Tantenfieber - Volker König - E-Book

Tantenfieber E-Book

Volker König

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Beschreibung

Walter Semmler ist extrem kurzsichtig, ein lausiger Bankangestellter, über vierzig, Mutters Söhnchen und Jungfrau. Als sich die geheimnisvoll attraktive und junge Tante Goutiette bei ihm einnistet und so sein streng geordnetes Leben bedroht, steht für Semmler fest: Er muss sie loswerden! Bei dem Versuch stößt der verpeilte Eigenbrötler schnell an seine Grenzen. Kann ihm die nette Frau aus der Bibliothek helfen? Was haben die freundliche Nachbarin oder gar seine Mutter vor? Stimmt mit ihm selbst etwas nicht? Oder steckt hinter all der plötzlichen Unordnung in seinem Leben am Ende doch etwas ganz anderes?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Zitat 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 

17. 

18. 

19. 

20. 

21. 

22. 

23. 

24. 

25. 

26. 

27. 

28. 

29. 

30. 

31. 

32. 

33. 

34. 

35. 

36. 

37. 

38. 

39. 

40. 

41. 

42. 

43. 

44. 

45. 

46. 

47. 

Volker König 

Tantenfieber 

Roman 

Impressum

© Neuauflage Januar 2020 

© 2003 Volker König 

Kämmereihude 14, 45326 Essen 

www.vkoenighome.de 

Bildquelle: pixabay 

Coverdesign: Hanspeter Ludwig 

ISBN der Printversion: 9 783750 403598 

Zitat

Der Fuchs im Hühnerstall 

veranstaltet das gleiche Chaos, 

wie das Huhn im Fuchsbau. 

 

Thomas S. Lutter 

1.

Sechs Beine sind gut. Mit sechs Beinen kann man allerhand anfangen, vor allem dann, wenn an jedem ihrer Enden zwei nadelspitze Krallen sitzen, wenn keines von ihnen eigene Wege gehen will und man es sich in den Kopf gesetzt hat, eine Steilwand zu erklimmen. Der Käfer hatte sich genau das vorgenommen.

Stur kroch er an ihr höher, einem matten Schimmer entgegen. Dieser Schimmer und diese Wand waren zurzeit das Einzige, was ihn überhaupt interessierte. Nicht der aufkommende Wind, nicht der sich verdunkelnde Himmel, nur der Schimmer. Dort oben war bestimmt etwas ganz Tolles!

Der Käfer kantete sich durch einen lächerlichen Zaun. Zumindest sah das, was sein Gehirn aus Tausenden kleiner Bildchen zusammensetzte wie einer aus. Zäune sind egal, Schimmer ist toll. So einfach ist das bei Käfern.

Das Schimmern war jetzt unglaublich nah. Aber da war noch etwas im Wege. Sein rechter Vorderfuß rutschte darauf herum. Das war verteufelt glatt. So weit er langen konnte, war es so glatt, dass es jetzt einen Eintrag in einem Verzeichnis seines Oberschlundganglions erhielt. Und zwar in der Rubrik Wahrscheinlich niemals zu überwinden. 

2.

Das Puzzleteil war grün bis auf einen winzig gelben Tupfen am Rand einer seiner beiden Ausbuchtungen. Man konnte ihn eigentlich nur mit einer Lupe erkennen, oder wenn man sich das Puzzleteil wie Walter Semmler sehr dicht vor die Augen hielt. In diesem Abstand erkannte man dann auch eine feine, blaue Linie, die sich mitten durch ihn hindurch zog. Das war der Hinweis, den Walter Semmler benötigte, und er setzte sich seine schwere Brille zurück auf die Nase. Er drückte das Pappstückchen mit den zwei Aus- und Einbuchtungen mitten in einen großen Baum.

Der Baum war bis dahin seltsam unvollständig gewesen, aber mit diesem grünen Teil, seinem winzigen Tupfen und der feinen blauen Linie darauf geschah eine Verwandlung mit ihm, die ihn genau so perfekt machte, wie ihn Spitzweg gemalt hatte. Walter Semmler strich vorsichtig mit der flachen Hand über seine mit feinen Rillen durchzogene Oberfläche. Für heute Abend sollte es gut sein. Morgen würde er weitermachen. Er hob das Tablett  zusammen mit dem Puzzle darauf vom Couchtisch auf einen Beistelltisch neben seinem Sessel. Dann zog er sich sein Abendbrot vom Rand des Tisches heran: Käsebrote und Kamillentee, dazu eine Papierserviette. Den Tee verfeinerte er mit einem Löffel Honig. Filialleiter Reuter hatte ihm den heute geschenkt. Er drehte den elektrischen Heizlüfter, den er trotz milder Außentemperaturen aufgestellt hatte und der ihm warme Luft in die Hosenbeine blies, eine halbe Stufe höher und grub seine Füße tief in die Pantoffeln. Er drückte die Fernbedienung.

„... darum ist die Zunahme an Unordnung unausweichlich. Die Entropie als Maß für die Unordnung ...“

Semmler wechselte den Sender.

Wettervorhersage. Zeitweilig Regen bei 21 Grad. Nun ja. Morgen würde er einen Schirm zur Bank mitnehmen müssen.

Eine Musiksendung begann. Semmler säbelte mit Messer und Gabel Stücke vom Käsebrot ab, stieß die Brot-Käse-Masse mit der Zunge von der linken in die rechte Mundhälfte und wieder zurück und spülte jeweils mit einem Schluck Kamillentee hinunter. Die Klänge der Sendung schallten durch sein Wohnzimmer. Er genoss den Anblick der Musikanten, wie sie in ihren Dirndln und blütenweißen Hemden vor einer Bauernhauskulisse standen, wie sie mit glasklaren Stimmen von der Schönheit der Welt sangen, ließ sich vom weichen Klang einer Trompete verzaubern und lachte über die kecken Witze der Moderatorin, bis der Tee seinen Tribut forderte. Er tupfte sich die Lippen mit der Papierserviette und stand auf.

Kalt glänzte ihm das weiße Porzellan entgegen. Kalt und sauber, dachte Semmler, während er die Toilettenbrille anhob und dabei den frischen Duft eines Toilettensteines einatmete.

Unausweichliche Unordnung! Sogar ein Wort hatte man dem gegeben: Entropie. Obwohl nur zufällig vorhin aufgeschnappt, geisterte es jetzt durch seinen Kopf.

Er betätigte die Spülung, verfolgte das blau gefärbte Spülwasser, wie es sich mit dem gelben Urin vermischte und dann, jetzt grünlich, im dunklen Loch vor dem Porzellanplateau verschwand. Dann wendete er sich dem Waschbecken zu. Die Hände in den lauwarmen Strahl haltend, konnte er es sich nicht verkneifen, einen intensiven Blick auf seine Zähne im Spiegel zu werfen. Für sein Alter sah das alles noch gut aus.

Er drehte den Wasserhahn zu und trocknete sich die Hände an einem Frotteetuch, das er anschließend sorgfältig über den Halter legte. Dann strich er eine Strähne seines leicht schütteren Haares zurück.

Jetzt war es an der Zeit, eine saure Gurke zu essen. Er machte daher einen Abstecher in die Küche. Im Kühlschrank stand das Gurkenglas an seinem Platz zwischen einer zur Hälfte ausgedrückten Tube Tomatenmark und einem Klotz Käse.

Semmler ergriff eine tiefe Befriedigung. In diesem Kühlschrank, in seiner ganzen Wohnung, ja überhaupt in seinem ganzen Leben war keinerlei Anzeichen von Unordnung oder gar eine unausweichliche Zunahme von ihr zu entdecken. Und das musste auch so sein, denn nur so war sichergestellt, dass er sich auch ohne seine Brille zurechtfinden konnte. Blind sozusagen. Denn das war er dann im Prinzip.

Weitsichtige könnten auch ohne Augengläser selbst in der Wildnis überleben, weil sie eine herannahende Gefahr kommen sehen und so Zeit genug haben, um zu flüchten oder gar Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Wenn Weitsichtige ihre Sehhilfe in der Wildnis aber dabei haben, dann sind sie unschlagbar, denn dann könnten sie sich dort sogar mit ihrer Hilfe ein Feuer anzünden. Kurzsichtige jedoch, und vor allem extrem Kurzsichtige wie Semmler, stehen ohne ihre Brille wie in einem dicken Nebel, aus dem sich viel zu spät eine herannahende Gefahr herausschält. Doch selbst fern der Wildnis, wo es keine angreifenden Bären und keine plötzlich im Wege stehenden Bäume gibt, selbst in der eigenen Behausung, ist ein extrem Kurzsichtiger wie Semmler nur überlebensfähig, wenn er seine Umgebung genau kennt. Er muss ein genaues Bild von ihr in sich tragen und ist ohne ein gutes Gedächtnis aufgeschmissen. Veränderungen sind möglichst zu vermeiden oder rückgängig zu machen. Am einfachsten und sinnvollsten ist es, wenn alles an seinem Platz blieb, und sei es nur ein Gurkenglas.

Knackend gab der Verschluss nach. Eng aneinander gepresst steckten die Gurken darin. Semmler zog an einer. Sie war fest in die anderen verkeilt, und Semmler wunderte sich wieder einmal, wie sie alle dort hineingelangt waren. Nach einiger Mühe gab eine von ihnen nach, und Semmler steckte sie in den Mund, stellte das Glas zurück an seinen Platz, zog den Gummistöpsel aus dem Ausguss und reinigte seine Finger. Bevor er sich der Tür zuwenden und die Küche verlassen wollte, wischte er auf Verdacht mit der rechten Hand über den Tisch. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er einige wenige, wohl winzige Krümel am Handballen spürte, die er sich in die linke Hand fegte, um sie dann ins Spülbecken zu werfen. Er zog den Stöpsel erneut und spritzte die Krümel in die Tiefen der Kanalisation. Während er den Stöpsel zurück drückte, dachte er an Spinnen und anderes Getier, dem der Zugang in seine Welt jetzt wieder versperrte war. Er hasste derartiges Getier, denn es tauchte immer plötzlich auf.

Unwillkürlich blickte er aus dem Fenster über der Spüle. Da draußen lauerten sie alle. Krabbelnd und fliegend, mit emsiger Triebhaftigkeit, unter jedem Stein, jedem Blatt, nur darauf aus, ihn zu bedrängen. Da draußen war Unordnung oder, wie er vorhin gelernt hatte, erhöhte Entropie. Hier drinnen war Ordnung, und die würde er verteidigen, so lange er lebte.

Die Dämmerung setzte ein, und darum mussten die Rollläden geschlossen werden. Eine sehr befriedigende Angelegenheit. Lamelle um Lamelle würde aus dem schmalen Spalt oben vor dem Fenster sinken. Die kleinen Löcher zwischen den Lamellen gäben noch für einige Momente den Blick auf die dämmerige Umgebung frei, bis selbst dieses zerstückelte Muster der Außenwelt mit dem Zusammensacken der Lamellen verschwände. Zuvor musste aber noch ein auf Kipp stehendes Wohnzimmerfenster geschlossen werden. Gerade wollte er sich daran machen, als das Telefon klingelte.

Semmlers Eingeweide verkrampften sich. Wer konnte das sein? Außer seiner Mutter hatte eigentlich nur noch Filialleiter Reuter seine Nummer. Und diese beiden würden ihn nicht um diese Zeit erreichen wollen. Semmler näherte sich klopfenden Herzens dem Wahlscheibenapparat im Flur. Ob etwas mit seiner Mutter passiert war? Einerseits wollte er mit etwas derartig Entsetzlichem gar nicht konfrontiert werden, andererseits wäre es vielleicht gut, wenn er darum wüsste. Zaghaft hob Semmler den Hörer an sein Ohr.

„Hallo?“

Semmler hörte zwei, drei tiefe Atemzüge. Dann wurde aufgelegt. Semmler starrte auf den sanft tutenden Hörer. Vielleicht hat sich jemand nur verwählt, beruhigte er sich und legte den Hörer auf.

Er wendete sich den Rollläden zu. Die Zeit, die ihn der Telefonanruf gekostet hatte, galt es aufzuholen. Es war ein Rennen gegen die Dunkelheit. Noch war es draußen etwas heller als hier drinnen, und so würde das Getier nicht angelockt. Aber in wenigen Augenblicken würde selbst eine kleine Lampe zu einer Attraktion für die da draußen. Er eilte dem letzten Wohnzimmerfenster entgegen. Das stand noch immer auf Kipp! Er hatte es doch vor der Rollladenprozedur schließen wollen. Erst die Fenster zu, dann die Läden runter. So war er immer vorgegangen, das hatte sich bewährt. Was hatte ihn heute davon abweichen lassen? Dieser verfluchte Anruf! Noch bevor Semmler das Fenster schließen konnte, verschaffte sich ein Tier der Nacht nervös flatternd Zugang zu seiner Wohnung. Semmler ließ die Rolllade entgegen seiner Gewohnheit herunter rasseln. Für laute Rollladengeräusche war die Zeit bestimmt überschritten.

Semmler starrte auf die Uhr wie auf ein giftiges Tier. 22:08 Uhr! Er ging zurück zur Toilette. Von dort konnte er einen unauffälligen Blick auf die Nachbarschaft werfen, um zu sehen, ob jemand auf sein Treiben aufmerksam geworden war. Er machte kein Licht, sondern kletterte im Dunkeln auf den geschlossenen Klodeckel, um dann das kleine Fenster zu öffnen. Ein saugendes Geräusch bezeugte die Qualität der Dichtung. Sie musste vor allem bei diesem Fenster sehr gut sein, denn das Toilettenfenster hatte keine Rolllade.

Semmler spähte nach draußen. Feiner Regen wurde herein geweht und besprühte seine Brillengläser. Die kleine Straße lag ruhig da, und selbst die Fenster von Frau Leibisch von gegenüber waren dunkel. Semmler war erleichtert, warf aber noch einen Blick an der Hauswand entlang zu den anderen Fenstern seiner Wohnung. Das Licht der Straßenlaterne brach sich in nach unten gerichteten Stacheln an der Unterkante der Fenster. Dieser Zaun würde sowohl Katze, Marder als auch Wiesel abhalten. Wenn Semmler genau hinschaute, dann konnte er sogar das schmale Metallband erkennen, das ihn vor Ameisen und Schnecken bewahren sollte. Selbst solchen Geschöpfen, wie er eines von ihnen soeben ertappt hatte, blieb normalerweise keine Chance.

Er schloss das Fenster, wischte sich die Brille mit Toilettenpapier trocken, das er geistesabwesend in seine Hosentasche steckte, schaltete den Fernseher aus und alle Lichter ein.

Mit Fliegenklatsche und Handstaubsauger bewaffnet machte er sich auf die Jagd. Sein Blick tastete sich über die großen Flächen der Wohnung. Die Wände, die Decke, den Fußboden, die Tischplatte. Nichts. Dann rutschte Semmler in seiner ausgebeulten Anzughose und mit Pantoffeln an den Füßen auf dem Teppichboden umher und suchte Ecken, Ritzen und Spalten ab. Zunächst blieb sein Stöbern ergebnislos, aber dann erschien das Tier vor seinen angestrengten Augen. Es flatterte bis zu der ganz besonders hellen Lampe mit Porzellansockel auf dem Couchtisch, die durch einen nicht ganz sicheren, weil erschreckten Schlag Semmlers, quer durch das Zimmer fegte und an der gegenüberliegenden Wand neben einem zusammengeklebten Puzzle eines Caspar-David-Friedrich-Gemäldes zerschellte. Semmler verlor durch den Schlag sein Gleichgewicht und konnte den Fall nur dadurch aufhalten, indem er sich auf dem Couchtisch abstützte. Dort erwartete ihn die Gabel.

Der Schmerz folgte mit Verzögerung. Semmler riss die Gabel aus seinem Handballen. Blut drang aus den vier Einstichen. Er fluchte.

Eigentlich hätte er die Wunde sofort versorgen müssen, aber seinen inneren Kampf zwischen medizinischer Notwendigkeit und Invasorenabwehr entschied das Tier, das jetzt unbeeindruckt vor seiner Nase schwebte. Ein Schlag, der den Falter in die Löcher der Klatsche presste, und die anschließende Säuberung mit dem Handstaubsauger bestätigte Semmler in seiner technischen und körperlichen Überlegenheit.

Gerade als er sich dem Badezimmer zuwenden wollte, um seine Wunde zu versorgen, klingelte es an der Tür.

3.

Filialleiter Reuter spürte, wie sich seine Frau näherte, denn er roch ihre Handcreme, ihre Gesichtscreme, ihre Körperlotion. Jeden Abend brachte sie eine Weile im Badezimmer damit zu, sich einzureiben. Wie immer verteilte sie auf den letzten Schritten zum Bett die Reste der Handcreme auf ihren Unterarmen. Die waren inzwischen weich wie ein Babybauch, und manchmal, wenn er sie unbeabsichtigt berührte, konnte er sich davon überzeugen.

„Hast du heute nicht genug telefoniert?“, fragte Iris und verschwand im Schlafzimmer. Die Katze folgte ihr auf dem Fuß.

„Ich wollte nur Herrn Semmler ...“

„Um diese Zeit? Du siehst ihn doch gleich morgen.“

Er hörte, wie sie die Bettwäsche aufschlug.

„Dann könnte es zu spät sein. Er ist aber auch nicht dran gegangen.“

„Ich würde auch nicht mehr ran gehen. Alles, was abends nach halb zehn telefonisch besprochen wird, ist entweder eine Katastrophe, oder es ist Alkohol mit im Spiel. Trifft irgendetwas davon zu?“

Jetzt klopfte sie sich das Kissen zurecht.

„Nein“, sagte Reuter und hatte damit gelogen.

„Dann komm ins Bett“, sagte sie, und Reuter wusste, dass sie eigentlich nicht scharf darauf war.

4.

Der Anruf kurze Zeit zuvor war von seiner Auswirkung auf Semmler verhältnismäßig spurlos geblieben. Jetzt aber waren Semmlers Füße auf ihrem Weg zum Flur verharrt, sein Unterleib wies ebenfalls in diese Richtung, aber der Oberkörper war zur Tür gedreht und sein Blick auf diese geheftet. Dort, hinter jener Holzplatte, keine fünf Schritte von ihm entfernt, musste ein Mensch stehen. Dieser Mensch wollte zu ihm, dieser Mensch wollte hier herein! Auf Semmlers Stirn sammelten sich Schweißtropfen, und sein Atem ging flach. Es klingelte erneut. Das schien seinen Körper zu erweichen. Semmler blickte auf seine Armbanduhr. 22:29 Uhr.

Mit angehaltenem Atem pirschte er sich auf Zehenspitzen an die Tür heran. Es klingelte wieder. Laut und eindringlich. Dann eine Stimme.

„Hallo!“

Eine Frauenstimme! Semmlers Herz dröhnte. Er spürte, wie sich hektische Flecken auf Gesicht und Hals sammelten. Es war schon mehr als ungewöhnlich, dass ihn überhaupt jemand besuchen kam, zudem noch mitten in der Nacht und vor allem unangemeldet. Aber eine Frau? Es klopfte.

„Hallo! Ist da jemand?”

Leise klickte Semmlers Brillenglas gegen den Rand des Türspions. Gegen das Licht der Straßenlaterne hob sich eine Gestalt mit fransigen Haaren und einem mächtig breiten Oberkörper auf spindeldünnen Beinen ab.

„Walter, ich weiß, dass du da bist”, rief die Frau und versuchte, durch die andere Seite des Spions zu blicken.

Semmler prallte zurück. Diese Frau kannte seinen Namen, sogar seinen Vornamen, und der stand nicht auf dem Klingelschild. An die Tür gelehnt drehte er mit der unverletzten Hand den Dimmer der Deckenlampe herunter. Jetzt war von außen kein Licht mehr zu erkennen. Er hatte das überprüft.

Mit aller Macht versuchte er, seinen fliegenden Atem zu kontrollieren, aber das verursachte einen unangenehmen Druck im Kopf.

„Nun sag schon was”, flüsterte von der anderen Seite die Stimme, die zierlich zu dem klang, was Semmler durch den Spion gesehen hatte.

„Ich kann dein Herz klopfen hören.“

Sofort rückte Semmler von der Tür ab.

„Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?“

„Nein“, log Semmler und stopfte sich erschrocken die Faust in den Mund.

„Walter, ich bin es. Deine Tante Goutiette. Mach schon auf. Ich werde ganz nass.”

Tante Goutiette? Er kannte keine Tante Goutiette! Genau genommen hatte er noch nicht einmal eine Tante, wenn er einmal von den Tanten und Onkeln absah, die er lediglich so nannte, weil sie älter als er waren und mit Mutter in irgendeinem freundschaftlichen Verhältnis standen.

„Ich habe keine Tante Goutiette!“, rief er deshalb.

„Hast du doch“, klang es von der anderen Seite.

„Was für eine Art Tante wollen Sie denn sein?“, fragte Semmler.

„Ich bin die Halbschwester deiner Mutter“, tönte es verschnupft durch die Tür.

„Mutter hat keine Halbschwester”, bemerkte Semmler. Blut tropfte aus den vier Einstiche in seiner Hand auf den Fußboden. Er wickelte sein Taschentuch samt dem Stück Toilettenpapier um die Verletzung.

„Und wenn ich dir sage, dass deine Mutter Agnes Semmler, geborene Bender, ist? Glaubst du mir dann?“

„Das könnten Sie irgendwo gehört haben. Auf so etwas falle ich nicht herein. Verschwinden Sie, sonst rufe ich die Polizei!“

Semmler lauschte angestrengt, ob seine Drohung Eindruck gemacht hatte. Doch da war nur das leise Rauschen des Regens.

„Bitte, lass mich doch nicht so betteln. Was sollen denn die Leute denken?”, flüsterte Tante Goutiette von der anderen Seite der Tür, und es folgte ein unterdrücktes Husten. „Behandelt man so eine Dame?“

In Semmler stand irgendetwas unwillkürlich stramm. Nein, Damen behandelte man nicht so. Zumindest er behandelte so keine Damen.

„Aber ich bin überhaupt nicht auf Besuch eingerichtet“, sagte er mit Blick auf den Abendbrotteller.

„Ich komme ja auch gar nicht zu Besuch, ich muss dir eine wichtige Sache erzählen.“

„Du lieber Himmel!“, rief Semmler, denn der blutige Lappen um seine Hand war auf den Fußboden gerutscht.

„Ich gebe ja zu, dass es etwas plötzlich kommt, aber die Dinge entwickeln sich nicht immer so, wie man es will.“

„So ein Unsinn ...“, begann Semmler geistesabwesend und griff nach dem blutigen Lappen.

„Ich habe auch lange überlegt, ob ich dich aufsuchen soll.“

Semmler wickelte das Tuch wieder um die Hand, aber es wollte nicht halten.

„Verdammt!“

„Was ist los?“

„Ach nichts. Ich habe mich nur eben verletzt.“

„Ist es schlimm?“

„Es blutet.“

„Das muss sofort desinfiziert und verbunden werden.“

„Ja, ich weiß. Aber ...“

„... du weißt nicht, wie man das macht, nicht wahr?“

„Eigentlich weiß ich ganz genau, wie man das ...“

„Komm, Walter. Lass mich rein. Ich kann dir bestimmt helfen.“

Semmler nickte. Eigentlich war es ziemlich unerheblich, ob die Frau vor der Tür seine Tante war oder nicht. Da war eine Dame, die an seine Tür geklopft hatte und die nun im Regen stand. Darüber hinaus wollte er das Glück der um weniges verzögerten, aber unentdeckt gebliebenen Rollladenprozedur nicht doch noch verspielen, indem er jemanden vor seiner Tür Radau schlagen ließ. Außerdem konnte sie ihm wirklich helfen.

„Sie müssen mir aber versprechen, dass es schnell gehen wird“, sagte Semmler.

„Aber ja, ich verspreche es.“

So kam es, dass Semmler den Dimmer wieder hoch drehte, die drei Schlösser entriegelte und die Tür öffnete.

„Na endlich”, seufzte Tante Goutiette, als sie tropfnass, eine Parfumwolke hinter sich herziehend, am erstarrten Walter Semmler vorüberrauschte.

Alles an ihr war reizend. Die fransigen Haare waren genauso verschwunden wie ihr breites Kreuz. Semmler gestand sich ein, dass er wohl zu aufgeregt gewesen war und außerdem kaum Erfahrung im Umgang mit seinem Türspionen hatte.

„Zeig mal her!“

Semmlers Erstarrung löste sich und er streckte ihr die blutende Hand entgegen.

„Du lieber Himmel. Das sieht gefährlich aus.“

„Das Badezimmer ist ...“

„... ich weiß“, entgegnete die Frau.

Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ sie ihren durchnässten Mantel auf den Fußboden gleiten. Semmler blickte ihr irritiert nach, als sie mit geradezu unheimlicher Zielstrebigkeit dem Badezimmer entgegen stöckelte. Wie in Trance hob er den Mantel mit spitzen Fingern auf und hängte ihn an den Garderobenständer.

„Das ist ja ganz reizend!“, hörte er sie rufen. „So schön weiß und kühl!“

Sie sah ganz anders aus als seine Mutter. Andererseits sollte sie ja auch nur ihre Halbschwester sein. Semmler setzte sich auf das Sofa.

Die Frau kehrte mit einer Wundkompresse, einer Mullbinde und einem Fläschchen Jodtinktur zurück. Im Übrigen hatte sie sich ein Handtuch um den Kopf gewunden und eine Zigarette angesteckt.

„Du kannst von Glück reden, dass ich da bin“, sagte sie und kniete sich vor Semmler auf den Teppich gerade so, dass der direkt auf ihr Dekolleté blicken musste. Er wendete den Kopf ab. Geschickt verband die Frau seine Hand, die Semmler für die Dauer der Prozedur fremd wurde.

„Wie hast du das denn nur geschafft? Sieht wie die Einstiche einer Gabel ...“

„... es war ein Unfall.“

„Wie dem auch sei. Du bist sicher überrascht über meinen Besuch, nicht wahr, Walter?“

Semmler nickte matt.

„Ich war gerade in der Gegend, und da habe ich mir gedacht: Schau doch einfach mal bei deinem Neffen Walter vorbei … Wie groß du geworden bist! Auf den Bildern warst du noch viel kleiner.“

„Nun ja“, murmelte Semmler, vermied es, sie direkt anzublicken und hatte das Gefühl, als stecke er in seinem Konfirmationsanzug.

„Was müssen Sie ...“

„Walter! Du kannst mich ruhig duzen“, unterbrach die Frau.

„Oh, nun ja … Was müssen … du … mir denn Wichtiges erzählen?“, fragte er.

Sie setzte sich auf das Sofa.

„Sei so gut und bring mir etwas zum Trinken.“

„Ich habe außer Kranwasser aber nur kalten Kamillentee“, stammelte Semmler.

„Lieber Kranwasser“, meinte die Frau.

Semmler ging in die Küche wie jemand, der eigentlich ein scharfes Auge auf ein unternehmungslustiges Hündchen haben müsste. Während er ein Glas füllte, ordneten sich seine Gedanken etwas. Die Frau hielt sich trotz der erwiesenen Hilfeleistung schon viel zu lange in seiner Wohnung auf. Außerdem hatte sie noch nicht seine Frage beantwortet. Er musste energischer vorgehen. Entschlossen kehrte er ins Wohnzimmer zurück.

„Und jetzt erzähle, was du mir ...“

Er blieb abrupt stehen. Ihr Kopf war nach hinten auf die Rückenpolster gesunken, und ihr Mund stand weit offen. Die Arme hingen schlaff herab. Leises Schnarchen ließ die Luft und Semmlers Herz erzittern. Ihre Zigarette musste sie kurz zuvor in einem Käsebrotrest ausgedrückt haben. Noch immer qualmte sie sanft vor sich hin.

„Tante Goutiette“, flüsterte Semmler und musste sich darüber wundern, dass er dieses Verwandtschaftsverhältnis schon hingenommen hatte. Die Tante rührte sich nicht. Nervös nahm Semmler einen Schluck Wasser und setzte das Glas dann fahrig ab. Was sollte er tun? Sie aufzuwecken hatte er nicht den Schneid, aber sie einfach so sitzen zu lassen verbot seine Höflichkeit. Also entschied er sich widerwillig, sie in eine bequemere Position zu manövrieren. Er nahm ein Kissen, legte es neben sie und drückte dann eine zusammengefaltete Decke an die Schulter der Schlafenden, bis sie sacht zur Seite kippte und ihr Kopf auf das bereitliegende Kissen sank. Dann presste er die Decke unter ihre Beine und hob diese damit auf das Sofa. Jetzt lag sie einigermaßen bequem, nur ein Arm steckte leicht verdreht unter ihrem Körper. Aber Tante Goutiette nahm ihm die Lösung dieser heiklen Aufgabe ab, indem sie sich im Schlaf bewegte, bis sie ausgestreckt dalag. Semmler breitete die Decke über ihr aus und verschob seine Fragen auf den nächsten Morgen.

 

Später lag er mit weit aufgerissenen Augen im Bett. Er presste sich den Wecker mit den Leuchtziffern vor das Gesicht und nahm die Stellung der Zeiger mit Beunruhigung wahr. Kurz nach zwei! Immer wieder wälzte er sich von einer Seite auf die andere, zählte Kühe oder die wenigen Autos, deren Scheinwerferlicht durch die Ritzen dieser Rolllade drang und die Zimmerwände in helle und dunkle Streifen verwandelte. Wie konnte die Halbschwester seiner Mutter, die im Wohnzimmer auf dem Sofa laut schnarchte, jünger sein als er selbst? Was hatte sie ihm Wichtiges zu erzählen? Wieso wusste sie, wo sein Badezimmer war, und wie konnte er seiner Mutter das alles erklären? Morgen, nein heute würde sie ihn besuchen kommen. Zwischen diese Fragen wob sich seine Befürchtung, ob er die Tür nach dem Einlass der Tante rechtzeitig verschlossen hatte. Was für ein sechsbeiniges Tier würde ihm morgen früh über den Weg laufen? Oder wie viele davon? In seiner Vorstellung hatten sie das Gesicht von Tante Goutiette, oder war Tante Goutiettes Körper der eines Tieres? Oder der einer Gabel mit Gurkenzinken? Außerdem bildeten die Scherben des zerbrochenen Lampensockels ein kühnes Mosaik vor den rotglühenden Zähnen eines Monsters in Heizlüftergröße. Davor hüpfte ein Hahn auf einem Bein durch wild flatternde, tropfnasse Wäsche. Und während all diese Vorstellungen mehr und mehr miteinander verschmolzen, bis sie ein völlig unlogisches Paket aus Zusammenhängen, Mutmaßungen und Befürchtungen bildeten, hatte Semmler gar nicht bemerkt, dass er eingeschlafen war.

5.

Die Batterie der Nachttischuhr musste kurze Zeit nach seinem Abgleiten in verworrene Traumszenarien die letzte Spannung verloren haben. Seiner inneren Uhr, seinem alles andere als erholsamen Schlaf, aber vor allem einem hellen Gesang hatte es Walter Semmler zu verdanken, dass er aufwachte. Der Gesang vergegenwärtigte ihm den vergangenen Abend und den späten, sonderbaren Besuch.

Sein Rücken, seine Schultern, sein Hals und selbst seine Kaumuskeln waren hart wie tiefgefrorener Fisch. Ächzend richtete er sich im Bett auf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war spät, aber noch nicht zu spät, um halbwegs pünktlich zur Arbeit zu kommen. Er stolperte, dem Gesang folgend, durch die abgedunkelte Wohnung bis zum Badezimmer. Feuchtwarmer Wasserdampf quoll unter der Tür hervor, und der glasklare Gesang mischte sich in das Rauschen der Dusche. Vorsichtig schlich er sich an die Tür heran, presste eine Gesichtshälfte an die feuchte PVC-Beschichtung und lauschte. Der Gesang verstummte. Mit zitternder Hand klopfte Semmler an die Tür. Das Wasser wurde abgestellt.

„Ja?“

„Tante Goutiette?“, sagte Semmler etwas zu leise. Dann räusperte er sich. „Ich muss dringend in das Badezimmer, denn ich bin etwas spät dran.”

„Einen Moment noch, Walter. Ich bin gleich soweit.”

Semmler atmete tief ein. Er fühlte seinen Zeitplan in Gefahr. Um Schlimmeres zu verhindern beschloss er, sein Frühstück vor dem Duschen herzurichten. Er stapfte in die dämmerige Küche.

Die Krümel auf dem Küchentisch hätte er vielleicht noch verkraftet. Aber der weit geöffnete Kühlschrank mit dem ausgelaufenen Tauwasser und – sehr unappetitlich – ein angenagtes Hühnerbein ließen ihn erschauern. Ein Gluckern wie aus einem Lavasee drang aus seiner Brust. Das konnte nur Tante Goutiette gewesen sein! In Anbetracht seines geradezu qualvollen Dahindämmerns während der vergangenen Nacht konnte er überhaupt nicht glauben, dass er hiervon nichts mitbekommen hatte.

Sie hatte wieder zu singen begonnen, aber das ging jetzt in ein Stöhnen über. Semmler erbebte.

---ENDE DER LESEPROBE---