.

„Ich nehme es an. Zeitweise hatte ich den Geruch von echten Gestaltwandlern in der Nase. Wahrscheinlich haben sie es mit ihnen genauso gemacht. Also Zellen herausgeschnitten und herumexperimentiert…“

Mira wandte den Blick ab. Marek ertrug ihre Gegenwart nicht besonders gut. Es beschämte ihn, dass sie sein Elend in seinen Erinnerungen gesehen hatte. Und natürlich wusste die Tageswandlerin auch, wie schuldig er sich fühlte. Hätte er sich bloß nicht so sehr von seiner Enttäuschung über Jackys Entscheidung ablenken lassen, dann wäre das alles nicht passiert und die Sterblichen hätten ihre Soldaten nicht zu halben Vampiren machen können. Als Verräter hingerichtet zu werden, erschien Marek nicht als die schlechteste Alternative. Da er Achilleas‘ oberster Leibwächter war, lag die Entscheidung jetzt allerdings bei ihm und nicht bei Asheroth. Marek presste gespannt die Lippen zusammen.

„Hoffentlich nimmt Vincent die Warnung unseres Bruders ernst. Werwolf-Hybriden will ich mir gar nicht erst vorstellen“, sagte sein Gebieter und rieb sich die Stirn, statt eine Verurteilung auszusprechen. Asheroth stimmte ihm mit einem Nicken zu. Marek würde wohl warten müssen. Ein leises Piepsen unterbrach die eingetretene Stille. Mira zog ein Handy hervor und nahm einen Anruf entgegen. „Ja?“

„Lass die anderen mithören“, sagte Anzheru am anderen Ende der Leitung, ohne seine Gefährtin zu begrüßen. Sie drückte auf ein Symbol im Display, damit der Lautsprecher des Telefons die Fluggeräusche übertönte.

„Aberdeen ist gefallen“, sagte Asheroths Sohn, wobei ihm sein Entsetzen deutlich anzumerken war. Marek wünschte sich, es wäre Tag und er könnte sich ins Sonnenlicht stürzen. Allerdings würde ihm selbst das im Moment nichts nützen. Dank Miras Heilung war er warm wie ein Mensch und würde trotz seines elenden Zustands nicht verbrennen.

„Die Leibwächter wurden besiegt. Sie werden gerade in durchsichtigen Würfeln auf einen LKW verladen. Ich glaube, sie leben noch.“

Marek nickte gezwungen. „Das machen sie so mit Gefangenen.“

„Wie viele Hybriden sind es?“, fragte Asheroth atemlos.

„Ich weiß es nicht genau. Bisher habe ich etwa 40 gezählt“, antwortete Anzheru. Er zwang sich offenbar, leise zu sprechen, um nicht entdeckt zu werden.

„Greif sie nicht allein an, sie haben Betäubungsgift! Wer weiß, was sie erst mit deinem Blut anstellen könnten. Siehst du Commodus?“, fragte Achilleas.

„Ihn haben sie schon weggebracht.“

Mira war mit dem Telefon in der ausgestreckten Hand zu einer Säule erstarrt. Jetzt bewegte sie leicht die Lippen. Marek sah das blanke Entsetzen in ihren Augen.

„Letizia?“, hauchte sie ängstlich.

„Ich weiß nicht. Sie habe ich nirgendwo gesehen.“ Anzheru schwieg einen Augenblick, während Achilleas Mira tröstend an sich zog. „Wir verschwinden jetzt von hier.“

„Wir?“, fragte Asheroth irritiert.

„Batiste ist bei mir. Nachdem du und Achilleas aufgebrochen ward, wollte er nach Marek suchen, hat ihn aber nicht gefunden.“

Der Leibwächter verzog die Mundwinkel. Batiste stand ihm näher als jeder andere in der Leibwache der Ältesten und kannte seine Rückzugsorte. Bestimmt fühlte er sich gerade ähnlich schlecht beim Anblick ihrer gefangenen Brüder.

„Ihn haben wir schon zurück. Sag Batiste, es geht ihm gut“, brachte Mira mühsam heraus. Ihre Tränen bewirkten das absolute Gegenteil, aber Marek schwieg lieber. Seine erbärmliche Entschuldigung würde ihr nicht helfen, solange ihr Kind vermisst wurde. Anzheru beendete das Telefonat daraufhin mit dem Versprechen, dass sie sich bei ihrem Clan treffen würden. Hoffentlich zögerte der geborene Vampir nicht, sein Schattenwesen gegen die Hybriden einzusetzen, wenn er unterwegs auf sie traf. Dagegen waren auch sie sicher nicht immun. Achilleas hielt Mira nach wie vor fest im Arm, aber das schien ihr nicht wirklich zu helfen. Vermutlich malte sie sich gerade aus, was mit ihrer Tochter in diesem grauenhaften Labor geschehen würde. Marek lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und schloss die Augen, um sie nicht mehr ansehen zu müssen. Obwohl er seit Wochen nie richtig bei Bewusstsein gewesen war, war er unheimlich müde. Er hörte noch, wie Asheroth Elvera telefonisch darum bat, umgehend zum Hauptquartier des Nördlichen Clans zu reisen. Den Rest des Fluges verbrachten die Vampire in tiefem Schweigen. Erst als sie landeten, wurde Marek wieder wach. Anzherus Vampire erwarteten sie auf dem Platz vor ihrem Hauptquartier. Mira hatte sich mittlerweile halbwegs gefangen und teilte den Ältesten und ihm Gästequartiere zu. Marek mied es, ihr in die Augen zu sehen. Das würde er frühestens wieder fertig bringen, wenn sichergestellt war, dass Letizia noch lebte. Anschließend informierte Mira ihren Clan über das Geschehen und ließ die Wachen verdoppeln. Den gefangenen Hybriden ließ sie in den Keller verfrachten. Marek vermutete, dass selbst Anzheru ein paar Zellen in seinem Haus aufrechterhielt. Subjekt 12 hatte während der gesamten Reise keinen Laut mehr von sich gegeben. Dafür waren seine Brandwunden schon teils verheilt. Was Mira mit ihm vorhatte, interessierte Marek weniger, nur seine Hinrichtung wollte er sehen. Auf dem Weg in sein Quartier begegnete er Asheroth. Er lehnte auf dem Korridor an der Wand. Seine Miene verhieß nichts Gutes.

„Du wünschst, Gebieter?“, fragte Marek tonlos.

„Du sagtest, es waren Gestaltwandler in diesen Laboren. Hast du sie gesehen?“ Der Älteste durchbohrte ihn erneut mit seinem Blick. Der Leibwächter schüttelte betreten den Kopf.

„Bist du ganz sicher? Mein Mündel ist nämlich ebenfalls in die Fänge dieser Hybriden geraten.“ In seiner Stimme lag keine Drohung mehr, nur die leise Hoffnung auf irgendein Lebenszeichen von dem kleinen Halbblut, das er vor Jahren in seine Familie aufgenommen hatte. Marek hielt den Atem an und suchte fieberhaft in seinen verschwommenen Erinnerungen nach einem Hinweis auf sie. Eine weibliche Stimme hatte seinen Namen gesagt, nicht seine Objektnummer.

„Ich glaube, ich habe sie gesehen“, sagte er zögerlich.

„Es kann nicht lange her sein. Und Tove trägt ein Kind in sich.“ Asheroth drückte sich von der Wand ab. Wieder einmal hatte er sich aus Vorsicht entschieden, barfuß zu sein, um ihre Feinde früher auszumachen. Marek betrachtete seine nackten Füße, um seinem Blick auszuweichen. Das Gesicht der Frau, die neben ihm in einem dieser Glaswürfel gesessen hatte, lag wie alles andere hinter einem dichten Vorhang. Aber an den gewölbten Bauch konnte er sich erinnern. „Ja, dann war sie es.“

„Gut“, gab Asheroth zufrieden zurück. „Und sieh mich gefälligst an.“

Marek hob ruckartig den Blick. „Gebieter, ich…“

Der Älteste gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. „Dass du dich schämst, ist mir klar. Aber wir werden jeden Vampir in diesem Krieg brauchen. Du wirst kämpfen.“

Der Leibwächter schluckte seinen Widerwillen herunter. Er hatte geschworen, den Ältesten zu dienen. Sein Stolz musste dahinter zurückstehen.

„Tove war in dem Gebäude, in dem wir dich gefunden haben“, fuhr Asheroth ungerührt fort. „Aber sie müssen sie schnell fortgebracht haben. Hast du eine Ahnung, wohin?“

Marek verneinte erneut. „Mich haben sie auch ständig von einem Labor zum anderen gebracht. Man könnte fast meinen, die Hybriden wissen, dass du dir bekannte Geschöpfe finden…“

Der Verdacht ließ ihn ins Stocken geraten. Asheroths Miene verhärtete sich. „Ja, meine Fähigkeit scheint bekannt zu sein. Commodus ist sofort sehr weit weggebracht worden, um fürs Erste seine Spur zu verwischen.“

Marek fluchte unwillkürlich in der Sprache seiner menschlichen Heimat. „Wer hat den Sterblichen das alles verraten? Außer mir war dort kein Vampir und die Gestaltwandler fangen sie doch auch!“

Der Älteste nickte grimmig. „Vielleicht weiß Miras Gefangener mehr. Du wirst allerdings nicht an den Verhören teilnehmen. Sie fürchtet, du erschlägst ihn bei der ersten Gelegenheit.“

„Da hat sie nicht ganz Unrecht“, gab Marek freimütig zu. Asheroth hob streng eine Braue. „Solange er von Nutzen ist, hältst du dich von ihm fern.“

„Ja, Gebieter.“ Irgendwann würde Subjekt 12 seinen Nutzen schon verlieren, da bestand für Marek kein Zweifel.

Chip

Die Luft war kühl und etwas feucht. Zuerst nahm Shaun den Geruch von altem Holz wahr, also hatte er sich wohl so weit regeneriert, dass er wieder atmen konnte. Er öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder gegen das grelle Licht zusammen. Direkt über ihm an der Decke war eine Neonröhre, die hell genug war, um eine Sporthalle auszuleuchten. Beim Versuch, nach seinem Kiefer zu tasten, stellte Shaun enttäuscht fest, dass er sich nicht bewegen konnte. Seine Gliedmaßen waren überstreckt und festgebunden worden. Irgendwann mochte das seltsame Holzgerüst unter ihm einmal als Folterinstrument gedient haben. Das konnte ja heiter werden. In seiner Zeit als Berufssoldat und später als Söldner war er nie in Gefangenschaft geraten. Jetzt war er einer Horde aufgebrachter Vampire ausgeliefert, über die er offenbar längst nicht alles wusste. In der Begrüßungsansprache des Generals war damals nur die Rede von ihrem unstillbaren Blutdurst und ihrer Aggressivität gewesen. Von einer Frau, die Licht erzeugen konnte, hatte Shaun noch nie gehört. Wie hatte sie das bloß angestellt? Für einen Trick hatten sich die Brandwunden viel zu echt angefühlt. Dr. Morgan würde ihm diese Geschichte wohl kaum glauben, falls er sie denn je wieder traf. Das Geräusch von Schritten drang durch die Decke zu ihm durch. Es mussten sich einige Vampire in dem alten Gebäude befinden. Nun hörte Shaun auch Schritte, die näher kamen. Kurz darauf betraten zwei Vampire den Raum. Der eine blieb außerhalb seines Sichtfelds. Um ihn zu sehen, hätte Shaun den Kopf heben müssen, aber auch um seinen Hals lag ein fester Strick. Die warme Vampirin jedoch setzte sich keinen halben Meter von seinem Kopf entfernt auf einen Hocker. Ihre Züge waren noch einen Augenblick starr, dann lächelte sie ihn allen Ernstes an. „Du befindest dich im Quartier meines Clans. Ich bin Mira.“

Shaun erwiderte nichts. Sie wurde ihm immer unheimlicher.

„Es ist unhöflich, sich nicht vorzustellen. Selbst als Gefangener.“ Die Drohung in ihren Worten war unverkennbar. Shaun entschied, trotzdem noch nichts zu sagen. Er wollte testen, wie schnell sie Gewalt einsetzen würde, damit er den Mund aufmachte.

„Ich sehe, dass du atmest. Also benutze deine Stimme.“ Sie legte den Finger auf seinen Nasenrücken. Augenblicklich wurde ihre Fingerkuppe so heiß, dass Shaun mit aller Kraft den Kopf wegzog. Er kam allerdings nicht weit. Der Strick hielt ihn dicht an dem massiven Holzbalken.

„Du bist das erste Geschöpf, das solche Verletzungen aus eigener Kraft heilen kann. Also habe ich eine Menge Haut zur Verfügung“, sagte Mira kalt. Shaun bejahte mit zusammengebissenen Zähnen. Da hatte sie leider Recht.

„Hast du nur diese Nummer? Subjekt 12?“ Ihre Augen wurden schmal. „Hat man euch eure Namen genommen?“

„Ja“, gab Shaun tonlos zurück. Vielleicht brachte es ihm irgendeinen Vorteil, wenn diese Vampirin glaubte, er würde seine eigene Identität nicht mehr kennen. Der zweite Vampir im Raum scharrte leise mit dem Fuß. Er langweilte sich offenbar jetzt schon.

„Na dann, 12. Wie bist du ein Hybrid geworden? Etwas, das in unserer Welt übrigens streng verboten ist.“ Mira stützte ihr Kinn auf.

„Warum das?“, fragte Shaun verwundert. Es hieß zwar, die unsterblichen Rassen wären untereinander verfeindet, aber Ausnahmen gab es immer. Das wusste er aus Erfahrung. Die Vampirin schlug die Augen nieder. „Lass mich eins klar stellen, 12. Du bist noch am Leben, weil ich es so will. Bis jetzt hast du geschwiegen, gelogen und mit einer Gegenfrage geantwortet. Hältst du das mir gegenüber für klug?“

Shaun biss erneut die Zähne zusammen. Er war noch nie ein guter Lügner gewesen und auch wenn sie sich nicht kannten, hatte Mira ihn durchschaut. Möglichst emotionslos nannte er ihr seinen Vornamen. Der genügte ihr zum Glück.

„Also, woher kommen deine Kräfte?“, fragte sie. Natürlich interessierte das die Vampire am allermeisten. Wenn er schon jetzt darauf antwortete, war er nutzlos. Shaun musste irgendwie Zeit schinden und dieses Verhör in die Länge ziehen. Nur solange, bis sie ihn von diesem Foltergerüst herunter ließen, um eine Pause zu machen. Dann hatte er wenigstens eine Chance zu entkommen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob Mira ihn überhaupt je losbinden würde. Mächtige Vampire mussten nie schlafen, warum sollten sie Rücksicht auf einen Sterblichen nehmen? Seine Gedanken überschlugen sich.

„Shaun“, ermahnte ihn die warme Vampirin. Ihre Geduld mit ihm schien zu Ende zu gehen. Jetzt wünschte er sich, er hätte ihr seinen Namen nicht gesagt.