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Tobias, der älteste Sohn der Frangenbergs, war schon als Kind sehr neugierig und probierte gerne alles Mögliche aus. So war es später mit jeder Art von Drogen, obwohl er über die Folgen schon früh aufgeklärt wurde. Hier wird das Leben einer Familie mit und der Kampf gegen eine Sucht beschrieben, der aussichtslos scheint und ständig von Rückschlägen begleitet wird. Immer wieder macht sich Maria auf die Suche nach ihrem Sohn, um ihn zu Entgiftung und Therapie zu bewegen, auch wenn sie weiß, dass nur Tobias selbst diesen Weg gehen kann. Aber sie gibt nicht auf!
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2021
Teil - I -
1975 - 1981
1982 - 1987
1988
1989 / 1990
September 1991
Sommer 1992
Frühjahr 1993
Teil - II -
1994
1995
1997
2000
2001
2002
2003
2004
Buch - III -
2010
Ein wunderschöner Spätsommertag im September und ein Ereignis, von dem niemand gedacht hätte, dass es jemals stattfinden könnte. Jedenfalls niemand von denen, die Tobias schon lange kennen.
Der strahlt übers ganze Gesicht, in das ihm eine blonde Haarsträhne fällt. Es ist sein Hochzeitstag, jawohl sein Hochzeitstag! Die Braut - hat man so etwas schon gesehen - trägt ein schwarzes Kleid. Aber sie sieht wunderschön aus - genau wie der Bräutigam. Es ist schon irgendwie ein Märchen für ihn - und genauso wird es auf der Zeremonie der freien Trauung erzählt:
Es war einmal in einer großen Stadt eine junge Frau - eigentlich war sie gar nicht mehr so jung! Sie ist lange sehr krank gewesen und nun auf dem Wege der Besserung. Sie will nur noch gesund werden. Viele Monate hatte sie nur ihr Krankenzimmer gesehen, sie konnte nicht aufstehen, ihr Leben hing am seidenen Faden. Fast jeden Tag kam ihre Mutter zu Besuch und oft war ihre kleine Tochter dabei.
Und zu dieser Zeit begab es sich, dass sich in den sozialen Netzwerken ein junger Mann tummelte, der zwar nicht in einem Krankenhaus, aber in einem Sanatorium oder einer ähnlichen Einrichtung war. Auch er war schon sehr lange krank, aber auch er war auf dem Wege der Genesung.
Im Internet sah er das Gesicht der jungen Frau, nicht alltäglich, ein etwas anderes Gesicht, das ihm auf Anhieb gefiel. In ihrem Profil erzählte sie ein wenig von ihrer Geschichte, die auch nicht alltäglich war!
Er nahm allen Mut zusammen und schrieb sie an - auch wenn er gar nicht damit rechnete, dass sie antworten würde.
Aber genauso war es, obwohl er in seinem Profil auch einiges aus seinem Leben preisgab, das bestimmt viele abgeschreckt hätte. Nicht so diese junge Frau. Im Gegenteil: Sein offenes, liebes Lächeln auf dem Foto zog sie an - und sie vergaß alle Enttäuschungen, die sie schon erlebt hatte, warf alle Bedenken über Bord - und schrieb zurück.
So fing das Märchen der beiden Hauptpersonen an, deren Hochzeit heute gefeiert wird!
Ein neugieriger, aufgeschlossener Junge, rothaarig, das Gesicht voller Sommersprossen, der alles Mögliche ausprobiert: Das ist Tobias Frangenberg. Schon sehr früh machte er die Erfahrung, dass ihm alles, fast alles, verziehen wurde, wenn er nur ein wenig schelmisch grinste und einen für ihn plausiblen Grund nannte, warum er das getan hatte, was die Erwachsenen zumeist gar nicht so toll fanden.
Tobi ist jetzt vier Jahre alt. Gerade war er mit seinen Eltern und der ein Jahr jüngeren Schwester Stefanie umgezogen, in die Nähe seiner Oma. Die hatte sich bereiterklärt, morgens auf die beiden Kinder aufzupassen, damit Maria und Fred arbeiten konnten.
So auch an diesem Morgen: Tobi war von seiner Oma bis zum Kirchplatz gebracht worden. Dort verabschiedeten sich die beiden. Noch ein paar Meter bis zum Kindergarten. Marias Mutter Elfi wartete, bis Tobi um die Ecke verschwunden war und ging dann schnell das kurze Stück bis zu ihrem Haus zurück. So machte sie das meistens. Steffi schlief noch und sie wollte schnell wieder zu Hause sein. Tobi kannte sich inzwischen gut aus - er musste nicht jeden Tag bis zur Türe gebracht und dann den Erzieherinnen übergeben werden. Das machte er schon ganz prima alleine.
Tobias stand unschlüssig an der Tür. Er guckte durch die Scheibe: Ein paar Kinder spielten im Vorraum - von seinen Freunden war aber niemand zu sehen und auch keine der Erzieherinnen konnte er erspähen.
Zögernd trat er von der Türe etwas zurück. Er guckte sich um - kein Mensch weit und breit. "Eigentlich könnte ich ja auch heute mal etwas anderes machen“, dachte er sich und ging zurück über den Kirchplatz. Schnell lief Tobi den Berg hinunter. Noch ein paar Schritte, dann war er zu Hause. Aber was sollte er hier? Die Türe war abgeschlossen, Mama und Papa waren arbeiten, Steffi bei der Oma.
Gegenüber wohnte die alte Tante Martha - aber auch dort war die Türe zu. Auch von Frau Büscher und ihrem Mann, die nebenan wohnten, war nichts zu sehen. Das war schon komisch, weil die doch immer an die Türe oder ans Fenster kamen, wenn sie einen von der Familie sahen. Umso besser! "Dann geh' ich jetzt eben zu Tante Walli, die ist bestimmt zu Hause und ich kann mit Uli spielen." So machte Tobi sich auf den Weg.
Maria arbeitete seit ein paar Monaten in dem anderen Kindergarten von Kirchbach. Sie war froh, diesen Job bekommen zu haben: Das Geld konnte die junge Familie gut gebrauchen und die Arbeit mit den Kindern machte ihr großen Spaß. Marias Mutter hatte sich bereit erklärt, die Kinder zu übernehmen, bis sie in den Kindergarten gehen konnten. Da hatte Maria nicht lange überlegt und dankbar die Stelle in der Nähe ihrer alten Wohnung angenommen.
Jetzt staunte sie nicht schlecht, als die Türe aufging und ihre frühere Vermieterin Walli im Raum stand - mit Tobi an der Hand. Auch die Kinder ihrer Gruppe guckten ganz neugierig. Walli sagte augenzwinkernd: "Tobias meinte, er solle heute bei mir bleiben, weil du ja arbeiten musst und die Oma hätte keine Zeit." Ungläubig guckte sie auf Maria und dann auf Tobi. "Da konnte ja etwas nicht stimmen - deshalb bin ich direkt zu dir gekommen." Maria nahm ihren Sohn auf den Arm. "Ich verstehe das nicht. Wieso bist du nicht im Kindergarten? Die Oma hat dich doch bestimmt dorthin gebracht."
Ganz verlegen guckte Tobi von Maria zu Walli. "Ja, das war so: Die Türe im Kindergarten war zu und eigentlich wollte ich heute auch gar nicht dahin. So hab‘ ich die neuen Ampeln ausprobiert, die es jetzt hier gibt. Es sind vier Stück - ich habe überall gedrückt und bin dann bei grün gegangen - so wie ihr mir das gesagt habt." Ganz stolz guckt Tobi jetzt seine Mutter an.
"Wie, du bist von deinem Kindergarten aus alleine die Strecke bis zu Walli gegangen? Und entlang der Straße, da wo wir immer mit dem Auto fahren?". Maria war total erschrocken. Sie wusste gar nicht was sie noch sagen sollte. Tobi war vier - und das waren gut zwei Kilometer an der befahrenen Bundesstraße entlang. Und dann alle Ampeln ausprobiert....
"Das Kind hat einen Schutzengel gehabt. Er ist ja gut angekommen", meinte Walli. "Ich nehme Tobi jetzt erst mal wieder mit. Du kannst ihn dann später abholen, wenn du hier Feierabend hast."
Maria schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. Sie musste ihre Mutter anrufen - damit die nicht auch noch einen Schock bekäme, wenn sie Tobi abholen wollte und der nicht da war.
Und dann musste Tobi immer in seinen Gruppenraum gebracht werden, damit so etwas nicht noch einmal passieren konnte.
Ja, Tobias war schon immer ein neugieriges Kind gewesen.
Inzwischen ging er zur Schule. Er malte sehr gerne - und Tobi konnte richtig gut malen. Eigentlich ging er gerne zur Schule, wenn es nur nicht immer so viele Regeln gäbe, an die er sich halten sollte.
Jetzt war Pause. Es hatte geschneit - aber Tobi wollte keine Schneeballschlacht mit den anderen machen. Ihm war kalt, er fand seine Handschuhe nicht und so steckte er die Hände in die Hosentaschen und entfernte sich von den schreienden Kindern.
"Soll ich wieder rein gehen?", dachte er. "Ne, besser nicht - dann gibt's Ärger mit Frau Müller!" So schlenderte er vom Schulhof und plötzlich entdeckte er Spuren - ja, da waren Spuren im Schnee. Tierspuren! Vielleicht eine Katze? Nein, das musste ein Hase gewesen sein! Dem wollte er folgen und gucken, wohin der gelaufen war - jetzt in dem kalten Schnee!
Maria erledigte morgens meistens ihren Haushalt. Sie arbeitete nicht mehr im Kindergarten. Als ihre Mutter schwer erkrankte, hatte sie diese Stelle aufgegeben. Steffi war im Kindergarten - und der kleine Max, der nun schon ein Jahr alt war, schlief in seinem Zimmer.
Da klingelte es an der Türe: Jörg, ein Klassenkamerad von Tobi, stand dort: "Ich soll fragen, ob Tobias hier ist." "Nein!" Maria guckte auf die Uhr. "Es war doch eben erst große Pause - der sollte noch in der Schule sein.“ Ihr schwante Böses.
Jörg war schon wieder weg. Max schlief ruhig in seinem Bettchen. Maria bat ihre Freundin und Nachbarin Hanna, doch bitte nach Max zu gucken. Dann lief sie zur Schule. Hier waren der Schulleiter und Tobis Klassenlehrerin in heller Aufregung. Tobias war von der Pause nicht in den Klassenraum zurückgekommen. Mein Gott, wo konnte der Junge sein?
In alle Richtungen rund um die Schule liefen jetzt Maria, ein paar Kinder und die Lehrer. Alle riefen Tobias Namen. Nichts! Nach ungefähr einer Stunde tauchte Tobi wieder auf. Er sei nur den Spuren im Schnee gefolgt, um zu sehen, wo der Hase hingelaufen war. Ganz unschuldig guckte er alle an - die Pause hatte doch gerade erst angefangen; und eigentlich wollte er ja auch sofort zurückkommen!
Es gab viele mahnende Worte von Seiten der Lehrer und auch von Maria und Fred. Zur Strafe musste Tobi 30mal den Satz schreiben: "Ich darf mich in den Pausen nicht vom Schulhof entfernen." Aber hinter seinem Rücken wurde auch geschmunzelt: Auf was für Ideen der Junge immer kommt….
Wie gesagt, Tobi ging nicht ungern zur Schule - aber man sah ihn ständig mit einem Buch oder einem Comic-Heft in der Hand - ob das nun zum Unterricht passte oder nicht. Und alle Bücher und Hefte waren mit Segelschiffen, Burgen oder irgendwelchen Gesichtern verziert!
Die Hausaufgaben wurden gemacht, aber besondere Sorgfalt legte Tobi dabei nicht an den Tag. Hauptsache sie waren bis zum Abendessen erledigt - darauf legten die Eltern großen Wert!
Eigentlich waren die Hausaufgaben direkt nach dem Essen dran - aber Tobi schaffte es immer wieder, seine Mutter zu überreden, doch zunächst mal nach draußen zu gehen. "Ich muss erst einmal an die frische Luft - dann geht es später viel besser. Versprochen - großes Ehrenwort." "Aber in zwei Stunden bist du wieder hier - also um vier Uhr. Wenn du dann alles erledigt hast, kannst du noch mal nach draußen." So ging es fast jeden Tag zwischen Maria und Tobi.
Es gab aber auch viel Platz rund um‘s Elternhaus. Tobi konnte hier wunderbar umherstreifen oder sich mit einem Buch verstecken, wenn er nicht gesehen werden wollte. Schnell war er im Wald, und Kinder zum Spielen gab's auch reichlich in der Nachbarschaft.
Aber nun waren auf einmal zwei Bagger auf der großen Wiese direkt hinter dem Haus, riesige Stapel von Rohren lagen herum. Und einige Männer waren auch da. Mit dem Bagger wurden tiefe Gräben gezogen und die Rohre da hinein gelegt. Tobi und zwei seiner Freunde, Peter und Stefan, sahen ganz interessiert zu. Stimmt, Tobi hatte doch gestern Abend gehört, wie sein Vater gesagt hatte: "Die Wiese über unserem Haus und das ganze Feld sind erschlossen worden und sollen jetzt bebaut werden."
Dann war es wohl vorbei mit Herumtoben und Heuschrecken fangen auf der Wiese - überhaupt, es sah ja dann aus wie in einer Stadt. Tobi und seine Freunde fanden das gar nicht gut. "Vielleicht können wir das irgendwie verhindern", meinte Peter. "Auf jeden Fall sollten wir dagegen protestieren", sagte Tobias. "Lasst uns mal überlegen."
Wie der Protest der drei Freunde aussah, erfuhren Maria und Fred ein paar Tage später. Es war schon Abend, als es klingelte. Zwei Polizisten standen vor der Türe. "Haben Sie einen Sohn?" "Ja, wir haben zwei Söhne... und eine Tochter." Maria hatte die Tür geöffnet. "Die sind alle drei zu Hause. Was ist denn?" "Tja, es geht um Tobias. Gegen ihn liegt eine Anzeige vor!" "Eine Anzeige? Was hat er denn gemacht?" Jetzt kam auch Fred dazu: "Kommen Sie doch bitte herein. Was ist passiert?" "Also: man hat gesehen, dass Tobias und zwei weitere Jungs - zu deren Eltern werden wir natürlich auch gehen - in dem Baugebiet über Ihrem Haus die Bagger fahruntüchtig gemacht haben. Auch die Rohre haben sie verstopft. Die drei müssen richtig gewütet haben auf der Baustelle."
"Tobias", der Name schallte laut durchs Haus. Fred stand unten an der Treppe. "Tobias, komm bitte herunter." Das hörte sich nicht sehr freundlich an. Der rote Haarschopf erschien oben am Treppengeländer. "Ja, was ist denn?" "Komm bitte mal her, die Polizei ist hier!" Oh je, so ein Mist!
Kleinlaut, mit eingezogenem Kopf, kam Tobi die Treppe herunter. "Was habt ihr euch dabei gedacht, Wasser und Sand in die Benzintanks der Bagger zu schütten?" Der größere der beiden Polizisten guckte ziemlich streng. Tobi schluckte, dann sagte er: "Wir wollten gegen die Bebauung der Wiese protestieren. Es muss doch nicht alles zugebaut werden. Wir können nicht mehr dort spielen, die Tiere haben keinen Lebensraum mehr." Das hörte sich jetzt nicht mehr so kleinlaut an.
"Die können doch hier nicht alles voller Häuser stellen. Und wenn die Bagger nicht fahren können... dann überlegen sich diejenigen das vielleicht noch mal, die die Häuser bauen wollen." "Kannst du dir vorstellen, dass das sehr teuer für eure Eltern wird? Ihr habt fremdes Eigentum beschädigt, grob beschädigt - es ist wirklich ein großer Schaden entstanden."
Fred und Maria schickten Tobi erst einmal wieder nach oben. "Wir reden später darüber - das wird einen ordentlichen Stubenarrest nach sich zu ziehen; und von deinem Taschengeld musst du auch jede Woche etwas abzweigen."
Natürlich hatte die Familie eine Haftpflichtversicherung. Und mit den Eltern von Peter und Stefan telefonierte Fred noch am Abend. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag, um zu klären, wessen Versicherung für den Schaden aufkommen musste.
Tobis Unrechtbewusstsein war nicht sehr groß. Mehrere Wochen Stubenarrest bekam er - aber so schlimm fand er das gar nicht. Es gab immer zwischendurch mal Gelegenheit, für kurze Zeit zu entwischen, wenn die Mutter einkaufen war oder etwas zu erledigen hatte. Zum Lesen hatte Tobi noch einiges in seinem Zimmer - und mit Playmobil und Lego konnte er sich auch die Zeit vertreiben.
Außerdem wusste er aus Erfahrung, dass seine Mutter die Stubenarreste nicht sehr lange durchhielt, gerade wenn die Streitereien mit Steffi oder Max zu groß wurden. Dann konnte es passieren, dass Maria genervt sagte: "So, jetzt ist Schluss, du kannst nach draußen gehen." Aber diesmal konnte er seine Mutter auf diese Art und Weise nicht erweichen. Sie blieb hart - der Stubenarrest wurde durchgezogen.
Die Baustellen wurden für Tobi und seine Freunde zum Abenteuerspielplatz. Hier gab es viel zu erkunden. Aber nun passten sie auf, dass sie nicht wieder erwischt wurden.
Den ersten Alkohol trank Tobias auch in dieser Zeit - er war vielleicht acht oder neun, als die vier Jungs beim Spielen den Kasten Bier entdeckten. Probieren wollte jeder - aber Tobias trank die ganze Flasche aus und machte auch noch eine zweite auf! So wirklich schmeckte es ja nicht, aber er fand es super, wie die Erwachsenen Bier trinken zu können. Zuhause ging es ihm schlecht: ihm war übel und er musste sich übergeben.
Aber weder Fred noch Maria ahnten irgendetwas. Sie waren nur sehr besorgt. Essen wollte Tobi nichts und einen Tee lehnte er auch ab. So packte Maria ihren Sohn ins Bett und am nächsten Tag war auch alles wieder gut. Sonst hätte vielleicht schon früher die Alarmglocke geläutet!
Das Zeugnis der Klasse 4 war nicht berauschend. Obwohl Tobi sehr interessiert war und er viel wusste - gerade in Geschichte und Erdkunde - obwohl er die tollsten Bilder malte, waren die Noten so, dass Frau Müller nur die Empfehlung "Hauptschule" gab.
Auf den Elternsprechtagen hörten Fred und Maria immer: "Ihr Sohn ist wirklich begabt, aber er ist selten bei der Sache, nie macht er das was er soll. Tobias ist sehr oft abgelenkt und das Schlimmste, er lenkt auch seine Klassenkameraden ab."
Maria versuchte, Tobi auf einer Waldorf-Schule anzumelden - dort wäre er ihrer Meinung nach richtig aufgehoben gewesen. Aber ein Wechsel war nicht möglich. Dann hätte er vom ersten Schuljahr an dort hingehen müssen, möglichst auch schon in einen Waldorf-Kindergarten. Also dieser Zug war leider abgefahren!
Tobi ging nun in die Klasse 5 der Hauptschule von Kirchbach. Es lief gar nicht so schlecht am Anfang - mehrere seiner Klassenkameraden aus der Grundschule waren auch in der neuen Schule. Klassenlehrer Frank Bauer gab sich große Mühe mit Tobi, jedenfalls hatte Maria diesen Eindruck. Schnell traten aber wieder die alten Probleme auf. Oft war Maria zu Gesprächen in der Schule und man versuchte gemeinsam, eine Lösung für Tobis Verhalten zu finden: Hauptsächlich ging es um seine Unkonzentriertheit bei gestellten Aufgaben und darum, dass er sich immer noch sehr schlecht an Regeln halten konnte und oft etwas vergaß.
Zum Beispiel brachte Maria ihrem Sohn regelmäßig die Sportsachen in die Schule, die er mindestens in jeder zweiten Woche zu Hause liegen ließ. Die Hefte und Bücher waren weiterhin mit Tobis Zeichnungen verziert. Zum Ende der fünften Klasse empfahl Herr Bauer, Tobi auf eine Förderschule zu geben. Vorher waren Maria und Fred noch mit ihrem Sohn beim Schulpsychologischen Dienst. Dort hatten sie etliche Sitzungen. Auch hier war man der Meinung, dass der Wechsel auf die Förderschule Tobi nur gut tun könne. Die Eltern waren zuerst gar nicht einverstanden mit diesem Vorschlag, aber Herr Bauer meinte, der kleine Klassenverband würde Tobi sehr entgegen kommen. Hier habe man viel mehr Möglichkeiten, auf Tobias einzugehen und seine Fähigkeiten, die auf jeden Fall vorhanden seien, zu fördern!
Tobias besuchte nach den Sommerferien die 6. Klasse der E-Schule (Förderschule für Erziehungsschwierige Kinder) in der Kreisstadt. Da die Familie in den Sommerferien umgezogen war, hatte Tobi nun einen sehr langen Schulweg mit dem Bus zu bewältigen.
Auch für die Geschwister war der Ortswechsel nicht ganz einfach - aber eben ein Neuanfang, meinten Maria und Fred, die sich die größte Mühe gegeben hatten, ein für alle akzeptables Haus in einem schönen Wohnort und nicht allzu weit weg von der Heimat zu finden.
Die Älteste, Sabine, eigentlich Tante Sabine, da sie Marias jüngste Schwester ist und nach dem Tod der Eltern vor fünf Jahren in die Familie gekommen war - gleichzeitig mit dem "neuen" Bruder Max - fand den Umzug nach Kaltenborn überhaupt nicht gut. Sie ging nach dem Abschluss der Realschule nun auf das Gymnasium im Nachbarort.
Tobias und Steffi hatten so damals nicht nur einen kleinen Bruder, sondern auch eine große Schwester bekommen - nicht immer ganz einfach für die beiden. Diese Zeit war allerdings für niemanden in der Familie einfach gewesen.
In Tobis Klasse in der E-Schule waren nur zehn Kinder - sechs Jungs und vier Mädchen. Er fühlte sich zwar nicht unwohl, aber er gab hier nur ein kurzes Gastspiel. Tobis Lehrerin meinte nämlich schon nach relativ kurzer Zeit, er sei kein Junge für die E-Schule.
So wechselte Tobias im nächsten Jahr wieder, diesmal mit einem recht guten Zeugnis, zur Realschule! Nach wie vor gab es hier und da Probleme, aber im Großen und Ganzen kam Tobi jetzt gut zurecht. Er hatte zwar immer noch Konzentrationsschwierigkeiten, aber mit viel Mühe schaffte er es, im Durchschnitt die Note Drei zu halten. Alles in allem lebten Tobi und seine Familie sich in der neuen Umgebung gut ein.
Maria hätte es gerne gesehen, wenn ihre Kinder - wie ihre Schwester Sabine - in einen Sportverein gegangen wären. Egal, ob Fußball, Handball oder Leichtathletik, aber dafür waren sie nicht zu begeistern - vor allem Tobi hatte darauf keinen Bock, wie er sagte!
Lieber fuhr er mit dem Fahrrad durch die Gegend - zwei hatte er schon "verloren". Wie verliert man ein Fahrrad, wenn es gut abgeschlossen wird? Tobi konnte es sich überhaupt nicht erklären! Jedenfalls war es in beiden Fällen nicht mehr da, wo er es angeblich abgeschlossen hingestellt hatte.
Oft waren Tobi und Steffi auch im Jugendzentrum des Ortes. Hier trafen sie sich mit Freunden, hörten Musik, spielten Billard oder am Kickertisch. Ein anderer Treffpunkt der Heranwachsenden war der Imbiss von Kaltenborn, der "Dorf-Grill". Der wurde von einem jungen Paar geführt. Die beiden hatten einen kleinen Sohn, den die Jugendlichen oft beaufsichtigten. Während die Eltern Bratwurst und Fritten zubereiteten und die Gäste bewirteten, spielten Tobi, Steffi und die Freunde oft mit dem kleinen Jan.
Was da im „Dorf-Grill“ genau ablief, davon hatten weder Fred noch Maria eine Ahnung. Häufig stand Fred, wenn seine Sprösslinge nicht zu Hause waren, abends in der Tür des Imbiss': "Alles was Frangenberg heißt, bitte auf den Heimweg begeben." Dann kamen alle drei mit - auch Max war nämlich mitunter mit seinen Geschwistern dort, begleitet von einem Schulfreund.
"Könnt ihr euch keinen anderen Spielplatz aussuchen?", meinte Fred dann auch. "Ich denke, so toll ist es für die Gäste nicht, wenn ihr da immer rumhängt." "Aber wir passen doch nur auf Jan auf - und leckere Fritten bekommen wir auch oft“, hieß es dann von Seiten seiner Kinder.
Aber weder Fred noch Maria gefiel es, dass ihre Kinder so oft dort ihre Freizeit verbrachten - auch wenn die Hausaufgaben angeblich vorher längst fertig waren.
Tobias ging nun in die neunte Klasse - im letzten Jahr hatte er einen Malkurs in der Volkshochschule besucht. Er hatte wirklich Talent - Maria, Fred und auch der Kunstlehrer waren begeistert von den Stillleben, Landschaftsbildern und Porträts,die Tobi malte. Aber nach einem Jahr wollte er nicht mehr dort hingehen.
Die Eltern waren enttäuscht - sie hätten es gerne gesehen, dass Tobis künstlerisches Talent weiter gefördert wurde. "Wie wäre es denn mit einem Gitarrenkurs?" Aber Tobi hatte keine Lust - lieber hing er mit den Freunden im Kaltenborner "Dorf-Grill" ab.
Ein berufsorientiertes Praktikum machte Tobias bei einem mit den Eltern befreundeten Designer. Das machte ihm Spaß und auch hier wurden sein großes Talent bestätigt und seine Arbeit gelobt. Allerdings stand dann im Zeugnis, dass er es mit der Pünktlichkeit nicht so genau genommen habe. Das war wieder typisch für Tobi: Zweimal hatte er den Bus verpasst, weil er getrödelt hatte und einmal war er nicht an der Haltestelle ausgestiegen, weil er so in sein Buch vertieft war!
Beim Elternsprechtag meinte der Lehrer zu Fred und Maria, die Leistungen ihres Sohnes drohten zu kippen. Er könne die Drei im Durchschnitt nicht mehr halten, wenn er sich nicht am Riemen reißen würde. "Appellieren Sie noch einmal an Tobias' Vernunft. Ich habe heute Morgen auch ein ernstes Wort mit ihm gesprochen. So kann er es nicht schaffen."
Wie begossene Pudel standen Fred und Maria vor dem Lehrer. Was sollten sie sagen? So oft waren sie zu Gesprächen in der Schule gewesen. Mit Tobi war es halt nicht so einfach: Immer noch hörte er oft nicht richtig zu und war so verträumt. "Aber es ist doch hier in der Schule eigentlich ganz gut gelaufen", versuchte Maria einzuwerfen. "Ja, aber Tobias' Noten sind im letzten Jahr nicht gleich geblieben. In seinen Leistungen gab es starke Schwankungen."
Der Lehrer machte eine Pause. Er guckte auf die zusammengesunkene Gestalt Marias. Sie tat ihm jetzt richtig leid. "Es ist ja nicht alles schlecht. Tobi ist sehr hilfsbereit, er ist ein netter Kerl mit unglaublichen Talenten. Ich möchte doch auch, dass er die Kunstschule in Cöln besuchen kann. Dann hat er große Chancen, was seine Zukunft betrifft." Der Lehrer seufzte. "Die Bewerbungsmappe ist aber noch nicht fertig und die Zeugnisnoten sind für die Aufnahme doch auch wichtig. Aber er kann das schaffen - das müssen wir ihm nur klar machen."
Zu Hause ging es dann ziemlich laut her. Abwechselnd brüllten Maria und Fred auf Tobias ein. "Wie kannst du nur die Kunstschule auf‘s Spiel setzen?" "Warum hast du den Malkurs nicht weiter besucht?" "Die Hausaufgaben hast du auch oft nicht vollständig gemacht!" "Und beim Rauchen bist du erwischt worden!"
Das waren alles keine Ich-Botschaften! Im Elternkurs hatte die Therapeutin angeregt, nicht immer nur zu sagen "Du musst, du sollst, du kannst.“ Vielmehr solle man in Ich-Botschaften mit den Kindern reden. Die Familienstelle des Psychologischen Dienstes hatte diesen Elternkurs angeboten. Maria nahm dieses Angebot dankend an - Fred hatte abgewunken - für ihn war das nichts!
Steffi, Sabine und Max waren in ihren Zimmern verschwunden. Dann wurde es ruhiger! Maria kämpfte mit den Tränen. "Wir haben gedacht, es klappt bei dir in der Schule." "Es klappt ja auch - so schlecht bin ich nicht. Die Aufnahme in die Kunstschule werde ich schaffen, bestimmt!" "Das hörte sich aber in der Schule eben nicht so an." Fred hatte sich jetzt auch wieder etwas beruhigt: "Du hast noch alles im Griff. Gib' eine ordentliche Mappe ab, pass auf und konzentriere dich in der Schule, dann wird es schon klappen. Wir glauben an dich, du schaffst das - ganz bestimmt."
Tobi fragte, ob er die Abendrunde mit dem Hund gehen könne, er müsse noch mal an die frische Luft. Maria hatte das eigentlich auch vorgehabt. "Ja, geh' mal. Ich denke, du willst alleine gehen - oder soll ich mitkommen? Ich möchte auch noch 'ne Runde laufen." "Ne, ich will einfach mal raus - alleine, muss meinen Kopf frei kriegen - ich nehme Trixi mit." "O.k., sei aber bitte in spätestens zwei Stunden wieder hier." "Alles klar, bis später."
Maria ging zu Fred, nahm ihn in den Arm und küsste ihn zärtlich. "Das wird schon mit dem Jungen." "Na ja, ich weiß nicht. Da könnte schon einiges mehr von ihm kommen." "Der macht das schon." Jetzt guckte sie ihren Mann eindringlich an. "Gehst du denn noch eine Runde mit mir durchs Dorf?" "Eigentlich hab' ich keine Lust mehr, aber wie ich dich kenne, lässt du mir doch keine Ruhe." Jetzt lachte Fred, obwohl er wirklich keine Lust hatte. Aber er kannte ja seine Frau - wenn sie etwas wollte, gab sie so schnell nicht auf und versuchte, ihn zu überzeugen, selbst wenn es sich wie jetzt nur um einen Abendspaziergang handelte. Aber vielleicht tat es wirklich gut, noch ein paar Schritte zu laufen und über die Gespräche mit Tobi und seinem Klassenlehrer noch mal etwas ruhiger zu reden.
Als Fred und Maria am "Dorf-Grill" vorbeikamen, stellten sie mit einem Seitenblick in das Gasthaus beide gleichzeitig fest:
“Ne, er ist nicht hier." Jetzt lachten sie und gingen Hand-in-Hand weiter. Kaltenborn war wirklich ein schöner Ort. Man konnte hier wunderbare Spaziergänge machen. Gemeinsam mit Tobi und Trixi kamen sie wieder zu Hause an.
"Ich reiß' mich zusammen", meinte Tobi, als er hoch in sein Zimmer ging. "Ich schaff' das, bestimmt." "Gute Nacht!" "Gute Nacht, schlaf gut." "Gute Nacht!"
Fred setzte sich noch ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Von den anderen Kindern war niemand zu sehen. Es war schon spät - die schliefen wahrscheinlich schon. Maria ging noch mal durch alle Zimmer: Max schlief tief und fest. Steffi genauso und Sabine hatte noch ein Buch in der Hand.
"Was war denn los? Ihr habt vielleicht rumgebrüllt!" "Tja, manchmal ist das halt so - dann muss es mal raus. Der Tobi muss sich einfach nur zusammenreißen und aufpassen, dann kann er das schaffen. Noch kann er das Ruder rumreißen und sich nicht schon durch die zu schlechten Noten die Aufnahme in die Kunstschule vermasseln. Die Mappe wird er schon mit den entsprechenden Arbeiten und Bildern bestücken, da ist mir nicht bange. Ich weiß wirklich manchmal nicht, wie wir ihn noch animieren sollen, in der Schule aufzupassen und bessere Noten zu schreiben." "Wenn er zu Hause etwas mehr machen und öfter mal in die Schulbücher gucken würde, fiele es ihm auch leichter, bei den Arbeiten in der Schule bessere Noten zu schreiben."
Für die ehrgeizige Sabine war die Lösung ziemlich einfach. Sie zog es überhaupt nicht hinaus nach Kaltenborn. Wenn, dann verabredete sie sich mit ihren Schulfreunden zum Lernen. Sie gingen auch mal zusammen auf eine Party - aber ansonsten war Sabine zu Hause und hing über ihren Schulbüchern -schließlich machte sie Abitur, und das wollte sie mit einer guten Note abschließen. Maria gab Sabine noch einen Kuss auf die Stirn. "Gute Nacht, schlaf gut!"
Dann drehte Maria sich seufzend um und ging nach unten. "Mensch, der Junge hat so viele Talente und nutzt sie überhaupt nicht. Was sollen wir nur machen?" Fred schaute auf. "Da können wir nicht viel machen. Das ist das Alter, der ist voll in der Pubertät. Jetzt lass mich mal den Film weitergucken. Mach dich nicht verrückt - das wird schon." Maria nahm ihr Buch, gab Fred einen Kuss und verabschiedete sich. "Ich geh‘ schon mal ins Bett, ich lese noch bis du kommst." Dass Fred ins Schlafzimmer kam, merkte sie gar nicht mehr. Der nahm ihr lächelnd das Buch weg und löschte das Licht.
Rumms, was war das? Ein Riesenkrach! Maria sprang aus dem Bett, lief in Max' Zimmer. Aber der schlief tief und fest - er war nicht aus seinem Hochbett gefallen. Ein Stöhnen kam von nebenan aus Tobis Zimmer.
Fred hatte schon die Türe aufgerissen und das Licht angemacht! Ein schreckliches Szenario bot sich den Eltern: Maria schrie auf! Tobias lag stöhnend auf dem Boden - eine große klaffende Wunde im Oberschenkel. Fische sprangen aus der Wunde hoch, machten Sprünge auf Tobis Bein, auf dem Teppich - alles war nass und voller Sand. "Mein Gott", Fred hatte den Gürtel seines Bademantels in der Hand - Maria rannte nach unten und wählte die 112. Inzwischen waren alle Kinder wach geworden.
"Bitte kommen Sie schnell - mein Sohn verblutet. Das Aquarium ist umgekippt und auf das Bein meines Sohnes gefallen." Marias Stimme überschlug sich: "Ja in Kaltenborn, die Bergstraße sieben, bitte beeilen Sie sich. Ich habe schreckliche Angst. Mein Sohn verblutet."
Sie rannte wieder nach oben. Steffi und Sabine saßen ängstlich auf der Treppe. Max saß vor ihnen auf der untersten Stufe. Die drei zitterten um die Wette! Maria nahm Tobis Hand. Fred hatte das Bein mit dem Gürtel seines Bademantels abgebunden. Tobias stöhnte: "Ich wollte nur das Brummen am Filter abstellen, dann ist mir schlecht geworden. Ich weiß nicht, was passiert ist."
Maria konnte kaum hinsehen. Sie hielt Tobis Hand und betete im Stillen, dass ihr Sohn doch endlich ohnmächtig werde, damit er die Schmerzen nicht so spüre. Steffi lief zum Fenster. "Immer noch kein Krankenwagen." "Ruf noch mal an, Sabine, die müssten längst hier sein." Aber so schnell konnte der Rettungswagen aus der Kreisstadt nicht in Kaltenborn sein.
Tobi stöhnte wieder ganz laut. "Mein Gott, das dauert aber auch." "Die kommen schon, er blutet nicht mehr so stark", Fred blieb relativ ruhig. Maria hielt es nicht aus. Sie ging schon wieder zum Telefon. "Wo bleiben denn der Arzt und der Rettungswagen?" "Die sind unterwegs - sie müssten jeden Augenblick bei Ihnen sein", kam die beruhigende Stimme aus dem Hörer. Nach weiteren zehn Minuten hörten sie endlich das "Ta-tü, Ta-ta" und sahen das blaue Licht in der Nacht.
Sabine war schon an der Türe. Zwei Sanitäter mit einer Bahre kamen herein. "Wo ist der Verletzte?" Sie gingen die Treppe hoch in Tobis Zimmer: "Das Bein sieht schlimm aus - aber die Hauptschlagader ist nicht getroffen - Gott sei Dank!" Die beiden Männer bugsierten Tobi auf die Trage und schnallten ihn fest. Sie kamen kaum um die Rundung der Treppe.
Endlich hatten sie es geschafft: Tobias lag im Krankenwagen - er bekam eine Infusion gegen die Schmerzen. Die Türen wurden zugeschlagen. Einer der beiden Männer blieb hinten bei ihm. "Wir haben mit dem Arzt telefoniert - der wartet schon im Krankenhaus auf Ihren Sohn." Der Mann guckte Maria an. "Dann kommt er sofort in den OP und die Wunde wird versorgt." Der andere Mann setzte sich ans Steuer. Das Martinshorn wurde wieder eingeschaltet und los ging die rasante Fahrt den Berg hinunter auf die Landstraße Richtung Kreisstadt.
Fred und Maria fuhren mit ihrem PKW hinterher. "Legt euch wieder ins Bett, betet für Tobi und versucht zu schlafen, wenn ihr könnt", hatte Maria den dreien noch zugerufen.
Drei Stunden später waren sie wieder zu Hause. "Was ist mit Tobi?" Die Geschwister standen im Flur. Fred sagte gar nichts. Er setzte sich an den Küchentisch und weinte hemmungslos. So hatte Maria ihren Mann noch nie gesehen. Sie nahm ihn in den Arm und küsste ihn zärtlich. "Alles ist gut." Max kletterte auf Fred‘s Schoß und legte die Arme um seinen Hals. "Ist Tobis Bein noch dran?" Maria konnte schon wieder lächeln. "Es ist nicht so schlimm wie es aussah. Der Arzt hat die Wunde gesäubert - da war ja noch ganz viel Sand drin und Pflanzen aus dem Aquarium. Er hat den Riss zugenäht und jetzt hoffen alle, dass es keine Entzündung gibt. Aber gegen Tetanus ist Tobiasja geimpft."
Maria seufzte. Wie oft waren sie mit dem Jungen schon im Krankenhaus gewesen! Alleine während seiner Schulzeit in Kirchbach hatte sich Tobi mindestens drei Gehirnerschütterungen und zwei Schlüsselbeinbrüche bei Stürzen zugezogen.
Und dann der Mäuse-Biss im Tollwut-Sperrbezirk auf der Klassenfahrt in der Fünf. Sie musste trotz allem lächeln, wenn sie an den aufgeregten Anruf von Herrn Bauer dachte: "Es tut mir leid, aber Sie müssen Ihren Sohn abholen - er ist von einer Maus gebissen worden." Tobi hatte diese Maus im Wald in die Hand genommen, sie war zunächst ganz zahm gewesen und doch hatte sie zugebissen. Er hatte die Maus dann natürlich laufen gelassen und so konnte man nicht mehr feststellen, ob das Tier tatsächlich an Tollwut erkrankt war oder nicht.
So wurde Tobi am selben Abend noch von seinen Eltern abgeholt und zum Arzt gebracht. Der verabreichte ihm eine Spritze gegen Tollwut. Diese Prozedur musste in gewissen Abständen noch zweimal wiederholt werden. Denn wenn Tollwutverdacht bestand, musste schnell gehandelt und das Mittel innerhalb von 36 Stunden gespritzt werden. - Und jetzt dieser Unfall mit dem Aquarium am frühen Samstagmorgen.
Fred konnte weder etwas essen noch trinken - er rauchte noch eine Zigarette. "Ich hab‘ wirklich gedacht, der Junge verblutet mir unter den Händen. Und dann hörte Tobi überhaupt nicht mehr auf zu stöhnen, und diese Fische - mein Gott, es war so schrecklich." Fred musste schon wieder schlucken. "Ich leg' mich noch mal hin - das solltest du auch tun", wandte er sich an seine Frau. "Du kennst mich doch, ich könnte jetzt nie und nimmer schlafen. Ne, leg du dich nur hin. Ich weiß gar nicht, wie du es geschafft hast, bei Tobi heute Morgen so ruhig zu bleiben."
Fred war wirklich fix und fertig. Er legte sich hin und war in fünf Minuten eingeschlafen. Maria konnte noch immer nicht fassen, welch ein Glück ihr Sohn gehabt hatte! Es hätte viel schlimmer kommen können!
Sie ging in Tobis Zimmer. Hier hatte Fred, bevor sie hinter dem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren waren, alte Bett- und Handtücher auf dem Fußboden verteilt, um so das Wasser notdürftig aufzusaugen. Diese Tücher steckte Maria jetzt in große Müllsäcke. Sie versuchte erst gar nicht, sie zu trocknen, denn es gab ganz viele kleine Scherben, obwohl das Aquarium in mehrere große Teile zersprungen war. Dann musste sie versuchen, den Boden irgendwie zu säubern. Es war eine riesige Sauerei mit den toten Fischen, den Pflanzen und dem vielen Sand.
Die ganze Familie Frangenberg erholte sich relativ schnell wieder von dem Schrecken. Tobis Bein heilte gut und er konnte schon nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen werden. Es war eine riesige Fleischwunde, die genäht worden war! Der stabile Oberschenkelknochen war heil geblieben. Und sein Zimmer sah aus wie neu, als Tobi nach Hause kam. Fred hatte alles frisch gestrichen und einen neuen Teppichboden verlegt.
Leider lief es in der Schule nicht so toll. Tobi schaffte so gerade den Abschluss der Klasse Neun. Aber wegen seiner großen künstlerischen Begabung und der tollen Mappe, die er noch irgendwie fertiggestellt hatte, wurde er in der Cölner Kunstschule aufgenommen mit dem Ziel Fachabitur.
Tobias war fast 17 Jahre alt. Sabine wohnte nicht mehr in der Familie. Nach ihrem Abitur war sie zurück nach Kirchbach gezogen. Steffi besuchte die letzte Klasse der Realschule. Sie strebte nach der Schule eine Ausbildung als Altenpflegerin an und hatte auch schon einen Platz in Aussicht. Aber vorher wollte sie noch ein Jahres-Praktikum hier im Seniorenheim in Kaltenborn machen, denn bei Beginn der Ausbildung musste sie 18 Jahre alt sein.
Es war ungefähr in dieser Zeit, als Maria ihre beiden älteren Kinder beim Rauchen erwischte. Zufällig begegneten sie sich im Dorf. Maria machte ihre Abendrunde mit Trixi, als sie die Jugendlichen vor dem Jugendzentrum sah - alle hatten eine Zigarette im Mund oder in der Hand.
Bisher hatte Steffi immer verneint zu rauchen, wenn es zu Hause um das Thema ging. Tobi meinte sofort: "Ja, ich rauche hin und wieder, aber nur ganz selten". Max war erst zehn und hatte damit hoffentlich noch nichts zu tun. Er meckerte immer mit Fred, wenn der sich eine Zigarette anzündete. Auf langen Autofahrten wurden die Kinder von ihrem Vater förmlich eingeräuchert. Keiner dachte sich etwas dabei - von Passiv-Rauchen war noch keine Rede in den Achtzigern.
"Na gut, so ist das mit dem Rauchen - das probierten viele Jugendliche. Wenn nur keiner mit Drogen anfängt." Das waren Marias Gedanken, die sie auch oft genug aussprach. "Und wenn die Eltern rauchen, können sie dann von ihren Kindern verlangen, es nicht zu tun?“, meinte Maria, die sich selbst ab und zu mal eine ansteckte!
So oft sprachen Fred und Maria mit ihren Kindern darüber. Auch in der Schule waren Alkohol und Drogen häufig Thema. Ihre Kinder, besonders Tobi, waren hier sehr aufgeklärt. Es ging um Gras, Marihuana, Haschisch, Kokain und Heroin, aber auch um Ecstasy, LSD und die Folgen bei der Einnahme dieser Drogen. Und trotzdem... irgendwie hatte Maria immer ein ganz komisches Gefühl und große Angst wenn es um das Thema ging.
Tobi fuhr nun jeden Morgen mit Bus und Bahn nach Cöln. Er musste schon ziemlich früh raus, um pünktlich in der Schule zu sein. Maria und Fred horchten immer nach oben: "Ist er nun aufgestanden?" Maria guckte auf die Uhr und seufzte: "Nun wird es aber Zeit. Hast du schon etwas von Tobi gehört?" Sie guckte von der Zeitung auf.
"Das machen wir auch falsch - mit 17 muss man doch alleine aufstehen, frühstücken und pünktlich den Bus erreichen können." "Ja, ja, das sagst du immer. Und wenn er nicht in die Hufe kommt, gehst du doch nach oben, um ihn anzutreiben oder ihn gegebenenfalls noch zu fahren. - Aber du hast recht, das haben wir immer falsch gemacht, vor allem natürlich du!" Fred zwinkerte seiner Frau zu. Ja klar, meistens war sie diejenige, die ihre Kinder an alles erinnerte und ihnen dann die Sachen hinterher trug oder sie zur Schule fuhr, wenn sie den Bus verpassten.
Doch heute Morgen schien ja alles ganz gut zu laufen. Tobias kam schon die Treppe herunter. "Guten Morgen!" "Guten Morgen, komm setz' dich, ein bisschen Zeit zum frühstücken hast du noch." Tobi guckte auf die Uhr an der Wand. "Ne, ich muss los, hab sowieso keinen Hunger." Er steckte sich die Butterbrotdose ein - den Apfel ließ er liegen - und weg war er. Fred stand auf: "Ich packe auch mal meine Sachen zusammen." "Wecke doch bitte Max noch. Steffi scheint auf zu sein - oder?" "Ja, ich höre sie auch."
Wenn Maria keinen Dienst hatte, saß sie eigentlich immer am Frühstückstisch bis alle fertig waren - bediente ihre Kinder mehr oder weniger mit Kakao oder Tee und machte die Schulbrote. Zwischendurch las sie in der Zeitung und trank ihren Kaffee. Viel erzählt wurde nicht am Frühstückstisch im Hause Frangenberg, obwohl keiner ein wirklicher Morgenmuffel war. Aber viel Zeit hatte auch niemand - außer Maria. Schnell eine Tasse Kakao und noch ein Brötchen - und dann mussten sie ja auch schon los.
Wenn dann alle weg waren, erledigte Maria den Haushalt mit allem was so dazu gehörte. Sie arbeitete an drei oder vier Tagen in der Woche, auch in Cöln, in der Redaktion eines Öffentlich Rechtlichen Senders. Sie genoss diese Arbeit wie eine Auszeit vom Alltag!
Jetzt horchte sie auf, stellte den Stabsauger aus - ja, hatte sie doch richtig gehört: Das Telefon! "Ja, bitte!" "Heilig-Geist-Krankenhaus in Cöln, spreche ich mit Frau Frangenberg?" "Ja - was ist los?" "Ihr Sohn Tobias liegt hier mit starken Leibschmerzen." Die Frauenstimme redete sofort weiter: "Wahrscheinlich muss er operiert werden. Da er noch keine 18 Jahre alt ist, brauchen wir die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten. Könnten Sie bitte so schnell wie möglich herkommen und die Einwilligung zur OP unterschreiben." "Aber..." Maria wusste gar nicht was sie denken und sagen sollte. "Was ist denn passiert?" "Das wissen wir auch noch nicht genau. Der diensthabende Oberarzt untersucht Ihren Sohn gleich - dann wissen wir Genaueres. Sie können dann natürlich mit dem Arzt sprechen." Maria ließ sich die genaue Adresse geben. "Ich kann in einer guten halben Stunde da sein." Sie wusste ungefähr, wo das Heilig-Geist-Krankenhaus war und hoffte, dass sie gut durch kam.
Es klappte auch alles gut - 40 Minuten waren vergangen, als Maria die Eingangshalle des Krankenhauses betrat. Ach ja, dort war die Information. "Ich bin angerufen worden - mein Sohn Tobias Frangenberg ist hier eingeliefert worden." "Dort hinten ist die Notfall-Ambulanz."
Blass und etwas zittrig ging Maria durch die Schwingtüre. Darüber stand in großen Lettern "Notfall-Ambulanz". Es war ziemlich voll hier. Viele Menschen warteten scheinbar auf den Arzt - dabei war es gleich Mittag, ein ganz normaler Wochentag.
Eine Bahre stand in der Ecke. "Mama, hier", etwas kläglich klang die Stimme ihres Sohnes. "Was ist denn los?" "Die müssen operieren - wahrscheinlich der Magen." Jetzt kam eine junge Frau auf Maria zu: "Frau Frangenberg? Ihr Sohn hat wahrscheinlich zu viel Karneval gefeiert. Das ist im Moment große Mode hier bei den jungen Leuten im Viertel. Alkohol und Drogen - da macht der Magen manchmal nicht mit, nicht wahr, junger Mann?" "Was soll das? Tobias?" Ganz ängstlich guckte Maria.
"Nein, ich habe nichts getrunken, wirklich." Jetzt schaltete sich Maria ein. "Heute Morgen war noch alles gut. Ja, du hast nichts gefrühstückt. Das ist es. Du hättest wenigstens eine Tasse Kakao trinken sollen." "Ich habe unterwegs eine Flasche Apfelschorle getrunken - au, ich hab' so starke Schmerzen."
Jetzt kam ein Mann um die Ecke, der sich als der verantwortliche Arzt vorstellte. "Die Blutwerte sind eindeutig - eine schwere Entzündung, und so wie die Ultraschallbilder aussehen, müssen wir sofort operieren - der Magen scheint schon an einer Stelle perforiert zu sein und kann jeden Moment durchbrechen. Bitte geben Sie die Einwilligung auf den Formularen. Ihr Sohn hat soweit schon alles angekreuzt, was wichtig ist. Obwohl wir ihm nicht so wirklich glauben, dass er keinen Alkohol getrunken hat. Und irgendetwas hat er auch geraucht!" "Oh, Nein!", Maria wusste gar nicht was sie sagen sollte. "Ich unterschreibe und dann helfen Sie meinem Sohne bitte sofort, egal was Sie vermuten. Sie sehen ja, dass er Hilfe braucht."
Nun ging auch alles ganz schnell. Tobi sollte mit der Bahre in den Nebenraum gefahren werden. "Kann ich mit?" "Nein, nein, wir bringen ihn sofort in den OP. Seine Sachen packen wir in einen Beutel. Kommen Sie in zwei Stunden wieder her. Dann wird er die Operation überstanden haben und der Arzt kann Ihnen alles Weitere sagen."
Maria küsste ihren Sohn. "Es wird alles gut werden - ich warte oder ich bin gleich wieder hier." Dann war Tobias weg. "Wo kommt mein Sohn denn nach der Operation hin?" "Er wird wohl erst in den Aufwachraum hier unten kommen und später dann auf Station Drei." Maria stand immer noch etwas unschlüssig da. "Sie können hier warten oder in der Wartehalle vor OP und Aufwachraum."
Maria verließ die Notfall-Ambulanz. Sie trat vor das Krankenhaus. Es war ein herrlicher Wintertag - die Sonne blendete sie. Was hatte Tobias gemacht? Alkohol? Drogen? Die Schule war gleich um die Ecke. Vielleicht konnte sie noch den Klassenlehrer erreichen. Ja klar, es war ja erst zwölf Uhr.
Oh Gott! Max würde in einer Stunde zu Hause sein. Dann musste sie telefonieren. Maria hatte ihm zwar noch schnellden Schlüssel hinter den Stein gelegt, so wie sie das oft machte, wenn sie unverhofft weg musste, so wie jetzt. Ja, eigentlich lag dort immer ein Schlüssel, wenn keiner zu Hause war.
Manchmal musste sie auch in der Redaktion kurzfristig einspringen - oder sie war nur auf einen Kaffee bei einer Freundin. Aber heute hatte Maria keinen Zettel geschrieben, als sie fast fluchtartig ins Auto gestiegen und nach Cöln gefahren war. Ja, sie würde gleich zu Hause anrufen.
Nun war sie an der Schule. Wo ist denn das Sekretariat? An den Wänden hingen tolle Bilder: Bleistift- und Kreide-Zeichnungen, Porträts, Ölbilder, Stillleben - die Schüler konnten etwas! In den Glasvitrinen waren Skulpturen aus Holz, Marmor und Speckstein zu sehen.
Ein junger Mann kam den Flur entlang. "Können Sie mir bitte sagen, wo das Schulsekretariat ist?" "Ja, wenn Sie durch die Glastüre gehen, direkt die erste Türe rechts." "Vielen Dank!“ Maria ging rasch weiter. Jetzt klopfte sie. "Herein.“
Maria betrat das Büro und stellte sich vor. "Mein Sohn Tobias ist hier Schüler. Er wurde heute Morgen nebenan ins Krankenhaus gebracht. "Ja, ich weiß Bescheid." Die junge Frau war sehr freundlich. "Ihr Sohn war ganz bleich, er klagte über starke Schmerzen. Er meinte aber, er könne selbst gehen. Ein Schüler aus seiner Klasse hat ihn begleitet. Wissen Sie schon etwas Genaues?" "Tobias wird gerade operiert. Der Notarzt sprach von einem drohenden Magen-Durchbruch. Wir hoffen, dass alles gut geht. Kann ich mal mit dem Klassenlehrer, Herrn Winter, sprechen?" Die junge Frau guckte auf die Uhr. "In zehn Minuten ist Pause, dann können Sie mit Herrn Winter sprechen. Am besten warten Sie vor der Klasse auf ihn." "Ja, danke, werde ich machen."
Es dauerte gar nicht lange, da ging schon die Klassentüre auf, die Schüler und Schülerinnen stürmten heraus. Maria ging in den Klassenraum. Der Mann am Pult schaute auf: "Guten Tag."
"Guten Tag - Sie sind Herr Winter?" "Ja..." "Also... ich... mein Name ist Maria Frangenberg, ich bin die Mutter von Tobias. Er wird gerade nebenan im Krankenhaus operiert. Der Magen, sagen die Ärzte. Heute Morgen war noch alles in Ordnung."
"Tja, Frau Frangenberg, ich muss Ihnen leider sagen, dass viele der Jungs hier in der Klasse die Schule nicht so ernst nehmen - Tobias ist einer der jüngsten und er lässt sich gerne von den anderen ablenken, schwänzt mal mit ihnen die eine oder andere Stunde oder erscheint gar nicht hier. Und nebenan im Büdchen besorgen sich die Schüler immer mal wieder das eine oder andere Bierchen." "Wie - und da unternehmen Sie nichts gegen?" Maria räusperte sich.
"Doch, natürlich! Jegliche Art von Alkohol oder Drogen sind hier an der Schule verboten. Beweisen können wir immer nur etwas, wenn ich oder einer meiner Kollegen oder Kolleginnen sehen, dass die Jungs das Zeug trinken. Erwischen lassen sie sich natürlich nicht. Aber wenn wir den Verdacht haben…. Sie hätten auch in den nächsten Tagen von uns Post bekommen mit der Bitte, sich hier zu melden.“ Es entstand eine Pause!
“Das hat sich ja jetzt erübrigt. Es tut mir leid! Ich hoffe, dass es nicht so schlimm ist mit Tobias und dass er die OP gut übersteht. Wie alt ist ihr Sohn genau?" "Tobi wird im April 17 - Magenprobleme hatte er noch nie." "Nun, wenn schon früh am Morgen Alkohol getrunken wird, können die sich ja schnell einstellen."
"Nein, das glaube ich nicht - Tobias hat das auch abgestritten, als der Arzt von Alkohol sprach." "Ich muss Ihnen leider sagen, dass die meisten Schüler hier schon 18 sind, einige von ihnen haben Erfahrungen mit Drogen oder Alkohol - auch wenn ich das hier in der Klasse oft thematisiere und alle wissen, dass jegliche Arten von Drogen und Alkohol in der Schule verboten sind - was meinen Sie, wie die das kümmert; und Tobias - so habe ich jedenfalls den Eindruck - findet es ziemlich cool, was die anderen so erzählen."
Maria war entsetzt. Da hatten sie doch gedacht, jetzt wäre Tobias auf der richtigen Schule - jetzt würde er den Abschluss bekommen, das Fachabitur machen und vielleicht sogar auf die Kunst-Akademie gehen können, Design oder Architektur studieren. "Mein Mann und ich..., wir werden mit Tobias sprechen - das ist bestimmt ein Irrtum. Ich kann mir das wirklich nicht vorstellen."
Herr Winter gab Maria die Hand: "Vielleicht ist es ja wirklich nicht so und Tobias hat aus einem anderen Grund diese Magenbeschwerden. Wir werden, wenn er wieder gesund ist und zur Schule kommt, noch einmal ein ernstes Wort miteinander reden. Vielleicht war es ja auch eine rechtzeitige Warnung und Ihr Sohn sieht das auch so und kommt zur Vernunft. Geben Sie mir bitte Bescheid, wie es aussieht. Einen lieben Gruß und gute Besserung an Ihren Sohn." Damit verabschiedete sich Herr Winter und begleitete Maria aus dem Klassenraum.
"Ich gehe jetzt wieder 'rüber ins Krankenhaus. Die zwei Stunden sind zwar noch nicht rum…." Maria guckte auf die Uhr: "Ich muss ja auch Max noch anrufen, der ist bestimmt schon zu Hause und weiß gar nicht was los ist." Mit diesen Gedanken verließ sie die Schule. Auf dem Weg zum Krankenhaus fand sie eine Telefonzelle und erreichte auch Max sofort.
Von der OP erholte Tobi sich erstaunlich schnell - Alkohol getrunken zu haben, stritt er ab. Maria glaubte ihm - beim besten Willen konnte sie sich das nicht vorstellen - so früh am Morgen! Nach einer Woche war Tobi schon wieder zu Hause und ging natürlich auch wieder zur Schule.
Es gab dann auch eine Besprechung bei Herrn Winter, an der Tobias zusammen mit Fred und Maria teilnahm. Es wurde noch einmal eindringlich darauf hingewiesen, dass jegliche Einnahme von Drogen oder Alkohol verboten sei. "Ja klar", Tobias nickte.
Er fühlte sich wohl in der Schule. Hier konnte er sich in seinen Lieblängsfächern austoben: Malen, Zeichnen, Arbeiten mit Holz, Gips und Speckstein - das war schon das Richtige für ihn. Alles ging ihm schnell von der Hand - seine Arbeiten konnten sich sehen lassen.
Für seine Klassenkameraden übernahm er die eine oder andere Fertigstellung einer Aufgabe - und bekam dafür sein erstes Gras oder Piece zum Rauchen. Das fand Tobias gar nicht so übel!
Zunächst nahm er sich aber zusammen, es gefiel ihm hier - nur langsam schlichen sich die Fehlstunden wieder ein.
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Morgens in der Bahn saß oft ein Mädchen, das Tobias ziemlich gut gefiel. Sie war ihm zunächst gar nicht aufgefallen, da sein Blick immer nach unten auf den jeweiligen Lesestoff gerichtet war, meistens ein Buch oder eben der "Spiegel", der zu seiner wöchentlichen Lektüre gehörte. Und einfach so mal ansprechen..., so cool war er nicht.