Tageswandler 2: Anzheru - Al Rey - E-Book

Tageswandler 2: Anzheru E-Book

Al Rey

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Beschreibung

Mira wurde verschleppt und gerät durch einen zwielichtigen Handel zwischen Gestaltwandlern und Vampiren in die Fänge von Horatio, dem ältesten aller Vampire. Anzheru ahnt nichts davon. Die Leibwachen bringen ihm nur den leblosen Körper seines Vaters, keine Spur seiner Gefährtin. Commodus lässt ihn jedoch nicht gehen, um nach ihr zu suchen. Tove lernt derweil Gestaltwandler kennen, die sich von den Clans gelöst haben. Einer von ihnen ist wie sie ein Halbblut und dazu eine Raubkatze... bereits erschienen: Band 1 Mira, Band 3 Letizia, Band 4 Shaun, Band 5 Gigi und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 6 Igor und Band 7 Yero

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Inhaltsverzeichnis

Tageswandler 2

Über die Autorin

Widmung

Prolog

Erstaunen

Gefangenschaft

Herz

Ursprung

Ansichtssache

Aberdeen

Verständnis

Kampflektion

Wesen

Unterwerfung

Ursprung

Erweckung

Kälte

Allianz

Sklavin

Kenntnis

Neffe

Hanna

Licht

Abstoßung

Hyäne

Werwolf

Entkommen

Konsequenz

Atem

Deklaration

Schutzbefohlene

Aura

Erbe

Verborgen

Stolz

Nemesis

Bruderschaft

Gleichgewicht

Gnade

Epilog

Impressum

Tageswandler 2

~Anzheru~

Von Al Rey

Über die Autorin

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.

Kontakt:

al-rey.jimdofree.com

[email protected]

Widmung

Für meine Mutter

Prolog

Riesige, messerscharfe Krallen bohrten sich in ihre Schultern. Mira schrie auf, doch sie befand sich schon einige Meter über dem Boden. Im dichten Schneetreiben verlor sie die Ruine schnell aus den Augen. Nur schemenhaft nahm sie die hastigen Bewegungen wahr, die sich weit unter ihr abspielten. Vielleicht war es Anzheru, der etwas Unverständliches brüllte. Ein kleiner Gegenstand kam auf sie zugeflogen, den Mira gerade noch mit den Fingerspitzen zu fassen bekam. Hoffentlich hatte der riesige Greifvogel es nicht bemerkt. Sie hatte sich nicht vorstellen können, wie groß die Vögel unter den Gestaltwandlern wurden. Die beiden Adler, die Tove und sie davontrugen, besaßen mit Sicherheit eine Spannweite von mehr als vier Metern. Der Gegenstand in ihrer Hand war kühl und kantig. Mira brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass es nur ein Stein war. Es durfte doch nicht wahr sein, dass ihr Schicksal schon wieder etwas mit einem unnützen Stein zu tun hatte! Sie fluchte laut, was den Adler, der sie gepackt hielt, allerdings nicht interessierte. Tove hing ebenfalls völlig hilflos in den Klauen des anderen Greifvogels. Von Zeit zu Zeit zappelte sie etwas mit den Pfoten. Mira fragte sich, was passieren würde, wenn sie sich jetzt zurück in einen Menschen verwandelte. Würde Tove dem Adler einfach durch die Klauen gleiten und fallen? Doch weder ein erneuter Hautkontakt mit Asheroth noch der jetzige Stress bewirkten, dass sie ihre erste Gestalt wieder annahm. Wie auch immer, sie mussten irgendetwas unternehmen. Obwohl Mira die Schultern nicht richtig bewegen konnte, begann sie, mit dem Stein auf die Beine des Adlers einzuschlagen. Die Krallen bohrten sich tiefer in ihr Fleisch, doch aufgeben kam nicht in Frage. Mit der freien Hand riss sie dem Gestaltwandler die Federn an seinen Beinen aus und schlug ihrerseits die Fingernägel in die bloße Haut ihres Gegners. Offenbar zeigte es Wirkung. Der große Vogel stieß einen spitzen Schrei aus und ließ sie fallen. Miras vampirische Instinkte sagten ihr, wie weit es noch bis zum Boden war. Sie brauchte sich kaum zu drehen, um mit den Füßen voran zu fallen. Vielleicht konnte sie den Sturz wenigstens etwas abfedern, ohne sich sämtliche Gliedmaßen zu zertrümmern. Heilen würden sie zwar, aber Schmerzen konnte jeder Vampir empfinden, selbst die Ältesten. Zumindest hatte Anzheru das einmal behauptet. Die Wipfel der Bäume waren erreicht. Mira prallte gegen einige starke Äste, die ihren Fall abbremsten. Trotzdem schlug sie hart auf dem Boden auf, ihr Oberschenkel brach an zwei Stellen. Sie blieb schwer atmend liegen. Für ein triumphales, irrwitziges Kichern reichte es dennoch. Nach einer Weile beruhigte sich Miras Atem. Ihr linker Oberschenkel schmerzte immer noch höllisch, aber die Frakturen heilten, die tiefen Abdrücke der Adlerkrallen in ihren Schultern ebenfalls. Sie erhob sich mühsam. Es mussten einige Kilometer sein, die sie unfreiwillig im Flug zurückgelegt hatte. Mira lehnte sich gegen einen Baum und suchte irgendeinen Orientierungspunkt. Außer großen Kiefern und unermesslich viel Schnee war nichts zu sehen. Nur ein Geräusch näherte sich ihr. Hitziger Atem. Und es mussten einige Geschöpfe sein. Mira humpelte auf ein dichtes Gebüsch zu. Riechen konnten die Geschöpfe sie mit Sicherheit, aber es verschaffte ihr ein paar Sekunden, wenn sie sie nicht auch noch sofort sahen. Sie kamen schnell näher. Der Geruch von Hunden und Erde lag in der Luft. Ein lautes Knurren ertönte. Es war wohl der Befehl auszuschwärmen. Die Wächter teilten sich auf und durchkämmten den Wald. Mira hörte auf zu atmen, um kein unnötiges Geräusch mehr zu verursachen. Zwei große schwarze Hunde streiften an ihrem Gebüsch vorbei, wobei sie tiefe Spuren durch den Schnee zogen. Sie beschnupperten den Baum, an den sie sich gelehnt hatte. Trotz der Dunkelheit würden sie bestimmt ihre Fußabdrücke im Schnee finden. Miras Herzschlag erhöhte sich leicht. Kampflos würde sie sich nicht ergeben. Das Knacken von Zweigen in einiger Entfernung lenkte die Wächterhunde ab. Mit einem lauten Kläffen liefen sie davon. Mira lehnte sich etwas nach vorn. Ihr Oberschenkel hatte sich vollständig von den Brüchen erholt. Wenn sie nur schnell genug war, konnte sie vielleicht aus dem Wald entkommen. Als sie nur wenige, leise Schritte aus dem Gebüsch heraus gemacht hatte, spürte sie ein Augenpaar im Rücken, das sie zu erdolchen drohte. Mira fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um den Hund auf sich zu springen zu sehen. Er war nicht so groß wie die beiden, die sie zuvor gesehen hatte. Sein Fell war hellbraun, daher war er in der Dunkelheit etwas besser zu sehen. Mira wich seinen Zähnen aus und schlug ihm in die Seite. Der Wächter jaulte auf, setzte aber dennoch sofort zum nächsten Angriff an. Mira gab sich ganz ihren Kampfinstinkten hin. Leandros hatte ihr einbläuen wollen, stets mit Bedacht zu kämpfen. Allerdings war dieser Hund bei weitem nicht so stark wie Asheroths Leibwächter. Sie hörte seine Rippen brechen, als sie ihn das nächste Mal abwehrte. Dann bekam Mira ihn zu fassen. Sie presste seinen Brustkorb an sich und schlug die Zähne in seinen Hals, ungeachtet des stinkenden Fells. Ihr Blutdurst überwog den Ekel bei weitem, da die Regeneration nach dem Sturz einige Energie gekostet hatte. Mira hatte noch nie von anderen Geschöpfen als von großen Tieren getrunken. Es war köstlich, geradezu berauschend. Sie spürte, dass nach einer Weile die Anspannung in den Muskeln des Wächters nachließ, doch sie hörte nicht auf. Erst als er vollkommen blutleer war, legte sie den Körper zurück in den Schnee. Wundersamerweise verwandelte er sich noch zurück in einen Menschen, bevor er endgültig tot war. Es war der Junge, der bei der Verhandlung zwischen Asheroth und Friedrich Eisengrunth ihretwegen nervös auf der Stelle getreten war. Mira wischte sich über den Mund. Es fühlte sich ein wenig so an, als würde sie aus einem Tagtraum erwachen. Als hätte nicht sie, sondern jemand anderes den Jungen getötet, der wahrscheinlich jünger gewesen war als sie selbst. Plötzlich traf sie ein heftiger Schlag im Rücken und schleuderte sie gegen den nächsten Baum, der mit einem ohrenbetäubenden Ächzen zerbarst. Als Mira sich wieder aufgerappelt hatte, umringten sie neun riesige Hunde. Deshalb hatte Leandros sie von ihren Instinkten abbringen wollen. Sie war so sehr auf ihr Opfer fokussiert gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie sich ihr die anderen Hunde genähert hatten. Der größte und kräftigste unter ihnen verwandelte sich in einen Menschen. Es war der Mann, der ihnen damals nach der Verhandlung Tove ausgeliefert hatte. Mira kannte seinen Namen nicht, aber das war jetzt auch nicht wichtig. Die Hunde waren wütend. Augenblicklich stürzte der Wächter sich auf sie.

Erstaunen

Tove versuchte verzweifelt, sich aus den Klauen des Adlers zu winden, doch es war hoffnungslos. Nun hatte der andere Vogel auch noch Mira fallen lassen. Sie war allein und wieder eine Gefangene der Gestaltwandler. Der Schneesturm ließ langsam nach. Mit Entsetzen nahm Tove irgendwann das Meer unter sich wahr. Wie weit konnte der Adler sie denn noch tragen? Und wo waren sie bloß hergekommen? Ihre Mutter hatte ihr damals erzählt, dass schon seit Generationen keine Adler mehr in Friedrichs Clan geboren worden waren. Entweder stammten sie von weit her oder sie waren schon sehr sehr alt. Letzteres schien wahrscheinlicher, so stark und ausdauernd wie sie waren. Tove wunderte sich allerdings darüber, dass der Adler seine Krallen nicht mit voller Kraft in ihr Fleisch geschlagen hatte. Er wollte sie nur forttragen, nicht töten. Noch nicht zumindest. Vor Erschöpfung fielen Tove die Augen zu. Dank ihrer Verwandlung war sie zuvor zu aufgeregt gewesen, um zu schlafen. Die Landung nach dem schier endlosen Flug nahm sie allerdings nur noch im Dämmerzustand wahr.

„Wo habt ihr sie her?“, hörte sie eine aufgeregte, männliche Stimme rufen. Einige Pfoten näherten sich ihr. Nur mit Mühe gelang es Tove, die Augen einen Spalt breit zu öffnen. Eine dunkle Schnauze schnüffelte an den Kratzern an ihrem Rücken, die die Adlerklauen hinterlassen hatten.

„Etwa an der Grenze zwischen Norwegen und Schweden. Eine Gruppe Vampire hat sie gefangen gehalten.“ Einer der Adler gab die Antwort. Nun wurde Tove allerdings bewusst, dass es eine Frau war. Sogar beide Vögel waren weiblich.

„Ein merkwürdiges Wesen hat sie bewacht. Es war eine Vampirin, aber sie war warm“, fauchte die andere Adlerfrau leise. „Sie ist mir entwischt.“

„Das macht nichts, Kila“, gab die Stimme zurück, die ihr am nächsten war. Tove zwang sich, den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Direkt neben ihr saß ein schwarzer Panther mit smaragdgrünen Augen und musterte sie eindringlich.

„Hab keine Angst. Die Blutsauger werden Kila und Ravenna nicht gefolgt sein. Sie sind schnell, aber das schaffen sie nicht“, sagte er zuversichtlich. Tove rappelte sich auf. Ihre vier Pfoten fühlten sich noch etwas taub vom eisigen Wind an. Sie befanden sich in einer alten, hohen Scheune. Die beiden Adlerfrauen saßen hoch über ihren Köpfen auf den Holzbalken des Dachstuhls. Der Panther neben ihr war größer und kräftiger gebaut als sie. Neugierig strich er einmal um sie herum, während ein weiterer Gestaltwandler die Scheune betrat. Bei ihm handelte es sich um eine Hyäne. Tove hatte nicht gewusst, dass es solche Gestalten überhaupt gab. Sie konnte nicht umhin, den Fremden verdutzt anzustarren. Außer von den Hunden, Bären, Raben und Friedrich, dem einen Löwen, hatte ihre Mutter nie erzählt.

„Wie du siehst, sind wir eine recht ungewöhnliche Gruppe“, knurrte der Panther freundlich. „Ich bin Marcus, die Adlerfrau mit den hellen Flecken im Gefieder heißt Kila, die andere ist ihre Schwester Ravenna. Und er hier…“, er wies mit dem Kopf zu der dürren Hyäne hinüber. „…ist Igor.“

Aller Augen ruhten auf Tove. Keiner dieser Gestaltwandler schien ihr von Grund auf feindlich gesinnt zu sein, was eine sehr angenehme Überraschung war. Trotzdem wollte sie ihnen lieber noch nicht die Wahrheit über die Vampirgruppe anvertrauen, die sie angeblich gefangen gehalten hatte. Vermutlich würden sie ihrer Geschichte sowieso keinen Glauben schenken.

„Willst du dich nicht auch vorstellen?“, fragte Marcus.

„Mein Name ist Tove.“

Die Vampire hatten die Stimme ihrer zweiten Gestalt nicht verstehen können. Die Gestaltwandler hingegen interpretierten das Knurren vollkommen richtig.

„Wo bin ich und was wollt ihr von mir?“, fragte Tove ohne Umschweife. In den Zügen des Panthers war ein leises Lächeln zu erkennen. „Komm mit mir, ich erkläre es dir.“

Sie verließen zu zweit die Scheune. Die beiden Adlerfrauen ruhten sich nach der langen Reise aus, der Hyänenmann hockte sich neben die Tür der Scheune und hielt Wache.

„Entschuldige, dass Ravenna deinen Rücken verletzt hat, aber auf die Schnelle ging es nicht anders“, begann Marcus das Gespräch.

„Nicht so schlimm, es wird heilen.“

„Gut. Du bist ein sehr junges Halbblut, nicht wahr?“

Tove nickte unsicher.

„Wegen deiner Abstammung musst du dir bei uns keine Sorgen machen. Außer mir sind zwar alle reine Gestaltwandler, aber sie akzeptieren uns.“ Marcus setzte leichtfüßig über einen gefrorenen Bach hinweg.

„Du bist auch ein Halbblut?“ Die Leopardin konnte es kaum fassen. Er roch überhaupt nicht nach Mensch.

„Ja und als Erstes kann ich dir verraten, dass du entgegen der gängigen Meinung der großen Gestaltwandler-Clans sehr wohl unsterblich bist.“

Tove blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Mutter hatte ihr das genaue Gegenteil gesagt, als sie acht Jahre alt gewesen war und gefragt hatte, warum sich das Gesicht ihrer Mutter niemals veränderte. Der Panther warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. „Die alten Oberhäupter haben diesen Glauben nur verbreitet, um die Gestaltwandlerinnen von Sterblichen fernzuhalten. Als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, hörte ich auf zu altern. Irgendwann ist es auch bei dir so weit.“ Er senkte kurz die Lider. „Nur die zweite Gestalt erben wir nicht. Aber offensichtlich haben wir beide jeweils das Geschöpf gefunden, das bereit war, durch den Ausgleich einen Teil seiner Macht aufzugeben, um uns die Verwandlung zu ermöglichen.“

Tove schluckte schwer und folgte Marcus nur zögerlich weiter durch die unwirkliche, karge Landschaft. Im schwachen Licht der Wintersonne war weit und breit kein Zeichen von Menschen zu sehen. Die Scheune und das verfallene Bauernhaus, in dem Marcus und seine merkwürdige Gruppe hausten, waren die einzigen Gebäude. Die Gegend war durchzogen von kleinen Tümpeln und Sträuchern. Asheroth gab also einen Teil seiner Macht auf, damit sie ihre zweite Gestalt haben konnte? Tat er das freiwillig, oder war es ihm vielleicht gar nicht bewusst?

„Du redest wirklich nicht gern, oder Tove?“ Marcus legte den Kopf auf die Seite.

„Das hier ist meine dritte Entführung innerhalb weniger Wochen. Du verzeihst mein Misstrauen?“, gab sie in einem recht bissigen Ton zurück. Der Panther schien überrascht, aber er blieb geduldig. „Du darfst mir alles erzählen, was du möchtest.“

Tove schnaubte leise. „Um es kurz zu machen: Zuerst haben mich die Wächterhunde ins Hauptquartier von Friedrich Eisengrunth geschleppt, dann wurde ich zur Exekution an vier Vampire ausgeliefert. Aber anstatt mich zu töten, haben sie mich mitgenommen. Und jetzt bin ich… Wo sind wir hier überhaupt?“

„Ich verstehe dich vollkommen. Wir sind auf Shetland-Island, im Norden von Großbritannien. Es ist recht öde, aber hier sind wir weitgehend in Sicherheit.“

„Vor wem versteckt ihr euch?“, fragte Tove, obwohl sie bereits eine Ahnung hatte.

„Vor den Clans natürlich. Keiner von uns ist das, was erwünscht ist. Friedrich wollte die Adler nicht mehr. Nach und nach hat er in seinem Clan wirklich alle ausgelöscht, die ungehorsam oder eigensinnig waren. Kila und Ravenna sind nur um Haaresbreite entkommen. Ich bin wie du. Was mir blüht, brauche ich dir nicht zu erklären. Und Igor…“ Marcus senkte bekümmert die Ohren. „Seine Geschichte ist sehr traurig. Er muss selbst entscheiden, ob er sie dir erzählt.“

Tove nickte. Ihr Magen knurrte plötzlich lauter, als ihr lieb war. Marcus bleckte nur belustigt die Zähne. „Hast du dich schon daran gewöhnt, in deiner zweiten Gestalt zu jagen und zu essen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Noch gar nicht.“

Ein rohes Steak in Miras Villa war ihre letzte Mahlzeit gewesen, bevor Asheroth sie in den Kofferraum seines Wagens gesetzt hatte. Marcus näherte sich ihr mit einem Lächeln, das seine messerscharfen Fangzähne entblößte. „Dann haben wir wohl genug zu tun. Das heißt, wenn du bei uns bleiben willst.“

Tove hob ungläubig die Brauen. Er ließ ihr die Wahl?

„Wir haben dich nur von den Blutsaugern befreit. Was du jetzt tust, ist deine Sache“, beantwortete Marcus die unausgesprochene Frage in ihrem Kopf. Tove überlegte einen Augenblick. Sie hatte weder Geld für einen Flug noch Kontakte, die sie sicher zurück zu Asheroth geleiten konnten. Da er geächtet worden war, war keinem fremden Vampir mehr zu trauen. Und vielleicht konnte Marcus ihr beibringen, wie man sich verwandelte. Sie würde erst später nach einem Telefon oder irgendeiner anderen Möglichkeit fragen, wie sie zu ihrem Ausgleichsgeschöpf zurückkehren konnte. Marcus wirkte sehr vertrauenerweckend, doch ein wenig Geduld wollte Tove noch aufbringen.

„Ich würde gern bleiben. Nur eine Weile“, sagte sie zögerlich. Der Panther knurrte zufrieden. „Das hat Igor auch gesagt. Und nun ist er seit Jahrzehnten bei uns und mein bester Freund.“ Er stieß ihr mit dem Kopf leicht gegen die Schulter. „Dann zeig mir, wie schnell du laufen kannst. Danach üben wir anschleichen, falls noch nicht alle Tiere panisch geflüchtet sind.“

Gefangenschaft

Als Mira wieder zu sich kam, mussten ein paar Stunden vergangen sein. Sie spürte als erstes, dass ihre Füße den Boden nicht berührten. Sie war an ihren Handgelenken an einem starken Ast aufgehängt worden. Ein Blick nach oben bestätigte ihr, dass es Stahlketten waren, die ihre Gelenke fest umschlangen. Diese würde sie auch als Vampirin nicht einfach zerstören können. Um sie herum herrschte ein heilloses Durcheinander. Etwa vierzig Wächterhunde kläfften sich gegenseitig auf der breiten Lichtung im norwegischen Laubwald an, zu der sie sie geschleift hatten. Es war wohl jeder einer anderen Meinung. Neben ihrem Anführer stand der hagere blasse Gestaltwandler, den Mira als Rabenspäher kennengelernt hatte. Er verabschiedete sich gerade. „Ich fliege zum Hauptquartier.“

Der Oberste der Wächter nickte ihm zu und sorgte anschließend endlich für Ruhe. Offenbar gab es eine klare Rangordnung. Wenn dieser Mann etwas befahl, folgten die Hunde umstandslos. Einzelne nahmen ihre menschliche Gestalt an.

„WARUM ZUR HÖLLE LASSEN WIR DIESE KREATUR AM LEBEN, DRAGO?“, brüllte einer von ihnen.

„Sie hat Miguel getötet!“, schallte es von weiter hinten. Mira empfand keine Reue, obwohl sie nun auch den Namen ihres Opfers kannte. Der Hund hatte sie angegriffen und sie hatte sich verteidigt.

„Ich will ein paar Fragen stellen.“ Der Wächter namens Drago wandte sich betont langsam zu ihr um. „Und dann lassen wir dich brennen.“

Seine dunklen Augen wollten Mira durchbohren, doch sie war nicht sonderlich beeindruckt. Wahrscheinlich setzte er auf die Sonne, die so weit im Süden des Landes bald aufgehen würde, doch das würde absolut nichts nützen. Drago näherte sich ihr, wobei er vom dumpfen Knurren der anderen begleitet wurde.

„Das Halbblut lebt immer noch. Wo ist sie?“

Aus dieser Frage schloss Mira, dass die Hunde die Adler im dichten Schneetreiben nicht gesehen hatten. Nur ihren Aufprall auf dem hartgefrorenen Boden hatten sie bemerkt. Folglich kannten ausschließlich die beiden Raubvögel die Antwort. Sie bleckte die Zähne. „Ich weiß nicht.“

Drago schlug sie ins Gesicht. Im Vergleich zu Asheroths Verhör in seinem Haus in Frankreich war es erträglich.

„Was will Asheroth von ihr?“, bohrte er weiter. Mira schnaubte verächtlich. „Frag ihn doch selbst.“

Die Wächter brachen erneut in ohrenbetäubendes Bellen aus. Einige schienen nur noch einen Funken davon entfernt, die Vampirin in Stücke zu reißen. Dragos Miene wurde zusehends finsterer. Der Rabe hatte vermutlich schlechte Nachrichten für die Gestaltwandler überbracht.

„Und in welcher Beziehung stehst du zu diesem Monster?“, knurrte Drago leise. Diese eine Frage konnte Mira ehrlich beantworten. „Er ist mein Schwiegervater.“

Der versteckte Hinweis auf Asheroths leiblichen Sohn rief erneut in Erinnerung, dass die Vampire den Gestaltwandlern von Zeit zu Zeit ihre unverzichtbaren Begabten stahlen. Dass Mira selbst keinen Anteil daran hatte, sondern nur mit einem Geborenen liiert war, spielte selbstverständlich keine Rolle. Es steigerte den Zorn der Hunde nur noch. Allerdings schien ihnen nun auch bewusst zu werden, mit wem sie sich außer Asheroth noch angelegt hatten. Es war allgemein bekannt, dass Anzheru sehr viele mächtige Verbündete besaß. Sicher wussten auch die Gestaltwandler davon. Die ersten schlugen aus Furcht vor, seine Gefährtin lieber gehen zu lassen. Sofort entbrannte eine neue hitzige Diskussion, der Mira nicht ganz folgen konnte.

„RUHE!“, befahl Drago erneut. Die Hunde verstummten. Mira stieg mit einem Mal ein vertrauter Geruch in die Nase. Der Wind trug ihn her und natürlich nahmen ihn auch die feinen Nasen der Wächter wahr. Es waren Vampire und sie kamen näher. Die Hunde schauten beunruhigt zu ihrem Anführer und wieder in die Richtung, aus der sich die Vampire näherten. Worauf sie wohl warteten? Wenn Mira mit ihrer Vermutung richtig lag, hatten sie ihr Oberhaupt verloren. Ohne ihren Leitlöwen fiel es den Hunden offenbar schwerer, Entscheidungen zu treffen. Die Vampire hatten es nicht eilig. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie in Sicht kamen. Sie trugen schlichte, schwarze Umhänge mit großen Kapuzen, weshalb sie wie aus einer anderen Zeit wirkten. In ihrer Mitte zerrten sie zwei Gestalten mit sich, die an den Händen gefesselt waren. Mira hörte an ihrem rasenden Herzschlag, dass es Sterbliche waren. Die Hunde bildeten unter argwöhnischen Blicken eine Gasse für sie. Als die kleine Gruppe die Mitte der Lichtung erreicht hatte, blieben sie stehen. Der Vampir, der sie anführte, streifte seine Kapuze ab. Darunter kam ein kalkweißes Gesicht zum Vorschein, mit grauen Augen, die leicht aus dem Schädel hervortraten, und einem auffallend kräftigen Kiefer.

„Ich grüße euch, Wächter.“ Sein Lächeln war aufgesetzt. Mira beschlich augenblicklich die Angst vor dem, was er vorhaben könnte. Mit den Hunden hätte sie es aufgenommen, obwohl sie schon allein durch die massive Überzahl der Wächter keine Überlebenschance gehabt hätte. Aber mit diesem Vampir war es etwas anderes. Er musste einer der Ältesten sein.

„Was willst du, Cinric?“, fragte Drago ungeduldig. Sein Tonfall ließ eine alte Feindschaft vermuten.

„Ich möchte euch ein Angebot machen.“ Auf einen Wink stießen die Vampire hinter Cinric, die seine Leibwache sein mussten, die beiden Sterblichen ein paar Schritte vor und zogen ihnen die Kapuzen von den Köpfen. Es waren zwei junge Mädchen. Völlig verängstigt starrten sie von den Vampiren zu den Wächterhunden und anschließend kurz zu Mira.

„Diese beiden reizenden Geschöpfe haben wir in Aberdeen ausfindig gemacht. Sie sind Begabte, jung und gesund.“

Mira konnte sich denken, dass sie die Gabe besaßen, unsterbliche Nachkommen zu gebären. In der Nähe von Aberdeen lag die große Festung des Ältestenrats der Vampire. Vermutlich mieden die Gestaltwandler aus diesem Grund die gesamte Gegend und hatten die Familie der beiden Mädchen nie entdeckt. Es handelte sich ganz offensichtlich um Schwestern.

„Ihr habt für diese Gefangene dort keinerlei Verwendung“, fuhr Cinric fort, wobei er mit einer fahlen Hand auf Mira wies. „Ich schlage einen Austausch vor.“

„Sie hat einen von uns getötet!“, hielt Drago dagegen. Allerdings musterte er die beiden Mädchen schon mehr als interessiert.

„Das ist sehr bedauerlich, aber sie unterstützt Gesetzesbrecher unter den Vampiren. Bitte übergebt sie daher in unsere Gerichtsbarkeit.“ Cinric lächelte erneut künstlich in Miras Richtung. Seine Worte fraßen sich regelrecht durch ihre Trommelfelle in ihre Gedanken. Sie hasste Cinric jetzt schon wie die Pest. Ein paar der Hunde knurrten misstrauisch, doch Drago nahm das Angebot des Vampirältesten an. Miras Ketten wurden geöffnet, wobei Cinrics Leibwächter sie festhielten. Sie pressten sie auf den Boden und drehten ihr die Arme auf den Rücken. Offensichtlich besaßen sie Übung darin, ihresgleichen gefangen zu nehmen. Nicht für den Bruchteil einer Sekunde hatte Mira eine Chance, sich zur Wehr zu setzen. Sie verschnürten sie mit zwei kräftigen Seilen. Diese neuen Fesseln erlaubten überhaupt keine Bewegung ihrer Gliedmaßen. Ein großer, kräftiger Vampir warf sie über seine Schulter, woraufhin sie die Lichtung verließen. Nur wenn sie den Rücken so weit wie möglich bog, konnte Mira etwas außer dem schwarzen Umhang des Leibwächters sehen. Die Hunde streiften um die beiden Mädchen herum, die ihnen im Austausch für sie übergeben worden waren, und stupsten sie mit den Schnauzen an. Trotz ihrer eigenen Lage empfand Mira tiefstes Mitleid für sie. Sie wusste, dass der Handel mit Begabten früher einmal gang und gäbe gewesen war. Doch selbst ein Teil davon zu sein, widerte sie noch wesentlich mehr an als das bloße Wissen darüber. Als Mensch hätte Mira sich in dieser Situation wahrscheinlich übergeben müssen, aber ihr Vampirkörper hielt stand.

„Halt still!“ Der Leibwächter, der neben ihr ging, schlug sie auf den Hinterkopf. Mehr aus Reflex als aus Absicht ließ Mira ein dumpfes, aggressives Grollen ertönen. Ruckartig setzte ihr Träger sie ab und drehte sie um. Seine Hand schloss sich um ihre Kehle und presste ihren Kopf gegen seine Schulter.

„Anzheru hat dich aber auch wirklich nichts gelehrt. Man knurrt ältere Vampire nicht an.“ Der andere Leibwächter kam bedrohlich näher. Mira konnte sogar sein fahles Gesicht unter der riesigen Kapuze sehen. Er zog ein Messer hervor und hob es an ihre Wange.

„Lass das“, mischte Cinric sich ein. „Verschwendet ihr Blut nicht. Dafür ist es viel zu kostbar.“

Die beiden Leibwächter tauschten einen Blick aus. Mira konnte an ihren Augen ablesen, dass sie sich etwas anderes ausdachten, als ihr das Gesicht zu zerschneiden. Und das wahrscheinlich schon für jede Strafe für Gefangene, die es wagten, aufmüpfig zu werden. Am liebsten hätte sie sie auf der Stelle erschlagen, doch sie landete unsanft im Schnee. Der Fußmarsch wurde fortgesetzt. Der Vampir, der Mira zuvor getragen hatte, schleifte sie nun an dem Seil, das ihre Fußgelenke umschloss, hinter sich her. Und natürlich mit dem Gesicht nach unten. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie einen großen Hubschrauber. Mira wurde auf die Ladefläche verfrachtet, während sie noch Schnee ausspuckte. Cinric und seine Leibwächter nahmen auf den Sitzen längs der Flanken des Helikopters Platz. Sie durfte gnädigerweise bei ihren beiden persönlichen Bewachern auf dem Boden sitzen. Die Seile hinterließen langsam Abdrücke. Mira war schleierhaft, aus welchem Material sie bestehen mussten, um so stabil zu sein. Cinric telefonierte kurz, dann befahl er dem Piloten zu starten.

„Was für ein Tag…“, sagte der Älteste mehr zu sich selbst und legte den Kopf zurück. Dann richteten sich seine steingrauen Augen wieder voller Gier auf Mira. „Deinen Namen und dein Gesicht kennen wir. Nun lass uns deine Stimme hören, mein Engel.“

„Ich grüße dich, Gebieter“, erwiderte sie sarkastisch, was ihr einen weiteren heftigen Schlag auf den Hinterkopf einbrachte. Cinric lachte nur erheitert. „Ich bin wirklich gespannt, was mein Bruder sich für dich ausdenkt. Du böses, kleines Mädchen.“

Mira zwang sich mit aller Kraft, nicht angewidert zu erschaudern. Vielleicht wäre es doch nicht so übel gewesen, sich von den Adlern entführen zu lassen. Dann hätte sie wenigstens noch Tove bei sich. Einige Kilometer weiter landete der Helikopter nur für die Dauer eines Atemzugs. Ein Vampir stieg durch die offene Luke an der linken Seite ein und sie hoben wieder ab. Sein starrer Blick durchbohrte Mira augenblicklich, weshalb sie sich auf eine merkwürdige Art nackt und verletzlich fühlte. Automatisch zog sie die Beine enger an ihren Körper, soweit es die Seile überhaupt zuließen. Er war hochgewachsen, aber recht dürr. Sein Gesicht kam Mira irgendwie bekannt vor. Immer noch musterte er sie, als wüsste dieser Vampir alles über sie. Langsam dämmerte ihr, um wen es sich handeln musste. Dieser Mann war Horatio, der älteste aller Vampire und Erster des Rates. Sie hatte ihn bereits einmal in den Gedanken von Asheroths Diener gesehen. Der Vater ihres Gefährten hatte Johann ohne mit der Wimper zu zucken erschlagen, weil er ihn an Horatio hatte verraten wollen.

„Darf ich vorstellen: Anzherus Liebchen“, sagte Cinric, wobei ihm die Siegesfreude deutlich anzuhören war.

„Ich weiß.“ Horatio schloss die Augen. Er wirkte wie berauscht. „Keiner beißt sie, sie beherrscht das Umkehren des Gedankenlesens.“

Mira presste stumm die Kiefer aufeinander. Ob dieses Verbot gut oder schlecht für sie war, würde sich noch zeigen. In Horatios Mundwinkel klebte ein wenig Blut, worauf Cinric ihn vorsichtig hinwies. Der Älteste wischte es mit dem Handrücken ab. Der Geruch dieses Blutes war Mira erschreckend vertraut. Das letzte Mal hatte sie ihn wahrgenommen, als Asheroth sich im Hauptquartier der Gestaltwandler die Hand an einem zerquetschten Glas aufgeschnitten hatte. Langsam wurde ein schlimmer Verdacht zur Gewissheit.

„Wenn wir in Aberdeen gelandet sind, kommt sie erst einmal in den Kerker“, ordnete Horatio an. „Wir fliegen sofort weiter.“

„Wohin so eilig?“, fragte Cinric mit hochgezogenen Brauen.

„In die Arktis. Du wirst mir nicht glauben, was Asheroth herausgefunden hat, wenn du es nicht mit eigenen Augen siehst.“

„Du hast ihn getötet“, sagte Mira tonlos. Einen anderen Schluss ließ die Situation nicht zu. Horatio hatte Asheroth ausgesaugt und ihm all seine Geheimnisse gestohlen. Dass der Leibwächter hinter ihr ihren Kopf an den Haaren hochriss und ihr befahl, nur nach Aufforderung zu sprechen, interessierte Mira kaum. Sie fühlte sich vom Schmerz wie betäubt. Es war schwierig, Asheroth zu mögen, dennoch war es ein dramatischer Verlust. Die Arktis? Sie hatte keine Ahnung, was dort von so großem Interesse sein könnte. Asheroths Gesicht tauchte in ihren Erinnerungen auf. Er hatte sich nur halb zu ihr umgewandt.

Es gibt Dinge, die nicht einmal du über Anzheru wissen darfst, so sehr du ihn auch liebst. Keine Kenntnis davon zu besitzen, bedeutet Sicherheit für dich.

Herz

Leandros betrachtete den zerborstenen Baum nur kurz. Ein Körper musste dagegen geprallt sein. Ein kleiner Stofffetzen hing in den Überresten der aufgerissenen Rinde, der eindeutig nach Mira roch. Es war die einzige Spur von ihr, ansonsten stank es nur nach Hund und Blut. Charles kämpfte sich durch den Schnee zu ihm.

„Dort drüben liegt ein Wächter. Mira hat es tatsächlich fertig gebracht, einen von ihnen zu töten.“ Er wies über seine Schulter.

„Tove?“

„Nicht das geringste Anzeichen.“

Leandros rieb sich den Nacken. Asheroth hatte sie in der Hoffnung hergeschickt, die Mädchen oder wenigstens eine brauchbare Spur zu finden. Aber nun würden sie ihm wohl sagen müssen, dass sie Mira und Tove endgültig verloren hatten. Er hasste es, seinen Gebieter zu enttäuschen. Charles schloss sich ihm nur widerwillig an, als Leandros die Suche aufgab. Allerdings musste auch er einsehen, dass es nichts weiter zu finden gab. Die Adler waren fort. Sie beeilten sich auf dem Weg zu der Zitadelle. Dort war Asheroth allein zurückgeblieben, um sich Friedrich Eisengrunth zu stellen, dem Oberhaupt der Europäischen Gestaltwandler. Der Wind trug ihnen den Geruch von Blut entgegen, weshalb die beiden Leibwächter zum Sprint übergingen. Zum Glück hatte es endlich aufgehört zu schneien. Ein paar Schritte von der Ruine entfernt entdeckten sie die Leiche von Friedrich Eisengrunth, beziehungsweise zuerst seinen Kopf und dann den Rest. Im Tod waren alle Gestaltwandler wieder Menschen, was Leandros schon immer gewundert hatte. Selbst wenn es ihm gelungen war, einen Vogel vom Himmel zu holen, hatte er ihn am Boden in menschlicher Gestalt vorgefunden.

„Gebieter?“, rief Charles in die Stille hinein. Er war nirgends zu sehen oder zu hören, aber es roch noch ein wenig nach ihm. Leandros wandte sich nur zufällig zu den Trümmern der Ruine um, die im Kampf wohl beschädigt worden war. Ihm stockte der Atem. Zwischen den großen Steinen, die herabgestürzt waren, lag ein absolut regloser Körper. Wie in Trance näherte er sich ihm. Die eisblauen Augen standen weit offen, er atmete nicht, sein Herz schlug nicht. Leandros kniete sich neben Asheroth auf die Erde. Seine Aura war ebenfalls nicht mehr spürbar. Charles ging an seiner anderen Seite in die Hocke und schloss die fürchterlich starren Augen ihres Gebieters.

„Dieses eine Mal hätten wir ihm nicht gehorchen dürfen. Wir hätten bleiben müssen“, sagte Leandros mehr zu sich selbst als zu seinem langjährigen Waffenbruder. Er empfand keinen Schmerz, nur unendliche Leere. Sechzehn Jahrhunderte lang war er Asheroth überall hin gefolgt, um an seiner Seite zu kämpfen. Und nun gab es ihn einfach nicht mehr.

„Wir nehmen ihn mit. Anzheru soll entscheiden, wo wir ihn begraben.“ Charles hob den Oberkörper ihres Gebieters behutsam an, hielt jedoch plötzlich inne. „Sieh dir das an!“

Leandros widerstrebte es, Asheroths Leichnam zu untersuchen. Dennoch folgte er der Aufforderung und warf einen Blick auf die linke Seite von Asheroths Nacken. Der Bissabdruck eines Vampirs war zu sehen. Folglich war ihr Gebieter definitiv nicht im Nachhinein den Löwenbissen erlegen.

„Horatio?“, fragte Charles unsicher.

„Wer denn sonst?“, gab Leandros gereizt zurück. Weder Cinric noch Seth, die übrigen Mitglieder des Ältestenrats, konnte es ernsthaft mit Asheroth aufnehmen. Leandros legte den Körper seines Gebieters über die Schultern und bestand darauf, ihn die ganze Zeit über allein zu tragen. Charles ging stumm und niedergeschlagen neben ihm her. Keiner von ihnen ahnte, wie knapp sie Horatio entgangen waren. Irgendwo in der schwedischen Einöde stahlen sie ein Auto. Dennoch brauchten sie einige Stunden, bis sie die Küste erreichten. Die Gruppe um Commodus hatte die baltische See mit Sicherheit schon hinter sich gelassen. Charles kümmerte sich um die Überfahrt von einem Ort namens Gävle aus. Ihm merkten die Menschen nicht an, was er war. Zudem wirkte er so ungefährlich, dass niemand fragte, ob sie etwas im Kofferraum transportierten. In Petersburg wurden sie bereits von Jasminas Vampiren mit einem Hubschrauber erwartet. Die ganze Reise über fühlte Leandros sich wie betäubt. Er hielt Asheroths Körper fest, etwas anderes erschien vollkommen unwichtig. Sie flogen nicht zum Hauptquartier des Östlichen Clans, sondern zu einem abgelegenen Stützpunkt mitten im Nichts. Jasmina hatte Wachen zur Verfügung gestellt, die sich vor dem Gebäude postiert hatten. Nachdem sie gelandet waren, hob Leandros den Leichnam in seine Arme und trug ihn auf das dunkle aber robust wirkende Gebäude zu. Commodus kam ihnen als Erster entgegen.

Anzheru hatte das Geräusch des sich nähernden Helikopters selbstverständlich gehört. Er eilte nach draußen. Vielleicht gab es endlich einen Hinweis auf Miras Verbleib. Seine Hoffnung löste sich schlagartig auf, als er Leandros und Charles aus dem Hubschrauber steigen sah. Er blieb neben dem hünenhaften Ältesten stehen, den er seinen Onkel nennen durfte. Leandros trug Asheroth. Sein Kopf und seine Gliedmaßen hingen schlaff herab. Kein Herzschlag war zu hören. Hinter Anzheru versammelten sich nach und nach seine Vampire. Sie hatten offenbar seine Hoffnung auf Neuigkeiten geteilt und konnten nun nur den leblosen Körper seines Vaters betrachten. Charles löste sich von Leandros und kam direkt auf Anzheru zu. Er war einer von zwei Vampiren der Leibwache des Ältestenrats, die Anzheru vor zehn Jahrhunderten in Aberdeen aufgezogen hatten. Sie hatten sich immer nahe gestanden. Selbst noch als Anzheru die Leibwache verlassen hatte, war Charles immer herzlich und freundlich mit ihm umgegangen. Wortlos drückte der Leibwächter ihn kurz an sich. Die Geste genügte.

„Es muss Horatio gewesen sein“, sagte Leandros voller Verachtung. „Er hat ihm nicht einen Tropfen Blut gelassen.“

Commodus verbarg das Gesicht in einer seiner riesigen Hände. Als er sie wieder sinken ließ, konnte Anzheru ihm deutlich seine Trauer ansehen.

„Schlimmer konnte es nicht kommen. Dein Vater wusste Dinge, die besser im Verborgenen geblieben wären, vermutlich sogar Dinge, von denen nicht einmal ich weiß.“

„Dann weiß Horatio auch, wo wir sind?“, fragte einer der Vampire hinter Anzheru.

„Er war noch nie selbst in diesem Stützpunkt“, warf einer von Jasminas Leibwächtern ein. Commodus nickte ihm zu. „Das ist gut, aber Horatio wird eine Ahnung haben. Einen offenen Angriff wird er zum jetzigen Zeitpunkt dennoch nicht riskieren, da bin ich sicher. Er wird abwarten, bis wir einen Fehler machen, der uns verrät. Aber wir werden uns nicht zeigen.“

Anzheru hatte kaum zugehört. Er hatte erst recht keine Ahnung von Asheroths Geheimnissen. Sein Vater hatte sein Wissen nie mit ihm geteilt. Nicht einmal eine Erinnerung an seine Mutter hatte er ihm gezeigt. Horatio wusste nun alles.

„Du sollst entscheiden, wo wir ihn begraben.“ Charles‘ sanfte Stimme riss Anzheru aus seinen Gedanken. Er erwiderte nichts. Er schaute den Leibwächter nur mit leerem Blick an. Es kam Anzheru vor, als würde die Zeit einen Augenblick still stehen. In seinem Brustkorb regte sich etwas, von dem er lange geglaubt hatte, es sei verschwunden. Es schlich sich langsam von seinem Herz in seine Gedanken. Noch ist es nicht zu spät. Ich weiß, dass er noch mit dem Tod ringt. Ich könnte... Anzheru atmete tief durch. Alle Augen waren gespannt auf ihn gerichtet.

„Gib ihn mir.“ Er streckte fordernd die Arme vor. Zuerst rührte Leandros sich überhaupt nicht, dann näherte er sich Anzheru mit ungläubiger Miene. „Was hast du vor?“

Statt dem Leibwächter zu antworten, übernahm er den Körper des Ältesten und trug ihn ins Haus. In der oberen Etage gab es noch ein kleines Zimmer, das derzeit niemand brauchte. Commodus wies die anderen an, sich fernzuhalten. Nur er folgte Anzheru hinauf. Vermutlich ahnte er, was geschehen würde.

Leandros ballte zornig die Fäuste. Warum hatte Anzheru nichts gesagt? Charles verhielt sich ungewohnt ruhig. Er bat Edward nur, mit ihm auf die Jagd zu gehen. Wahrscheinlich litt er immer noch unter den Folgen der vielen Hundebisse und brauchte frisches Blut. Edward, der einst mit ihnen in der Leibwache gedient hatte, warf erst Leandros und dann Konstantin einen forschenden Blick zu.

„Ist es in Ordnung, wenn Leandros und ich euch begleiten? Meine kleine Frau ist unersättlich und ich möchte Blut für sie haben“, sagte der blonde Junge und wies mit dem Kopf zu Violetta hinüber. „Jasminas Wachen kommen sehr gut ohne uns zu Recht.“

Leandros war über Konstantins Vorschlag erstaunt, schließlich hatte der Junge ihn Jahrzehnte lang gemieden, wenn es nur irgendwie möglich gewesen war. Nun schlug er vor, gemeinsam auf die Jagd zu gehen, und schaute ihn freundlich an. Charles und Edward erklärten sich einverstanden, Helena und Violetta hatten keine Einwände gegen die Abwesenheit ihrer Gefährten. Hand in Hand gingen sie auf einen kleinen Spaziergang, um Commodus‘ Befehl nachzukommen. Jasminas Vampire folgten ihnen in kurzem Abstand.

Anzheru legte Asheroths Körper auf dem schmalen Bett ab, dann zog er ihm die Überreste seiner Jacke und seines Hemds aus.

„Willst du es wirklich riskieren, Neffe? Er ringt schon sehr lange mit dem Tod. Es könnte dich mitreißen.“ Commodus flüsterte nur, obwohl das Haus vollkommen leer war. Jasminas Wachen befanden sich ausschließlich draußen und blieben strikt in Violettas Nähe.

„Ich bin mir der Gefahr bewusst“, erwiderte Anzheru stur. „Hast du ein Messer?“

Der Hüne seufzte leise und reichte ihm den Dolch, den er immer versteckt am Gürtel trug. Dann trat er zurück und hielt den Atem an. Anzheru tastete nach den unteren Rippen seines Vaters. Dort schnitt er seinen Brustkorb auf, um ihm nicht noch mehr Knochen zu brechen. Einiges an Gewebe versperrte den Weg zu seinem Herz, aber Anzheru blieb unnachgiebig. Er musste die Hand zum großen Teil unter Asheroths Rippen hindurch schieben, um seine Herzkammer zu erreichen. Auch diese ritzte er vorsichtig an. Commodus stand stumm hinter ihm und beobachtete nur, wie Anzheru seine Hand wieder aus dem leblosen Körper herauszog, um sich die Fingerkuppen mit seinem Dolch aufzuschneiden. Anschließend schob er seine Hand ein zweites Mal unter den Rippen seines Vaters hindurch und füllte sein Herz mit lebendigem Blut. Er konnte spüren, wie sehr das vampirische Gewebe nach Blut gierte und daher seine Schnittwunden offen hielt. Es würde immer weiter fließen. Aus diesem Grund war es sowieso sehr gefährlich, Wunden auf diesem Weg zu heilen. Sein eigenes Blut in das Herz eines anderen Vampirs zu füllen, war schon fast irrsinnig. Anzheru musste seinem Vater genug geben, damit er von der Schwelle des Todes zurückkehrte, aber auch selbst genug behalten, um nicht seinen Platz dort einzunehmen. Es lag nur ein sehr schmaler Grat zwischen Leben und Tod. Anzheru war bewusst, dass er bei weitem nicht so lange gegen den Tod ankämpfen konnte wie Asheroth. Niemand konnte das. Commodus hielt sich dankbarerweise bereit, Anzheru von seinem Vater loszureißen, falls er die Kontrolle verlieren sollte. Die Sekunden verstrichen. Der Geborene begann, den Blutverlust in seinem Kopf zu spüren. Jeder seiner Instinkte befahl ihm, sofort aufzuhören und sich sein Blut zurückzuholen. Ein Zucken, so gering dass es kaum zu spüren war, ging endlich durch Asheroths Herzmuskel. Anzheru atmete erleichtert auf und löste seine Fingerkuppen aus dem langsam erwachenden Organ.

„Hat es funktioniert?“, flüsterte Commodus.

„Es wird dauern, bis wir Gewissheit haben. Bleibst du bei ihm?“

Der Älteste nickte. „Ja, natürlich.“

Anzheru verließ mit eiligen Schritten den Raum und begab sich nach unten. Commodus holte ihn in der geräumigen Diele ein, von der aus größere Aufenthaltsräume und die Küche zugänglich waren. So groß wie jetzt war sein Blutdurst schon lange nicht mehr gewesen. Fahrig durchsuchte Anzheru die Küche nach irgendetwas, das seine brennende Kehle löschen konnte. Commodus lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete seine hastigen Bewegungen aufmerksam, bis der Geborene irgendwo in einem der zahllosen Schränke wenigstens eine halbvolle Flasche Rotwein fand.

„Warum tust du das?“

„Ich werde wahnsinnig vor Durst.“ Anzheru fiel es schwer, noch einen halbwegs ruhigen Ton zu treffen. Auf Commodus war er nicht wütend, aber sein Onkel besaß ein eigenartiges Talent dafür, zum falschen Zeitpunkt unpassende Fragen zu stellen.

„Du weißt, was ich meine.“ Der Älteste wies mit dem Kopf zur Decke. Genau über ihnen befand sich Asheroths Lager.

„Niemand wird verstehen, warum ausgerechnet du ein so großes Risiko für ihn eingegangen bist. Am wenigsten er selbst.“

Anzheru spannte die Kiefer an, dann trank er den kläglichen Rest in der Weinflasche in einem Zug aus.

„Wirst du mir antworten?“, hakte Commodus nach. Der Geborene setzte geräuschvoll die Flasche ab, dann schüttelte er den Kopf. Anzheru wäre am liebsten sofort aus dem Stützpunkt verschwunden, um niemandem mehr zu begegnen, der Fragen stellte.

„Verrätst du mir dann, woher du wusstest, dass diese eine Möglichkeit noch bestand? Auch ich habe geglaubt, er sei bereits verloren.“ Der Älteste blieb erstaunlich geduldig. Es war eine der Eigenschaften, die Anzheru so sehr an ihm schätzte. Er rieb sich den Nacken. „Wir sind miteinander verbunden. Du weißt, dass er mich immer und überall finden kann.“

Anzheru musste kurz an die Nacht zurückdenken, in der Asheroth eben diese Fähigkeit genutzt hatte, um ihn auf dem Weg zu Tristan und Kyrill abzufangen. Gemeinsam hatten sie Mira gerade noch befreien können. Commodus legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Ich dachte, es funktioniert nur in die eine Richtung.“

„Ich kann ihn nicht durch meinen Tastsinn aufspüren. Mein… Erbe beschränkt sich darauf, dass ich Asheroths Präsenz spüre. Sie war sehr geschwächt, aber noch nicht ausgelöscht.“

„Von dieser Fähigkeit hast du nie zuvor etwas erwähnt.“ Im Gesicht des Hünen zeichnete sich leise Sorge ab. „Hattest du sie von Geburt an?“

Anzheru nickte. „Es kam mir normal vor. Als mir bewusst wurde, dass es das nicht ist, war ich bereits sein oberster Leibwächter. Es erschien mir unangemessen, darüber zu reden.“

Und davon, dass er irgendwann die Stimmung seines Vaters von dessen Bewegungsmuster hatte ableiten können, wollte er auch jetzt nicht berichten. Commodus nickte endlich zufrieden und ließ ihn gehen. In der Diele sprach er ihn allerdings noch einmal an, bevor er auf die Jagd gehen konnte. „Schwöre mir, dass du zurückkommst, Neffe. Mach dich nicht allein auf die Suche nach deiner Tageswandlerin.“

Anzheru wandte sich ungeduldig zu ihm um.

„Allein wirst du es nicht schaffen und wenn du tot bist, hat sie nichts mehr von dir“, fügte Commodus mit Nachdruck hinzu. Seine dunklen Augen durchbohrten Anzheru unnachgiebig, bis er notgedrungen zustimmte.

„Asheroth wird dich nicht ohne eine Erklärung davon kommen lassen.“

„Warum?“, erwiderte der Geborene gereizt. „Warum kann er sich nicht damit zufriedengeben, dass ich ihn ins Leben zurückgeholt habe? Wenn er denn tatsächlich wieder aufwacht.“

Commodus atmete hörbar aus. „Es ist ganz einfach. Er will dich verstehen.“

„Seit wann das denn?“

Der Älteste warf ihm einen bedauernden Blick zu. „Ich weiß, dass sehr viel zwischen euch steht. Trotzdem solltest du über deine Antwort nachdenken, wenn du auf der Jagd bist. Und auch darüber, wie du zu Tove stehst.“

Anzheru rieb sich die Nasenwurzel. Leider musste er Commodus Recht geben. Das Halbblut würde früher oder später der zweite wichtige Punkt im Konflikt mit seinem Vater werden. Ohne ausreichend frisches Blut in seinem Körper würde er diese Sache niemals durchstehen. Commodus sah ihn allerdings immer noch unverwandt an.

„Willst du mir noch etwas sagen?“ Anzheru versuchte ein entschuldigendes Lächeln für sein aggressives Verhalten. „Onkel?“, fügte er hinzu.

„Ja, aber du solltest dich wirklich erst stärken. Geh jetzt.“

Ursprung

Es war dunkel. Absolut dunkel. Er konnte nicht atmen, keinen Muskel rühren. Nur der Tod war da und wartete. Der Tod würde weder müde noch ungeduldig werden. Sein Blut brannte. Es quälte ihn, seit sein Herz geöffnet worden war. Es war so fremd und doch vertraut. Schon einmal hatte er fremdes Blut in sich gespürt. Kurz bevor er zum allerersten Mal als Schattenwandler die Augen geöffnet hatte. Seine Finger krallten sich in nassen Stein. Die Welt fühlte sich intensiver und so viel lebendiger an. Der Boden vibrierte unter den Schritten zweier Männer, die sich ihm näherten. Asheroth setzte sich auf. Als seine Füße den Boden berührten, fühlte es sich an, als würden tausende Nadelstiche seine nackten Sohlen durchbohren. In dem finsteren Kerkerraum war mit den Augen kaum etwas zu erkennen, trotzdem wusste er, dass die beiden Männer keine Menschen waren. Er selbst fühlte sich nicht mehr an wie ein Mensch.

„Das ging verflucht schnell. Er hat nur einen Tag geschlafen.“

„Hector besitzt langsam Übung darin, vielleicht liegt es daran.“

Die beiden Männer sprachen Griechisch. Asheroth stemmte sich mit aller Kraft von seiner steinernen Liege, um ihnen entgegenzutreten. Dabei konnte er kaum stehen. Er war rasend vor Durst. Zuerst erschien ein blonder Mann mit grünen Augen in dem Durchgang, der in das verfallene Gewölbe führte. Ein wahrer Hüne mit dunklem Haar und Augen, die schimmerten wie dunkle Edelsteine, folgte ihm auf dem Fuß.

„WER SEID IHR UND WAS IST MIT MIR PASSIERT?“, brüllte Asheroth sie an. Er war kein Sklave. Wie konnten sie es wagen, ihn zu verschleppen?

„Ich bin Achilleas“, sagte der Blonde. „Dies ist mein Bruder Commodus. Beruhige dich, Hector wird es dir erklären.“

Als Achilleas sich ihm nähern wollte, zerrte Commodus ihn mit einer seiner prankenartigen Hände zurück. „Pass auf! Ich kann sie jetzt sogar sehen.“

„WAS? WAS KANNST DU SEHEN?“ Asheroth stand kurz davor, aus lauter Zorn auf sie loszugehen, obwohl sie beide größer waren als er.

„Deine Aura“, knurrte der Hüne, doch Achilleas wand sich unbeirrt aus seinem Griff und kam auf ihn zu. „Kannst du gehen? Hast du Schmerzen?“

„Es geht schon!“, gab Asheroth widerwillig zurück. Er wollte sich nicht stützen lassen, obwohl seine Sohlen bei jedem seiner Schritte heftig gegen die Belastung protestierten. Trotzdem konnte er die Schritte der beiden anderen immer noch spüren, als sie das Gewölbe verließen. Vor ihnen erstreckte sich ein endloser Sandstrand, doch dies war nicht seine Heimat.

„Wo zum Henker sind wir?“, fragte Asheroth wütender denn je. Dieser Durst machte ihn wahnsinnig. Er war ernsthaft versucht, Meerwasser zu trinken, obwohl er von den Seefahrern Karthagos wusste, dass es den Durst nur schlimmer machte.

„Nahe Rom“, mischte sich eine fremde Stimme ein, bevor Achilleas antworten konnte. Asheroth fuhr herum. Ein Mann trat aus dem Schatten der Ruine hervor. Er war groß und hager, seine kalten blauen Augen fixierten ihn wie ein Raubtier seine Beute. Dies war also Hector, der ihn gefangen genommen und verschleppt hatte. Ohne dass er das Geringste gespürt hatte, war er von Karthago aus über das Meer nach Norden gebracht worden, aber das beschäftigte Asheroth nun nicht mehr so sehr. Ein Mann wie Hector war ihm zuvor nie begegnet.

„Willkommen, mein Sohn.“ Seine Stimme ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Er war unheimlich stark, jeder seiner Schritte verriet es. Sein Herz schlug unregelmäßig und seltsam gedehnt.

„Komm mit mir. Ich werde dir alles erklären.“

Asheroths Zorn war verraucht. Hectors gesamte Erscheinung war so eindrucksvoll, obwohl er von dürrer Gestalt war, dass er nicht einmal mehr daran dachte, ihn anzugreifen. Die anderen blieben zurück. Asheroth entdeckte noch einen dritten dieser unmenschlichen Männer bei einem kurzen Blick über die Schulter. Er war ähnlich dürr wie Hector, nur kleiner. Und er starrte Asheroth durchdringend an, beinahe schon eifersüchtig. Später sollte er erfahren, dass er Horatio hieß und der älteste der Brüder war. Auf dem Weg zur nächsten Hafenstadt erzählte Hector Asheroth seine Geschichte. Er stammte aus einer weit entfernten Region, die nun zum persischen Reich gehörte. Sein Dorf war als Exempel für die umliegenden Siedlungen restlos vernichtet worden.

„Sie verbrannten die Häuser, streuten Salz auf die Äcker und vergifteten die Brunnen. Die Familien wurden ausgerottet, nicht einmal die Kinder nahmen sie mit. Nur Atra, die Frau des Oberhauptes, ließen sie am Leben. Und aus blankem Hohn gaben sie ihr ihre vier Kinder zurück, damit sie allen anderen erzählten, wie mächtig die Perser waren.“

Hectors Miene konnte Asheroth entnehmen, dass er gerade einem dieser vier Kinder über die Dünen folgte. Doch er empfand kein Mitleid. Solche Dinge passierten. Es war ein effektiver Weg den Widerstand kleinerer Völker zu brechen und sie zu unterwerfen.

„Meine Mutter verfluchte die Perser und all jene, die uns nicht zu Hilfe gekommen waren“, fuhr Hector fort. „Meine Schwestern, mein Bruder, wir alle schworen ewige Rache.“

Asheroth hob skeptisch die Augenbrauen. Wie sollte so etwas möglich sein? Seine Pläne würden mit Hector sterben. Kein einzelner Mann und auch nicht vier Geschwister konnten ein Reich wie das der Perser vernichten.

„Und aus diesem Grund suchten meine Geschwister und ich Wege, stärker zu werden. Meine Schwester Irsia verbrüderte sich mit den unsterblichen Wölfen des Tibers und verhalf ihnen somit dazu, bei Mondlicht menschliche Gestalt anzunehmen. Ihrer Bitte Menschen zu töten, kommen die Mondwandler nun sehr gerne nach“, erzählte Hector gedankenverloren weiter. „Meine zweite Schwester Jala ist nach Norden aufgebrochen, um nach anderen Feinden des Menschen zu suchen. Meinen Bruder Dastan habe ich bedauerlicherweise aus den Augen verloren.“

„Und was habe ich damit zu tun?“, fragte Asheroth ungeduldig.

„Als ich dich nahe deiner Heimat eine Löwin jagen sah, wusste ich, dass du wie geschaffen für unsere Angelegenheiten bist. Du bist furchtlos, nicht einmal der Tod ängstigt dich.“ Hectors Augen begannen zu funkeln, als hätte er einen wertvollen Schatz entdeckt. Asheroth zuckte nur mit den Schultern. „Der Tod folgt mir schon sehr lange.“

„Wie lange? Erzähle es mir, mein Sohn.“

Asheroth empfand es langsam als abstoßend, wie beharrlich dieser Fremde ihn mit Sohn ansprach. „Seit meiner Geburt“, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen.

„Weshalb?“

Er atmete angestrengt aus und erschauderte selbst bei dem Geräusch, das aus seiner Kehle drang. Es war das Grollen eines Raubtiers. Hectors Augen wurden schmal. „Antworte, Asheroth.“

Sein Tonfall war plötzlich nicht mehr freundlich, sondern gebieterisch. Asheroth verstand nicht, warum es wichtig war, doch er sagte es ihm. „Meine Zwillingsschwester wurde nach mir tot geboren. Und alle sahen es als schlechtes Zeichen an.“

„Du wirst gemieden.“

„Ja!“ Der Zorn loderte erneut in ihm auf. Asheroth würde diesen Durst nicht mehr lange aushalten. Hector schenkte ihm etwas Ähnliches wie ein Lächeln. „Die Menschen haben allen Grund dazu. Auf dir lastet ein Fluch. Und nun, da du einer von uns bist, ist seine Auswirkung noch wesentlich stärker geworden.“

„Was bin ich denn?“ Asheroth schrie beinahe, es kümmerte ihn nicht, dass ihn eventuell irgendjemand hörte.

„Ich habe dich zu einem Schattenwandler gemacht. Du bist größer und stärker als ein Mensch. Verletzungen und Krankheit können dir nichts anhaben. Solange du dich vom Sonnenlicht fernhältst, kann dir nichts etwas anhaben.“ Hectors Mundwinkel formten sich zu einem diabolischen Grinsen. „Dafür verlange ich nur deine Treue und deinen Gehorsam. Ich weiß, dass du Durst hast. Ich werde dir zeigen, wie du ihn stillen kannst.“

In jener Nacht hatte er zum ersten Mal das Blut eines Menschen getrunken und anschließend eine ganze Familie ausgerottet. Asheroth empfand keine Reue. Kein Mensch hatte ihn je gemocht. Seine eigene Familie hatte ihn immer verabscheut. Manchmal hatte er sich gewünscht, dass es nicht so wäre, aber von diesem Gedanken verabschiedete er sich nun. Er genoss es sogar ein wenig zu töten. Und es gab insgesamt nicht viele Regeln, an die er sich halten musste.

Gehorche Hector, tritt nicht in die Sonne, trinke nicht von Tieren und halte dich von Menschen fern. Oder töte sie.

Wochen lang hatten er und seine Brüder sich unter Hector lautlos durch die römische Bevölkerung gemordet. Dank seines Tastsinns fand Asheroth die nahrhaftesten Menschen wesentlich schneller als die anderen. Er lernte, nach jenen zu suchen, die keine versteckten Geschwüre hatten. Achilleas riet ihm nach kurzer Zeit, den anderen seinen überscharfen Sinn lieber nicht zu zeigen. Vor allem Hector sollte nichts davon wissen. Achilleas und Commodus vertrauten ihrem Gebieter nicht ganz und hielten ebenfalls geheim, dass sie besondere Fähigkeiten besaßen. Der Hüne konnte Dinge sehen, die für die anderen im Verborgenen blieben. Achilleas hingegen besaß bessere Ohren als jedes andere Raubtier. Er schloss sich Asheroth auf der Jagd an, wann immer Hector es zuließ. Überhaupt schien Achilleas, der ursprünglich aus Sparta stammte, Asheroth trotz seiner Aura zu mögen. Commodus hingegen misstraute ihm noch eine ganze Weile und Horatio verachtete ihn aus irgendeinem unerfindlichen Grund. Allerdings behandelte der älteste der Brüder sie in diesem Punkt alle gleich. Nach etwa zwei Monaten beschloss Hector, das Umland von Rom zu verlassen und sie zogen zu Fuß über die Alpen. Es stellte keine Schwierigkeit für die Schattenwandler dar, denn sie waren ausdauernder als jedes andere Lebewesen. Jede Nacht legten sie viele tausend Schritte zurück, nur im Tageslicht konnten sie nicht weiterziehen. Nördlich der Alpen trafen sie auf sehr kriegerische Menschen, welche von den Römern später einmal als Germanen bezeichnet werden sollten. Hector wollte einen der ihren zu einem Schattenwandler machen. Der junge Mann namens Cinric war ihm aufgefallen, weil er sich während einer Fehde zwischen zwei Dörfern als erbarmungsloser und effektiver Kämpfer erwiesen hatte. Asheroth hatte seinen Gebieter auf jenem Streifzug begleitet, auf dem sie Cinric entdeckt hatten, und hatte ein ähnliches Handeln wie bei seiner Entführung erwartet. Hector hatte ihn blitzartig überwältigt und verschleppt, doch mit Cinric redete der Vater der Schattenwandler seelenruhig vor seiner Verwandlung, als wäre es das Normalste der Welt. Verwirrt sprach Asheroth Achilleas in der folgenden Nacht darauf an, als sie gemeinsam mit Commodus auf die Jagd gingen.

„Er hat mit jedem von uns vorher darüber gesprochen. Nie wieder die Sonne sehen zu dürfen, ist schließlich ein hoher Preis“, erwiderte der Spartaner verwundert.

„Ihr durftet es euch aussuchen?“, wiederholte Asheroth verständnislos.

„Ja, ich war ein Sklave, bevor Hector mich fand. Er versprach mir, dass ich den Mann töten darf, der mich mein ganzes Leben lang gequält und gedemütigt hat. Was hatte ich schon zu verlieren?“ Commodus rieb sich den Nacken. „Hat er dir etwa nicht die Wahl gelassen?“

Asheroth schüttelte den Kopf. Achilleas weigerte sich, seine Geschichte zu erzählen, aber darüber würde er sich erst später wieder Gedanken machen. Es war das erste Mal, dass Asheroth sich von Hector betrogen fühlte. Kurz darauf erschien Cinric in ihrem Lager, um ihren Gebieter aufzusuchen. Tatsächlich stimmte er freiwillig zu, ein Schattenwandler zu werden. Hector ging mit ihm fort. Asheroths stummer Zorn wuchs. Zum einen war ihm nicht die Wahl gelassen worden, zum anderen verriet Hector ihnen nicht, wie er seine Geschöpfe erschuf, sondern tat es im Geheimen. Achilleas war ebenfalls anzumerken, dass er mit der Situation unzufrieden war. Allerdings weigerte er sich, mit Asheroth zu sprechen. Irgendetwas stand zwischen ihnen, doch Asheroth hatte zu diesem Zeitpunkt keine Nerven für seinen Bruder übrig. Während sie auf Cinrics Erwachen warten mussten, stellte Asheroth Hector allein zur Rede. „Warum hatten die anderen die Wahl, ob sie dir folgen wollen, aber ich nicht?“

Sein Gebieter senkte bedrückt die Lider über seine kalten, blauen Augen. „Ich wusste, dass du das eines Tages fragen würdest, Sohn. Ich hatte mir immer Männer gewünscht, die mir aus Überzeugung folgen, daher fragte ich deine Brüder vorher, ob sie es wirklich wollten. Aber du… Als ich dich jagen sah und wusste, dass du selbst als Mensch schon etwas Unmenschliches an dir hattest, da musste ich dich einfach haben.“

Asheroth verzog ungläubig das Gesicht. „Du hattest Angst, ich würde ablehnen?“

„Ja! Der Gedanke, dich nicht in meinem Gefolge zu haben, machte mich rasend. Du musst wissen, dass auch ich vor meiner Wiedergeburt als Schattenwandler etwas Abstoßendes an mir hatte. Die Menschen, die mich umgaben, fürchteten mich.“ Er machte eine kurze Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Wenn ich leibliche Söhne haben könnte, wünschte ich, sie wären wie du. Ich hoffe, du vergibst mir irgendwann mein selbstsüchtiges Handeln. Gefällt dir dein neues Leben denn nicht?“

Zu behaupten, er wäre lieber kein Schattenwandler, wäre eine Lüge gewesen. Asheroth nickte nur stumm. Doch die verweigerte Wahl blieb ihm immer im Gedächtnis.

Nachdem Cinric endlich als Schattenwandler erwacht war, erfüllten Hector und alle seine Söhne die Bedingung für seine Gefolgschaft. In nur einer Nacht rotteten sie ein ganzes Dorf aus, das seinem Stamm feindlich gesinnt gewesen war. Asheroth empfand zu diesem Zeitpunkt nichts dabei, aber er bemerkte, dass Achilleas Frauen und kleine Kinder mied. Nach diesem Blutbad verließen sie das Land der Germanen endlich und zogen weiter nach Westen. Überall schien es Menschen zu geben. Asheroth vermutete, dass Hector weiter nach potenziellen Söhnen suchte, doch keiner der Kelten schien sein Interesse zu wecken. Er beobachtete die Menschen nur und lernte durch zuhören ihre Sprachen. Nebenbei forderte er seine Söhne auf, den Schwertkampf zu üben. Asheroth besaß keine nennenswerte Erfahrung im Kampf, da er nicht in der Armee Karthagos aufgenommen worden war. Bei Commodus verhielt es sich ähnlich, denn einen einfachen Sklaven lehrte niemand das Kämpfen. Cinric hatte immerhin schon an den wilden Schlachten seines Volkes teilgenommen und stellte sich halbwegs vernünftig mit dem Schwert an. Achilleas hingegen war in seinem menschlichen Leben ein Spartiat, ein Soldat Spartas, gewesen und machte seiner Herkunft alle Ehre. Obwohl Commodus als der Ältere körperlich stärker war als er, gelang es ihm nicht einmal, Achilleas auch nur in Bedrängnis zu bringen. Hector schaute ihnen einige Nächte lang zu, wobei Horatio einem Schatten gleich an seiner Seite blieb. Der älteste der Söhne nahm nicht an den Übungskämpfen teil. Asheroth wunderte sich zwar ein wenig darüber, aber es kümmerte ihn nicht weiter, da er so Horatios Argwohn und Gehässigkeit nicht ständig aus nächster Nähe ertragen musste. Einige Wochen später und wieder nahe Rom ergab es sich, dass er allein mit Achilleas bei einem verlassenen römischen Stützpunkt den Schwertkampf übte. Die anderen waren auf die Jagd gegangen. Asheroth machte im Vergleich mit seinen Brüdern definitiv die besten Fortschritte, aber das genügte dem Spartaner offenbar nicht. Er ließ keine Gelegenheit aus, ihn schmerzhaft zu Boden zu schicken. Nebenbei herrschte zwischen ihnen immer noch eisernes Schweigen über Hectors Verhalten und Achilleas‘ Vergangenheit. Asheroth beging daher den Fehler, ihn im Zorn anzugreifen. Der Spartaner konterte ihn mit Leichtigkeit aus und verpasste ihm eine tiefe Schnittwunde in der rechten Seite, bevor er ihn erneut zu Fall brachte. Asheroth blieb keuchend liegen. Seine Wunden heilten zwar schnell, aber Schmerz empfand er nach wie vor.

„Du schützt deine rechte Flanke nicht“, bemerkte Achilleas tonlos.

„Das spüre ich“, erwiderte Asheroth verbissen und hielt sich die rechte Seite.

„Erbärmlich! Was warst du vorher? Ein Priester, der sich nie die Hände schmutzig machen musste?“, spottete der Spartaner weiter.

„Mein Vater ist tatsächlich Priester der Tanit, falls dich das interessiert.“

„Eine angesehene Familie also“, murmelte er herablassend. Achilleas‘ Sarkasmus trieb Asheroth langsam zur Weißglut. Er schleuderte das Breitschwert zu Boden, sein älterer Bruder tat es ihm gleich. Mit den bloßen Fäusten gingen sie aufeinander los.

„Wie kommt es, dass du sie überhaupt nicht vermisst?“, fragte Achilleas gehässig, nachdem er ihm die Nase gebrochen hatte. Asheroth ließ nur ein lautes, tiefes Grollen ertönen. Was ging es ihn schon an?

„Habe ich den wunden Punkt getroffen? Sind sie vielleicht froh, dass du fort bist?“

Jetzt war Achilleas zu weit gegangen. Asheroth duckte sich im letzten Moment unter seinem nächsten Angriff hindurch und riss ihn von den Beinen. Sie wälzten sich über die Erde, bis der Spartaner ihn auf den Schulterblättern festnagelte.

„Nun, Asheroth? Willst du nicht antworten?“

Sie bluteten beide, Asheroth aus der Nase, Achilleas hatte eine breite Platzwunde über dem linken Jochbein. Außerdem hatten einige Rippen bei ihnen beiden deutlich hörbar geknackt, als sie gebrochen waren.

„Sie hassen mich!“ Er stieß den Spartaner mit aller Kraft von sich. Schweratmend blieben sie auf der Erde sitzen.

„Sie hatten immer schon Angst vor mir, weil sie glaubten, ich bringe den Tod!“

Der Sarkasmus schwand aus Achilleas‘ Gesicht. „Und dann akzeptierst du einfach, was Hector dir angetan hat?“

Asheroth zuckte mit den Schultern. „Er gab mir eine Zukunft! Und Anerkennung! In meiner Heimat wäre ich spätestens nach dem Tod meines Vaters entweder verstoßen oder getötet worden. Meine eigene Mutter hat versucht, mich zu vergiften!“

Achilleas starrte ihn entsetzt an. Eine Weile herrschte Stille bis auf das Geräusch des Windes.

„Ich verstehe“, sagte der Spartaner schließlich. Asheroth atmete wieder etwas ruhiger und musterte ihn eindringlich. „Was ist mit dir? Du durftest entscheiden, ob du Sparta verlässt, oder nicht?“

Achilleas starrte zu Boden. „Nein, das konnte ich nicht. Ich wurde ausgepeitscht und aus meiner Heimat verbannt. Als Hector mich fand, war ich halb tot.“

Er rieb sich nachdenklich über Nacken und Schultern. „Er versprach mir Vergeltung. Ich war blind vor Rachsucht und bettelte regelrecht darum, dass er mich am Leben erhält.“

Endlich erzählte auch Achilleas seine Geschichte. Er hatte immer geglaubt, er würde seinem Hauptmann dienen und würde dafür respektiert werden. Doch bei der ersten Gelegenheit wurde er von jenem Hauptmann fallen gelassen und für ein Verbrechen bestraft, das er nicht begangen hatte. Niemals hätte er es gewagt, der Tochter seines Königs auch nur ein Haar zu krümmen, doch den Worten seines Hauptmanns wurde nun einmal mehr Glauben geschenkt als den seinen.

„Dann war es dein gutes Recht, Rache zu fordern“, warf Asheroth ein. Achilleas schüttelte den Kopf. „Wenn ich ihm offen mit dem Schwert entgegengetreten wäre vielleicht. Aber ich tötete ihn im Schlaf. Dann habe ich fast meine ganze Einheit ausgelöscht, die mich nicht in Schutz genommen hatte. Das hatten sie nicht verdient.“

„Und du bereust, dass du nun zu Hector gehörst.“ Es war offensichtlich. Asheroth brauchte es nicht als Frage zu formulieren. Mittlerweile waren sie wieder aufgestanden und gingen an der hohen Klippe vor dem Außenposten entlang.