Tanja - Gisa Rausch - E-Book

Tanja E-Book

Gisa Rausch

4,8

Beschreibung

Schlaganfall / multiples Organversagen / Reanimation: Der 7. Juli 2011 veränderte das Leben unserer Familie, insbesondere meins, das meines Freundes, meiner Enkelkinder und das meiner Tochter. Der Anruf von Clara, die total aufgeregt ist: "Mama liegt in E. im Krankenhaus auf der Intensivstation ... Die wissen nicht, ob sie durchkommt ..." Es ist furchtbar, mein Kind so da liegen zu sehen, an den vielen Schläuchen und Apparaten - aber sie atmet. "Man muss abwarten", sagt die Ärztin - sie ist ruhig und nett, ihr Gesicht ist sehr ernst. "Ihre Tochter musste lange reanimiert werden." Anhand meines Tagebuchs habe ich dieses Buch geschrieben, habe ich aufgeschrieben, an welch dünnem Faden das Leben von Tanja damals hing, wie sie kämpfte ... und wie alle Freunde und Verwandten mit mir und ihren Kindern gehofft und gebangt haben. Es sollte Tanjas Geschichte über ihre schlimme Krankheit, ihren Zusammenbruch werden, aber es ist auch meine - sehr persönliche - Geschichte während dieser Zeit geworden. Das Buch habe ich für Tanja und ihre Kinder geschrieben, für unsere Familie ... aber genauso wichtig kann es für andere betroffene Menschen und ihre Angehörigen sein, um Mut zu machen und zu zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen, dass jedes Leben lebenswert sein kann - auch wenn man nicht wieder "ganz" gesund wird.

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Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Für meine Familie

Gott gebe mir die Gelassenheit,

Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut und die Kraft,

Dinge zu ändern, die ich ändern kann – und die Weisheit,

das eine vom andern zu unterscheiden!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Zusammenbruch

Erste Reaktionen

Frühreha in Bonn

Neue Umgebung

Weihnachtszeit

Neues Jahr 2012

Frühling.... und ganz viel Eis

Wieder in Bonn

Sommerzeit

Zurück in Rheydt

Weinen und Lachen

Herr Berger setzt sich durch

Das Jahr der Abschiede

Zum dritten Mal in Bonn

Zwischenstation Altenheim

Der letzte Schlauch muss weg!

Ausblicke

Prolog

Eigentlich dachte ich im Sommer 2011, dass es nun wieder bergauf gehe. Hatte ich doch im letzten Herbst nach langen Jahren des Alleinseins, des Suchens, Rolf kennengelernt.... und mit ihm zusammen sollte es nun in die Zukunft gehen. Auch wenn wir unsere Macken haben, alleine wollten wir nicht mehr sein und es zusammen versuchen. Nichts sollte überstürzt werden, aber wir wollten noch ganz viel gemeinsam unternehmen. Wir wollten reisen, wollten etwas von der Welt sehen....

Doch dann kam alles ganz anders. Und das betraf nicht nur mich und Rolf, sondern vor allem meine Tochter Tanja, damals 39 Jahre alt, und ihre Kinder Clara, 17, und Ramon, 15 Jahre alt. Natürlich waren auch meine Söhne Tim und Tom mit ihren Freundinnen Hanna und Reni betroffen. Genauso wie meine Schwestern Christa, Gerda und Petra sowie mein Bruder Gregor mit ihren Familien. Und nicht zu vergessen meine Freundinnen Anna, Fine, Karin, Hannelore – um nur ein paar zu nennen. Alle haben mir geholfen, durch diese schwere Zeit zu kommen.

Dieses Buch habe ich hauptsächlich für Tanja und ihre Kinder geschrieben, für unsere Familie – um noch einmal nachlesen zu können, an welch dünnem Faden damals Tanjas "eben hing und wie alle mit mir und den Kindern gebangt und gehofft haben.

Da ich das Buch anhand meiner Tagebuchaufzeichnungen geschrieben habe, war alles auf einmal wieder ganz nah. Es ist ein sehr persönliches Buch geworden – nichts konnte ich vergessen oder beschönigen!

Mit ganz viel Mut, Kraft und Energie hat Tanja es mit unser aller Unterstützung geschafft, ins Leben zurückzukommen.

Ich habe dieses Buch aber auch für andere betroffene Menschen und ihre Angehörigen geschrieben, um Mut zu machen und zu zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen, dass jedes Leben lebenswert sein kann – auch wenn man nicht wieder "ganz" gesund wird.

Das schreibe ich jetzt nicht nur aus meiner Sicht. Nein, meine Tochter hat ihr Leben, ihre Krankheit und die daraus resultierenden Behinderungen akzeptiert. Sie ist ein fröhlicher und trotz allem ein zufriedener Mensch.

Tanja klagt so gut wie nie. "Was soll ich machen? Es ist wie es ist – ich kann es nicht ändern. Da lache ich doch lieber als dass ich weine", sind ihre Worte, wenn sich jemand wundert, dass sie trotz ihrer Behinderungen so zufrieden und fröhlich ist. Und damit macht sie uns und allen in ihrer Umgebung den Umgang mit ihr so leicht!

Wir hoffen natürlich, dass es noch weiter geht mit den kleinen Schritten, dass Tanja vielleicht eines Tages noch deutlicher und klarer sprechen kann.... dass sie vielleicht alleine mit einem Rollator, mit einer Gehhilfe laufen kann, dass sie vielleicht irgendwann wieder relativ selbständig leben kann.... Ein Traum, der vielleicht in Erfüllung geht....

Es sollte Tanjas Geschichte über ihre schlimme Krankheit, ihren Zusammenbruch werden, aber es ist auch meine "Geschichte" während dieser Zeit geworden.

Der Zusammenbruch

Der 11. September 2001 veränderte das Leben der ganzen Welt, besonders das der Amerikaner. Der 7. Juli 2011 veränderte das Leben unserer Familie, insbesondere meins, das meines Freundes, meiner Enkelkinder und das meiner Tochter, obwohl die zunächst nichts von diesen Veränderungen mitbekam.

Dabei fängt der 7. Juli – ein Donnerstag – ganz normal an: aufstehen, frühstücken, ins Büro, halt das Übliche.... Gegen zehn Uhr der Anruf von Clara, meiner Enkeltochter, die total aufgeregt ist: "Mama liegt in E. im Krankenhaus auf der Intensivstation." Dann ein Schluchzen: "Die wissen nicht, ob sie durchkommt." In mir fängt es an zu rauschen, ein Zittern geht durch meinen Körper. Was soll das? Was ist denn passiert? Ich war doch gestern noch bei meiner Tochter und den Kindern. Da war soweit alles in Ordnung! Na ja, in Ordnung?!?

Tanja hatte eine Lungenentzündung, es ging ihr nicht besonders gut, aber das Fieber war weg. Ich hatte ein paar Sachen eingekauft und Tanja hatte auch ein bisschen gegessen. "Wäre es nicht besser, du gingst ins Krankenhaus?" "Aber nein, mir geht es schon wieder gut. Auf keinen Fall gehe ich ins Krankenhaus. Ja, wenn es mir schlechter ginge, aber es geht mir schon viel besser – wirklich!" Gestern ließ ich mich beruhigen, und jetzt dieser Anruf von Clara.

Ihre Lehrerin kommt ans Telefon: "Es tut mir furchtbar leid, aber es sieht wirklich nicht gut aus. Ihre Tochter liegt im Koma, sie ist lange reanimiert worden." Koma – reanimiert – meine Gedanken rasen. Die Lehrerin weiter: "Clara kam heute Morgen zur normalen Zeit in die Schule. Sie war aber ganz verstört, weil sie wohl mehrmals in der Nacht und auch am Morgen versucht hatte, ihre Mutter auf dem Mobiltelefon zu erreichen – erfolglos! Das Handy war aus, der Teilnehmer nicht zu erreichen. Dann habe ich im Krankenhaus angerufen. Ja, Ihre Tochter ist da – aber man konnte mir keine Auskunft geben. Ich bin dann mit Clara ins Krankenhaus gefahren."

Ich muss auch zu ihr – vielleicht ist es ja nicht so schlimm – das kann doch gar nicht sein.

Tanja war laut den aufgeregten Erzählungen meiner Enkeltochter mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren worden. Sie wollte sich melden, wenn sie dort bleiben musste. Mir sollten die Kinder nichts sagen. Sie sollten mich erst informieren, wenn man wüsste, was los ist und wie es weitergeht. Vielleicht war es auch nicht so schlimm – aber Vorsicht ist besser. Die Kinder hatten darauf bestanden, dass der Notarztwagen meine Tochter mitnimmt. Sanitäter und Notarzt wollten das nämlich zunächst nicht, meinten sie hyperventiliere, obwohl Tanja schlimm hustete, keine Luft bekam....

Mein Sohn Tim und seine Freundin Hanna holen mich im Büro ab und fahren mit mir ins Krankenhaus. Mein Chef will mich nicht selbst fahren lassen, was sicher richtig ist: Ich kann keinen klaren Gedanken fassen – mache mir schreckliche Vorwürfe: Warum habe ich gestern Abend nicht darauf bestanden, Tanja ins Krankenhaus zu bringen? Warum habe ich mich von ihr beruhigen lassen – obwohl sie doch so schlecht aussah?

Es ist furchtbar, mein Kind so da liegen zu sehen, an den tausend Schläuchen und Apparaten – aber sie atmet. "Man muss abwarten", sagt die Ärztin – sie ist ruhig und nett, ihr Gesicht ist sehr ernst. "Ihre Tochter musste lange reanimiert werden."

Tanja hatte wohl zu Hause schon mehrere kleine Embolien und ist dann in der Notfallambulanz während der Aufnahme plötzlich zusammengebrochen – akutes totales Organversagen – und auch jetzt stehe sie bei der hohen Medikation praktisch unter Dauerreanimation, sagt die Ärztin. "Wir versuchen alles – die nächsten 24 Stunden werden entscheiden, ob Ihre Tochter durchkommt. Sie liegt im künstlichen Koma – der ganze Körper wird gekühlt, damit sich der Kreislauf erholt. Wir hoffen!"

Diese Situation kenne ich nur zu gut – ich will das nicht noch einmal erleben. Auch Micha, mein Mann, hatte so auf der Intensivstation gelegen – vor sieben Jahren.... und jetzt das Ganze noch einmal? Warum? NEIN NEIN NEIN!

Tim und Hanna haben die Kinder geholt – beide sind fix und fertig – natürlich. Sie sind jetzt 15 und fast 17 Jahre alt – trotzdem können sie nicht verstehen, was mit ihrer Mutter passiert ist.

Freitag, 8.7.2011:

Bei mir herrscht Ausnahmesituation – ebenso bei Tanjas Kindern! Rolf, mein Freund, den ich jetzt seit neun Monaten kenne, ist im Krankenhaus – eine Knie–OP. Eigentlich sollte ich ihn abholen und wollte dann übers Wochenende bei ihm bleiben! Ich habe in meiner Aufregung gerade noch daran gedacht, ihm telefonisch Bescheid zu sagen.

Heute Morgen der Anruf einer Schwester aus dem Krankenhaus: Tanja ist in der Nacht wieder zweimal reanimiert worden und man rechnet jetzt mit dem Schlimmsten.....

NEIN NEIN! Ich fahre mit Ramon, Tim und Hanna sofort nach E. Der Blutdruck ist etwas gestiegen – Gott sei Dank! Es gibt wieder ein Fünkchen Hoffnung.

Wir halten Tanjas Hand – immer wieder der Blick auf den Monitor – und dann steht Rolf auf einmal im Zimmer. Endlich ein Arm, an den ich mich lehnen kann, jemand der meine Hand hält – obwohl er an zwei Krücken hereinkommt und bestimmt nicht Auto fahren darf. Aber Rolf will jetzt bei mir sein – das tut trotz der schrecklichen Situation unheimlich gut.

Und dann kommt auch noch Olaf, Tanjas Mann, von dem sie sich vor einer Woche räumlich getrennt hatte. – D.h. er war aus der Wohnung ausgezogen – nach schlimmen Krächen – wie die Kinder mir gesagt haben. Natürlich habe ich ihn angerufen. Alles ist jetzt zweitrangig – Tanja muss wieder gesund werden!

Die Ärzte machen ein sehr ernstes Gesicht: "Wir müssen abwarten, erst mal ist die schlimmste Krise überwunden – aber...." Tausend Fragezeichen! Wir hoffen! Es wiederholt sich wirklich: Auch im Juli vor sieben Jahren hatte ich gehofft..., obwohl die Ärzte mir damals nur einen winzigen Funken Hoffnung ließen. Das darf nicht wieder passieren – Tanja muss leben! Sie ist stark, sie ist noch jung – erst 39, sie kann kämpfen!

Samstag, 9.7.2011:

Anruf im Krankenhaus: Tanja hat hohes Fieber – der Puls rast. Wir fahren sofort hin und bleiben den ganzen Tag bei ihr. Als wir am Abend gehen, steht das Fieberthermometer auf 40,7 und der Puls auf 180! "Wir können nichts tun", sagen die Ärzte. "Abwarten, hoffen und beten!" Das mache ich – ich weiß nicht, wie viele Kerzen für Tanja brennen. Die ganze Familie, meine Schwestern, mein Bruder, meine Freunde – alle beten, hoffen mit uns auf eine bessere Nachricht aus dem Krankenhaus.

Sonntag, 10.7.2011:

Die Nachricht aus dem Krankenhaus ist heute besser: Der Kreislauf hat sich stabilisiert, das Fieber ist gesunken, der Puls hat sich etwas beruhigt. Aber die Schwester sagt auch, das bedeute nicht, dass Tanja über den Berg sei. Aber nur das will ich hören!

Tim und Hanna sind in diesen Tagen für uns da: Die Kinder haben mehrmals bei den beiden in Köln geschlafen – auch Carlo, den Hund, haben sie mitgenommen. Und ich bin bei all dem Schrecklichen, das gerade passiert, so froh und dankbar, dass Rolf jetzt zu mir gehört und für mich da ist, dass ich so viele Freunde habe, so einen tollen Chef und Kollegen, die alle Anteil nehmen und mit uns hoffen.

Montag, 11.7.2011:

Wieder bin ich den ganzen Tag im Krankenhaus, ich streichele meine Tochter, halte ihre Hand. Die Kinder halten es fast nicht aus, sie wollen wieder mit ihrer Mutter sprechen, sie soll die Augen aufmachen. Abends fahre ich mit Clara und Ramon in Tanjas Wohnung – ich schlafe in dem Bett meiner Tochter, während sie in E. auf der Intensivstation liegt.

Dienstag, 12.7.2011:

Tanjas Zustand ist unverändert. Sie scheidet nur viel zu wenig Urin aus – das ist jetzt die größte Sorge der Mediziner. Die Ärzte verstehen zwar unseren gedämpften Optimismus und unsere Zuversicht – schließlich hat Tanja jetzt schon vier Tage überlebt. Aber die Freude darüber wird von ihnen nicht unbedingt geteilt – sie sind sehr vorsichtig in ihren Aussagen.

Mittwoch, 13.7.2011:

Tanja ist jetzt in Köln! In E. gibt es keine Dialyse – und Tanjas Körper wird immer dicker und aufgedunsener, die Nieren arbeiten nicht. Es muss etwas geschehen, wenn sie noch eine Chance haben soll. Die Ärzte haben abgewogen: In E. können sie nichts für Tanja tun. Sie muss in eine andere Klinik – also wird ein Hubschrauber angefordert, auch wenn man nicht weiß, wie sie den Transport überstehen wird.

Als wir in E. im Krankenhaus ankommen, ist Tanja schon auf dem Weg in den Helikopter. Gott sei Dank! In der Klinik in Köln wird man ihr bestimmt besser helfen können. Die Ärzte und auch die Schwestern hier sind zwar unheimlich nett und fürsorglich zu Tanja und zu uns allen, aber die medizinischen Möglichkeiten sind eben begrenzt. Nun steigt meine Hoffnung wieder: Jetzt wird man noch mehr für meine Tochter tun können, schließlich ist es eine neurologische Spezialklinik.

Die Ärzte dort sind auch zufrieden: Tanjas Zustand bleibt zunächst stabil. Laut Aussage des Stationsarztes haben sie Tanja in einem noch schlechteren Zustand erwartet. Allerdings ist die Lage weiter sehr ernst....

wieder Donnerstag – jetzt der 14.7.2011:

Im Nachhinein weiß ich gar nicht, wie wir alle diese Zeit überstanden haben: dieses ewige Auf und Ab, das ständige Bangen. Meine engste Freundin und meine Schwestern rufen jeden Abend an, um dann die anderen Freunde und Angehörigen zu informieren, die alle Anteil nehmen und weiter mit uns hoffen, dass es Tanja bald besser geht.

Freitag, 15.7.2011:

Am Morgen mein Anruf in der Klinik: Leider ist das Gegenteil eingetreten – Tanjas Kreislauf ist in der Nacht zusammengebrochen. Ein CT – das erste nach dem Zusammenbruch vor einer Woche – zeigt mehrere Schlaganfälle und fast den Komplettausfall aller Organe an. Es ist furchtbar. Ich will meine Tochter in den Arm nehmen, möchte ihr so gerne sagen, dass es gut wird, wenn sie das alles überstanden hat. Ich will ihr helfen, ein schöneres, leichteres Leben zu organisieren.

Wir sind uns alle einig, dass Tanja total überlastet war mit Arbeit, Geldsorgen, ihrem cholerischen Mann, den Sorgen um die halbwüchsigen Kinder. Und keinem hatte sie etwas gesagt: Tanja ist unter all dem zusammengebrochen – ihr Körper konnte nicht mehr.

Rolf und ich hatten am Dienstag, dem Tag als Tanja nach Köln verlegt wurde, noch eine schlimme Begegnung mit Olaf im Aufzug des Krankenhauses in E. Wir waren schon auf dem Weg zum Auto, um nach Köln zu fahren, als Olaf kam, der zu Tanja auf die Intensivstation wollte. "Tanja ist wahrscheinlich schon im Hubschrauber und auf dem Weg nach Köln", erklärte ich ihm. "Das wurde auch Zeit, sonst hätte ich hier Randale gemacht", war Olafs Antwort. Er fing an, auf die Ärzte zu schimpfen, und dann entwickelte sich ein schrecklicher Streit: Er beschimpfte Rolf und mich aufs Fürchterlichste, wollte Rolf verprügeln. Er rannte herum wie ein wild gewordenes Tier und hörte nicht auf, rumzubrüllen.

Ich hatte schreckliche Angst – bat um Hilfe. An der Pforte hat man die Polizei angerufen. Die Beamten kamen auch bald. Wir saßen in der Cafeteria, um uns etwas zu beruhigen. Ich weiß gar nicht mehr, wo Olaf abgeblieben ist. Jedenfalls haben wir ihn angezeigt. Die Polizisten rieten uns, nicht in dem Haus in Much zu bleiben, da er wohl auch früher schon öfter gegen Kollegen handgreiflich geworden sei und kaum zu bändigen war.

Wir sind natürlich in Much geblieben – wo sollten wir auch hin mit den Kindern und Hund und Katzen!

Irgendwie muss es ja weitergehen, zumindest bis zu den Sommerferien. Ramon muss noch zur Schule – Clara nicht mehr: Sie hatte ja schon ihre Schulentlassung, am 8.7., Tag Eins nach Tanjas Zusammenbruch. Und alles ging irgendwie weiter. In der Kirche hatte der Pfarrer mit allen Eltern und Kindern für Tanja gebetet. Ich war dabei – hatte Clara begleitet – in ihrem schicken Kleid, das ich ihr zur Entlassung gekauft hatte. Sie sah so süß aus – und war doch so verwirrt in Trauer und Sorge um ihre Mutter. Als der Pfarrer sprach, hielt sie es nicht mehr aus und lief weinend aus der Kirche....

Wir sind alle durcheinander – hatten auch viel Verständnis für Olaf. So schlimm wie er ist – so ist er doch mit Tanja verheiratet und hat genauso erschüttert an ihrem Bett gestanden – und wir haben gedacht, in der Situation zusammenhalten zu müssen. Aber das ist jetzt vorbei – und zwar für immer!

Inzwischen ist Tanja geschieden, sie hat ihren Mädchennamen wieder angenommen. Aber bis dahin war es ein weiter und sehr steiniger Weg!

Es regnet, es ist kalt, dabei ist doch Sommer! Aber das Wetter ist wie unsere Stimmung: Unsere Freude ist weg – aber immer noch haben wir etwas Hoffnung. Tanja liegt noch im Koma – wie wird sie sein, wenn sie aufwacht? Die Ärzte sagen nichts! Was auch? Sie können nichts sagen – und erst recht nichts, was uns Hoffnung machen könnte.

Samstag/Sonntag, 16./17.7.2011:

Das Wochenende bringt Höhen und Tiefen – Angst und Hoffnung sind ständig da. Ich habe Angst! Angst um Tanja, Angst um die Kinder, Angst vor der Zukunft! Alles ist durcheinander! Aber ich habe so einen tollen Mann – der zu mir steht, auch wenn er sich das Leben mit mir doch ganz anders vorgestellt hatte.

Jeden Tag bin ich in der Klinik, meistens mit Rolf, sehr oft mit den Kindern. Ab und zu gibt es aber eine Auszeit für sie – dann holen Tim und Hanna die beiden ab – Hund Carlo ist auch ganz oft dort....

Irgendwann, als Clara nach den Ferien ins Internat ging, ist er ganz dort geblieben.

Dienstag, 19.7.2011:

Tanjas Zustand ist unverändert – mehr oder weniger stabil! Unbeweglich liegt sie da an den Schläuchen, die Monitore schreiben die Zahlen: Blutdruck, Puls, Blutsättigung etc.... Mein Blick wechselt ständig von Tanja auf die sich immer verändernden Zahlen. Wann muss ich die Schwester oder den Arzt rufen? Aber wenn die Werte zu sehr aus der Norm fallen, piepst es sowieso – und dann kommt sofort jemand.

Wenn es bei Tanja ruhig ist, piepst es nebenan. Hinter dem Schirm neben Tanjas Bett liegt ein Mann – ungefähr so alt wie ich – auch Schlaganfall! Seine alten Eltern kommen jeden Tag, halten seine Hand. Manchmal sprechen wir miteinander, vergleichen die beiden Patienten, achten auf jede Regung, auf jedes Zeichen, aber eigentlich passiert gar nichts.

Dabei warten wir jetzt so sehr darauf, dass Tanja wach wird. Die Medikamente, die Tanja in ihrem Dauerschlaf hielten, sind abgesetzt. Sie muss doch jetzt endlich aufwachen! Aber nichts geschieht! Tanja schläft weiter.

Wir haben ein langes Gespräch mit dem Oberarzt. Aber er will und kann keine Prognose abgeben! Es ist so schlimm! Ich will endlich etwas Positives hören – oder ein Zeichen sehen, eine Bewegung, irgendetwas, das uns zeigt, dass Tanja uns hört, dass sie uns spürt! Ich möchte mit ihr überlegen und ihr helfen, von vorne anzufangen....

Freitag, 22.7.2011:

Es sollte Sommer sein, aber es ist so kalt – so kalt wie es meistens in mir aussieht. Ist mir auch eigentlich egal!

Eine Woche ist es nun her, dass die Schlafmittel abgesetzt wurden. Eine Woche! Aber es tut sich nichts.... Doch, so gaaanz kleine winzige Schritte aufwärts: Gestern hat Tanja den Mund bewegt – fast wie ein Gähnen, und die Zunge hat sie bewegt....

Die Kinder waren nicht dabei. Sie kommen zwar sehr oft mit, aber sie haben nicht die Ausdauer, lange am Bett zu sitzen und sind auch mal unterwegs, aber sie hoffen wie ich bei jeder kleinen Bewegung.

Gestern Abend haben wir Doppelkopf gespielt – Rolf war in Gladbach – meine Dokofrauen waren bei mir in Much. So ein Stück Normalität tut gut – bei all dem Chaos rundherum.

Nachts bin ich oft sehr unruhig – dann wieder schlafe ich wie ein Stein. Doch heute Nacht werde ich von Clara geweckt: Nikita, Claras Findelkatze, hat ein Baby bekommen. Wie süß! Ich finde Tiere, besonders so kleine, total niedlich. Also jetzt eine Katzengeburt – mitten in der Nacht. Wäschekorb, saubere Handtücher – das erste Kätzchen ist ganz schwarz. Aber es geht weiter: Katzen bekommen ja nun mal meistens mehr als nur ein Junges. Das nächste ist schwarz–weiß, dann kommen zwei hellbeige! Vier Katzenkinder – was nun? Zum Schluss zähle ich sogar fünf – eine dreifarbige Glückskatze ist auch dabei! Ich könnte heulen! In dem Haushalt meiner Tochter gibt es bereits zwei Katzen (ohne Nikita) und den großen Hund! Auch wenn es nicht ganz leicht ist, kann ich Clara überzeugen, dass es in der Situation am besten ist, die Katzenmutter und ihre Kleinen im Tierheim abzugeben.

Das machen wir auch. Ich habe unsere Situation erklärt, und man hat dort Verständnis und hat uns die Katzenmutter plus Jungen abgenommen.

Am Nachmittag im Krankenhaus erfahre ich, dass man bei Tanja einen Luftröhrenschnitt gemacht hat, damit sie es, ohne den Tubus im Hals, einfacher beim Atmen hat. Das macht sie jetzt meistens alleine oder nur mit geringer Unterstützung der Maschine. Auf jeden Fall soll Tanja nun baldmöglichst in die Frühreha der Neurologie verlegt werden. Der Arzt erklärt uns, dass das sehr wichtig sei – es gebe ein paar Reflexe und damit müsse man anfangen zu arbeiten! Also geht's doch aufwärts!

Ich bin jetzt oft sehr traurig, aber nie ohne Hoffnung. Irgendwie hab ich es hingekriegt, ein wenig den Alltag aufrechtzuerhalten. Es ist nicht einfach. Alles ist so unwirklich: Dieses Pendeln zwischen den Wohnungen in Gladbach und Much, jeden Tag nach Köln ins Krankenhaus. Aber hier nichts Neues: Meine Tochter schläft und schläft und schläft....

Samstag, 23.7.2011:

Abends Kegeln – komisch, was doch alles möglich ist – auch in solch einer Ausnahmesituation. Mit Ramon müssen wir vorher noch ins Krankenhaus. Wie sich beim Röntgen herausstellt, ist Ramons linker Arm gebrochen. Er war gestern bei einer Freundin und ist dort mit dem Rad gestürzt. Die Mutter der Freundin war mit Ramon am Morgen schon in S. im Krankenhaus gewesen. Aber man hatte sich dort geweigert, den Jungen zu röntgen, weil die Mutter nicht zum Unterschreiben da war. Obwohl die Lage erklärt wurde, dass das wegen der schlimmen Erkrankung gar nicht möglich sei, wurden das Röntgen und eine weitere Behandlung abgelehnt. Eine Unverschämtheit und eigentlich ein Fall von unterlassener Hilfeleistung! So fahren wir also mit Ramon nach E. ins Krankenhaus. Hier sind wir seit dem schlimmen Streit mit Olaf nicht mehr gewesen....

Gekegelt haben wir an dem Abend nicht mehr – aber mit den Freunden zu reden, tut auch gut. Als wir wieder in Much ankommen, schüttet es wie aus Eimern.

Vierte Woche:

Ich weiß nicht wohin mit meinen Gefühlen, mit meiner Trauer, meiner Wut, meinem Selbstmitleid! Tanja atmet zwar alleine, sie war auch jetzt schon seit einer Woche nicht mehr an der Dialyse – aber sie wird nicht wach. Wir hoffen weiterhin. Vielleicht nimmt sie sich ja nur eine Auszeit, bis ihr Körper wieder genug Kräfte gesammelt hat – und bis wir alles geregelt haben! Das Warten ist furchtbar. Es ist schlimm, sie immer nur schlafend zu sehen, aber wir geben die Hoffnung nicht auf.

Manchmal bin ich alleine mit Tanja im Krankenzimmer – und höre dann zusammen mit ihr Musik. Rolf hat den MP3–Player mit Tanjas Lieblingsinterpreten bespielt. Musik, die sie gerne gehört hat, Musik, die sie aufbauen und trösten, die ihr Mut machen soll, spielen wir ihr über den Kopfhörer – einer steckt in ihrem Ohr und einer in meinem...., aber Tanjas Augen bleiben geschlossen, sie schläft weiter!

Später habe ich mit Tanja öfter über diese Zeit gesprochen. Hat sie irgendwelche Erinnerungen an ihre Schlafperiode? Hat sie die Musik gehört? Hat sie uns gespürt, unser Hoffen? Hat sie unser Streicheln gespürt? Hat sie uns gehört? Nein, Tanja kann sich an nichts aus dieser Zeit erinnern–bei ihr bleibt alles dunkel!

Erste Reaktionen

Donnerstag, 4.8.2011:

Doch soweit ist es noch lange nicht! Im Moment ist alles durcheinander: der ganze Sommer und wir auch. Dabei ist heute – genau vier Wochen nach dem Zusammenbruch etwas Tolles passiert: Tanja hat Reaktionen gezeigt – richtige Reaktionen: Sie wird wach, ja sie wird wach!!

Die Augen bleiben zwar zu, und es ist traurig, wie sie reagiert: Sie weint – aber sie weiß, dass sie lebt! Die Tränen laufen, ihre Tränen, meine Tränen! Aber Tanja weiß auch, dass sie sonst nichts kann – noch nicht einmal ihre Augen kann sie öffnen. Sie weint, wenn ich von ihren Kindern erzähle. Sie weint, wenn ich die Grüße ihrer Chefin und ihrer Arbeitskollegen ausrichte. Aber sie versteht mich – und das ist schon ein kleines Wunder.

Jetzt soll Tanja bald nach Bonn in die Frühreha verlegt werden. Nach vier Wochen Koma sind wir glücklich und hoffen, dass es dann weitergeht.

Auch die Kinder freuen sich, doch wir haben auch heftige Kämpfe miteinander auszutragen. Ja, es ist für uns alle nicht einfach – und für die Kinder, die ihre Mutter so sehen, nicht wissen, wie es weitergeht, ist es schrecklich. Aber für mich auch. Ich sehne mich so sehr nach Ruhe, nach Frieden und Ausgeglichenheit – aber das scheint unmöglich. Im Gegenteil!

Meine Söhne, meine Geschwister, unsere Freunde, meine Arbeitskollegen – alle möchten helfen, uns unterstützen. Aber aushalten müssen wir das alles.

Da ist es ein wirklicher Trost für mich, dass ich Rolf habe! Ich wiederhole mich, aber es ist so. Wie sollte ich das alleine aushalten und bewerkstelligen? Es steht so viel an – auch so viel an Bürokratie. Anträge für die Betreuung der Kinder und die Betreuung meiner Tochter habe ich gestellt – die laufen.

Samstag, 6.8.2011:

Wir sind wieder im Krankenhaus – voller Erwartungen – es ist Tag Zwei nach den ersten "wachen" Reaktionen. Die Kinder sind mit – wir sind ganz aufgeregt. Was wird sie heute machen? Aber unsere Erwartungen werden gedämpft: Tanja liegt wieder ganz ruhig da und schläft. Keine Regung! Clara und Ramon stehen rechts und links vom Bett, halten die Hand ihrer Mutter, reden mit ihr – nichts! Wir müssen so unendlich viel Geduld aufbringen, und das ist so schwer bei alledem! Wir haben heute viel von früher erzählt: Was alles an Schönem, aber auch an schlimmen Dingen passiert ist. Tanja reagiert ein wenig – bei bestimmten Musiktiteln laufen ihr Tränen über die Wangen. – Hoffentlich kommt sie bald in die Reha. Dann geht's bestimmt aufwärts!

Montag, 8.8.2011:

Nun geht es fast jeden Tag so: Z.B. weint Tanja wieder, als ich ihr von dem Anruf einer Arbeitskollegin erzähle, mit der Tanja oft gescrabbelt hat oder als ich die Geschichte von Carlo erzähle. Der Hund ist ja jetzt bei Tim. Er und Hanna kümmern sich um ihn, und die Kinder und ich sind so entlastet.

Tim ging also mit Carlo spazieren. Der Hund lief ganz brav neben ihm – bis auf der anderen Straßenseite eine Frau auftauchte. Diese Frau ähnelte Tanja sehr. Der Hund reagierte ziemlich wild, riss sich los und ab ging's auf die andere Straßenseite.... Tim hatte alle Mühe, Carlo wieder einzufangen, der wahrscheinlich auch ganz enttäuscht darüber war, dass es nicht Frauchen war, die ihnen entgegenkam. Ja, so traurig Tanjas Tränen sind, so glücklich bin ich doch über die Reaktion – es ist wenigstens eine!

So zählen wir jeden noch so kleinen Erfolg. Heute komme ich ins Krankenzimmer – und Tanja hat das linke Auge auf. Sie guckt mich an – mit ihrem linken Auge. Ob sie mich wirklich sieht, kann ich nicht feststellen.

Dienstag, 9.8.2011:

Die Kinder sind mit – Tanja schläft noch, als wir ins Zimmer kommen. Ich wecke sie sanft – und tatsächlich: Wieder öffnet Tanja das linke Auge. Aber ansonsten ist sie ziemlich teilnahmslos. Erst als wir uns verabschieden – insbesondere als Clara ihre Mama zum Abschied küsst, reagiert sie – wieder mit Tränen.

Auch wir weinen viel. Überhaupt ist es eine schlimme Zeit – mit viel Unruhe, Streitereien mit den Kindern. Es ist so schwer, sie zu lenken, besonders Ramon ist oft so unbeherrscht und wütend.

Aber wer will es dem Jungen verübeln in der Situation. Er ist in der Pubertät, er bräuchte jetzt Stabilität und es bricht ihm gerade alles weg, was ihm vielleicht Halt geben könnte.

Mittwoch, 10.8.2011:

Heute können wir wieder feststellen, dass Tanja uns versteht, dass sie wach ist: Ina, eine frühere Kollegin und Freundin von Tanja, ist mit ihrem Sohn gekommen. Wir hatten vor ein paar Tagen telefoniert und sie kam so schnell wie möglich. Die beiden Jungs sind in Much geblieben, während wir nach Köln zu Tanja fahren. Die ist halbwegs wach – das linke Auge ist auf und als Ina sich zu ihr beugt und sie begrüßt: "Hallo, Tanja, was machst du denn für Sachen?", fängt Tanja wieder an zu weinen.... Und nun stehen wir alle drei heulend am Bett. Aber Tanja reagiert die ganze Zeit auf uns, besonders auf Ina. Sie lacht sogar – zum ersten Mal! Toll, das zu sehen!

Sechste Woche:

Tanja hat endlich einen Reha–Platz: Am Montag soll sie nach Bonn verlegt werden – heute Morgen kam der erlösende Anruf von der Sozialstation.

Tanjas Zustand ist unverändert. Sie sitzt im Bett, als wir kommen, d.h. das Rückenteil des Bettes ist hochgestellt, und so sitzt sie ganz aufrecht. Tanjas Augen sind heute geschlossen. Aber sie reagiert: Ich erzähle vom gestrigen Tag, von Inas Besuch – und bei Tanja laufen wieder die Tränen. Das ist auch später nochmal so. Ich weiß gar nicht mehr, was ich gesagt habe: Jedenfalls ist Tanja ganz klar, sie versteht uns, sie reagiert.... nicht immer, aber sehr oft!

Das linke Auge geht wieder auf. Tanja guckt mich mit diesem linken Auge an und sie drückt meine Hand, als ich sie frage, ob sie mich sieht, ob sie mich versteht. Auch mit den Schwestern kommuniziert sie über dieses linke Auge. Ist doch Wahnsinn!

Die Kinder sind soweit o.k., aber sie müssen doch oft zum Mithelfen oder zum Lernen motiviert und angehalten werden. Die Lust fehlt. Ist ja auch irgendwie zu verstehen, bei dem was sie gerade durchmachen.

Wir brauchen alle viel Geduld – auch wenn es bei Tanja mit kleinen Schrittchen vorwärts geht. Aber diese sind so klitzeklein, dass man sie kaum wahrnimmt. Und sie ist sooo dünn, so schrecklich dünn, meine Tochter.

Heute haben wir Hörspiele der "Drei Fragezeichen" auf den MP3–Player gezogen, mit ins Krankenhaus genommen und bei Tanja abgespielt. Clara sagt, dass ihre Mutter diese Kassetten oft zum Entspannen oder zum Einschlafen gehört habe. Also würde sie sich doch bestimmt darüber freuen. Schaden kann es auf keinen Fall!

Manchmal bekommt Tanja Besuch von ihren Brüdern, die Kinder fahren oft mit mir hin, wenn auch nicht jeden Tag.

Für mich ist alles sehr anstrengend: die Angst und Sorge um meine Tochter, jeden Tag die Fahrt ins Krankenhaus – angespannt, bis ich Tanja dann sehe. So oft Streitereien mit den Kindern. Der Haushalt muss auch erledigt werden, die Kinder brauchen etwas zum Essen. Wenn Rolf bei sich zu Hause in Gladbach ist, bin ich noch trauriger, dann fühle ich mich sehr alleine, obwohl ich weiß, dass er immer für mich da ist und ja auch ganz schnell zu mir zurückkommt ins Chaos!

Da ist der schöne Blumenstrauß meiner Kollegen mit einer netten Karte ein wirkliches Trostpflaster, über das ich mich riesig freue. Überhaupt versuchen alle Freunde, meine Geschwister, meine Kinder und besonders Rolf, mir zu helfen, mich zu unterstützen und aufzubauen. Dazu gehört auch eine gewisse Normalität, obwohl ja nichts mehr normal ist!

So sind wir z.B. heute (Samstag, 12.8.) auf dem Sommerfest einer Kollegin. Es tut so gut, mal rauszukommen und etwas anderes zu sehen und zu hören.

Vorher der Besuch bei Tanja – ihr Zustand unverändert. Die Ärzte sagen allerdings, dass sie sich gut mache. Ich höre so etwas gerne, aber sie so elend da liegen zu sehen, nur das linke Auge auf.... es tut so weh und wir brauchen schon sehr viel Geduld.

Es regnet viel in diesem Sommer 2011 – auch der Himmel weint.... und drückt auf die Stimmung. Heute war Ramon mit im Krankenhaus – nachher waren wir noch in meiner Wohnung in Köln. Hier müssen noch ein paar Schränke leergeräumt werden. Ich habe die Wohnung gekündigt, bin ja sowieso nur noch in Much oder bei Rolf in Gladbach. Nächste Woche wollen wir dann alles rausholen.

Frühreha in Bonn

Es ist wieder Montag (15.8.): Tanja ist in Bonn – aber bei unserem Besuch scheint sie ganz verstört zu sein – noch nicht mal geweint hat sie. Ganz teilnahmslos liegt sie da.

Hoffentlich gibt sie jetzt nicht auf! Irgendwie reagiert sie ganz seltsam. Sie tut mir so leid! In Tanjas Zimmer auf der Station F1 der Rehaklinik liegt noch eine ältere Frau, die auch heute angekommen ist.

Ich fühle mich mal wieder total geschlaucht. Eigentlich möchte ich noch laufen – das tut mir nämlich immer gut – aber ich bin einfach zu kaputt! Gehe nur noch mit Clara einkaufen.

Der Entlassungsbericht des Arztes aus der Kölner Klinik muss noch ans Familiengericht geschickt werden. Die Richterin braucht den zu meinem Antrag auf Vormundschaft für die Kinder.... Alles muss erledigt werden!

Heute schläft Claras Freund hier. Rolf ist auch wieder hier – er ist mit dem Roller gekommen. Endlich scheint mal die Sonne – das schöne Wetter muss ja ausgenutzt werden. Wir fahren mit einem Blumenstrauß zu Tanja. Ramon ist auch dabei.

Ich glaube, für Tanja ist das alles unheimlich schwer. Sie bekommt ja viel mit, kann sich aber nicht bewegen, nicht sprechen, nicht schlucken.... und dann sag ich ihr, dass sie nicht aufgeben darf, dass sie kämpfen muss. Aber sie kann nur weinen!

Die Physiotherapeutin sagt mir, sie kommuniziere mit Tanja über die Augen: Ja heißt Augen zu, bei Nein soll sie die Augen aufhalten. Aber so ganz klappt das heute nicht.

Dienstag, 16.8.2011:

Meine Schwestern haben mich heute besucht – und es gibt eine hitzige Auseinandersetzung wegen meiner Kindererziehung. Immer sei ich zu weich, sagen sie, zu nachsichtig, entschuldige stets die Fehler der anderen – besonders die meiner Kinder und Enkel.

Wahrscheinlich haben sie recht – aber wer kann schon raus aus seiner Haut! Und in der jetzigen Situation fehlt mir oft einfach die Kraft, um mich mit meinen Kindern und Enkeln auseinanderzusetzen. Ja, vielleicht ist viel falsch gelaufen, hätte ich oft anders reagieren müssen....

Im Nachhinein muss ich mir eingestehen und meinen Schwestern recht geben: Ich hab's nicht geschafft, meinen Enkelkindern das Elternhaus zu erhalten und ich hab's auch nicht geschafft, sie auf den richtigen Weg zu führen – obwohl ich mir alle Mühe gegeben und mir alle mögliche Unterstützung von Seiten des Jugendamtes geholt habe – leider hat es nicht geklappt.

Mittwoch, 17.8.2011:

Tanja ist total kaputt heute. Als wir kommen, sitzt sie im Bett und wirkt sehr angespannt. Die Physiotherapeutin hatte mit Tanja das Sitzen auf der Bettkante geübt – das war wohl sehr anstrengend. Ich bin mit Rolf und Clara in der Klinik und während unseres Besuchs kommen auch noch Olaf und seine Tochter aus erster Ehe.

Es ist für mich furchtbar, diesen Menschen hier bei meiner Tochter zu sehen. Aber ich merke auch, wie sehr Tanja sich freut. Sie weint zwar, als ihr Mann hereinkommt, aber das macht sie ja jetzt, wo sie langsam wach wird, immer, wenn sie jemanden erkennt oder wenn man mit ihr spricht. Und das macht Olaf: Er spricht ganz leise und ist sehr liebevoll zu seiner Frau. Trotz alledem: Mir dreht sich der Magen um und auch Rolf muss das Zimmer verlassen. Für uns ist es kaum auszuhalten.

Wir gehen dann bald. Clara kommt auch nur schwer mit der Situation klar. Aber am wichtigsten ist für sie Tanja – und für uns natürlich auch – alles andere ist Nebensache.

Donnerstag, 18.8.2011:

Heute ist wieder alles anders: Tanja wirkt total abwesend als wir ins Zimmer kommen. Ich nehme sie in den Arm, versuche mit ihr über die Augen zu kommunizieren, warte auf das "Ja" oder das "Nein". Aber Tanja bleibt abwesend. Es ist, als ob sie gar nichts mehr verstehe.

Ja, wir müssen Geduld haben. Vielleicht hat Olafs Besuch gestern sie durcheinander gebracht. Aber war es nicht oft so in den letzten Tagen? Jedes Mal wenn wir dachten, jetzt ist sie wirklich wach, sie versteht uns – war sie am nächsten Tag wieder ganz müde und abwesend.

Ich habe allerdings auch einen ziemlich schlechten Tag. Bin zwar abends noch bei einer Freundin zum Doppelkopf spielen – aber mir geht's gar nicht gut, nicht nur deshalb hab ich verloren!

Achte Woche:

Wirklich – sind es jetzt schon sieben lange Wochen, in denen unser Leben so durcheinander gewirbelt wird? Heute fahre ich mit Rolf nach Brück. Tim und zwei seiner Freunde sind auch da – wir wollen meine Möbel und sonstigen Sachen abholen und nach Much bringen. Dort ist jetzt mein Zuhause! Hoffentlich geht alles gut!

Aber der "Umzug" klappt ganz gut. Tom ist auch zum Helfen da. Er ist mit der Bahn gekommen. Mittags hole ich für alle Pizzen. Wir können auf dem Balkon essen, denn inzwischen ist es richtig heiß geworden – eigentlich ist das Wetter schon die ganze Woche gut. Aber das interessiert uns ja nur noch am Rande. Nur Tanja macht die Hitze sehr zu schaffen. Sie schwitzt ziemlich stark.

Am Freitag kommen Tim und Hanna nach dem Besuch bei Tanja zu uns. Leider gibt es unschöne Diskussionen mit Ramon und Clara. Das fängt schon beim Essen an. Da geht es ums Nachhausekommen. Ich versuche ruhig zu bleiben und die Kinder mit Argumenten zu überzeugen. Aber beide sind so uneinsichtig. Rolf versucht sich rauszuhalten – was aber auch nicht immer klappt. Wenn's zu heftig wird, mischt er sich doch ein – aber auch ohne Erfolg! Gerade heute ist Clara dermaßen frech!

Ich hoffe weiter auf die Einsicht der Kinder, vergleiche sie mit dem Sohn einer Freundin. Da ist es im Moment auch etwas besser geworden nach ganz schlimmen Eskapaden. Was hat der Junge seiner Mutter nicht alles an den Kopf geworfen. Nur uns Müttern oder Großmüttern fehlt oft die Kraft, das Durchsetzungsvermögen, um konsequenter zu sein. Und das hätte ich so sehr gebraucht.

Samstag/Sonntag, 20./21.8.2011: