Tageswandler 3: Letizia - Al Rey - E-Book

Tageswandler 3: Letizia E-Book

Al Rey

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Beschreibung

Konstantin ist mit Violetta und seiner kleinen Tochter auf dem Weg nach Hause, als sie plötzlich von Werwölfen angegriffen werden. Seit fünfhundert Jahren wurde der Pakt der Unsterblichen, der den Wölfen verbietet Italien zu verlassen, damit zum ersten Mal gebrochen. Schnell finden sich weitere Spuren von ihnen. Der Leitwolf Vincent weist jedoch jede Schuld von sich. Außerdem schuldet Asheroth ihm immer noch einen Gefallen... Mira und Anzheru finden sich über Nacht in einem Konflikt wieder, der älter ist als sie selbst. Älter als die allermeisten Unsterblichen. bereits erschienen: Band 1 Mira, Band 2 Anzheru, Band 4 Shaun, Band 5 Gigi und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 6 Igor und Band 7 Yero

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Inhaltsverzeichnis

Tageswandler 3

Über die Autorin

Widmung

Prolog

Welpe

Mündel

Hinweis

Instinkt

Hierarchie

Trost

Kindheit

Provokation

Schwäche

Annäherung

Hoffnung

Seth

Verhängnis

Vernichtung

Versöhnung

Waise

Respekt

Wiedersehen

Schuld

Verbindung

Begabung

Befreiung

Schnitt

Gewissen

Ungeboren

Verwandlung

Unsterblichkeit

Erlösung

Epilog

Impressum

Tageswandler 3

~Letizia~

Von Al Rey

Über die Autorin

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.

Kontakt:

al-rey.jimdofree.com

[email protected]

Widmung

Für Elke

Prolog

„Schlaf gut, mein kleiner Schatz.“ Konstantin gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. Ausnahmsweise schien Letizia schon müde genug zu sein, um vor dem Morgengrauen einzuschlafen. Die ganze Nacht über war sie mit einer Vampirin namens Nadja, die zu Jasminas Leibwache gehörte, herumgetollt und tatsächlich hatte Nadja es geschafft, Letizia satt und müde zu bekommen. Konstantin richtete sich auf, nachdem er sein Kind zugedeckt hatte. Violetta stand hinter ihm im Türrahmen und lächelte ihn an.

„Nadja hat ganze Arbeit geleistet“, flüsterte er mit einem leisen Lächeln.

„Ja.“ Vio streckte ihm eine Hand entgegen. „Ruhen wir uns auch ein bisschen aus.“

Konstantin stimmte bereitwillig zu und ließ sich von ihr in ihr Gästezimmer nebenan führen. Auf Jasminas Einladung waren sie für eine Woche ins Hauptquartier des Östlichen Clans gereist. Am kommenden Abend würden sie die Heimreise antreten. Konstantin schaute durch einen Spalt im Vorhang hinaus auf die weite Landschaft, die Jasminas Clan gehörte. In jenem Winter, in dem Letizia geboren worden war, war ihm die sibirische Ebene furchtbar karg und trostlos vorgekommen. Nun im Sommer zierten vereinzelte Blumen den dunkelgrünen Rasen vor dem Schloss. Der Wind drückte die Halme sanft in wiederkehrenden Wellen nieder. Konstantin atmete vollkommen ruhig durch. Seine kleine Tochter war nun eineinhalb Jahre alt, aber schon so groß wie ein vierjähriges Mädchen. Für ihn persönlich wuchs sie viel zu schnell, nur zehn Jahre erschienen ihm zu wenig, um sie aufwachsen zu sehen. Doch als geborene Vampirin würde Letizia nicht mehr Zeit brauchen, um groß und stark zu werden. Die Geborenen durchbrachen das Prinzip, dass stets die älteren Vampire auch die Stärkeren waren. Vermutlich würde es gar nicht allzu lange dauern, bis Letizia stärker war als ihre eigene Mutter. Vios zarte Finger schoben sich gerade unter Konstantins Shirt und rissen ihn aus seinen ausschweifenden Gedanken.

„Komm ins Bett“, flüsterte sie verheißungsvoll.

„Wenn das für dich ausruhen bedeutet.” Er grinste breit, während er ihren zierlichen Körper an sich zog. Im Moment bestand keine Gefahr, dass sie ein zweites Kind von ihm empfangen könnte, daher hob er sie unterhalb der Hüfte hoch und warf sie aufs Bett. Solange sie ihre Tochter nicht atmen hörten, hatten sie ein paar Stunden für sich. Am Abend verabschiedeten sie sich herzlich von Jasmina und Nadja. Konstantin musste Letizia auf den Arm nehmen, damit sie sich nicht mehr an Nadjas Bein festklammerte.

„Müssen wir wirklich schon nach Hause?”, fragte seine Tochter zum wiederholten Male.

„Dann siehst du Mira wieder”, konterte Vio mit einem warmherzigen Lächeln. Dieses Argument überzeugte Letizia, denn sie hatte einen wahren Narren an der Tageswandlerin gefressen. Auch Anzheru bekam hin und wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, ob er wollte oder nicht. Die beiden hatten Letizia bereits am Tag ihrer Geburt ins Herz geschlossen und freuten sich bestimmt ihrerseits auf ihre Rückkehr. Jasminas Leibwache übergab ihnen einen Wagen, den sie an dem kleinen Privatflughafen abstellen sollten, an dem eine Maschine nach Oslo auf sie wartete. Ein Vampir des Östlichen Clans würde in den nächsten Tagen dort eintreffen und einfach mit diesem Wagen zurückfahren. Asheroth und Achilleas hatten Jasmina ebenfalls um einen Flug gebeten und würden dementsprechend mit ihnen reisen. Konstantin war nicht ganz wohl dabei, die beiden Ältesten in der Nähe seiner Tochter zu wissen, aber das musste er leider in Kauf nehmen. Letizia besaß zum Glück keine schlechten Erinnerungen an sie und fürchtete sich nicht vor ihnen. Sie mussten gut zwei Stunden fahren, bis sie den Flughafen erreichten. Konstantin parkte das Auto wie besprochen an der Rückseite des Gebäudes. Danach holte er ihre Reisetasche aus dem Kofferraum, während Vio und Letizia auf das Gebäude zu spazierten. Plötzlich hielt seine Gefährtin inne. Konstantin sog konzentriert die Luft ein. Es roch beunruhigend nach Vampirblut und nach etwas anderem. Er konnte es nicht recht zuordnen, aber es verhieß absolut nichts Gutes. Vio warf ihm einen verängstigten Blick zu. Auf den fremden Geruch folgte ein dumpfes Knurren. Es klang nicht wie das Grollen eines Gestaltwandlers oder eines Vampirs.

„Papa?” Letizia schaute ängstlich zu ihm auf. Konstantin stellte die Tasche ab und ging auf seine Familie zu. Sie hielten den Atem an, als sie leise Schritte hören konnten. Zwei Männer traten aus dem Schatten des Flughafengebäudes. Das Mondlicht offenbarte ihre verzerrten Gesichter. Sie bleckten die spitzen Zähne und immer wieder zuckten Sehnen an ihren Kehlen hervor. Sie hielten sich beide leicht geduckt und bewegten sich etwas ungelenk, als wären sie es nicht gewohnt auf zwei Beinen zu gehen. Ihre Augen glänzten seltsam. Konstantin begriff, dass sie zwei Wölfen des Tibers gegenüber standen. Er selbst war nie zuvor einem solchen Unsterblichen begegnet, doch Anzheru hatte sie ihm ausführlich beschrieben.

„Ihr verletzt das Abkommen mit eurer Anwesenheit! Vincent hat versprochen, dass die Wölfe Italien nicht verlassen!“ Das war das Wichtigste, das Konstantin über diese Geschöpfe wusste. Sie blieben stehen und starrten die drei Vampire ausdruckslos an.

„Wer ist Vincent?“, fragte der größere von beiden abfällig.

„Nimm sie und lauf“, flüsterte Konstantin seiner Gefährtin zu.

„Papa ...“ Letizia standen Tränen in den Augen. Konstantin straffte die Schultern. Seine Tochter fürchtete sich so sehr, aber ihm blieb jetzt keine Zeit, es ihr zu erklären. Vio hob sie hoch und sprintete davon. Die Werwölfe knurrten leise. Eine unergründliche Gier spiegelte sich in ihren Augen.

„Also, was habt ihr hier zu suchen?“, fragte er mit fester Stimme.

„Ursprünglich wollten wir nur den Vampir loswerden, der hier haust.“ Der größere Wolf fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. „Aber dein Junges wird unseren Alpha sehr interessieren.“

Konstantin hatte möglichst viel Zeit für Violettas Flucht schinden wollen, doch jetzt ging er zum direkten Angriff über. Sie durften Letizia nicht bekommen. Was auch immer es kosten mochte.

Asheroth beschleunigte seine Schritte. In wenigen Minuten würden sie den Flughafen erreichen, an dem Konstantin und seine Familie mit ihnen in ein Flugzeug nach Oslo steigen sollten. Doch sein Tastsinn verriet ihm, dass etwas nicht stimmte.

„Hörst du etwas, Bruder?“, fragte er Achilleas beunruhigt.

„Ich bin nicht sicher. Vielleicht war da ein Schrei.“

Asheroth hielt kurz inne, um eine Hand auf den Boden zu drücken. Er fühlte keine Herzschläge in Richtung des Flughafens, nur den unscharfen Umriss eines Körpers. Den Rest des Weges legten sie im Sprint zurück. Der Anblick, der sich ihnen vor dem kleinen Flughafengebäude bot, war grausig und doch seltsam vertraut. Ein zerrissener Vampir lag in seinem Blut am Boden. Achilleas drehte den abgetrennten Kopf herum, bis er Konstantins entstelltes Gesicht erkennen konnte.

„Armer Junge“, murmelte er. „Er war ein Freund deines Sohnes, wenn ich mich nicht irre?“

„Ja und Leandros‘ Ausgleichsgeschöpf.“ Asheroth ging erneut in die Hocke, um die Gegend mit seinen Sinnen zu erforschen. Wenn Konstantin allein hier zurückgeblieben war, wo waren dann die kleine Violetta und ihre Tochter?

„Sein Blut ist noch nicht getrocknet. Wir sind wahrscheinlich nur ein paar Minuten zu spät.“ Achilleas richtete sich auf und ballte die Fäuste. „Es stinkt nach Wölfen.“

„Nicht bewegen“, erwiderte Asheroth barsch. Diese Tatsache machte ihn genauso wütend wie den Spartaner, aber davon durfte er sich nicht ablenken lassen, wenn er die beiden Vampirinnen finden wollte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf jedes noch so geringe Echo, das er finden konnte. Violettas Spuren waren noch nicht völlig erloschen, leider folgten ihnen zwei weitere. Die beiden Ältesten hatten sich dem Flughafen von Norden aus genähert, die Spuren führten nach Süd-Westen. Asheroth sprintete los, als er sich absolut sicher war, in welche Richtung sie gehen mussten. Darum, dass Achilleas mit ihm Schritt halten konnte, brauchte er sich zum Glück nicht zu sorgen. Der Spartaner hielt sich an seiner rechten Seite, bereit zum Kampf. Nach etwa drei Kilometern fanden sie den Körper der kleinen Vampirin. Offenbar hatte sie sich genauso zur Wehr gesetzt wie ihr Gefährte. Nur Fetzen waren von ihrem hübschen, zierlichen Leib übrig. Um ihr Kind zu schützen, hatte sie gegen weit überlegene Gegner gekämpft, so aussichtslos es auch gewesen war. Asheroth biss die Zähne zusammen. Die Fährte der Unsterblichen Wölfe war noch deutlich spürbar. Achilleas stieß ein dumpfes Grollen aus, als sie den zweiten grausigen Fundort hinter sich ließen.

„Sagtest du nicht, die Wölfe hätten sich nach Italien zurückgezogen?“, knurrte er.

„Ja, seit dem letzten großen Krieg vor fünf Jahrhunderten. Ich verstehe das nicht. Es sind nur zwei. Wenn du dich beherrschen kannst, lass einen am Leben, den wir befragen können.“ Asheroth wusste nur zu gut, wie schwierig es war, Werwölfe gefangen zu nehmen. Lieber kämpften sie bis zum Tod. Sie liefen Stunden lang weiter durch die karge Landschaft. Asheroth fürchtete, dass die Sonne aufgehen würde, bevor sie Letizia gefunden hatten. Dann würde der Körper der jungen Geborenen kläglich im Licht verbrennen, ohne dass es irgendjemand verhindern konnte. Doch langsam schienen sie sich ihren Feinden zu nähern. Asheroth spürte vage Schritte ihrer im Moment noch menschlichen Füße.

„Ich höre sie“, knurrte Achilleas ein paar Minuten später. Ab jetzt durften sie erfahrungsgemäß keinen verräterischen Laut mehr von sich geben. Das Gehör der Wölfe konnte mühelos mit dem seinen konkurrieren, nur Achilleas‘ untrügliches Gespür für Lügen war ihm allein zu eigen. Asheroth spürte die Gegenwart der Wölfe nun eindeutig. Er fühlte sich um Jahrhunderte zurückversetzt, solange hatte er nicht mehr gegen die Unsterblichen Wölfe des Tibers kämpfen müssen. Ganze zweimal hatte er seit dem letzten großen Krieg überhaupt einen der ihren getroffen. Das erste Mal, um Vincent den Vertrag über die Waffenruhe persönlich zu überbringen und das zweite Mal, um ihn über sein Ausgleichsgeschöpf auszufragen. Asheroth streckte den Arm aus, um Achilleas zu bedeuten, dass er langsamer werden sollte. Sie postierten sich oberhalb einer steil abfallenden Klippe, von der aus sie die beiden Wölfe erspähen konnten.

„Sind wir wirklich weit genug weg, dass sie uns nicht finden? Zwei einzelne Blutsauger sind die eine Sache, aber mit einer ganzen Horde können wir es nicht aufnehmen“, sagte der kleinere von beiden.

„Mach dich nicht lächerlich. Es müsste schon nicht mit rechten Dingen zugehen, damit sie uns in dieser Entfernung aufspüren, bevor wir die Küste erreichen. Wir gönnen uns jetzt eine Pause“, entschied der andere. „Und du trägst den Sack für den Rest des Weges. Das kleine Balg tritt wie verrückt um sich.“

Ihr Ziel war also das Kaspische Meer. Der kleinere der Wölfe knurrte verärgert, aber er widersprach nicht. Er musste der Rangniedrigere sein. Asheroth beobachtete den dunklen Stoffsack, der neben ihnen im ebenen Gras lag. Hin und wieder zuckte das eine Ende, als würden Kinderfüße versuchen sich zu befreien. Achilleas stieß ihn grob in die Seite, dann fletschte er die Zähne. Der Spartaner wollte ihre Feinde nicht mehr auskundschaften. Asheroth biss sich auf die Unterlippe. Auf ihrer gemeinsamen Weltreise, die sie erst heute hatten beenden wollen, war es nie zu einer solchen Situation gekommen. Doch jetzt wurde Asheroth deutlich in Erinnerung gerufen, wie impulsiv sein Bruder war. Er hätte gern noch einen Moment abgewartet, bis die beiden vielleicht ausgeplaudert hätten, warum sie die Geborene geraubt hatten, aber das musste er auf anderem Weg in Erfahrung bringen. Achilleas stürzte sich mit einem lauten, dumpfen Grollen die Klippe hinunter und auf den größeren Werwolf. Die Verblüffung in den Gesichtern ihrer Feinde wich schnell einem verächtlichen, hasserfüllten Grollen. Achilleas riss dem größeren Wolf in seinem ersten Angriff den rechten Arm ab. Asheroth zog es vor, mit dem Schwert zu kämpfen statt mit den bloßen Händen. Er drängte den kleineren Wolf zurück, während Achilleas dem größeren die Kiefer auseinanderriss und damit seinen Schädel brach. Es klang ähnlich wie splitterndes Gestein. Den kleineren Wolf packte langsam die Angst, dennoch setzte er zum nächsten Sprung auf Asheroth an. Dieser wich seitlich aus und stieß ihm sein Schwert durch die Kehle. Nachdem er die Klinge herausgerissen hatte, brauchte Achilleas ihn nur noch ruckartig zu Boden zu reißen, um seinen Kopf vom Körper zu trennen. Bis auf ein paar unbedeutende Kratzer waren die Vampire unversehrt. Sobald die Stille der Nacht wieder eingekehrt war, hörten sie Letizias flachen Atem durch den dicken, modrig riechenden Stoff ihres Gefängnisses. Sie musste sich zu Tode fürchten. Asheroth legte die Hand auf das verschnürte Ende, an dem sich ihr Kopf befand.

„Sie ist unverletzt.“ Er begann erleichtert, die Schnüre zu lösen.

„Warte noch kurz“, mahnte Achilleas an und wischte sich hastig das Blut der toten Wölfe aus dem Gesicht. „Sie hat für heute genug gesehen.“

„Richtig.“ Asheroth hob die kleine Geborene behutsam in seine Arme und trug sie fort von der blutdurchtränkten Ebene. Merkwürdigerweise hielt sie jetzt absolut still. Nachdem er sein Gesicht vom gröbsten Schmutz befreit hatte, öffnete er den alten Stoffsack. Zwei weit aufgerissene, eisblaue Augen schauten zu ihm auf.

„Hallo, Kleines“, sagte Achilleas leise. „Kennst du uns noch?“

Letizia nickte zögerlich. Sie hatte das strahlend blonde Haar ihrer Mutter geerbt. Es lag ganz wirr um ihr hübsches Gesicht.

„Tut dir was weh?“, fragte der Spartaner mit einem aufmunternden Lächeln. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Miene war seltsam starr, sie rührte kaum einen Muskel. Asheroth und Achilleas tauschten einen kurzen Blick aus.

„Du bist jetzt in Sicherheit, wir nehmen dich mit.“ Asheroths Worte zeigten keine Wirkung. Letizia war zwar wesentlich weiter entwickelt als ein menschliches Kind ihres Alters, aber die Geschehnisse dieser Nacht hatten sie völlig verstört. Ein zweites Mal die Geräusche des Todes mitangehört zu haben, nachdem sie aus den Armen ihrer Mutter gerissen worden war, lähmte sie offenbar restlos.

„Gehen wir zurück?“, fragte Achilleas skeptisch.

„Nein, das dauert zu lange für sie.“ Asheroth musterte das kleine Vampirmädchen, das stocksteif vor ihm auf dem Boden hockte. Die Sonne würde sehr bald aufgehen. Es musste eine andere Lösung her. „Ich glaube, es gibt einen Flughafen in der Nähe. Wenn es möglich ist, chartern wir eine Maschine und fliegen direkt nach Aberdeen.“

„Wir gehen mit ihr unter Menschen?“ Achilleas‘ Bedenken waren durchaus berechtigt. Der Blutdurst einer so jungen Geborenen würde ein Problem werden. Vielleicht konnte Asheroth Vorsorge treffen. Er ging in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein.

„Willst du Blut?“, fragte er sachlich, obwohl er die Antwort kannte und seinen Ärmel hochzog. Erstaunlicherweise reagierte Letizia jedoch nicht, als er ihr sein Handgelenk anbot.

„Wirklich nicht?“, hakte er nach. Das kleine Mädchen schüttelte stumm den Kopf. Asheroth erhob sich verwundert und wandte sich wieder an seinen Bruder. „Wir müssen uns beeilen.“

Achilleas nickte wissend und hob Letizia in seine Arme.

Als sie den Flughafen erreichten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Achilleas steckte Letizia einfach unter seine Jacke, um sie vor dem Licht zu schützen, und hielt sich so gut es ging im Schatten. Die Geborene rührte sich immer noch nicht. Auch als er sie auf einem der abgewetzten Sitze der alten Maschine anschnallte, die Asheroth einem weißbärtigen Mann an der Küste des Kaspischen Meeres abgekauft hatte, starrte Letizia nur stumm vor sich hin. Achilleas setzte sich neben sie. Er hatte mittlerweile alles Nötige über moderne Technologien erfahren, aber steuern ließ er sie nach wie vor lieber von anderen. Asheroth sprach gerade über ein Funkgerät mit einem Sterblichen, der ihnen eine Startbahn zuteilte, und lenkte die winzige Maschine dorthin. Als sie in der Luft waren, begann der Karthager immer wieder Blicke über die Schulter zu werfen.

„Bist du nicht müde, Letizia?“, fragte er nach einer halben Stunde. Sie musste schon die ganze Nacht und nun auch den halben Tag ohne Unterbrechung wach sein. Für ein Vampirkind war das wirklich viel. Doch das kleine Mädchen schüttelte störrisch den Kopf. Achilleas vermutete, dass sie sich davor fürchtete zu schlafen. Er verstand sie nur zu gut. Die eigenen Träume konnten einen manchmal noch mehr quälen als die Erinnerungen an die Realität. Er streichelte Letizia über das strahlend blonde Haar. Sie war ein wenig schmutzig geworden. Achilleas hätte sie gern getröstet, aber das konnte wahrscheinlich nur die Zeit. Als er die Hand von ihrem Kopf wegzog, atmete sie zum ersten Mal seit Stunden krampfhaft ein. Nach ein paar Atemzügen rannen ihr Tränen über die Wangen. Achilleas löste ihren Gurt und nahm sie auf den Schoß, aber auch das half nichts. Auf die Tränen folgten Schreie, nichts konnte Letizia beruhigen. Ihre hohe Stimme gellte Achilleas noch wesentlich schneidender in den Ohren als das Motorengeräusch. Trotzdem konnte er ihr nicht böse sein.

„Kannst du irgendwas tun?“, fragte er Asheroth.

„Bring sie her, ich versuche es.“ Der Stimme des Karthagers war anzumerken, dass auch er nicht wusste, wie er mit einem völlig verstörten Kind umgehen sollte. Achilleas trug die Geborene zu ihm ins Cockpit. Behutsam drückte Asheroth auf die altbewährten Nervenpunkte an Letizias Rücken, die jedes Geschöpf einschlafen ließen. Zum Glück funktionierte es, nach nur wenigen Sekunden sackte die Geborene in Achilleas‘ Armen zusammen.

„Ich hoffe, ich habe sie nicht zu tief in die Bewusstlosigkeit geschickt. Falls sie tagelang schläft, wird sie vor Durst kaum zu bändigen sein, wenn sie wieder aufwacht.“

Achilleas hob überrascht die Brauen. „Ich dachte, du kannst einschätzen, wie fest du drücken musst.“

„Bei Erwachsenen ja, bei Kleinkindern fehlt mir die Erfahrung.“

„Hast du nie deinen Sohn so schlafen geschickt?“

Asheroths Miene verhärtete sich. „Nein, nicht als er noch ein Kind war.“

Welpe

Mira streckte die Beine auf der hellen, gemütlichen Wohnzimmercouch aus. Zum Glück war der typische Geruch von neuen Möbeln langsam verflogen. Auch Anzheru hatte sich mittlerweile mit der neuen Einrichtung des Kaminzimmers angefreundet und setzte sich gerade auf den Rand der Couch, sodass Mira mühelos seinen Rücken streicheln konnte. Es war eine ungewöhnlich warme Nacht, die Luftfeuchte kündigte einen heftigen Regenschauer an. Sie waren gerade von der Jagd auf das Gelände des Nördlichen Clans zurückgekehrt.

„Machen wir es uns noch ein bisschen gemütlich?“, fragte Mira, während sie sich dicht wie eine Rückenlehne an ihn schmiegte. Konstantin und Violetta wollten in dieser Nacht mit ihrer kleinen Tochter nach Hause kommen und Letizia war eine wahre Meisterin darin, sie auf Trapp zu halten.

„Entschuldige, ich werde mich erst hierum kümmern müssen“, erwiderte Anzheru nachdenklich. „William schreibt uns. Die Waffenruhe zwischen den Amerikanischen Clans wurde schon wieder verletzt.“

„Und was noch?“ Mira merkte seiner Stimme an, dass mehr dahinter steckte als der Konflikt, der sich nun schon fast zwei Jahre hinzog.

„Er schreibt, dass hin und wieder Vampire verschwunden sind. Sie trauen sich gar nicht mehr allein auf die Jagd. Jetzt haben sie wohl eine ihrer Vermissten tot aufgefunden.“ Er faltete den Brief sorgfältig zusammen. „Diejenige wurde vergiftet.“

„Womit?“ Mira wusste, dass es nur sehr wenige Gifte gab, die Vampire tatsächlich töten konnten. Sie setzte sich auf. Statt zu antworten betrachtete ihr Gefährte die blassen Narben an ihren Armen. Sie stammten von Verletzungen, die Horatio ihr mit einem vergifteten Dolch zugefügt hatte. Sie würden niemals ganz verschwinden.

„Das kann ich noch nicht sagen, aber ihr Körper wies eine auffällige Bisswunde auf. Ich werde Commodus einweihen, ob es William gefällt oder nicht“, sagte er schließlich und erhob sich. Als Anzheru gerade nach seinem Handy greifen wollte, klingelte es bereits. Irritiert nahm er das Gespräch entgegen.

„Komm sofort zum Haupttor, Gebieter!“ Artorius klang furchtbar aufgeregt und normalerweise benutzte keiner der Vampire im Clan diese förmliche Anrede. Es musste etwas Ernstes passiert sein. Anzheru sprintete vorweg zum Tor. Wie Mira geahnt hatte, hatte es mittlerweile angefangen zu regnen. Nach den wenigen Minuten, die sie zum Tor brauchte, war sie bereits völlig durchnässt. Der Großteil des Clans war zu ihrem Erstaunen dort erschienen und hatte sich vor dem Tor aufgebaut. Mira musste ein paar von ihnen aus dem Weg schieben, um Anzheru wieder zu erreichen. Ihr Gefährte stand regungslos da und starrte die Gestalt an, die noch einige Meter Abstand zu ihrem Tor hielt. Erst jetzt nahm Mira den merkwürdigen Geruch wahr, der von dem Fremden ausging. Sein Geruch war bitter. Wie Gift. Seine dunklen Augen glänzten im Regen wie schwarze Edelsteine und die linke Hälfte seines Gesichtes wies zahlreiche Narben auf. Sein linkes Ohr sah aus, als wäre es vor langer Zeit einmal von Krallen zerfetzt worden.

„Was willst du hier?“, fragte Anzheru seltsam tonlos. Seine Muskeln schienen zum Zerreißen gespannt zu sein, als er Mira hinter sich schob. So aufgeregt hatte sie ihn in den letzten achtzehn Monaten nicht erlebt. Wer war dieser Mann bloß? Im Arm hielt er ein verdächtiges großes Bündel, aus dem ein schneller leiser Herzschlag zu hören war.

„Ich bin hier, um einen Gefallen einzufordern.“

Mira erschauderte leicht. Seine Stimme erinnerte an das dumpfe Grollen in einer Schlucht, wenn Felsbrocken hernieder stürzten. Anzheru zog einen Fuß leicht nach hinten und verlagerte das Gewicht. Mira wusste, dass dies bereits seine Verteidigungshaltung war.

„Asheroth schuldet dir einen Gefallen, Vincent. Nicht ich“, erwiderte Anzheru immer noch in diesem befremdlichen Tonfall. Der Name des Fremden sorgte endlich für Aufklärung. Vincent war der Oberste der Unsterblichen Wölfe des Tibers und der Leitwolf des Rudels bei Milano. Viel mehr wusste Mira nicht über ihn, nur dass er schon sehr alt sein musste und unter den Unsterblichen gefürchtet wurde. Vielleicht sogar noch mehr als Asheroth und das obwohl er keine vergleichbare Aura besaß.

„Sippe ist Sippe“, knurrte Vincent und trat einen Schritt auf sie zu. Anzheru lehnte sich drohend vor. „Wag es nicht, noch näher zu kommen. Was willst du?“

Der Werwolf blieb tatsächlich stehen. „Ich will ihn in Sicherheit wissen.“ Er streckte ihnen das Bündel entgegen, das schon die ganze Zeit reglos in seinem Arm lag. Erst jetzt entdeckte Mira das Gesicht, das zuvor an Vincents Schulter verborgen gewesen war. Es handelte sich um einen kleinen Jungen. Er schien völlig erschöpft zu sein.

„Und dann bringst du ihn ausgerechnet zu uns?“, fragte Anzheru plötzlich sarkastisch. „Wie viele deiner Wölfe sind allein durch mein Schwert gefallen?“

„Mehr als genug, aber lassen wir das fürs Erste beiseite.“ Vincent bleckte die Zähne. „Es sind Wölfe aufgetaucht, die weder zu mir, noch zu meinen Brüdern in Italien gehören.“

„Zu wem gehören sie dann?“, fragte Anzheru fordernd.

„Das gilt es herauszufinden. Und so lange wirst du mit deiner verfluchten Sippe diesen Jungen hier beschützen.“ Der Werwolf neigte den Kopf. „Ihr hattet in letzter Zeit Zuwachs, wie ich sehe.“

Mira spürte seinen neugierigen Blick auf sich. Anzheru stieß ein dumpfes, drohendes Grollen aus, einen kurzen Moment färbten sich seine Augen schwarz. Die Vampire, die direkt hinter ihnen standen, stöhnten entsetzt auf. Vincent grinste nur freudlos. „Es ist also doch etwas Wahres daran, dass du den Fluch deines Vaters weiterträgst.“

„Lass es nicht darauf ankommen“, ergriff Mira das Wort.

„Und sie besitzt sogar eine Stimme“, bemerkte der Werwolf amüsiert. „Bist du vernünftiger und in der Lage, diese unnötige Diskussion zu beenden?“

Anzheru schnaubte verärgert und marschierte auf Vincent zu. „Gib ihn her und dann sieh zu, dass du von meinem Land verschwindest!“

„Na bitte, ihr werdet bald wieder von mir hören“, knurrte der Werwolf und übergab ihm das hilflose Bündel. Anschließend verschwand er in die Dunkelheit.

„Tu so etwas nie wieder!“, warnte Anzheru seine Gefährtin, als sie die Villa erreicht hatten und der Junge auf dem Sofa lag. Er zerrte Mira unsanft wieder auf den Flur hinaus.

„Was denn?“, gab sie trotzig zurück.

„Stell mich nie wieder vor einem Werwolf in Frage!“ Er schüttelte mit Nachdruck den Kopf. „Vincent darf noch nicht mal auf die Ideen kommen, dass du mir in der Hierarchie ebenbürtig sein könntest.“

„Warum? Klär mich auf.“ Mira verschränkte die Arme vor der Brust.

„Weil er sich so etwas merkt.“ Anzheru fuhr sich durch die nassen Haare. „Werwölfe haben es im Krieg immer zuerst auf die Ranghöchsten abgesehen, damit die Moral ihrer Gegner sinkt. Das heißt, du wärst die erste auf der Liste!“

„Vincent hat uns gerade weder angegriffen, noch den Krieg erklärt“, hielt Mira unbeirrt dagegen. „Er hat uns aufgefordert, dieses Kind zu beschützen.“

„Kind… Werwölfe haben noch nie Kinder geboren, sie haben überhaupt keine Frauen!“ Anzheru griff nach seinem Telefon, das er in der Eile auf dem Flurschrank liegengelassen hatte. Mira stutzte. „Wieso denn das nicht?“

„Frauen überleben die Verwandlung nicht.“ Er beruhigte sich langsam. Über die Unsterblichen Wölfe hatte er seiner Gefährtin noch nicht viel erzählt. Folglich konnte sie es nicht wissen.

„Ich erkläre dir gleich, was ich über sie weiß. Lass mich nur kurz telefonieren. Asheroth kann diesen Jungen direkt mitnehmen, wenn er mit Konstantin und Violetta nach Norwegen kommt. Er bleibt keine Minute länger als nötig hier bei uns.“

Mira nickte wenig begeistert und stieg die Treppe hinauf. Anzheru wählte Asheroths Nummer, doch er erreichte nur die Mailbox. Ausgerechnet jetzt war sein Handy ausgeschaltet! Während er unter Commodus‘ Nummer immerhin ein Freizeichen zu hören bekam, versuchte Anzheru, halbwegs regelmäßig durchzuatmen.

„Ja, Neffe?“, meldete sich die dunkle Stimme des Hünen.

„Ich grüße dich, Onkel. Vincent war vor wenigen Minuten hier und hat uns einen Welpen übergeben. Er verlangt, dass wir ihn beschützen.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Augenblick ungläubiges Schweigen.

„Wie kann ich dir helfen?“, fragte Commodus gezwungen.

„Wo steckt Asheroth? Das ist ja wohl seine Angelegenheit.“ Anzheru betrat die Küche und schaute im Kühlschrank nach einer Blutkonserve.

„Ich habe seit Wochen nichts von ihm und Achilleas gehört. Ich hoffe, sie sind auf dem Rückweg nach Aberdeen.“

Anzheru fluchte leise und legte die Blutkonserve entnervt zurück. „Dann bringe ich den Jungen zu euch in die Festung. Hier bleibt dieses Geschöpf auf keinen Fall, was auch immer es ist.“

„In Ordnung. Hat Vincent sonst noch irgendetwas gesagt?“, wollte Commodus wissen. Anzheru wiederholte die dürftige Erklärung des Werwolfs. Danach beendete er das Gespräch.

„Ist dir kalt?“, hörte er Mira fragen. Sie musste nebenan mit dem Wolfswelpen reden. Anzheru war innerhalb eines Wimpernschlags im Kaminzimmer. Mira hatte sich selbst noch nicht einmal trockene Sachen angezogen, als sie oben gewesen war. Stattdessen hatte sie ein großes Handtuch geholt, mit dem sie dem Jungen allen Ernstes die Haare trocken rubbelte.

„Danke“, murmelte er leise.

„Ich bin Mira. Wie lautet dein…“

Mira brach entsetzt mitten im Satz ab. Anzheru war herein gestürmt, hatte sie kurz beobachtet und plötzlich den Jungen von der Couch gerissen wie ein Greifvogel, der seine Beute schlägt. Ohne auch nur einen Moment inne zu halten, schleppte er den Kleinen nach oben und sperrte ihn ins Gästezimmer. Mira blieb nichts anderes übrig als hinter ihm her zu laufen.

„Was zum Teufel tust du da?“, fauchte sie leise drohend.

„Mira, er ist gefährlich!“

„Er ist ein Kind!“ Was fiel Anzheru bloß ein?

„Hast du nicht gemerkt, wie merkwürdig Vincent riecht? Werwölfe sind giftig! Selbst für uns. Und ich habe keine Ahnung, was dieses Kind ist. Fass es nicht an!“

„Er wurde allein bei Fremden zurückgelassen und ist völlig verängstigt.“ Mira traute ihren Ohren nicht. Der Junge war äußerlich circa fünf Jahre alt und hatte keinerlei Anstalten gemacht, sie in irgendeiner Form anzugreifen.

„Und er riecht längst nicht so stark nach Gift wie Vincent. Eher wie ein Mensch“, presste sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Das spielt keine Rolle. Er gehört irgendwie zu diesem Werwolf und das bedeutet, er gehört zum Feind.“

„Habe ich was verpasst? Befinden wir uns im Krieg?“ Miras Stimme überschlug sich beinahe. Sie wollte sich doch nur ein wenig um ihn kümmern. Was war denn plötzlich geschehen?

„Mit den Unsterblichen Wölfen des Tibers gibt es keinen Frieden, Mira. Wir befinden uns seit Jahrhunderten in einer Waffenruhe mit ihnen. Weiter nichts!“ Anzheru rieb sich die Nasenwurzel. In einem etwas sanfteren Ton sagte er, er würde schnellstmöglich mit ihm nach Aberdeen fliegen. „Du musst mich nicht begleiten, wenn du nicht willst.“

Mira wandte sich abrupt ab und marschierte ins Schlafzimmer. Entsetzt darüber, wie stur ihr Gefährte sein konnte, schloss sie sogar die Tür von innen ab. Sie hatte sich nie wieder von ihm distanzieren wollen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, es nicht anders auszuhalten. Wie in Trance zog sie ihre nassen Sachen aus und trockene an.

„Natürlich fliege ich mit“, knurrte sie leise, Anzheru würde sie trotzdem hören. „Sonst bringst du ihn unterwegs noch um!“

„Nein, werde ich nicht. Er wird lebend wieder bei Vincent ankommen, sonst könnte ich auch direkt nach Italien marschieren und den erstbesten Werwolf töten, der mir über den Weg läuft und dann wären wir wirklich im Krieg“, antwortete Anzheru ebenso leise vom Flur aus. Er musste direkt vor der Schlafzimmertür stehen. Mittlerweile war ein Schluchzen aus dem Gästezimmer zu hören. Mira biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie schon fast blutete.

„Ich würde auch gern meine Kleidung wechseln.“ Es klang nicht unbedingt wie eine Bitte, ihn hereinzulassen. Mira griff die erstbesten Sachen aus dem Schrank, reichte sie ihm durch den Türspalt und schloss sofort wieder ab.

„Was soll das?“, fragte er verärgert. „Du wusstest es nicht, ich habe dich beschützt.“

„Vor einem wehrlosen kleinen Jungen!“ Mira konnte nicht fassen, dass Anzheru sich auch noch absolut im Recht sah.

„Vor einem giftigen Geschöpf, von dem wir nicht wissen, was es ist.“

Sie drehte den Schlüssel um und riss die Tür auf. „Du könntest ihn fragen! Er kann sprechen!“

„Auf keinen Fall. Wir werden uns nicht weiter mit ihm beschäftigen. Du besitzt ja jetzt schon einen überentwickelten Beschützerinstinkt für ihn.“ Anzherus stoisch sachlicher Tonfall war zurückgekehrt, den sie schon länger von ihm kannte als alles andere. Am liebsten hätte sie ihn allein dafür geohrfeigt.

„Ich erwarte nicht, dass du es verstehst. Du hast nicht hunderte von uns elendig am Gift der Werwölfe verrecken sehen.“ Er strich mit den Fingerknöcheln über ihre linke Wange. „Ich hoffe inständig, dass du das auch niemals sehen musst.“

Mira entzog ihm ruckartig ihr Gesicht. Ihr fiel nichts mehr ein, was sie darauf erwidern sollte.

„Ich werde mich jetzt um unseren Flug kümmern. Möchtest du im Hauptquartier auf Vio, Konstantin und die Kleine warten?“

Sie nickte nur und verließ die Villa, so schnell sie konnte. Mira ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Asheroth und Achilleas gerade Letizia von den Werwölfen zurückerobert hatten.

Mündel

Es war später Nachmittag, als Charles das Eintreffen der Ältesten in der Festung von Aberdeen vom Wehrgang aus beobachtete. Achilleas‘ Jacke wölbte sich auffällig hervor. Was trug er da bloß? Zum Glück wurde Charles nur wenige Minuten später auf seinem Wachtposten abgelöst und konnte dem endlich nachgehen. Eilig folgte er den dunklen Stimmen durch die Eingangshalle hinauf in den Empfangssaal der Ältesten. Commodus stand mit verschränkten Armen an einem der verhangenen Fenster, was nie etwas Gutes bedeutete. Asheroth und Achilleas waren von oben bis unten mit getrocknetem Blut besudelt und berichteten gerade von den beiden Werwölfen, die sie getötet hatten.

„Anzheru hat sich auch gemeldet, er ist wahrscheinlich schon auf dem Weg her“, merkte Commodus an. Charles verfolgte das Gespräch nur mit halbem Ohr. Seine Aufmerksamkeit war auf das kleine, strahlend blonde Mädchen mit den eisblauen Augen gerichtet, dass auf Leandros‘ Schoß saß und sich an seinem Hemd festklammerte. In nur einer Nacht war sie plötzlich zum Waisenkind geworden. Charles näherte sich den beiden, wobei er versuchte, Letizia tröstend anzulächeln. Es funktionierte immerhin insofern, dass sie ihn statt Leandros‘ Kragen müde anschaute. Er setzte sich neben Leandros auf einen der schweren Stühle am Tisch. Als Commodus berichtete, wen Anzheru herbrachte, hörte Charles wieder genauer zu.

„Was für ein Kind soll das bitte schön sein?“, fragte Leandros voller Abscheu. Asheroth zuckte mit den Schultern. „Viele Möglichkeiten gibt es da nicht. Ich werde es mir ansehen, wenn sie eingetroffen sind. Bis dahin versuche ich, diesen Gestank loszuwerden.“

„Ich weiß, was du meinst“, murmelte Achilleas und schabte an einem Blutfleck auf seinem Ärmel.

„Ich rufe euch, falls sich etwas Dringendes ergibt. Und ich muss wohl Jasmina bitten, die Spuren eures Kampfes zu beseitigen.“ Commodus verabschiedete sich mit einem Nicken aus dem Saal, Achilleas ebenfalls.

„Also weiß Anzheru noch nichts hiervon?“, fragte Leandros an Asheroth gewandt, wobei er auf Letizia wies. Der Älteste schüttelte den Kopf.

„Ich rufe ihn an. Egal, ob er schon auf dem Weg her ist, wir sollten ihn wenigstens vorwarnen. Es würde mich wundern, wenn Mira ihn nicht begleitet.“

„Da hast du Recht“, stimmte Asheroth ihm zu. Leandros setzte das Mädchen behutsam auf seinen Stuhl und entfernte sich ein paar Schritte, um den Anruf zu tätigen. Allerdings sprach er griechisch. Letizias Blick bohrte sich wütend in seinen Rücken. Charles konnte sie nur zu gut verstehen, schließlich ging es um sie selbst und Letizia verstand kein Wort von dem, was gesprochen wurde. Mit mürrisch verzogenem Gesicht drehte sie sich zu ihm um. „Warum macht er das?“

Charles strich ihr übers Haar. „So etwas tun Erwachsene, wenn sie wollen, dass du sie nicht verstehst.“

Diese ehrliche Erklärung brachte ihm einen finsteren Blick von Leandros ein, aber das kümmerte ihn nicht. Wenn er aus der Zeit, in der er für Anzheru verantwortlich gewesen war, etwas gelernt hatte, dann dass man Kinder nicht belügen durfte. Früher oder später fanden sie es heraus und vertrauten einem plötzlich nicht mehr so wie zuvor.

„Werdet ihr sie als Mündel annehmen?“, fragte Leandros wieder auf Englisch, sodass auch Letizia ihn verstand. Nachdem Anzheru mit Ja geantwortet hatte, legte er auf. Asheroth stand noch immer neben der Tür, er hatte selbstverständlich zugehört.

„Gut, dann ist diese Angelegenheit nur noch eine Formalität.“ Er sah das Mädchen nachdenklich an.

„Was bedeutet Mündel?“, fragte Letizia und zupfte Charles am Ärmel.

„Anzheru und Mira übernehmen die Verantwortung für dich, bis du groß bist. So als wären sie deine Eltern.“

Das Mädchen nickte und gähnte anschließend ausgiebig. Sie schien viel zu wenig geschlafen zu haben. Charles beschloss, sie in seinem Quartier unterzubringen. Dort war von den Wachen kaum etwas zu hören und sie hatte ihre Ruhe. Asheroth wandte sich gerade zum Gehen, als Letizia sich barfuß auf den Stuhl stellte. „Asheroth?“

Der Älteste hielt im Türrahmen inne. Charles hob angespannt die Brauen. Er würde ihr beibringen müssen, wie sie wen innerhalb dieser Mauern ansprechen musste.

„Wenn du Anzherus Vater bist, bist du dann jetzt mein Großvater?“

Asheroth wandte sich wieder vollständig zu ihr um. Einen Moment lang schien er tatsächlich sprachlos zu sein. Charles hielt den Atem an. Mit einer solchen Frage hatte der Älteste sich noch nie in seinem langen Leben auseinandersetzen müssen.

„Ja…“ sagte er schließlich, wobei ihm eine leichte Unsicherheit anzumerken war. „Komm mit mir. Bis es dunkel wird, gehörst du noch ein paar Stunden ins Bett.“

„Ist gut.“ Letizia nickte fröhlich und sprang von dem alten Eichenstuhl herunter. Als sie Asheroth erreichte, griff sie mit ihren winzigen Fingern wie selbstverständlich nach den seinen. Charles schaute den beiden ungläubig nach. Ein kurzer Blick zu Leandros bestätigte ihm, dass auch dieser seinen Augen und Ohren nicht ganz trauen wollte. Dieses kleine Mädchen hatte gerade den am meisten gefürchteten Vampir der Welt mit einem Lächeln und einer einfachen Geste völlig für sich eingenommen. Dennoch entdeckte Charles Trauer und Wehmut in Leandros‘ Miene. Er und Konstantin hatten sich aufgrund ihres Ausgleichs nahe gestanden.

„Fühlst du dich verantwortlich für sie?“, fragte Charles sanft.

„Ja, irgendwie schon.“

„Sie gehört jetzt zu Asheroths Familie. Das gibt uns beiden das Recht, sie mit unserem Leben zu verteidigen.“

Leandros nickte grimmig. Es schien nicht unwahrscheinlich, dass sie irgendwann von diesem Recht Gebrauch machen würden.

Hinweis

Jasmina stieg mit finsterer Miene die Stufen zum Portal ihres Hauptquartiers hinauf. Auf Commodus‘ Bitte hin hatte sie die Spuren des Überfalls auf Konstantin und Violetta in der vergangenen Nacht beseitigt. Warum hatte sie die beiden bloß nicht persönlich zu ihrem Flieger gebracht? Vielleicht hätte sie die kleine Familie beschützen können. Letizia war zwar in Sicherheit, aber das tröstete Jasmina nicht über den Verlust ihrer Freunde hinweg. Zornig warf sie das schwere Tor hinter sich ins Schloss. Ihre Vampire verschwanden aus der Eingangshalle. Sie wussten genau, dass sie ihr lieber aus dem Weg gehen sollten, wenn sie in dieser Stimmung war. Nur Nadja blieb zurück und schaute sie ruhig an. „Wir haben einen Gast.“

„Wer ist es?“, fragte Jasmina gereizt, während sie ihre Jacke auszog.

„Igor, die Hyäne.“

Jasmina hielt mitten in der Bewegung inne. Sie hatte mit irgendeinem Vampir aus der Mongolei oder Vietnam gerechnet, da sich die dort ansässigen Clans derzeit im Konflikt befanden und sich beide um einen Bündnisvertrag mit ihr bemühten. Den Gestaltwandler mit der untypischen Erscheinung wiederzusehen, hellte ihre Stimmung ein wenig auf. „Wo hast du ihn untergebracht?“

„Im Teesalon.“

„Gut, sag ihm, dass ich in zwanzig Minuten zu ihm komme. Ich brauche dringend erst eine heiße Dusche.“ Jasmina wusste, dass der Geruch nach Blut und Tod vor allem in ihrer Nase haften geblieben war und nicht an ihren Kleidern. Trotzdem hatte sie das Bedürfnis, sich zu waschen und etwas Frisches anzuziehen.

„Jawohl.“ Nadja senkte ergeben den Kopf. Die heiße Dusche half wenigstens etwas gegen den unliebsamen Geruch, doch bis sich der Kummer gelegt hatte, würde es noch eine ganze Weile dauern. Jasmina kämmte sich erst auf dem Weg zum Teesalon die Haare aus. Zum Glück war ihre Mutter noch nicht wieder im Schloss. Sie hätte Jasmina mit Sicherheit wieder einmal ermahnt, sich mehr wie eine Dame zu verhalten und ihren Gast lieber noch etwas warten zu lassen, statt ihm unfertig gegenüber zu treten. Darüber machte sie sich allerdings keine unnötigen Gedanken. Igor hatte sie bereits von oben bis unten mit Blut und Schmutz besudelt gesehen. In dieser Hinsicht gab es nichts mehr zu gewinnen. Er lächelte sie zaghaft an, als sie den gemütlichen Salon betrat.

„Nadja hat mir erzählt, was geschehen ist. Fürchterliche Geschichte.“ Igor war sichtlich betroffen und das, obwohl es sich bei Violetta um eine gestohlene Begabte gehandelt hatte. Jasmina nickte bedrückt. „Ich danke dir für deine Anteilnahme. Setzen wir uns doch.“

Der Hyänenmann nahm auf einem der Canapés Platz. Seine dürre Gestalt wirkte ein wenig verloren zwischen all den breiten, kunstvoll bestickten Polstermöbeln.

„Was führt dich her?“, fragte Jasmina wieder sachlicher.

„Nun, ich war jetzt eine ganze Weile unterwegs und…“ Er geriet ins Stocken.

„Und?“

„Es ist nur ein Verdacht, aber ich fürchte, das war nicht der erste Übergriff.“

Jasmina lehnte sich vor. „Du meinst von Werwölfen?“

Igor nickte. „Normalerweise waren die Spuren bloß wesentlich besser verwischt.“ Er erzählte ihr von verschiedenen Vorkommnissen in Afrika, die teils die Gestaltwandler und Vampire und sogar die Sterblichen betroffen hatten. Von Zeit zu Zeit waren einzelne Unsterbliche verschwunden, weshalb die Clans im Moment in erhöhter Alarmbereitschaft waren. Die Menschen berichteten, dass sie merkwürdig aussehende Raubtiere gesichtet hätten. Sie schienen weder afrikanische Wildhunde noch Hyänen gewesen zu sein, aber bisher war nichts passiert, das sie wirklich beunruhigt hatte.

„Immerhin etwas“, merkte Jasmina an. „Dass ein Sterblicher beobachtet, wie sich ein Werwolf verwandelt, können wir jetzt wirklich nicht brauchen.“

„Das würde doch sowieso niemand glauben.“ Igor hob skeptisch die Brauen.

„Wenn es nur einmal vorkommt vielleicht, aber wenn sich solche Berichte häufen, bekommen auch wir irgendwann Schwierigkeiten.“

„Ist es schon einmal so weit gekommen?“, fragte der Hyänenmann.

„Ja.“ Jasmina dachte nur ungern an jene Zeit zurück. Vampire und Gestaltwandler hatten damals miteinander Kinder gezeugt, welche die Stärken der Rassen in sich vereint hatten. Nachdem sie aus Blutdurst ganze Dörfer vernichtet und sich dementsprechend Schreckensgeschichten über sie gehäuft hatten, war der Ältestenrat der Vampire eingeschritten. Asheroth kannte in diesen Dingen kein Erbarmen. Jasmina straffte die Schultern. Sie musste sich auf die Gegenwart konzentrieren. „Hast du schon jemand anderem davon erzählt?“

Igor schüttelte den Kopf. „Selbst ich weiß, dass man so etwas nicht leichtfertig jedem sagen darf. Anschuldigungen gegen die Wölfe des Tibers vorzubringen, ist immer heikel.“

Das war noch bei weitem untertrieben. Solange sie nichts beweisen konnten, würde Vincent eine solche Provokation schon beinahe als Kriegserklärung ansehen. Jasmina lächelte den Hyänenmann zustimmend an. „Das war klug von dir. Und was willst du jetzt tun?“

Igor biss sich leicht auf die Unterlippe. „Ich will dich nicht beunruhigen, aber ich habe auf dem Weg her Pfotenabdrücke und Tierkadaver gesehen.“

„Wo?“ Jasmina rückte auf den vordersten Rand ihres kleinen Sofas. „Auf meinem Land?“

„Ja, aber ich habe noch nie eindeutige Werwolfspuren gesehen. Vielleicht waren es ja doch nur gewöhnliche Wölfe…“

„Igor! Wenn du keinen Verdacht hättest, wärst du nicht hier, oder?“ Die Geborene stand auf. „Da es insgesamt so viele Hinweise und einen konkreten Angriff gibt, kann ich das nicht ignorieren. Bring mich sofort dorthin!“

Der Hyänenmann erhob sich und folgte ihr in die große Empfangshalle. „Und wenn ich mich irre?“

„Dann kann ich den Ältesten mitteilen, dass die Werwölfe sich wenigstens nicht bis zu mir verirrt haben.“ Jasmina griff sich ihre Jacke und legte den Schultergurt an, in dem sie immer ihr Schwert bei sich trug.

„Wo willst du hin?“, fragte eine strenge weibliche Stimme vom anderen Ende der Halle. Jasmina wandte sich notgedrungen um und erblickte ihre Mutter Rahel. Sie kam mit forschen Schritten auf sie und Igor zu. „Und wer ist das wieder? Er stinkt nach Fell.“

„Sehr charmant gegenüber einem Gast, Mutter. Igor ist ein Verbündeter.“ Jasmina schnaubte zornig, was ihre Mutter jedoch geflissentlich ignorierte.

„Und jetzt gehst du mit ihm fort?“

„Ja!“, erwiderte Jasmina gereizt. Der Hauptmann ihrer Leibwache näherte sich ihnen ebenfalls über einen der langen Korridore. „Wie viele Vampire brauchst du, Gebieterin?“

„Niemanden, ich gehe allein mit ihm.“ Sie wies zu Igor hinüber. „Verdoppelt die Wachen und meldet mir sofort, wenn sich etwas tut. Egal was!“

„Jawohl.“ Ihr Hauptmann senkte ergeben den Kopf und machte auf dem Absatz kehrt, um ihren Befehl weiterzuleiten. Wenigstens er gehorchte umstandslos. Rahel hingegen stemmte die Hände in die Hüften und schaute sie enttäuscht an. „Hat das wieder etwas mit diesem Inneren Zirkel zu tun?“

„Nein, mit unserer Sicherheit.“ Ohne ein weiteres Wort marschierte Jasmina durch das Tor hinaus und die Treppe hinunter. Igor hielt mühelos mit ihr Schritt und wies gen Süden. Was auch immer sie finden würden, Jasmina musste sicher gehen. Im letzten großen Krieg gegen die Wölfe hatte sie viel zu viele ihrer Verbündeten verloren, um jetzt untätig zu bleiben. Da es durch sehr unwegsames Gelände gehen würde, mussten sie zu Fuß gehen. Igor lief eine ganze Weile schweigend neben ihr her, aber dann schien langsam doch die Neugier zu siegen.

„Was ist dieser Innere Zirkel eigentlich genau? Damals war immer nur von Verbündeten und Beistand die Rede.“

„Das ist auch schon das Wichtigste. Es ist ein geheimer Bund, den Commodus gemeinsam mit Asheroth und Achilleas gegen Horatio gegründet hat, lange bevor ich geboren wurde. Im Notfall stehen wir einander bei, egal, worum es geht.“ Jasmina sprang auf einen großen Felsen hinauf, um sich kurz umzusehen. Weit und breit war nichts zu entdecken außer ein paar kleinen Tieren auf Nahrungssuche. Igor war stehen geblieben und beobachtete ihren Sprung vom Felsen hinunter.

„Man könnte meinen, du wärst die Katze von uns beiden, so leichtfüßig wie du dich bewegst“, sagte er mit einem anerkennenden Lächeln. „Vampire sind auch nur Raubtiere.“

„Sag so etwas nicht zu laut“, warnte Jasmina ihn ironisch. „Manche von uns wären jetzt schon beleidigt genug, um dir das Fell über die Ohren zu ziehen.“

Igor schnaubte belustigt, als sie ihren Weg zügig fortsetzten. Dann bemerkte Jasmina allerdings im Augenwinkel, dass er ihr einen schüchternen Blick von der Seite zuwarf, wie er es oft getan hatte, als er vor achtzehn Monaten ein Gast in ihrem Haus gewesen war. Es schien ihm selbst bewusst zu werden und er wandte den Blick wieder stur nach vorn.

„Wie bist du denn zu diesem Zirkel gekommen, wenn er schon so lange besteht?“, fragte er, offenbar um von sich abzulenken.

„Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Jasmina ausweichend. Eigentlich war sie schnell erzählt, aber ihrer Aufnahme in den Inneren Zirkel waren einige schmerzhafte Erlebnisse vorausgegangen. Nicht einmal Nadja, ihre Vertraute, kannte jedes Detail. Es gab keinen Grund, Igor zu misstrauen, aber das ging Jasmina zu weit. Zum Glück verstand er, dass er nicht weiter fragen sollte und schwieg. Kurz vor dem Morgengrauen erreichten sie den Rand einer breiten Schlucht. Sie mussten gut siebzig Kilometer zurückgelegt haben.

„Da unten.“ Der Hyänenmann wies auf einen Vorsprung, auf dem bereits aus der Entfernung die Reste von Knochen zu sehen waren. Jasmina bewegte sich vorsichtig darauf zu. Was hätte sie jetzt um Commodus‘ Sehsinn gegeben. Ihm wäre sofort jedes wichtige Detail ins Auge gesprungen. Igor nahm seine zweite Gestalt an und schlich hinter ihr her. Selbst im hohen Gras konnte er sich lautlos bewegen. An der Fundstelle ging Jasmina in die Hocke, um die Knochen genauer zu betrachten. Sie waren ganz offensichtlich von kräftigen Zähnen zerstört worden und es handelte sich um mehr als nur ein Beutetier. Das war untypisch für gewöhnliche Wölfe. Von den Spuren, die Igor entdeckt hatte, war immerhin noch ein Teil zu erkennen. Jasmina stellte beunruhigt fest, dass die meisten so groß wie ihre Hand waren.

„Kein Wunder, dass du dir nicht ganz sicher warst. Es sind verschiedene Pfotenabdrücke. Die hier stammen von einem gewöhnlichen Wolf und diese hier…“ Sie zögerte kurz. Die Bestätigung ihres Verdachts bereitete ihr großes Unbehagen. „Diese stammen von einem Unsterblichen. Sie sind weniger symmetrisch, dafür sind die Krallen kräftiger. Präg dir das gut ein.“

Igor knurrte leise und beschnüffelte sämtliche Spuren mit seiner Hyänennase. Jasminas Geruchssinn war nicht scharf genug, um hier noch etwas Eindeutiges auszumachen. Dafür war die Fährte zu alt. Nach wenigen Minuten legte Igor die Ohren an und knurrte erneut. Jasmina sah ihn nur unschlüssig an.

„Entschuldige“, sagte er, nachdem er sich verwandelt hatte. „Ich bin es nicht gewöhnt, so lange in meiner ersten Gestalt herumzulaufen. Wenn du weitersuchen willst, müssen wir nach Osten.“

Die Geborene nickte langsam, zog jedoch erst einmal ihr Satellitentelefon aus der Jackentasche, um sich erneut mit Commodus in Verbindung zu setzen.

„Sei vorsichtig“, sagte der Älteste, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. „Ich hatte bereits einen sehr beunruhigenden Anruf von Anzheru.“

„Wenn du denkst, dass wir gegen die Wölfe in den Krieg ziehen werden, dann sag es mir lieber sofort, Gebieter.“ Jasmina biss die Zähne zusammen. Fünf Jahrhunderte lang hatte sie gehofft, nie wieder gegen die Unsterblichen Wölfe des Tibers antreten zu müssen. Commodus zögerte bedauerlicherweise mit der Antwort. Was hatte er ihr alles bei ihrem kurzen Telefonat am Vortag vorenthalten?

„Bitte sag es mir“, presste Jasmina zwischen den Zähnen hervor.

„Ich weiß es nicht. Vincent hat unsere Hilfe erbeten. Von ihm gehen diese Übergriffe nicht aus.“

„Und das glaubst du ihm?“ Es gelang ihr nicht, ihren Abscheu gegen den Obersten der Werwölfe zu verbergen. Vincent höchstpersönlich hatte im letzten großen Krieg zwei ihrer engsten Freunde verbrennen lassen und ihr die Asche geschickt.

„Er hat einen Welpen bei Anzheru zurückgelassen, weil er weiß, dass niemand so dumm ist, ihn anzugreifen. Ja, ich glaube ihm, Jasmina“, sagte Commodus mit Nachdruck. Ihr stockte der Atem. Das war allerdings ein schlagkräftiges Argument.

„Seit wann bekommen die Werwölfe leibliche Kinder?“, brachte Jasmina mühsam heraus.

„Auch das kann ich dir nicht erklären. Verrate es niemandem. Wir versuchen, es solange wie möglich geheim zu halten. Versprich mir, nichts Unüberlegtes zu tun.“

„Ja, Gebieter.“ Das Gespräch war beendet. Sie verstand, warum er sie nicht sofort in alles eingeweiht hatte, trotzdem ärgerte es sie. Igor musterte sie aufmerksam. „Hört sich an, als würde ein Sturm aufziehen.“

„Du sagst es.“ Jasmina schloss zu ihm auf.

„Wollen wir nicht lieber einen Unterschlupf suchen? Die Sonne geht gleich auf.“ Er wies mit dem Kopf zu dem breiter werdenden hellen Streifen am Horizont hinüber.

„Nein, keine Sorge.“ Jasmina zog im Gehen ihre Kapuze über. „Mir passiert schon nichts, dafür bin ich zu alt.“

„Wie alt, wenn ich fragen darf?“ Igor hob unsicher die Brauen, was Jasmina leise schmunzeln ließ. Er war wirklich sehr neugierig. Und das trotz der ungewissen Lage, in der sie sich nun befanden. Irgendwie gefiel Jasmina seine Art, damit umzugehen.

„Du darfst“, sagte sie schließlich. „Achthundert und zwölf Jahre.“

Daraufhin senkte er nur betreten den Blick.

„Möchtest du mir dieses Detail nicht auch über dich verraten?“, fragte Jasmina ironisch. Sie wusste, dass Igor jünger war als sie, die Frage war nur, um wie viele Jahre.

„Dreihundertsiebenundachtzig“, murmelte er leise. Er hatte wohl auf weniger Unterschied gehofft. Zumindest auf weniger als vierhundertfünfundzwanzig Jahre.

Instinkt

Seit Leandros‘ Anruf aus Aberdeen atmete Mira kaum. Anzheru bedauerte, dass er das kleine Flugzeug steuern musste, das sie gemietet hatten, und er sie aus diesem Grund nicht im Arm halten konnte. Eine öffentliche Maschine war mit dem Wolfsjungen im Schlepptau nicht in Frage gekommen. Zum Glück war der Junge auf seinem Sitz eingeschlafen und zog somit keine Aufmerksamkeit auf sich. Von Zeit zu Zeit wischte Mira sich eine Träne aus dem Gesicht. Violetta und Konstantin waren länger als irgendjemand sonst im Clan ihre Freunde gewesen. Allerdings hätte sie sich wohl sowieso nicht von ihm trösten lassen. Seit ihrem Streit über den Wolfsjungen mied Mira konsequent den Blickkontakt zu Anzheru. Langsam ging ihm ihre Sturheit in dieser Sache ziemlich auf die Nerven. Er selbst hätte auch ein paar tröstende Worte oder wenigstens ihre Nähe gebraucht, aber beides verweigerte sie ihm. Es war bereits dunkel, als sie in der Nähe der Festung landeten. Der Junge schlief immer noch. Anzheru nahm ihn hoch, damit er nicht einmal auf die Idee kam, später einen Fluchtversuch zu wagen. Mira stapfte nur mit verschränkten Armen und ihrem Gepäck neben ihm her. Die Mauern der Festung der Ältesten erhoben sich schwer und finster gegen den Sternenhimmel. Die Schäden, die durch Leyths und Miras Flucht verursacht worden waren, schienen mittlerweile behoben. Nur die Brücke auf der Rückseite der Festung hatte Commodus noch nicht wieder errichten lassen. Die Leibwachen beäugten das Kind in Anzherus Arm argwöhnisch. Leyth nahm sie in Empfang.

„Commodus erwartet euch im Saal“, sagte der Hauptmann der Garde mit einem gemessenen Nicken. Mira versuchte, ihn zur Begrüßung anzulächeln, als er ihr die Reisetasche abnahm, aber es gelang ihr nicht ganz. Sie fühlte sich extrem unwohl innerhalb dieser Mauern. Es lag nicht unbedingt an den Erinnerungen an ihre Gefangenschaft, viel mehr fürchtete sie sich vor dem, was vor ihnen lag. Würden die Ältesten den kleinen Jungen etwa in eine der Zellen unterhalb der großen Halle sperren? Er würde sich dort unten in völliger Dunkelheit zu Tode fürchten. Letizia ging es laut Leandros‘ Aussage unter den gegebenen Umständen relativ gut, sie sei bloß sehr müde gewesen. Mira verkrampfte sich der Magen bei dem Gedanken, ihr gegenüber zu treten. Sie kämpfte immer noch mit ihrem eigenen Schmerz, wie sollte sie ein kleines Kind trösten, das gerade seine Eltern verloren hatte? Anzheru war ihr keine Hilfe. Er erweckte den Eindruck immer noch wütend auf sie zu sein, nur weil sie sich ein wenig um den Jungen hatte kümmern wollen. Nicht einmal seinen Namen hatte Mira in Erfahrung gebracht. Sie durfte schließlich nicht mit dem Welpen sprechen. Sie erreichten den besagten Saal. Mira erschauderte unwillkürlich beim Anblick der Tafel mit dem kreisrunden Siegel der Ältesten darauf. Sie heftete den Blick auf Charles, der mit den Händen in den Hosentaschen an der Wand rechts von ihr lehnte. Wie damals schon hatte er ein tröstendes, beruhigendes Lächeln für sie übrig. Anzheru begrüßte derweil Commodus und setzte den Jungen auf einem Hocker ab, der mitten im Raum stand.

„Er ist schmächtiger, als ich dachte“, bemerkte der Hüne. Mira wünschte sich, sie würde ihn besser kennen, um seine Miene und seinen Tonfall deuten zu können.

„Wo ist Asheroth?“, fragte Anzheru mit einem Achselzucken.

„In seinem Quartier“, antwortete Charles. „Letizia hat Alpträume und lässt ihn nicht weg.“

Anzheru wandte sich sichtlich irritiert zu ihm um. Auch Mira konnte nicht umhin, ihm einen ungläubigen Blick zuzuwerfen. Der Leibwächter richtete sich auf. „Ich hätte mich natürlich auch um sie gekümmert, aber seit sie ihn mit Großvater anspricht, gibt er sie nicht mehr her.“

Mira hob verblüfft die Brauen. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. „Ich sage ihm Bescheid“, sagte sie schnell und verließ den Saal, ohne Anzherus Reaktion abzuwarten. Der Weg hinauf zu den persönlichen Quartieren der Ältesten war leicht zu finden. Achilleas kam ihr auf dem mäßig erleuchteten Korridor entgegen.

„Hallo, Liebes“, grüßte sie der Spartaner mit einem herzlichen Lächeln. Es tat unheimlich gut, ihn zu sehen. Mira ließ sich bereitwillig von ihm umarmen.

„Wie gefällt dir die Moderne?“, fragte sie, um noch ein paar Sekunden Aufschub zu gewinnen.

„Nun ja… Sie ist mir zu laut. Manchmal hatte ich auf der Reise das Gefühl, die Menschen wären wirklich überall.“ Er ließ sie los. „Andererseits gibt es wirklich sehr schöne Orte, die ich noch nicht kannte.“

Mira hätte am liebsten nach Beispielen gefragt, aber sie wusste, dass Achilleas ihre Taktik durchschaute. Seine Miene wurde ernster. „Du bist wegen Letizia hier oben?“

„Ja.“

„Asheroth hat sein Quartier am Ende des Korridors auf der linken Seite.“ Er ließ sie allein zurück und machte sich wahrscheinlich auf den Weg zum Saal, in dem Anzheru und die anderen warteten. Mira blieb vor der schweren, dunklen Holztür stehen. Sie atmete ein letztes Mal tief durch, dann hob sie die Hand, um anzuklopfen. Asheroth kam ihr jedoch zuvor. Er zog die Tür einen Spalt breit auf und legte den Finger an die Lippen.

„Sie ist endlich wieder eingeschlafen“, flüsterte er, nachdem er sich durch den Türspalt auf den Korridor hinaus geschoben hatte. „Ihre Träume lassen ihr keine Ruhe.“

„Ich kann mir vorstellen, warum.“ Mira verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich will bei ihr sein, wenn sie aufwacht.“

„Gut, deine Gegenwart tröstet sie bestimmt.“ Asheroth wirkte ein wenig erleichtert, als er sich zum Gehen wandte. Mira hoffte im Stillen, dass er Recht hatte. Sie bewegte sich so leise wie möglich durch sein karg eingerichtetes Quartier. Letizias Herzschlag war bereits im ersten Vorraum zu hören gewesen. Die kleine Tochter ihrer Freunde lag mitten auf Asheroths Bett. Wie immer schlief sie auf dem Rücken und hatte die Gliedmaßen von sich gestreckt. Mira legte sich neben ihr auf die Seite. Nach wenigen Augenblicken erhöhte sich Letizias Puls, ihre Muskeln spannten sich an. Mit einem krampfhaften Atemzug riss sie die Augen auf.

„Ich bin hier“, flüsterte Mira. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Letizia krabbelte sofort auf sie zu und klammerte sich an sie. Mira schloss die kleine Geborene in die Arme.

„Bitte, geh nicht weg.“

„Nein. Ganz bestimmt nicht.“

Anzheru gesellte sich zu Charles an die Wand des Saals, während die Ältesten den seltsamen Jungen begutachteten.

„Hast du etwas gesehen?“, fragte Asheroth an Commodus gewandt. Der Hüne schüttelte den Kopf. Manchmal sah er, was in anderen Geschöpfen verborgen war, wenn er ihnen zum ersten Mal begegnete. Der Welpe schien jedoch nichts zu verstecken. Asheroth tastete seine Schläfen ab. „Wo sind deine Eltern?“

Er hob nur hilflos die Arme.

„Kennst du sie?“, fragte Asheroth weiter.

„Ich darf nichts sagen.“ Der Junge schüttelte den Kopf und schaute mit einem Mal so traurig drein, als würde er gleich wieder anfangen zu weinen.

„Kommen dir diese Augen auch so bekannt vor?“, brummte Achilleas.

„Ja, allerdings“, stimmte Commodus zu.

„Woher?“, fragte Anzheru vorsichtig. Da er Achilleas noch nicht näher kannte, versuchte er noch, sich möglichst im Hintergrund zu halten.

„Irsia“, erwiderte Achilleas knapp. Der Welpe in Menschengestalt schaute ihn nur ängstlich an. Er kannte diesen Namen offenbar nicht.

„Eine der Schwestern von Hector?“, fragte Anzheru, um sicher zu gehen. Über den Ursprung der Schattenwandler war er mittlerweile aufgeklärt worden, über den der Werwölfe nicht. Er war sich nicht einmal sicher, ob die Ältesten etwas Näheres darüber wussten.

„Ganz genau.“ Achilleas schob den Unterkiefer vor.

„Irsia ist schon lange tot“, warf Commodus ein.

„Sie selbst ja…“ Asheroth strich über die Schlüsselbeine des Jungen, dann sein Brustbein hinab. „Aber ihre Tochter ist vielleicht entkommen.“

„Möglich.“ Achilleas zuckte mit den Schultern. Dieser seltsame Dialog begann an Anzherus Nerven zu zerren. Charles hingegen blieb die Ruhe in Person. Plötzlich ertönte ein leises Knurren. Asheroth hielt mitten in seiner Untersuchung inne.

„Du bist sehr hungrig, nicht wahr?“, fragte er den Welpen. Dieser nickte eifrig. Es musste sein Magen gewesen sein.

„Hast du einen Namen?“

„Philippe.“ Die Stimme des Jungen klang recht heiser. Anzheru fiel erst jetzt auf, dass er ihm nicht einmal Wasser zu trinken gegeben hatte, seit sich der Junge in seiner Obhut befand.

„Soll ich auf die Jagd gehen, Gebieter?“, bot Charles an.

„Nein, warte.“ Asheroth rieb sich nachdenklich das Kinn. „Was isst du normalerweise, Philippe?“

„Alles.“ Der Junge hob unsicher die Schultern. „Nudeln wären toll.“

Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen, dann bot Charles erneut an, auch das zu übernehmen. Asheroth schickte ihn mit Philippe fort. Die Aussicht auf etwas zu Essen hob die Stimmung des Jungen ungemein.

„Was denkst du, Bruder?“ Commodus hob gespannt die Brauen. Asheroth zögerte noch einen Moment mit der Antwort. „Er… ist sehr nah dran, ein Mensch zu sein.“

„Nah dran?“, fragte Achilleas skeptisch.

„Ja, anders kann ich es nicht beschreiben. Er atmet wie ein Mensch und hat offenbar ähnliche Bedürfnisse, aber er stammt von einem Werwolf ab. Wenigstens darin bin ich sicher.“

„Und von wem?“, fragte Anzheru, obwohl er wusste, dass dies über den Tastsinn seines Vaters hinausging. Die Ältesten nahmen derweil an der Tafel Platz.

„Es gibt nur eine logische Erklärung.“ Asheroth biss sich kurz auf die Unterlippe. „Setz dich hin, Sohn. Ich kann verstehen, dass du angespannt bist, aber das Scharren deiner Füße macht mich wahnsinnig.“

Anzheru gehorchte erst nach einem kurzen Zögern. Normalerweise wurde niemandem sonst erlaubt, sich mit ihnen an diesen Tisch zu setzen. Achilleas und Commodus erhoben jedoch keinen Einspruch.

„Bitte fangt für mich ganz vorne an.“ Er wollte diese Sache unbedingt von Grund auf verstehen. Schon allein für den Fall, dass er Mira ein weiteres Mal davon überzeugen musste, sich von diesem Philippe fernzuhalten.

„Wann die ersten Unsterblichen Wölfe existierten, kann ich dir nicht sagen. Wir wissen nur, dass sie ursprünglich ausschließlich die Wolfsgestalt besaßen“, begann Asheroth.

„Der älteste von ihnen, der uns je begegnet ist, war der Alpha-Wolf Uk’shan“, ergänzte Commodus. „Er war derjenige, der sich mit Irsia einließ. Durch sie bekam er eine menschliche Gestalt. Dann übertrug es sich auf sein gesamtes Rudel.“

„Wie hat sie das fertig gebracht?“ Anzheru hob skeptisch die Brauen.

„Sie hat sich ihm mit Leib und Seele hingegeben und sich somit dem Rudel angeschlossen.“ Asheroth lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Irsia selbst wurde durch ihre Verbindung zu Uk’shan unsterblich, aber sie behielt ihre Gestalt. Deshalb war sie wohl auch dazu in der Lage, seine Jungen zu gebären.“

„Es waren Zwillinge.“ Achilleas schaltete sich wieder in die Unterhaltung ein. Es hatte Anzheru schon die ganze Zeit gewundert, wie schweigsam er bisher gewesen war.

„Ein Sohn und eine Tochter. Den ersten unfreiwilligen Kontakt zu dieser Sippe hatten wir, als Irsia herausfand, dass wir ihren Bruder getötet hatten. Du weißt, dass Hector wahnsinnig war?“

Anzheru nickte.

„Bei ihr war es noch viel schlimmer. Es lag nicht nur am Racheschwur ihrer Familie. Uk’shan hatte ebenfalls über irgendetwas den Verstand verloren und schien es auf sie übertragen zu haben.“

An dieser Stelle stutzte Anzheru. „Unter den alten Werwölfen herrscht heute noch dieser merkwürdige Wahn.“

„Richtig“, gestand Achilleas ihm zu. „Aber wie es sich übertragen hat, haben wir nie erfahren. Uk’shan wurde von seinen eigenen Wölfen getötet, Irsia und ihr gemeinsamer Sohn ebenfalls.“

„Ihre Tochter Ofira hingegen könnte den Übergriff überlebt haben“, sagte Asheroth nachdenklich. „Sie erbte die Wolfsgestalt nicht. Ofira war wie ihre Mutter, äußerlich nur ein Mensch. Und auch der Wahn übertrug sich nicht auf sie.“

„Ihr kennt sie?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Achilleas schnaubte leise. „Ja, ein paar Jahre bevor die Wölfe sich gegen ihren Alpha erhoben, fiel sie uns in die Hände. Wir hatten gehofft, dass sie uns nicht angreifen würden, solange wir Ofira als Gefangene hatten, aber da haben wir uns gründlich geirrt. Weder Uk’shan noch Irsia lag das Mädchen besonders am Herzen.“

„Warum das?“, hakte Anzheru nach.

„Liegt das nicht auf der Hand?“, gab Asheroth zurück. „Ofira war weder dazu in der Lage zu kämpfen, noch für das Rudel zu jagen. Sie besaß folglich keinen Nutzen.“

Anzheru kommentierte diese Aussage lieber nicht. Diese Betrachtungsweise für das eigene Kind widerte ihn jetzt schon an.

„Logischerweise besaß sie somit auch keine Befehlsgewalt im Rudel. Es könnte sein, dass die Wölfe Ofira aus Desinteresse nur verstoßen und nicht getötet haben“, fuhr Asheroth fort. „Und sie ist die Einzige, die meiner Meinung nach Philippes Mutter sein könnte. Es gibt schließlich keine weiblichen Unsterblichen Wölfe und sterbliche Frauen können keine Kinder von männlichen Werwölfen empfangen.“

Das klang einleuchtend. „Sein Vater wäre demnach ein Mensch?“

„Höchstwahrscheinlich, aber das Wolfserbe ist in ihm immer noch vorhanden.“ Asheroths Miene wurde finster. „Die Frage ist nur, inwiefern sich das äußern wird, wenn er älter wird.“

„Das ist im Moment nicht unsere größte Sorge“, warf Commodus ein. „Wir sollten den Hinweisen auf die unbekannten Werwölfe nachgehen.“

„Was schlägst du vor, Bruder?“ Achilleas bleckte die Zähne. Er schien es kaum erwarten zu können, Aberdeen wieder zu verlassen.