Tante Dimity und die Dorfhexe - Nancy Atherton - E-Book

Tante Dimity und die Dorfhexe E-Book

Nancy Atherton

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Beschreibung

Als Amelia Thistle nach Finch zieht, ist das ganze Dorf neugierig und alle wollen wissen, was es mit der geheimnisvollen Fremden auf sich hat. So auch Lori Shepherd, die schnell herausfindet, dass es sich bei Amalia um eine weltberühmte Malerin handelt, die sich vor ihren übereifrigen Fans versteckt. Lori und Amelia freunden sich an, und schon bald bittet Amalia ihre neue Freundin um Hilfe: Das Fragment eines Familientagebuchs enthält Andeutungen, dass eine ihrer Vorfahren Mistress Mag gewesen sein könnte - die "verrückte Hexe von Finch". Lori stöbert in den dunkelsten Ecken des Dorfes und kommt mit Tante Dimitys Hilfe der Klärung eines Verbrechens und der wahren Geschichte der Dorfhexe Stück für Stück näher.

Ein zauberhafter Wohlfühlkrimi mit Tante Dimity. Jetzt als eBook bei beTHRILLED.

Versüßen Sie sich die Lektüre mit Tante Dimitys Geheimrezepten! In diesem Band: Amelia Thistles Schwarzbrot.

"Jede Passage in diesem Roman ist perfekt. Selbst wenn man nicht alle Bände der Tante Dimity Reihe gelesen hat, kann man dieses Buch genießen und wohlig darin versinken." -Open Book Society

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Seitenzahl: 368

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Amelia Thistles Schwarzbrot

Über dieses Buch

Als Amelia Thistle nach Finch zieht, ist das ganze Dorf neugierig und alle wollen wissen, was es mit der geheimnisvollen Fremden auf sich hat. So auch Lori Shepherd, die schnell herausfindet, dass es sich bei Amalia um eine weltberühmte Malerin handelt, die Zuflucht vor einer sie verfolgenden Anhängerschaft sucht. Lori und Amelia freunden sich an und schon bald bittet Amalia ihre neue Freundin um Hilfe: Das Fragment eines Familientagebuchs enthält Andeutungen, dass eine ihrer Vorfahren Mistress Mag gewesen sein könnte – die »verrückte Hexe von Finch«. Lori stöbert in den dunkelsten Ecken des Dorfes und kommt mit Tante Dimitys Hilfe der Klärung eines Verbrechens und der wahren Geschichte der Dorfhexe Stück für Stück näher.

Über die Autorin

Nancy Atherton ist die Autorin der beliebten »Tante Dimity« Reihe, die inzwischen über 20 Bände umfasst. Geboren und aufgewachsen in Chicago, reiste sie nach der Schule lange durch Europa, wo sie ihre Liebe zu England entdeckte. Nach langjährigem Nomadendasein lebt Nancy Atherton heute mit ihrer Familie in Colorado Springs.

NANCY ATHERTON

Aus dem Amerikanischen von Monika Köpfer

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Dieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen.

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer

Covergestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Alvaro Cabrera Jimenez | Montreeboy

Illustration: © Jerry LoFaro

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Ochsenfurt

ISBN 978-3-7325-3508-8

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Aunt Dimity and the Village Witch« bei Viking/Penguin Books, New York.

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Nancy T. Atherton

Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2012

by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für R. Patrick Atherton,meinen lieben Bruder

Kapitel 1

DAS KLEINE DORF Finch schmiegte sich behaglich in die Biegung des Little Deeping River, eines Nebenflusses, der sich durch den Flickenteppich aus Feldern und sanften grünen Hügeln der Cotswolds schlängelte, einer ländlichen Gegend in den englischen West Midlands.

Finch war in keiner Weise ein bemerkenswerter Ort. Nichts von historischer Bedeutung hatte sich hier ereignet, und niemand, der hier geboren war, hatte es zu Ruhm gebracht. Reisebusse ließen es links liegen, Tagesausflügler zeigten ihm die kalte Schulter, kein Wissenschaftler fand seinen Namen erwähnenswert. Die einzigen Menschen, denen Finch am Herzen lag, waren jene, die dort lebten, und für die war es der herrlichste Ort auf Erden.

Eine mittelalterliche steinerne Buckelbrücke spannte sich am einen Ende des Dorfes über den Fluss, am anderen stand die Kirche von St. George andächtig inmitten eines eingefriedeten Friedhofs mit schlichten Gräbern, trauernden Engeln und aus Stein gemeißelten Grabsteinen, die sich über die Jahrhunderte in die eine oder andere Richtung geneigt hatten und ein pittoreskes Bild abgaben.

Zwischen Brücke und Kirche erstreckte sich ein ovaler Dorfanger. Rund um diesen Dorfplatz führte eine Kopfsteinstraße, die gesäumt war von golden leuchtenden Steincottages und kleinen Geschäften. Der Pub, der Gemischtwarenladen und der Gemüseladen wandten den Rücken einer sanft ansteigenden Landschaft aus dunklen Wäldchen und mit Schafen gesprenkelten Weiden zu, während sich hinter der Teestube, dem Pfarrhaus und der alten Dorfschule, die seit vielen Jahren als Gemeindesaal diente, die von Trauerweiden gesäumten Auen des Little Deeping erstreckten.

Wie schade, der hübschen Landschaft den Rücken zuzukehren, mag manch einer denken, aber die Dorfbewohner wären gewiss anderer Ansicht gewesen. Sie waren glücklich und zufrieden mit dem Blick, der sich ihnen aus ihren Vorderfenstern bot. Denn, obwohl sie – wie fast alle Menschen – gern jungen Lämmern beim ausgelassenen Spiel zusahen, so beobachteten sie noch lieber ihre Nachbarn. Mit jedem verstohlenen Blick durch die Netzgardinen vor ihren Fenstern bot sich ihnen aufs Neue die Gelegenheit, das wechselvolle, faszinierende Schauspiel des Dorflebens zu verfolgen. Gewiss, das sanfte Rauschen des Flusses war unbestreitbar eine hübsche Melodie, aber nach Ansicht der Bewohner von Finch konnte es dem zutiefst befriedigenden Gesumme des Dorfklatsches nicht das Wasser reichen.

Wenn Sally Pyne morgens als Erstes die Tür ihrer Teestube öffnete, um ihren Verlobten und stellvertretenden Geschäftsführer Henry Cook hereinzulassen, konnte sie sich sicher sein, dass viele, wenn nicht gar alle Nachbarn mit angehaltenem Atem durch ihre Gardinen spähten, in Erwartung der öffentlichen Zurschaustellung ihres Liebesglücks. Und sie konnte sich sicher sein, dass ihre Vorstellung für den Rest des Tages für unerschöpflichen Gesprächsstoff sorgen würde. Wenn der Dorfpfarrer Opal Taylor einen Besuch abstattete, würde er damit unbeabsichtigt, aber unvermeidlich Anlass zu Spekulationen geben. Was war der Grund: Opals zerbrechliche Gesundheit, ihre seelische Verfassung und/oder aber die Frage, welchen Kuchen sie beim nächsten Kirchenkuchenbasar beisteuern würde? Schokoladentorte? Letzte Beichte auf dem Sterbebett? Alles, was draußen vorging, trug dazu bei, Finchs Gerüchteküche anzuheizen.

Von Zeit zu Zeit erfüllte Finchs wackerer Trupp von Wichtigtuern auch einen nützlichen Zweck. Wenn ein Kind hinfiel und sich die Knie aufschürfte, war augenblicklich eine mitfühlende Erwachsenenschar zur Stelle, die mit Desinfektionsmittel, Pflaster und so vielen Plätzchen, wie das Kind mit beiden Händen fassen konnte, für schnellstmögliche Heilung sorgte. Wenn ein Teenager hingegen achtlos den Dorfanger mit einem Kaugummipapier oder einer zusammengedrückten Coladose verschmutzte, griffen aufmerksame Augenzeugen unverzüglich zum Telefonhörer, um die Eltern des Missetäters darüber zu unterrichten. Diese wiederum schickten ihren Sprössling postwendend zurück, um den Abfall zu beseitigen, es sei denn dieser war bereit, den Verlust von Autoschlüssel, Handy oder Abendessen in Kauf zu nehmen.

Die vielleicht nützlichste Aufgabe, die Finchs neugierige Bewohner erfüllten, war, dass sie das Abschließen von Haustüren überflüssig machten. Die Leute von Finch wussten, wer wohin gehörte, und schätzten sich glücklich, wenn sie verdächtige Aktivitäten den Nachbarn, der Polizei oder allen, die ihnen Gehör schenkten, berichten konnten. Gewiss, Privatsphäre war ein rares Gut in Finch, desgleichen aber auch Kriminalität.

Notgedrungen musste ich auf diese Art der Rund-um-die-Uhr-Bewachung verzichten, da ich ungefähr drei Kilometer außerhalb von Finch wohnte, zusammen mit meinem Mann Bill und unseren Söhnen Will und Rob, zwei lebhaften eineiigen Zwillingen, die ganz nach ihrem dunkeläugigen und dunkelhaarigen und nur geringfügig weniger lebhaften Vater kamen. Will und Rob waren sieben, nervtötend aufmerksam und dazu hoffnungslose Pferdenarren. Hätten ihre herzlosen Eltern nicht darauf bestanden, sie abends in ihre Betten zu stecken, hätten sie glücklich im Stall bei ihren grauen Reitponys geschlafen.

Ein weiteres Familienmitglied war Stanley, eine geschmeidige schwarze Katze mit langem, gebogenem Schwanz und löwenzahngelben Augen. Stanley betete Bill an. Den Rest der Familie betrachtete er allenfalls als zweitklassige Quelle für Futter und Streicheleinheiten. Bill wiederum gab sich den Anschein der Gleichgültigkeit, komisch war nur, dass der Laptop auf seinen Knien regelmäßig das Nachsehen gegenüber der Katze hatte.

Obwohl wir alle amerikanische Staatsbürger waren – abgesehen von Stanley, der sowohl dem Stammbaum als auch Wesen nach reinrassig englisch war –, lebten mein Mann und ich seit fast einem Jahrzehnt in England, und unsere Söhne hatten ihr ganzes bisheriges Leben hier verbracht. Von seinem Hightech-Büro am Dorfanger von Finch aus leitete Bill die internationale Niederlassung der angesehenen Bostoner Anwaltskanzlei, die sich im Besitz seiner Familie befand. Will und Rob besuchten die Grundschule in der nächstgelegenen Kleinstadt Upper Deeping, und ich bemühte mich, meinen verschiedenen anspruchsvollen Rollen einer Ehefrau, Mutter, Nachbarin, Freundin, freiwilligen Helferin bei Gemeindeveranstaltungen, Klatschbase in Ausbildung und Leiterin des Westwood Trust gerecht zu werden. Letzteres war eine wohltätige Stiftung, die ausgewählte soziale Projekte unterstützte.

Wir wohnten in einem honigfarbenen Steincottage, das trotz seines Alters mit allen möglichen neuzeitlichen Annehmlichkeiten ausgestattet war. Rosen umrankten unsere Haustür, das Schieferdach war von Flechten durchzogen, unser Hintergarten mündete in einer von Wildblumen bewachsenen Wiese, die sanft zu einem glitzernden Bach hin abfiel, und eine wehrhafte Hagedornhecke sowie ein Eichenwald mit Glockenblumenteppich boten uns Schutz vor garstigen Winterstürmen. Bill und ich konnten uns keinen geeigneteren Ort vorstellen, um unsere Kinder großzuziehen. Und als Bills verwitweter Vater, William Arthur Willis senior, sich aus der Anwaltskanzlei zurückzog und auf dem nahegelegenen Anwesen Fairworth House seinen Alterssitz einrichtete, war unser Glück vollkommen.

Wunderlicherweise zog mein stets gut gekleideter, wortgewandter und äußerst betuchter Schwiegervater die Aufmerksamkeit – und in vielen Fällen auch die Bewunderung – sämtlicher Witwen und alten Jungfern Finchs auf sich, die die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hatten. Bill hatte die Kühnsten unter ihnen »Vaters emsige Mägde« getauft, wegen ihrer unermüdlichen Anstrengungen, Willis seniors Herz zu erobern, indem sie ihn mit allen erdenklichen leiblichen Genüssen versorgten.

Alle waren sich darin einig, dass die emsigen Mägde alles tun würden, ja nicht einmal vor skrupellosen Sabotageakten zurückschrecken würden, um das Rennen bei »Wer wird die nächste Mrs Willis?« zu machen. Hätte mein Schwiegervater im Dorf gewohnt, wäre er ununterbrochen von vornehmen Damen belagert worden, die sich erboten, seine Kleidung auszubessern, sein Silber zu polieren, seine Böden zu schrubben, Fenster zu putzen, Mahlzeiten zu kochen und ihm die furchtbare Wahrheit über ihre Rivalinnen zu enthüllen.

Glücklicherweise wohnte Willis senior jedoch nicht direkt in Finch. Zwar konnte man die Einfahrt zu seinem Anwesen von der Buckelbrücke aus sehen, aber sein Haus stand am Ende einer langen privaten Auffahrt, vor neugierigen Blicken durch einen dicht bewachsenen Baumgürtel verborgen. Ein zweiflügeliges, schmiedeeisernes Tor trug dazu bei, die Mägde in Schach zu halten, doch die Hauptverteidigungslinie von Fairworth House war menschlicher Natur. Declan Donovan hielt ein wachsames Auge auf das Anwesen, während er seinen Aufgaben als Gärtner und Hausmeister nachging, und an seiner diskreten, aber resoluten jungen Frau Deirdre, Willis seniors Haushälterin, wäre höchstens eine bewaffnete Sturmtruppe vorbeigekommen. Mein Schwiegervater war ein umgänglicher Gentleman, der hin und wieder die Gesellschaft seiner Nachbarn genoss, jedoch gleichzeitig den Nutzen von robusten Zäunen zu schätzen wusste.

Im Gegensatz zu ihm konnte sich Mrs Amelia Thistle nirgendwo verstecken. Finchs Neuzugang hatte Pussywillows gekauft, das Cottage neben der Teestube, das den Blicken des ganzen Dorfes ausgesetzt war. Obwohl Mrs Thistle noch gar nicht eingezogen war, wusste man dank der vorauseilenden Berichte durch die herrlich indiskrete Maklerin, dass sie eine freundliche, begüterte Witwe in mittleren Jahren war, die beabsichtigte, Finch zu ihrem Hauptwohnsitz zu machen. Der frühere Besitzer von Pussywillows, ein Londoner, der das Cottage als Wochenendrefugium genutzt hatte, war nicht im Geringsten geneigt gewesen, sich am Dorfleben zu beteiligen, aber nun hoffte man, dass sich dies mit Mrs Thistle ändern würde.

Ein ungeschriebenes Gesetz gebot den Bewohnern von Finch, bei aller Neugier ein Mindestmaß an Diskretion zu wahren und ihrer neuen Nachbarin eine Schonfrist einzuräumen, damit sie sich in Ruhe und Frieden in ihrem neuen Domizil eingewöhnen konnte. Aber sobald diese Frist vorbei war, würden sie mit Anmeldelisten für Whist-Wettkämpfe, Blumenwettbewerbe und Flohmärkte bei ihr hereinschneien und versuchen sie für die Flut von Aktivitäten zu gewinnen, die den Lebensatem von Finch ausmachten. Würde sich Mrs Thistle an den allgemeinen Vergnügungen beteiligen oder aber als Fremde unter uns leben wollen? Die Zeit würde es zeigen.

Auch wenn keiner von uns es zugegeben hätte, so glaubten die meisten, dass bereits der Umzugstag wertvolle Hinweise auf Mrs Thistles Charakter liefern würde. Bestimmt würde ein näherer Blick auf ihre persönlichen Besitztümer, die ja vom Umzugswagen ins Cottage geschafft werden mussten, einige Rückschlüsse auf die neue Besitzerin zulassen. Und der strategisch beste Platz für eine Inaugenscheinnahme war, darin waren sich alle einig, Sally Pynes Teestube.

Wie das Glück es wollte, war ich an diesem Tag zufälligerweise in Finch. Nachdem ich meine Einkäufe in Taxman’s Emporium, dem gut sortierten Gemischtwarenladen von Finch, getätigt und in meinem Range Rover verstaut hatte, flitzte ich über den Dorfanger in die Teestube und wäre um ein Haar mit Henry Cook zusammengestoßen, der gerade zur Arbeit erschien. Mit einer wegwerfenden Handbewegung erstickte ich Henrys überschwänglichen Entschuldigungsversuch im Keim, sicherte mir einen Fensterplatz und bestellte mir eine Portion von Sallys köstlichen Apfelküchlein und eine große Kanne Lapsang-Souchong-Tee. Die Küchlein waren noch nicht abgekühlt, als auch schon sämtliche Tische belegt waren.

Ich teilte meinen mit Charles Bellingham und Grant Tavistock, zwei Männern in mittleren Jahren, die ein Paar waren und sich in ihrem behaglichen Heim, dem Crabtree Cottage, als Kunstrestaurator und Kunstschätzer betätigten. Die emsigen Mägde, allgemein eher bekannt unter den Namen Millicent Scroggins, Opal Taylor, Elspeth Binney und Selena Buxton, hatten vier separate Tische in Beschlag genommen, während Mrs Sciaparelli und ihre Tochter Annie Hodge, die auf Farmen außerhalb des Dorfes lebten, sich einen Tisch teilten, desgleichen Mr Barlow, ein pensionierter Automechaniker, und George Wetherhead, der schüchternste Mann im ganzen Dorf. Christine Peacock schien es indessen ihrem Mann Dick zu überlassen, sich allein um den Pub zu kümmern, und sicherte sich rasch den letzten Tisch in der Teestube. Mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf den Lippen nahm sie Platz, um sowohl ihren Tee als auch ihren Triumph auszukosten.

Jene, denen ein strategisch günstiger Aussichtsplatz in Sallys Teestube verwehrt geblieben war, bezogen an den Kisten mit frischen Äpfeln, Pflaumen und Birnen vor dem Gemüse- und Obstladen Posten oder betrachteten geflissentlich die Auslagen in den Schaufenstern des Kaufladens, wieder andere nutzten jede sich bietende Gelegenheit, um ein Schwätzchen zu halten, während sie ohne erkennbare Eile den Dorfanger überquerten.

Das Wetter war ideal, um sich draußen aufzuhalten. Herbstlaub raschelte in der sanften Brise, und blauer Rauch stieg von den Laubfeuern in den Gärten auf und rief allen in Erinnerung, dass der Oktober gekommen war. Doch die Sonne schien, und der Himmel war wolkenlos blau, nichts kündete von aufziehendem Regen. Es schien also äußerst unwahrscheinlich, dass ein plötzlicher Regenschauer Mrs Thistles Laune und ihre persönlichen Besitztümer verregnen würde.

In der Teestube war neben dem lebhaften Geplauder nur selten das sonst so vertraute Klirren zu hören, wenn jemand eine Tasse auf die Untertasse zurückstellte. Da keiner wusste, wann die neue Bewohnerin eintreffen würde, achtete jeder darauf, seine Teekanne nicht vorzeitig zu leeren.

Grant Tavistock lächelte in sich hinein, während er die anderen Dorfbewohner über den Rand seiner Teetasse betrachtete, auf der das Motiv einer Trauerweide prangte. Klein und schlank, geschmackvoll gekleidet und das volle, graumelierte Haar penibel frisiert, war er eine ausgesprochen gut aussehende Erscheinung.

»Sag mal, Lori«, sagte er, »haben Charles und ich eigentlich genauso viel Aufmerksamkeit erfahren, als wir nach Finch zogen?«

»Natürlich«, erwiderte ich. »Aber in eurem Fall waren nicht so viele Leute auf dem Dorfanger unterwegs. Fast alle waren wegen des garstigen Wetters drinnen.«

»Es war grauenhaft«, stimmte Charles Bellingham zu. Groß, kahlköpfig und korpulent, lag Charles normalerweise um zehn Uhr morgens noch im Bett, aber an diesem Tag hatte er seine Gewohnheit unterbrochen, um der Ankunft von Mrs Thistle beizuwohnen. »Wind, Regen, Graupel – ich habe mich nie so elend gefühlt wie an dem Tag.«

»Die Hauptleidtragenden waren freilich die Möbelpacker«, warf Grant ein. »Soweit ich mich erinnere, hast du dich die meiste Zeit in der Küche an den Aga gekuschelt.«

Der Aga war ein schmiedeeiserner Herd, der beständig eine behagliche Hitze ausstrahlte, sodass mir Charles’ Strategie durchaus nachvollziehbar schien. Aber wahrscheinlich hätte ich anders darüber gedacht, wäre es mir allein überlassen worden, mich um das Entladen des Umzugswagens zu kümmern.

»Es war für alle Beteiligten ein lausiger Tag!« Neidisch blickte Charles in den wolkenlosen Himmel. »Scheint, dass Mrs Thistle mehr Glück hat.«

»Und dass ihre Möbel im Gegensatz zu unseren trocken bleiben«, fügte Grant hinzu.

»Ich muss etwas bekennen«, sagte Charles unvermittelt. »Diese Mrs Thistle könnte drei Meter von mir entfernt stehen, und ich würde sie nicht erkennen. Es schmerzt mich, das sagen zu müssen, Lori, aber jedes Mal, wenn sie in Finch war, weilten Grant und ich gerade in London. Wir haben sie noch kein einziges Mal gesehen.«

»Aber ich«, sagte ich selbstgefällig. Ich klopfte mit der Hand auf den Tisch. »Ich habe hier an diesem Platz gesessen, als sie letzte Woche mit den Malern kam, um dem Cottage den letzten Schliff zu verleihen.«

»Bitte um eine kurze Beschreibung«, sagte Charles, dessen Miene sich aufhellte.

»Sie fährt einen silbergrauen Fiat Sedan«, sagte ich.

»Wie langweilig«, murmelte Grant.

»Ihr Wagen interessiert mich nicht«, warf Charles ein. »Ich will wissen, wie die Frau aussieht.«

»Ich würde sie auf Ende fünfzig schätzen, vielleicht auch Anfang sechzig«, sagte ich. »Sie ist klein – ungefähr meine Größe – und ein bisschen mollig. Weder dick noch dünn, einfach nur weiblich gerundet. Graues Haar, blaue Augen, kein Make-up. Das Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf geschlungen, ihr wisst schon, einen von der Sorte, aus dem gern ein paar Strähnen oder Büschel entwischen und der sich mindestens drei Mal am Tag auflöst, sodass man ihn neu machen muss. Ihr Teint war leicht rötlich. Ich nehme mal an, dass sie viel an der frischen Luft ist.«

»Rötlich, zerzaust und frischluftig«, sagte Grant und schauderte kaum merklich. »Bestimmt wandert sie, wetten wir? Wahrscheinlich besitzt sie einen Rucksack, Wanderstöcke und ein Paar solide Wanderstiefel.«

»Kleidung?«, sagte Charles betont sachlich, ohne auf die Bemerkung seines Partners einzugehen.

»Leger«, antwortete ich, »aber nicht billig. Ein weites Hemd mit Liberty-Blumenmuster, das sie offen über einem blassblauen T-Shirt und lose sitzender Khakihose trug. Sie war mit den Malern hier«, erinnerte ich die beiden, »also konnte man nicht erwarten, dass sie bei dieser Gelegenheit in feinen Sachen hier aufkreuzt.«

»Schuhe?«, fragte Charles unbeeindruckt.

»Loafers mit Quasten«, sagte ich. »Klassisch, aber teuer. Und ihre doppelte Perlenkette schien mir auch nicht aus einer Müslipackung zu stammen.«

»Also schließen wir daraus«, murmelte Charles nachdenklich, »Mrs Thistle ist nicht unvermögend, protzt aber nicht damit.« Er lächelte. »Ich mag sie.«

»Ich werde mir mein Urteil für später aufheben«, sagte Grant.

Als die Eingangstür aufging und Bree Pym den Teesalon betrat, verebbte das Stimmengewirr. Die neunzehnjährige Bree stammte aus Neuseeland und hatte ein reizendes altes Haus sowie einen Batzen Geld von ihren Großtanten geerbt, den verstorbenen und allseits betrauerten Damen Ruth und Louise Pym, die am Dorfrand von Finch gewohnt hatten. Als Bree in das Haus ihrer Großtanten einzog, wurde sie nicht von allen Dorfbewohnern mit offenen Armen aufgenommen.

Während nur die Engstirnigsten unter uns sie wegen ihrer Tattoos, ihrem Nasenpiercing und ihrer Vorliebe für knapp sitzende Kleidungsstücke ablehnten, fürchtete fast jeder Dorfbewohner ihren scharfen Verstand. Keiner konnte sich sicher fühlen vor ihren zielgenau abgeschossenen verbalen Pfeilen. Eine Fertigkeit, die sie, kaum war sie eingezogen, unter Beweis gestellt hatte.

»Guten Morgen, Henry!«, rief sie Henry Cook zu, der aus der Küche trat und in den Händen vier Teller hielt, auf denen sich gebutterte Crumpets – kleine Pfannkuchen – türmten.

»Guten Morgen, Bree!«, rief auch er und strahlte sie übers ganze Gesicht an.

Mit seinem Sinn für Situationskomik lag Bree genau auf Henrys Wellenlänge. Es gefiel ihm, dass sie oftmals laut aussprach, was viele von uns nur im Stillen dachten.

»Volles Haus heute«, verkündete Bree vergnügt und blickte sich um. »Aber klar, es gibt schließlich keinen besseren Platz, um unsere neue Mitbürgerin auszuspähen. Bin ich froh, dass ihre Sachen noch nicht eingetroffen sind. Ich kann es ja kaum erwarten, zu sehen, ob sie nun steinreich ist oder einfach nur reich genug, um auf uns herabzusehen.«

Ein breites Grinsen erschien auf Henrys Gesicht, während er den emsigen Mägden die Teller mit den Crumpets servierte. Aber im Gegensatz zu ihm waren die älteren Damen gar nicht amüsiert.

»Ausspähen?« Elspeth Binney machte ein empörtes Gesicht.

»Also, wirklich, allein der Gedanke, so etwas zu tun«, grollte Opal Taylor.

»Das fehlte noch«, grummelte Millicent Scroggins.

»Den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte Grant kaum hörbar.

Charles und ich nickten zustimmend. Da konnten die Mägde protestieren, so viel sie mochten, sie wussten genauso gut wie wir, warum das halbe Dorf beschlossen hatte, ausgerechnet an diesem Morgen Sallys Teestube zu besuchen oder einen Spaziergang auf dem Dorfanger zu machen.

»Ich halte Ausschau nach dem Möbelwagen, okay?«, fragte Bree in den Raum hinein. Sie blickte in Richtung der Kirche und strahlte mit einem Mal übers ganze Gesicht. »Und keine Minute zu früh. Hier kommt er, Ladies and Gentlemen. Die Show beginnt!«

Einen Moment später fuhr ein silbergrauer Fiat Sedan an der Teestube vorbei, gefolgt von einem mittelgroßen Umzugswagen. Die kleine Frau mit den weiblichen Kurven und der gesunden Gesichtsfarbe stellte ihren Wagen in dem schmalen Schuppen neben dem Cottage ab, der als Garage diente, stieg aus, trat an die Fahrerkabine des Umzugswagens und sprach mit den Möbelpackern.

»Das ist sie«, murmelte ich. »Mrs Amelia Thistle.«

Da trotz des schönen Wetter eine frische Brise wehte, trug sie eine knielange, braune Strickweste über einer braunen Tweedhose und einer zinnoberroten Seidenbluse mit rundem Kragen. Ich wollte gerade einen Kommentar über die fehlende Perlenkette abgeben, als ich hörte, wie Charles aufkeuchte.

»Was ist los?«, fragte ich erschrocken.

»Das kann nicht sein«, sagte Charles im Flüsterton. Er beugte sich vor, um Mrs Thistle in Augenschein zu nehmen.

»Was kann nicht sein?«, fragte ich.

»Doch.« Er schlug sich die Hand vor den Mund.

Grant starrte Mrs Thistle an, als führte sie splitterfasernackt einen Tanz auf. Die beiden Männer tauschten einen bedeutungsvollen Blick und standen unvermittelt auf.

»Wenn du uns bitte entschuldigen würdest, Lori«, sagte Grant und warf ein paar Münzen auf den Tisch. »Wir haben den Wasserkessel auf dem Herd vergessen. Müssen rasch nach Hause.«

Verblüfft verfolgte ich, wie meine beiden Freunde überstürzt den Raum verließen. Grant und Charles hatten seit einer guten Stunde auf der Lauer gelegen, um Mrs Thistle zu sehen. Warum rannten sie jetzt davon, kaum dass sie endlich da war? Wussten sie etwas über sie, das sie unter Verschluss halten wollten – etwas Schockierendes, Sensationelles, Skandalöses?

Der Geruch nach einem dunklen Geheimnis lag in der Luft, und ich witterte ihn wie ein Wolf ein rohes Steak. Auch wenn es ein Jammer war, die Enthüllung von Mrs Thistles materiellen Gütern zu verpassen, so wäre es nicht minder ärgerlich, mir diesen pikanten Leckerbissen aus der Gerüchteküche entgehen zu lassen. Im Gegenteil. Ich zögerte nur ganz kurz, dann packte ich meine Jacke, legte ein paar Münzen zu denen von Grant und rannte aus der Teestube, indem ich hinter ihnen herrief: »Wartet auf mich!«

Bree Pym, Mrs Sciaparelli, Annie Hodge, Mr Barlow, George Wetherhead, Christine Peacock, Sally Pyne, Henry Cook und die emsigen Mägde verfolgten aufmerksam, wie ich hinter Grant und Charles über den Dorfanger jagte. Selbst als ich sie schon eingeholt hatte, musste ich fast rennen, um mit ihren langen Schritten mithalten zu können, so zielstrebig steuerten sie auf das Crabtree Cottage zu. Als ich hinter ihnen in die Diele trat, war ich völlig außer Atem und brachte keinen Ton heraus. Aber Charles’ Stimme hatte nichts von ihrer Kraft eingebüßt, als er die Tür zuschlug und zu mir herumwirbelte.

»Diese Frau«, sagte er grollend, »ist nicht Amelia Thistle!«

Kapitel 2

SCHRILLES, HOHES GEBELL bestürmte unsere Ohren, während Goya und Matisse in die Diele geflitzt kamen, um herauszufinden, wer die Haustür so laut zugeschlagen hatte. Während ich keuchend an der Wand lehnte, um wieder zu Atem zu kommen, hob Charles seinen goldfarbenen Zwergspitz auf den Arm, und Grant beugte sich hinab, um seinen überdrehten Malteser zu beruhigen. Charles und Grant mochten das Crabtree Cottage zwar besitzen, aber ihre freundlichen kleinen Hunde beherrschten es.

»Wovon redest du da, Charles?«, fragte ich, nachdem sich das Gebell wieder gelegt hatte. »Ich habe selbst mit der Immobilienmaklerin gesprochen. Sie sagte mir, die Frau, die Pussywillows gekauft hat, heißt Mrs Amelia Thistle.«

»Die Immobilienmaklerin wurde getäuscht«, sagte Charles trocken. »Und ich kann es beweisen.«

Er setzte Goya sanft auf den Boden zurück und ging voraus in das zum Dorfanger hin gelegene Zimmer, einen sonnigen, schlicht möblierten Raum, der als Büro diente. Goya und Matisse sprangen glücklich um uns herum, hin und wieder kurz innehaltend, um an unseren Schuhen zu schnüffeln, während Grant benommen auf einen der hochlehnigen Holzstühle sank, die für Kunden bereitstanden. Ich stellte mich mit dem Rücken an das Erkerfenster und dankte innerlich meinem Glücksstern, dass ich meinem Bauchgefühl gefolgt und hinter den beiden Männern hergerannt war. Denn gleich, dessen war ich mir sicher, würde ich etwas äußerst Interessantes über unsere neue Dorfbewohnerin erfahren.

Charles nahm einen dicken Ordner aus einem Aktenschrank, hievte ihn auf seinen Schreibtisch und begann den Inhalt durchzublättern.

»Wie du weißt, Lori«, sagte er, »restauriert Grant Kunstgegenstände, während ich mich als Kunstschätzer betätige. Wir sind selbst keine Künstler, aber Kunst ist unser Leben.«

»Wir essen, trinken und atmen sie«, sagte Grant und nickte feierlich.

»Wir lesen nicht nur die einschlägige Literatur«, fuhr Charles fort, »sondern besuchen Vernissagen, Ausstellungen, Auktionen, Verkaufsveranstaltungen, Privatbesichtigungen ...«

Ich fiel ihm ins Wort. »Ich weiß, ich weiß. Ihr zwei saust ständig nach London, um die Werke der neuesten Genies zu sehen.«

»Grant und ich besuchen auch Ausstellungen von Künstlern, die sich bereits einen Namen gemacht haben«, entgegnete Charles, »und wir werfen nie etwas weg.« Er zog drei bunte Broschüren aus dem Ordner und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. »Diese Broschüren haben wir von drei verschiedenen Einzelausstellungen einer sehr namhaften Künstlerin mitgenommen.« Er legte den Ordner zur Seite und forderte mich mit einer ausladenden, theatralischen Armbewegung auf, an den Schreibtisch zu treten. »Du bist herzlich eingeladen, dir unsere Beweisstücke anzusehen.«

Ich folgte seiner Aufforderung, starrte auf die Broschüren und las die Titel der Ausstellungen laut vor: »›Mae Bowen: Diener der Natur‹, ›Mae Bowen: Nicotiana bei Mondschein‹, ›Mae Bowen: Die verlorene Lichtung‹.« Ich sah Charles fragend an. »Das verstehe ich nicht. Was hat Mae Bowen mit Amelia Thistle zu tun?«

Er drehte alle drei Broschüren um und schenkte mir ein triumphierendes Lächeln. Wieder sah ich auf die Prospekte hinab und erblickte drei identische Schwarzweißfotos einer Frau, die das absolute Ebenbild der Frau war, die ich wenige Minuten zuvor vor Pussywillows mit den Möbelpackern reden gesehen hatte.

»Hier hast du«, verkündete Charles, »den unumstößlichen Beweis, dass die Frau, die sich Amelia Thistle nennt, in Wahrheit die bekannte und angesehene englische Malerin Mae Bowen ist.«

»Die Ähnlichkeit ist tatsächlich frappierend«, sagte ich, »aber ich würde deinen Beweis trotzdem nicht als unumstößlich bezeichnen.« Ich verschränkte die Arme. »Ich habe mal gehört, dass jeder einen Doppelgänger hat. Amelia Thistle könnte Mae Bowens Doppelgängerin sein. Oder vielleicht sind es eineiige Zwillinge. Im Halbdunkel kann ich meine eigenen Söhne kaum auseinanderhalten, und Ruth und Louise Pym waren wie zwei identische Abgüsse desselben Originals.«

Grant stand auf und trat neben mich an den Schreibtisch, indem er achtgab, nicht über Goya und Matisse zu stolpern, die sofort wieder aufgeregt um seine Füße herumhüpften.

»Wir haben es hier weder mit Zwillingen noch mit einer Doppelgängerin zu tun«, sagte er. »Charles und ich haben Mae Bowen bei drei verschiedenen Gelegenheiten in persona gesehen, Lori. Die Gesten, die Haltung, der Gang, die Neigung des Kinns – all das lässt keinen Zweifel zu.« Er sah von einem Foto zum anderen und schüttelte den Kopf. »Ich bin bereit zu schwören, dass Amelia Thistle und Mae Bowen ein und dieselbe Person sind.«

Als ich mir in Erinnerung rief, welches Chaos in der Zeit entstanden war, als Sally Pyne vorübergehend eine andere Identität angenommen hatte, stöhnte ich leise auf.

»Wollt ihr damit sagen, wir haben es schon wieder mit einer Schwindlerin zu tun?«, fragte ich matt.

»Amelia Thistle ist nicht einfach nur eine Schwindlerin«, entgegnete Charles. »Sie ist Englands größte Botanikkünstlerin!«

»Sie malt Blumen und andere Pflanzen«, führte Grant aus.

»Ich weiß, was ein Botanikkünstler macht«, sagte ich gereizt.

»Sie ist irrsinnig begabt«, erklärte Charles feierlich. »Ein Wunderkind. Soweit ich weiß, hat sie im Alter von zehn Jahren zu malen begonnen. Und sie ist Autodidaktin, sowohl als Naturforscherin als auch als Malerin. Alles, was sie weiß, rührt aus ihrer Beobachtungsgabe.«

»Ihr Gesicht ist wettergegerbt, weil sie en plein air arbeitet – sie malt unter freiem Himmel«, sagte Grant. »Und doch sind ihre Bilder nicht rein fotografisch. Sie sind ... Sie sind ...« Er drehte die Augen gen Decke, während er nach dem passenden Wort suchte, doch dann zuckte er die Schultern. »Du meinst wahrscheinlich, ich sei ins Schwärmen geraten, Lori, aber Bowens Bilder sind einfach ... magisch.«

»Drucke werden ihrer Kunst nicht annähernd gerecht«, bekräftigte Charles entschieden. »Man muss vor einem Original stehen, um zu begreifen, wie brillant Bowen ist.«

»Sie ist nicht besonders produktiv«, sagte Grant, »aber dafür ist jedes ihrer Bilder ein Meisterwerk.«

»Besitzt ihr welche?«

»Nur in unseren Träumen«, antwortete Grant bedauernd. »Ihre Gemälde kosten etliche tausend Pfund, Lori. Auf der ganzen Welt gibt es Sammler ihrer Werke, die sich einen Wettstreit liefern.«

»Warum habe ich noch nie etwas von ihr gehört?«, fragte ich und machte ein verdrießliches Gesicht.

»Künstler wie Mae Bowen sorgen selten für Schlagzeilen«, erklärte Grant. »Die Kunstkritiker schleimen lieber um Poseure herum, die sich in Szene zu setzen wissen. Zurückhaltende Genies wie Bowen, die etwas Bleibendes schaffen, werden dagegen nicht selten übersehen.«

»Zu Recht vielleicht«, wandte Charles ein. »Es liegt mir fern, die Kritiker zu verteidigen, aber Tatsache ist, dass Bowen sich kein bisschen bemüht, sich der Presse genehm zu machen.« Er sah mich vielsagend an. »Um die Wahrheit zu sagen, sie hat etwas von einer Einsiedlerin.«

»Warum zieht sie dann unter falschem Namen nach Finch?«, fragte ich erstaunt. »Wenn sie bereits eine Einsiedlerin ist und die Presse ihr nicht auf die Pelle rückt, warum sollte sie dann ihren Namen und ihre Adresse ändern wollen?«

»Genau, gute Frage«, sagte Charles. »Das Ganze ist noch sonderbarer, als du denkst, Lori, denn Mae Bowen ...« Er hielt inne, als die Türklingel läutete und unmittelbar darauf erneut aufgeregtes Gebell ausbrach. Die Hunde rannten sofort um die Wette los in die Diele.

»Wir erwarten doch keinen Kunden, oder?«, fragte Grant ruhig.

»Nein«, sagte Charles. »Und Besucher wollen wir jetzt keine. Würdest du bitte nachsehen, wer es ist, Lori?«

Auf Zehenspitzen begab ich mich wieder zum Erkerfenster, spähte hinaus und sah Millicent Scroggins auf der Türschwelle stehen. Die dürre Junggesellin wohnte zwar neben dem Crabtree Cottage, aber es war noch nicht lange her, dass ich sie in Sallys Teestube gesehen hatte, wo sie sich angeregt mit dem Rest der emsigen Mägde unterhalten hatte.

»Es ist Millicent«, sagte ich leise über die Schulter.

»Was will sie hier?« Grant wirkte verärgert.

»Geh und finde es heraus«, sagte Charles im Flüsterton zu ihm. »Und sag ihr um Himmels willen nichts von Mae Bowen.«

Grant beschwichtigte ihn und ging zur Haustür. Charles und ich traten an die Flurtür, um besser lauschen zu können.

Nachdem sie Grant gegrüßt und ihr Entzücken über die »süßen kleinen Hunde« kundgetan hatte, kam Millicent zur Sache.

»Verzeihen Sie bitte die Störung«, sagte sie mit gespielter Zerknirschtheit. »Aber ich wollte eigentlich nur sichergehen, dass mit Ihnen und Lori und Charles alles in Ordnung ist.«

»Sie will also herumschnüffeln«, murmelte Charles, dessen Augen sich verengten.

»Natürlich, was sonst?«, antwortete ich flüsternd.

»Ich kam nicht umhin, Ihren abrupten Aufbruch eben in der Teestube zu bemerken«, fuhr Millicent fort. »Deshalb habe ich mir Sorgen gemacht, ob jemand vielleicht krank geworden ist.«

»Nein, nein«, sagte Grant leichthin. »Wir sind alle wohlauf, vielen Dank.«

»Da bin ich aber froh.« Doch Millicent schien noch nicht bereit zu sein, ihn vom Haken zu lassen. »Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, wie Sie da alle drei hinausgerannt sind. Selena meinte, es habe fast so gewirkt, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.« Millicents klirrendes Lachen brachte die Hunde erneut dazu anzuschlagen, aber sie ließ sich von dem Gekläffe nicht beirren und sprach einfach weiter. »Selena hat eine lebhafte Fantasie.«

»Sie können Selena sagen, dass wir keinen Geist gesehen haben«, sagte Grant. »Wir haben etwas viel Beunruhigenderes gesehen.«

»Ach ja?« Millicent blickte ihn begierig an.

»Oh ja«, sagte Grant ernst. »Wir haben uns selbst gesehen, wie wir alle dasitzen und Mrs Thistle anstarren wie einen Affen im Zoo. Und plötzlich haben wir uns geschämt.«

Charles konnte sich gerade noch die Hand vor den Mund schlagen, um nicht laut loszuprusten, und ich lächelte schief. Grant hatte offensichtlich beschlossen, seine aufdringliche Nachbarin ein wenig auf den Arm zu nehmen.

»Geschämt?«, wiederholte Millicent verwirrt. »Weswegen denn?«

»Wegen uns«, erwiderte Grant feierlich. »In was für einer Welt leben wir eigentlich, haben wir uns gefragt, wenn eine respektable Frau nicht in ein respektables Haus einziehen kann, ohne von einer Schar Fremder angegafft zu werden? Wir waren angewidert, oh ja, angewidert von unserem abscheulichen Verhalten, und deswegen haben wir uns schnell entfernt, um nicht vollends unsere Selbstachtung zu verlieren.«

»Ich verstehe.« Millicent blieb zögernd stehen, ehe sie hinzufügte: »Ich hoffe, Sie denken nicht, ich sei dort gewesen, um Mrs Thistle ... anzugaffen.«

»Also, nichts läge mir ferner als dieser Gedanke.«

»Denn ich kann Ihnen versichern, dass ich niemals die Absicht hatte«, erklärte Millicent streitbar. »Ich bin hingegangen, um, wie ich es öfter tue, mit meinen Freundinnen eine Tasse Tee zu trinken. Ich kann freilich nicht für sie sprechen. Vielleicht sind sie in die Teestube gegangen, um zu gaffen, aber ich ganz sicher nicht.«

»Natürlich nicht.«

»Ach herrje«, sagte Millicent ärgerlich, »ich glaube, ich habe meine Handschuhe liegen lassen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Grant, ich muss rasch in die Teestube zurück, um sie zu holen. Bitte grüßen Sie Charles und Lori von mir.«

»Das werde ich tun.«

Ich hörte, wie sich ihre Schritte eilig auf dem Gartenweg entfernten und wie die Haustür mit einem klickenden Geräusch ins Schloss fiel. Als Grant wieder ins Büro kam, spendeten Charles und ich ihm einen kurzen, aber gebührenden Applaus.

»Eine großartige Vorstellung, gratuliere«, sagte ich.

»Grant ist ein Improvisationsgenie«, meinte Charles stolz.

»Millicent allerdings auch«, erwiderte ich. »Wenn sie hergekommen ist, um sich nach unserem Befinden zu erkundigen, fresse ich einen Besen. Sie wollte ein bisschen Stoff für Klatsch und Tratsch sammeln, um damit schnurstracks zu ihren Kumpaninnen zurückzulaufen.«

»Und du hast sie kaltblütig abblitzen lassen.« Charles strahlte seinen Partner an. »Wollen wir diesen Sieg mit einem Gläschen Brandy feiern?«

Grant nickte, aber ich lehnte ab. Ich war zwar keine Abstinenzlerin, aber allein beim Gedanken, so früh am Tag Brandy zu nippen, wurde mir schummrig. Während Charles und Goya in die Küche davoneilten, setzte sich Grant wieder auf seinen Stuhl. Ich nahm auf dem Stuhl daneben Platz und beugte mich hinab, um Matisse hinter den Ohren zu kraulen.

»Du hast Millicents Hiebe großartig pariert«, sagte ich.

»Ich habe sie in die Defensive gezwungen, indem ich mir den Anschein moralischer Überlegenheit gab. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie es mir abgenommen hat. Tatsächlich lebe ich schon zu lange in Finch, als dass ich noch Skrupel hätte, wenn ich mich in anderer Leute Angelegenheiten mische.«

Ich richtete mich wieder auf und wandte mich ihm zu. »Warum wollt ihr eigentlich nicht mit der Wahrheit herausrücken und Millicent von Mae Bowen erzählen?«

»Je länger wir Mae Bowens Geheimnis wahren, desto besser«, erwiderte Grant. »Verstehe mich nicht falsch, Lori. Es ist eine Ehre, eine solch herausragende Künstlerin in unserer Mitte zu haben, aber diese Ehre könnte uns teuer zu stehen kommen.«

Er wollte gerade ausführen, was er damit meinte, als Charles mit zwei großzügig eingeschenkten Portionen Brandy in zwei überdimensionalen Schwenkern zurückkam. Er reichte ein Glas Grant und setzte sich dann hinter den Schreibtisch, um an seinem zu nippen.

»Danke, Charles«, sagte Grant, nachdem er einen belebenden Schluck getrunken hatte. »Sollen wir dort fortfahren, wo wir so rüde unterbrochen wurden?«

»Sicher«, erwiderte Charles. »Ich wollte Lori gerade erklären, warum Mae Bowens Verhalten uns Rätsel aufgibt.« Er wölbte die Hände um seinen Schwenker und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Weißt du, Lori, Mae Bowen ist inzwischen zu einer Art Kultfigur geworden. Ihre Gefolgsleute haben ihre Kunst zu ihrer Lebensphilosophie erhoben.«

»Sie nennen sich Bowenisten«, führte Grant aus. »Und ihre Philosophie basiert auf der unmittelbaren Wahrnehmung des Universums. Sie betrachten Bowen als eine Art Guru, deren Bilder uns die richtige Betrachtungsweise der Natur lehren.«

»Kurz und gut, diese Leute sind ein großes Ärgernis.« Charles schnaubte verächtlich. »Sie tauchen bei jeder Ausstellung auf und stehen stundenlang vor jedem Bild, um zu meditieren. Man muss sie förmlich mit dem Ellbogen zur Seite schieben, wenn man sich die Bilder ansehen möchte.«

»Bowen hat ihre Fans nie ermutigt«, sagte Grant, »aber seltsamerweise hat gerade ihr Mangel an Ermutigung diese Leute in ihrem Glauben bestärkt. Sie sehen in Bowens Zurückhaltung einen Ausdruck ihrer Integrität.«

»Diese elenden Heuchler«, sagte Charles angewidert. »Sie behaupten, sie würden ihr Bedürfnis nach Privatsphäre respektieren, und trotzdem folgen sie ihr auf Schritt und Tritt und bombardieren sie mit Fragen und Bitten. Bei ihren öffentlichen Auftritten braucht sie sogar Personenschutz.«

»Belästigen ihre sogenannten Gefolgsleute sie auch zu Hause?«

»Ich fürchte, ja«, sagte Grant. »Zuletzt wohnte sie auf einem Anwesen, das von einer Mauer umgeben war und dem deines Schwiegervaters ähnelte.«

Ich starrte ihn verdutzt an. »Mae Bowen hat ihren geschützten Wohnsitz für Pussywillows aufgegeben? Na ja, es ist wirklich ein hübsches Cottage, aber Fairworth House ist es nicht gerade. Warum hat sie sich zu einer so grundlegenden Veränderung entschieden?«

»Merkwürdig, nicht wahr?« Charles schnalzte traurig mit der Zunge. »Pussywillows bietet ihr keinerlei Schutz vor ihren Anbetern. Sie hat sich selbst zur Lockente gemacht.«

»Nicht unbedingt«, sagte ich. Ich war stolz auf mein Dorf, war mir aber durchaus bewusst, dass es nicht der Nabel der Welt war. »Finch ist nicht gerade eine Hochburg der Kunstszene. Finch ist für niemanden besonders wichtig außer für uns. Vielleicht fühlt sie sich hier sogar sicherer als eingemauert auf ihrem Landgut.«

»Wenn dem so ist, erliegt sie einer Täuschung«, sagte Grant. »Finch mag ja ein Provinznest sein, aber es ist nicht mit einem Burggraben versehen. Sobald jemand erfährt, dass Mae Bowen hier lebt, werden die Bowenisten in Finch einfallen.«

»Sie sind doch nicht gefährlich, oder?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Charles. »Sie mögen zwar Spinner sein, aber es sind gesetzestreue Spinner.«

»Sie würden ihr keine physische Gewalt antun«, sagte Grant. »Aber emotional? Oder psychisch? Spirituell? Wer weiß. Sie könnten sie zerstören. Und sie könnten Finch erheblichen Schaden zufügen.«

»In welcher Form?«, fragte ich, plötzlich alarmiert.

»Indem sie es bis zur Unkenntlichkeit verändern«, erwiderte Grant. »Finch könnte ein Wallfahrtsort für Esoteriker werden.«

»Du meinst, dass Hippies auf dem Dorfanger campen würden?«, fragte ich zögernd. »Regenbogenfarbene Wohnmobile, die unsere Sträßchen zuparken?«

»Viel schlimmer«, sagte Grant grimmig. »Die Bowenisten sind nicht unbedingt mittellose Spinner, Lori. Einige von ihnen sind wohlhabend genug, um sich hier einzukaufen. Ein Millionär namens Myron Brocklehurst hat eine kleine Farm direkt gegenüber von Bowens Gut gekauft und sie in eine Bowenisten-Kommune verwandelt, in der man Mutter Erde anbetet.«

»Moment mal«, sagte ich. »Willst du damit sagen, dass Gefolgsleute von Mae Bowen dauerhaft hierherziehen könnten, nur um in ihrer Nähe zu sein?«

»Durchaus möglich«, sagte Grant. »Bowen hat sich ja selbst des Schutzes durch die Mauern beraubt. Ihre Verehrer werden bestimmt versuchen, die Tatsache auszunutzen, dass sie mit einem Mal leicht zugänglich ist.«

»Wenn die Bowenisten die Häuserpreise in die Höhe treiben«, warf Charles ein, »könnte das die Einheimischen von hier forttreiben.«

»Und das Dorf, wie wir es kennen und lieben«, schloss Grant, »würde aufhören zu existieren.«

Wir fielen in ein langes und trübseliges Schweigen. Die Männer nippten an ihren Drinks, die Hunde ruhten sich von den Strapazen dieses Vormittags aus, und ich starrte auf einen unbestimmten Punkt und malte mir eine Zukunft ohne Finch aus.

»Ich finde, ihr übertreibt ein wenig«, sagte ich schließlich.

»Vielleicht«, meinte Grant. »Aber was, wenn nicht? Was, wenn es genau so kommt, wie wir es uns vorstellen?«

»Ehrlich gesagt wüsste ich gar nicht, wie wir den Lauf der Dinge aufhalten könnten«, warf Charles ein. »Wir leben in einem freien Land. Wir können Bekloppte wie Myron Brocklehurst nicht davon abhalten, hierherzukommen.«

»Sie werden nicht kommen, wenn sie nicht wissen, dass sie hier ist«, sagte ich nachdenklich. Dann rutschte ich auf die Stuhlkante vor. »Ich wette um alles in der Welt, dass ihr beide die Einzigen in Finch seid, die wissen, wer Amelia Thistle ist. Wenn wir den Mund halten, wird niemand etwas über Mae Bowen herausfinden.«

»Das hier ist Finch«, gab Grant zu bedenken, »das olympische Trainingszentrum für Herumschnüffeln. Früher oder später wird die Wahrheit herauskommen. Entweder wird Bowen selbst einen Fehler begehen, oder ein nachgesendeter Brief mit ihrem richtigen Namen darauf gelangt in die falschen Hände. Irgendetwas in der Art wird passieren, und schon ist ihre wahre Identität gelüftet.«

»Damit können wir uns immer noch befassen, wenn es so weit ist«, sagte ich entschieden. »In der Zwischenzeit bleiben unsere Lippen versiegelt. Wir sprechen in Zusammenhang mit ihr nicht mehr von Mae Bowen, auch nicht unter uns. Wir lungern nicht mehr in der Nähe von Pussywillows herum, in der Hoffnung, einen Blick auf sie zu erhaschen, und wir grinsen auch nicht übers ganze Gesicht, sobald wir sie sehen.«

»Natürlich nicht, Lori, wir sind schließlich keine Bowenisten«, sagte Grant hochmütig. »Du kannst sicher sein, dass Charles und ich in der Lage sind, im Angesicht wahrer Größe Haltung zu bewahren.«

»Betrachten wir es so«, erklärte Charles. »Wir haben die Gelegenheit erhalten, einen Nationalschatz zu bewahren. Ich für meinen Teil werde mich meiner Verantwortung nicht entziehen.«

»Ich werde es Bill sagen müssen«, wandte ich ein.

»Einverstanden.« Grant neigte gnädig den Kopf. »Zwischen Ehegatten sollte es keine Geheimnisse geben. Abgesehen davon könnte sich Bills juristische Sachkenntnis noch als nützlich erweisen.«

»Sehr nützlich sogar«, pflichtete Charles ihm bei. »Wenn es Gesetze gibt, die randalierende Horden von Bowenisten daran hindern könnten, Finch dem Erdboden gleichzumachen, wird Bill ihnen zur Durchsetzung verhelfen.«

»Ich schlage vor, du erörterst die Angelegenheit umgehend mit ihm, Lori«, sagte Grant. »Besser, wir sind vorbereitet.«

»Ich gehe schnurstracks zu Bills Büro«, versprach ich. Ich deutete auf die Broschüren auf dem Schreibtisch. »Darf ich mir die ausleihen? Sie werden mir helfen, ihm die Situation zu erklären.«

»Bedien dich«, erwiderte Charles.

Ich steckte die Broschüren in meine Jackentasche, bückte mich, um Matisse und Goya zum Abschied zu kraulen, richtete mich wieder auf und sah verwirrt zwischen Charles und Grant hin und her.

»Noch eines, bevor ich gehe. Warum habt ihr euch eigentlich von mir einholen lassen? Warum habt ihr mir nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen und Mae ... ich meine Mrs Thistles Geheimnis einfach für euch behalten?«

Die beiden Männer tauschten einen amüsierten Blick.

»Wenn wir dir die Tür vor der Nase zugeschlagen hätten, hättest du sie aus den Angeln gehoben. Die meisten unserer Dorfbewohner mögen lästige Klatschjäger sein, aber du, meine Liebe, bist ein wahrer Pitbull auf diesem Gebiet.«

Ich grinste verlegen, nahm die Bemerkung aber als Kompliment. Es stimmte, ich war hartnäckig wie ein Pitbull, und wenn es sein musste, verteidigte ich mein Revier mit Klauen und Zähnen, etwas, was die Bowenisten zu spüren bekommen würden, sollten sie so töricht sein und in mein Dorf einfallen.

Kapitel 3

IM SELBEN MOMENT, als ich aus dem Crabtree Cottage trat, fuhr der Möbelwagen vor Pussywillows wieder ab. Noch bevor er an mir vorbei und in Richtung Dorfausgang tuckerte, hatte sich die Teestube geleert, und auf dem Dorfanger hatten sich Grüppchen plaudernder Dorfbewohner gebildet. Ich war mir völlig sicher, dass sie sich über Mrs Thistles Möbel austauschten, doch obwohl ich nach ihren detaillierten Beschreibungen lechzte, widerstand ich dem Wunsch, mich zu ihnen zu gesellen, und eilte stattdessen quer über den Dorfanger zur Wysteria Lodge, dem Geschäftssitz meines Mannes.

Bill hatte die alte Wysteria Lodge in eine moderne Anwaltskanzlei verwandelt. Die gewellten Steinfliesenböden hatte er erhalten, ebenso die längs unterteilten Fenster und die knorrige Kletterpflanze, die der Lodge einen rustikalen Charme verliehen. Die Räume hatte er indessen mit den einschlägigen Utensilien seiner Zunft ausgestattet – Regalmeter um Regalmeter juristische Handbücher, meterhohe Aktenstapel und nicht zu vergessen die verschiedenen elektronischen Geräte, die es ihm ermöglichten, von einem bescheidenen Gebäude in einem winzigen englischen Dorf aus seine wohlhabende internationale Klientel zu bedienen.

Da Bills Beruf seine häufige Abwesenheit von zu Hause erforderte, war es mir ein Vergnügen, ihm, wenn er in Finch weilte, von Zeit zu Zeit einen spontanen Besuch an seinem Arbeitsplatz abzustatten. Als ich sein Büro betrat, saß er mit einem angebissenen Apfel in der Hand vor einem eng bedruckten Schriftsatz. Als er mich erblickte, legte er den Apfel weg, kam um den Schreibtisch herum und zog mich zärtlich in seine Arme.

Mein Mann war im Wortsinn ein stattliches Mannsbild – groß, dunkelhaarig und ansehnlich. Als ich ihn kennenlernte, besaß er noch einen stoppeligen Bart und einen Bauchansatz, aber beides hatte er in den ersten Jahren unserer Ehe abgelegt, ebenso wie die schwere Hornbrille, an deren Stelle Kontaktlinsen getreten waren. Natürlich hatte ich Bill auch schon vor seiner Verwandlung geliebt, und das wäre auch so geblieben, wenn er rein gar nichts an seinem Äußeren verändert hätte. Dennoch verspürte ich nicht das Bedürfnis, die Uhren zurückzudrehen.