Tanz mit mir! - Lucy Dillon - E-Book

Tanz mit mir! E-Book

Lucy Dillon

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Beschreibung

Let’s Dance!

Wenn es im Leben an Zauber fehlt, kann Tanzen wahre Wunder bewirken. – Davon ist Angelica überzeugt, und entschließt sich daher, nach dem Ende ihrer Karriere als Profitänzerin noch einmal voll durchzustarten, und eine Tanzschule zu gründen. Ihr Motto scheint auch für die Paare aus ihrem Kurs zu gelten: schon bald werden beim Foxtrott neue Freundschaften gebildet, beim Walzer tiefe Blicke ausgetauscht und beim Tango neue Leidenschaften geweckt – und die Schüler lernen, dass ein Wiegeschritt manchmal mehr sagt als 1000 Worte ...

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Inhaltsverzeichnis
 
Buch
Autorin
Widmung
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
 
Epilog
Danksagung
Copyright
Buch
Wenn es im Leben an Zauber fehlt, kann Tanzen wahre Wunder bewirken …
Davon ist Angelica, die ihr ganzes Leben dem Tanzen gewidmet hat, fest überzeugt und entschließt sich, nach dem Ende ihrer Karriere als Profitänzerin noch einmal voll durchzustarten und eine Tanzschule zu gründen. Wie sich bald herausstellt, scheint ihre Lebensphilosophie auch für andere zu gelten. Ihre ersten Schüler sind drei sehr unterschiedliche Paare:
Lauren und Chris stecken mitten in ihren Hochzeitsvorbereitungen. Um auch den Hochzeitswalzer angemessen zu meistern, muss allerdings noch hart gearbeitet werden. Laurens Eltern Bridget und Frank haben zwar ihren Hochzeitstanz schon vor langer Zeit absolviert, sind aber mit den Jahren ein bisschen aus der Übung gekommen. Und dann wären da noch die permanent überarbeitete Stadtplanerin Katie und ihr Mann Ross, der als Hausmann tagsüber die Kinder hütet. Die beiden stecken in einer Beziehungskrise und hoffen, dass ein gemeinsames Hobby sie einander wieder näherbringt.
Im Laufe des Tanzkurses werden beim Foxtrott neue Freundschaften gebildet, beim Walzer tiefe Blicke ausgetauscht und beim Tango neue Leidenschaften geweckt – und auch für Angelica selbst soll sich ihre Lebensphilosophie noch einmal bewahrheiten …
Autorin
Lucy Dillon kommt aus Cumbria, einer Grafschaft im Nordwesten Englands, hält sich aber in letzter Zeit immer häufiger in London auf, wo es einfach die besseren Tanzpartys gibt. Sie hat schon in der Grundschule das Tanzen gelernt und wird seitdem jeden Tag ein bisschen besser. Ihr großer Traum ist es, einmal wie Ginger Rogers Foxtrott zu tanzen. Leider wird sich dieser Wunsch nicht erfüllen, da Lucy Dillon es einfach nicht lassen kann, die Führung zu übernehmen.
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Ballroom Class« bei Hodder & Stoughton, London.
Für meine Mutter; sie hat die wundervollen Beine einer Tänzerin, die ich gerne von ihr geerbt hätte.
Angelica Andrews, die die British Open Ballroom Dancing 1974, 76, 77 und 78 sowie die British Ten-Dance Championships 1977 gewonnen und als Finalistin an den European Ballroom Dancing Championships so oft teilgenommen hatte, dass sie die Male kaum noch zählen konnte, brauchte sich nicht um rostige Schlüssel oder Schlösser zu kümmern.
Selbst ohne die perlenbesetzten Turnierkleider und den schwarzen Eyeliner gehörte Angelica nicht zu der Sorte Frau, die sich die Türen selbst öffnen muss. Für gewöhnlich nahm ihr ein Mann diese Aufgabe ab, der sich schier überschlug, damit sie ungehindert hindurchrauschen konnte. Heute allerdings war weit und breit kein Mann in Sicht. Außerdem öffnete der Schlüssel, mit dem sie im Schloss herumstocherte, nicht nur eine simple Tür, von der die Farbe abblätterte, sondern vielmehr die Tür zu ihrer Kindheit – bevor sie tanzen konnte, bevor sie schön war, ja bevor sie überhaupt »Angelica« war.
Dies war ganz gewiss kein Augenblick, in dem ihr eine Begleitung angenehm gewesen wäre. Daher biss sie die Zähne in einsamer, aber majestätischer Erhabenheit zusammen und rüttelte am verrosteten Türschloss der Longhampton Memorial Hall.
»Verdammt!«, fauchte sie, als ihr dabei ein dunkelrot lackierter Nagel einriss. Mrs. Highams Aussage zufolge, die gut und gerne dem ersten Kuratorium der Memorial Hall von 1921 angehört haben könnte, musste man für das Schloss »ein wenig Geschick« haben. Wie dieses »Geschick« aussehen sollte, hatte sie aber leider nicht näher beschrieben. Mrs. Higham hatte ihr den Schlüssel mit argwöhnischer Miene überreicht, obwohl Angelica nicht nur über die Erlaubnis verfügte, am folgenden Abend einen Tanzkurs zu leiten, sondern sich auch noch sehr lebhaft daran erinnern konnte, wie Mrs. Higham vor fünfzig Jahren immer ihre segelohrige Tochter Vanessa vom Tanzunterricht abgeholt hatte. Schon damals hatte sie stets den Eindruck erweckt, außergewöhnlich argwöhnisch zu sein.
»Du bist also zurück, Angela«, hatte sie mit einer erbitterten Genugtuung festgestellt, als Angelica unterschrieben hatte. Es klang, als hätte sie dreißig Jahre lang darauf gewartet, sie mit diesen Worten zu begrüßen.
Angelica hatte sich vergewissert, dass sie mit »Angelica Andrews« und nicht »Angela Clarke« unterzeichnet hatte. Sie war zwar zurückgekehrt, aber sie war nicht mehr die gleiche Person wie früher.
In einem letzten Anlauf, der einen feinen Staubschleier auf ihrer edlen Wolljacke zurückließ, schaffte sie es endlich, die schwere Eingangstür aufzustoßen, und betrat den gefliesten Vorraum. Hier hatte sich nichts verändert. Seit sie wieder nach Longhampton gezogen war, hatte sie ein paar Mal die freitäglichen Tanzabende besucht, doch da war die Halle mit Menschen gefüllt gewesen; mit modernen Menschen, die das Gebäude fest an die Gegenwart knüpften. Jetzt jedoch war sie allein hier und hatte das Gefühl, sich auf eine Zeitreise in die Vergangenheit zu begeben – in ihre Vergangenheit, die im Inneren des Tanzsaals ungeduldig mit den Fingern trommelte und sie mit einigen Erinnerungen in sprödem Schwarz-Weiß, anderen wiederum im knalligen Farbglanz der Achtzigerjahre erwartete.
Angelica schloss die Augen und atmete den Geruch ein, der sie mit einem Schlag in die Fünfziger- und Sechzigerjahre zurückversetzte: Bohnerwachs und Holzvertäfelung, Schmutz und Staub von der Straße, die sich im Laufe von Dekaden festgetreten hatten. Wenn man das Licht herunterdimmte und einen Langsamen Walzer auflegte, hatte Angelica in der Memorial Hall schon immer das Gefühl gehabt, in eine andere Zeit versetzt zu werden.
Genau wie jetzt, dachte sie und lauschte dem sachten Scheppern der uralten Rohrleitungen. Fast spürte sie die weiten Satinröcke im Dunkeln vorbeirauschen, und in jedem Knarren der hölzernen Dachbalken schwang ein »Darf ich bitten?« mit, das als Echo aus den düsteren Dreißigerjahren widerhallte.
Angelica öffnete wieder die Augen und ließ den Blick über die Eichenholztafeln wandern, die an die Bewohner Longhamptons erinnerten, die im Krieg gefallen waren, über die geschwungenen Schmuckschnitzereien und Knäufe sowie über den Fries aus gemalten Moriskentänzern und Tänzerinnen in festlichen Gazekleidern, die mittlerweile verblasst waren wie alte getrocknete Blüten. Das Fensterglas in den Türen, die den Vorraum mit dem Haupttanzsaal verbanden, war von Spinnweben überzogen. Obwohl der Saal immer noch genutzt wurde, schien er ohne die Musik, mit den übereinandergestapelten Stühlen und den Hinweisen zu den Brandschutzbedingungen in einen tiefen Dornröschenschlaf gefallen zu sein. In ihrer Erinnerung hörte Angelica schmetternde Hörner, die flotten Streicher einer Tanzkapelle und den widerhallenden Shuffle-Rhythmus der Snares, gespielt mit einem Jazz-Besen.
Es war fast wie ein Déjà-vu-Erlebnis, und ein unheimliches Gefühl beschlich sie – ihre Vergangenheit wurde wieder lebendig, nachdem sie viele Jahre lang so getan hatte, als hätte es sie nie gegeben.
Musik besaß die Kraft, Erinnerungen wachzurufen. Angelica hatte stets den Eindruck gehabt, den Geist der Vergangenheit zu spüren, wenn sie zu Musik tanzte, die Jahre vor ihrer Geburt aufgenommen worden war. Wenn man sich zu dieser Musik bewegte, teilte man den freudigen Schauer mit allen zaghaften Männern und erwartungsvollen Frauen, die genau das Gleiche, am selben Ort, an den gleichen lauen Sommerabenden oder kühlen Herbsttagen wie heute erlebt hatten. Die Welt mochte sich immer weiter um ihre Achse drehen, doch die Schritte und Kombinationen, das Führen und Folgen, blieben gleich.
Angelica ließ sich auf der Bank nieder, auf der sie schon als Sechsjährige gesessen und eifrig ihre roten Ballettschuhe angezogen hatte. Sie kramte aus ihrer Tasche die roten abgenutzten, aber butterweichen Schnürschuhe mit der Ledersohle hervor, die sie zum Unterrichten trug. Selbst jetzt noch wollte sie den Schwingboden nicht mit ihren Straßenschuhen betreten.
Wenn sie sich schon auf den Weg in die Vergangenheit machte, dann wenigstens in den richtigen Schuhen.
Als sie mit den Füßen in die Tanzschuhe schlüpfte, fiel ihr Blick auf die Verbindungstüren. Sie spürte die Gänsehaut auf ihren gebräunten Armen. Wenn sie die Türen gleich aufsto ßen würde, würden dann die Geister der Vergangenheit dort tanzen und sie missbilligend empfangen?
Mrs. Trellys zum Beispiel, die erste Ballettlehrerin, mit ihrem Gehstock und der alten Geschichte, wie sie beinahe zum Kirow-Ballett nach Russland gegangen wäre, und ihren scharfen Worten über kleine Mädchen mit rrrrrrrrunden Schultern.
Oder der süße, aber schwerfällige Bernard, ihr erster richtiger Tanzpartner. Mit zurückgegelten Haaren und leuchtend roten Ohren wartete er im Frack seines Vaters ein wenig unbeholfen darauf, dass sie vielleicht doch noch ihre Meinung ändern würde.
Womöglich aber auch ihre Eltern, die nun im großen Tanzsaal des Himmels wieder miteinander vereint waren, wo nur klassische Walzer gespielt wurden und wo die Hochsteckfrisur ihrer Mutter bis zum letzten Tanz hielt.
Angelica schluckte und wurde starr.
Ob Tony wohl auch dort sein würde? Mit seinen verführerischen Latinoaugen und den Hosen, die für einen Tanzwettbewerb viel zu eng saßen? Der ihr seine Hand entgegenhielt und sie auf eine sehr altmodische Art und Weise zum Tanz aufforderte, die jedem anderen zwar überaus galant erschien, für sie aber unerträglich aufregend und quälend anmutete?
Sie schloss die Augen und ließ sich von einer Welle aus Sehnsucht, Bedauern und immer noch schmerzlicher Enttäuschung fortreißen. Sie hatte diese Gefühle jahrelang von sich ferngehalten, so, wie sie ihr Leben lang alle starken Gefühle unter ihrem professionellen Lächeln einer Tänzerin verborgen hatte. Doch nun, da sie nach Longhampton zurückgekehrt war, waren diese Gefühle mit der ganzen verstörenden Macht eines Todesfalles zurückgekehrt.
Gott allein wusste, wo Tony war. Doch in ihrer Phantasie würde er immer fünfunddreißig Jahre alt und sein Haar so rabenschwarz wie seine polierten Schuhe bleiben, und sie beide wären immer kurz davor, entweder sich zu streiten oder unter wilden Küssen ins Bett zu fallen.
Angelica schob die Erinnerungen beiseite und erhob sich von der Bank. Sie holte tief Luft und stieß die massiven Holztüren auf, in die ab Hüfthöhe etwa sechzehn kleine Fensterscheiben eingearbeitet waren, durch die man schon beim Anziehen der Schuhe einen Blick auf die Tänzer erhaschen konnte, während der eigene Puls in die Höhe schoss und die Füße darauf brannten, sich dem Tanz anzuschließen. Das Glas reichte aus, um sehen zu können, ob der eigene Mann mit einer anderen Dame tanzte oder ob sich die Tanzfläche leerte für ein Pärchen, das mit neuen Schritten prahlen wollte.
Angelicas Schritte hallten über den wunderbaren Holzboden. Der Schwingboden aus Ahorn – wie in den feinsten und besten Tanzsälen, in denen sie getanzt hatte – war ein Juwel der Vollkommenheit, das man in einer solchen Stadt wirklich nicht erwartet hätte. Angelica legte den Kopf in den Nacken, betrachtete die Dachbalken und die kunstvollen Friese an der Wand, deren Farbe an manchen Stellen verblasst und hier und da abgeblättert war, die aber immer noch prachtvoll anzusehen waren. Alles war immer noch so magisch wie in ihrer Erinnerung, sogar mehr noch, da dieser Eindruck die lange Zeit überdauert hatte. Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ihre Mutter, ihr Zuhause in der Sydney Street war gleich um die Ecke, oft davon erzählt, wie die Memorial Hall einem herrlichen Pilz gleich hinter Longhamptons glanzloser High Street aus dem Boden geschossen war. Obwohl es Angelica damals schwergefallen war, die Beschreibungen ihrer Mutter mit dem Beton, über den sie ging, in Einklang zu bringen, so hatte sie damals doch inständig an den früheren Glanz und die Pracht glauben wollen.
Schon lange vor der Jahrhundertwende kam man den Angaben ihrer Mutter Pauline zufolge freitagabends zum Tanzen nach Longhampton, dieser alten Marktstadt, Zentrum des gesellschaftlichen Lebens für die Bauernhöfe und Dörfchen der Umgebung. Longhampton verfügte über eine Markthalle, die auch für Tanzveranstaltungen genutzt wurde, sowie über eine eigene Musikkappelle. Als jedoch die Mehrheit der männlichen Bevölkerung Longhamptons während des Ersten Weltkrieges an die Front musste, fanden keine Bälle mehr statt. Nach Ende des schrecklichen Gemetzels hatten die Einwohner Longhamptons, die dank ihrer Mostmühlen damals recht gut situiert waren, ihr ganzes Geld zusammengetragen, um statt eines bedrückenden, düsteren Ehrenmals für die Toten eine Memorial Hall zu bauen, da die Ehemänner und Söhne der Stadt in glücklicheren Tagen stets gern getanzt hatten. So wurde die baufällige, alte Markthalle abgerissen und an der gleichen Stelle die herrliche Memorial Hall errichtet mit ihren schmiedeeisernen Heizkörpern und ihren bunten Glasfenstern, die ein vielfarbiges Lichtermeer auf den polierten, glänzenden Boden warfen. Der Schwingboden war von Lady Eliza Cartwright gestiftet worden, für die Angelicas Großtante Martha gekocht hatte. Lady Elizas Ehemann, Sir Cedric, war ein begeisterter Anhänger des Reels gewesen, eines schottischen Volkstanzes, und hatte bei Weihnachtsfeiern sogar mit den Bediensteten getanzt. Doch er war während des Ersten Weltkrieges am ersten Tag seines Einsatzes in Ypern gefallen, und Lady Eliza, nun Witwe mit drei kleinen Töchtern, hatte über Nacht schlohweiße Haare bekommen, wie Martha immer nach ein oder zwei Sherrys traurig erzählte hatte. Lady Eliza verkaufte seine von Hand gefertigten Jagdgewehre, überreichte den Gewinn der Stiftung und setzte sich für das Freiwilligenkomitee der Witwen ein, deren Leitung sie schließlich übernahm und die sich mit vollen Terminkalendern über ihre Trauer hinwegtrösteten. Lady Cartwright war eine der Tänzerinnen, die auf dem bunten Glasbild gleich neben der Tür abgebildet war. Ihr blondes Haar wehte, während sie sich als Mutter der drei Musen mit der kleinen Clementine, Ada und Felicity um sich drehte. Auch achtzig Jahre später war sie immer noch hier und hielt die blassen Arme im Tanz fest um ihre Töchter geschlungen.
Angelica trat vor, um sich das Bild der Cartwrights anzusehen. Genau so hatte sie sie in Erinnerung gehabt, obwohl die Farben im Laufe der Zeit ein wenig verblasst waren. Angelica hatte Adas rechten Fuß als Orientierung beim Einüben der Pirouetten genutzt. Sie hatte sich darauf konzentriert, sich gedreht und dann den Fuß mit den Augen wieder gesucht, um die Balance nicht zu verlieren. Auf eine Art und Weise hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass Ada am Unterricht teilnahm, obwohl »das arme Mädchen« während der Grippeepidemie 1919 im St. Mary’s Hospital gestorben war, als die Fensterbilder noch als Skizze am Zeichenbrett des Zeichners hingen.
Während der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre hatten die Witwen in der neuen Memorial Hall mit ihren Töchtern tanzen müssen. Eine ganze Weile lang hatte sich der Céilidh, ein irischer Volkstanz, großer Beliebtheit erfreut. Bei diesem Tanz fiel es nicht so schwer, die Rolle des Mannes zu übernehmen, da er eher einer atemlosen körperlichen Leibesübung ähnelte als einem romantischen Tanz. Als jedoch die Söhne so groß geworden waren, dass sie mittanzen konnten, nahm man die Tradition der Ballnächte wieder auf. Es wurde sogar extra aus Europa eine Spiegelkugel importiert, die über Foxtrotts und rasanten Quickstepps funkelte – insbesondere, als während des nächsten Krieges die feschen GIs im Stützpunkt am anderen Ende der Straße stationiert wurden.
Gegen Ende der Fünfzigerjahre – Angelica konnte sich noch selbst daran erinnern, vor allem an das schiere Entsetzen ihres Vaters – erklang drei Mal pro Woche Rock’n’Roll in der Memorial Hall und lieferte sich einen erbitterten Kampf mit den eingefleischten Balltänzern um ein alternatives Angebot für den Freitagabend.
Longhamptons Leidenschaft für einen schwungvollen Rhythmus war tief verwurzelt und hielt lange an. Selbst als der Punk in London grassierte, zog es immer noch Paare in ihren besten C&A-Klamotten in die Memorial Hall, um dort am Freitagabend das Tanzbein zu Walzer und Foxtrott zu schwingen. Modetrends brauchten lange, bis sie das Zentrum des Nichts erreichten, und abgesehen davon gab es außerdem kaum etwas anderes zu tun. Angelica hatte Longhampton zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen, doch ihre Mutter berichtete ihr in ihren Briefen von dem Erfolg, den die örtliche Tanzformation hatte, und darüber, dass sich der Gruppentanz allmählich wieder größerer Beliebtheit erfreute. All dies schien ihr damals wie aus einem anderen Leben zu stammen. Sie war in der Zwischenzeit ein Star des professionellen Turniertanzes geworden; sie trat auf den glänzenden Parketts der Welt auf, unter der rot-goldenen Pracht des berühmten Tower Ballrooms in Blackpool, England, in der Lounge von Kreuzfahrtschiffen, auf Nachtclubbühnen, glitzernd und funkelnd wie ein farbenfroher, herausgeputzter Pfau, der sich in etwas anderes verwandelte, sobald die Musik anhob.
Wenn Angelica in jenen Tagen nach ihrer Herkunft gefragt wurde, behauptete sie für gewöhnlich, aus London zu stammen. Und in gewisser Hinsicht stimmte es auch tatsächlich, denn dort wurde sie Angelica und ließ die Vergangenheit der kleinstädtischen Angela zurück wie ein altes Kleid, das man nicht mehr anzog. Wer interessierte sich schon für Longhampton? Sie ganz gewiss nicht.
Nun war Angelica jedoch zurückgekehrt, und sie war sich nicht sicher, ob sie die Vergangenheit noch einmal so einfach abschütteln konnte. Als sie eines Abends das Lokalblatt im stillen, einsamen Haus ihrer Mutter überflog, sah sie, dass es hier an zwei oder drei Freitagen im Monat einen Tanzabend gab. Sie nahm an, dass der Promi-Tanzwettbewerb »Strictly Come Dancing« im Fernsehen nicht ganz unschuldig daran war. Natürlich hatte sie einen dieser Tanzabende besucht – wie hätte sie der Versuchung widerstehen können? – und war erstaunt gewesen über das Niveau, selbst gemessen an ihren hohen Anforderungen. Natürlich entsprach es in keiner Weise dem Standard eines Tanzturniers, doch es bewegte sich auf einem Amateurlevel, bei dem man sich gleichzeitig nett unterhalten und tanzen konnte, ohne dabei ramponierte Zehen zu riskieren. Allerdings waren ausschließlich ältere Semester zugegen, kaum Jugendliche.
Du gehörst nun auch schon zum älteren Semester, erinnerte sich Angelica. Bald bekommst auch du ein Seniorenticket für den Bus.
Angelica konnte sich diesen Scherz erlauben, da ihr Aussehen keinesfalls ihrem Alter entsprach – bei Weitem nicht.
Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass man sich immer weiter verbessern wollte, wenn man einmal mit dem Tanzen begonnen hatte. Daher gab sie eine Anzeige in der Zeitung auf und warb für ihre eigenen Tanzkurse, Standard und Lateinamerikanisch. Sie wollte in jenem Saal unterrichten, in dem sie selbst als Dreikäsehoch inmitten der pausbäckigen, pummeligen Mädchen Longhamptons Stepptanz und das Plié, die Ausgangsform des Balletttanzes, gelernt hatte. So stand sie nun in der Memorial Hall. Am nächsten Tag sollte die erste Unterrichtsstunde stattfinden.
Angelica nahm sich einen Besen, fegte den Staub vom Holzboden und musste lächeln, als sie an die hinreißende, junge Angelica mit ihrem zurückgegelten Haar und den falschen angeklebten Wimpern à la Dusty Springfield dachte. Damals hätte sie es grauenhaft gefunden, ausgerechnet hierher zurückzukehren und blutigen Anfängern einen Tanzkurs anzubieten, wo sie doch ihr Leben genießen und von den Unterhaltszahlungen ihres Exmannes in Islington leben konnte. Sie hätte es sich im Leben nicht vorstellen können, Leute zu unterrichten, die nicht einmal wussten, dass sie fast zwanzig Jahre lang die eine Hälfte eines der besten Profi-Tanzpaare Großbritanniens gewesen war. Leute, die sich weder an die damalige Tanzturnier-Sendung »Come Dancing« auf BBC erinnern konnten noch an den tosenden Applaus im Ballroom Tower bei ihren regelmäßigen Auftritten dort, wenn sie und Tony wie zwei Schwalben über das Parkett segelten.
Angelica zuckte mit den Schultern und fegte weiter, während sie unbewusst im Gleichschritt immer wieder einen Schritt zurückging, die rot beschuhten Füße gleichmäßig überkreuzte und sich dabei bemühte, nicht der Versuchung zu erliegen, sich in Erinnerungen an Tony zu ergehen.
Vor einem Glasgemälde, das eine etwas ältere, korpulente Dame zeigte, die weniger ansehnlich war als Lady Cartwright, verharrte sie kurz. Die arme Mrs. Dollis Fairley hatte schon immer eher so ausgesehen, als sei sie eher in einen dicken Verband eingehüllt als in ein griechisches Gewand. Im Stepptanzunterricht hatte man sich stets über sie lustig gemacht und sie nur als die »Mummy« bezeichnet. Angelica war überrascht, dass sie nun angesichts der Trauer, die von dieser Frau ausging, einen Anflug von Mitleid verspürte.
Angelica bot den Tanzkurs aus demselben Grund an, aus dem sie auch in die Sydney Street zurückgekehrt war. Nachdem Mum nun auf dem trostlosen Friedhof am Rande der Stadt neben Dad beerdigt worden war, hatte es eigentlich keinen Grund gegeben, ihre Rückkehr nach London noch hinauszuzögern. Nun gut, das Reihenhaus ihrer Mutter musste ausgeräumt werden, doch damit hätte sie auch jemanden beauftragen können. Nein, sie hatte plötzlich gespürt, dass sich ein Teil ihrer Vergangenheit – und damit auch ein Teil ihres Wesens – in Longhampton befand, mit dem sie niemals wirklich abgeschlossen hatte und dem sie nun nicht mehr länger entfliehen konnte.
Außerdem unterrichtete sie gerne, insbesondere, seitdem sie das Alter ein wenig milder und nachsichtiger hatte werden lassen. Es fiel ihr schwer, mit vollkommen unfähigen Schülern zurechtzukommen, und sie würde auch keine Schüler dulden, die nicht zuhörten oder nicht übten oder die blau äugig waren und es allein auf den Glamour des Tanzes abgesehen hatten. Doch sie freute sich schon jetzt auf den Moment, in dem es in den Köpfen ihrer Schüler Klick machen, sich alles zu einem Tanz zusammenfügen und ein Paar bemerken würde, dass es völlig in der Musik aufgehen und sich zusammen bewegen konnte, ohne dabei ständig über Schritte nachdenken zu müssen.
Musik war und blieb letztlich Musik – hier übte sie den gleichen Zauber aus wie im Tanzsaal des Ritz. Der Augenblick, wenn sich plötzlich die Füße wie von selbst zu bewegen schienen und sich der Tanz, die Musik und der Moment zusammenfügten und einen vorwärts über das Parkett trieben wie das Segel eines Bootes, das vom Wind aufgebläht wurde – das war einfach wunderbar anzuschauen. Es war fast lohnender, Anfängern dabei zuzuschauen, wie sie sich unter ihrer Anleitung verwandelten und verbesserten, als die bissigen, wetteifernden professionellen Tanzpaare zu unterrichten, wie sie es in den letzten Jahren in London getan hatte.
Wenn sie sich dazu hatte aufraffen können. In letzter Zeit war es ihr immer schwerer gefallen.
Angelica lehnte den Besen an den alten Heizkörper. Auch das war etwas, was die alte Angelica niemals für möglich gehalten hätte – dass sie vielleicht eines Tages die Lust am Tanzen verlieren könnte und dass der Grund ein anderer war als ihr schmerzender Nacken. Vielmehr gab sie ihrem Herzen die Schuld, das anscheinend allen Elan verloren hatte, und nicht etwa den steifen Knien. Und Angelica hasste es, etwas nicht mit ganzem Herzen zu tun. Sie seufzte und ermahnte sich, dass es nur eines gab, das noch schlimmer war als eine bewegte Vergangenheit, nämlich, überhaupt keine Vergangenheit zu haben.
Sie schloss die Augen, summte die ersten Takte von »Let’s Face the Music and Dance« und tanzte einen rasanten Quickstepp durch den Saal, bei dem ihre Füße sich rasch, aber dennoch sicher und graziös bewegten und ihre Arme scheinbar schwerelos balancierten – der eine ruhte auf einer unsichtbaren Schulter, der andere ragte in die Höhe, während sich ihr Kopf anmutig zuerst nach links beugte, bevor er sich wie eine Feder im Wind nach rechts wiegte, während Angelica innehielt.
Und obwohl sie den Tanz in ihrer Phantasie mit Bernard begonnen hatte, war wie immer in der zweiten Strophe Tony hinzugekommen und hatte übernommen, woraufhin ihre Schritte gleich viel geschmeidiger geworden waren.
1
Siebzehn: Als ich wieder arbeiten gegangen bin, haben wir uns darauf geeinigt, dass Ross die Kinder gebadet und ihnen die Schlafanzüge angezogen haben soll, wenn ich abends nach Hause komme, damit wir sie gemeinsam ins Bett bringen können. Aber neun von zehn Malen laufen sie um diese Zeit noch munter herum, was meiner Meinung nach total unfair ist, weil ich mich dann wieder darum kümmern muss und als die gemeine, herumbrüllende Mutter abgestempelt werde, bevor ich überhaupt meinen Mantel ausgezogen habe. Achtzehn: Er putzt nie das Bad. Ich weiß, es mag vielleicht kleinlich klingen, aber es bedeutet schlichtweg, dass ich immer erst aufräumen und saubermachen darf, bevor ich es betreten kann. Und abends bin ich dafür einfach zu müde und erledigt. Neunzehn: Er gibt mir das Gefühl, seine Mutter zu sein. Vielleicht auch seine Schwester, aber ganz bestimmt nicht seine Ehefrau.«
Stille.
Katie schaute von ihrem Notizbuch auf. Vielleicht war der letzte Punkt ein wenig übertrieben. »Aber seine Beine sehen recht ordentlich aus für jemanden, der nicht ins Fitnessstudio geht«, gestand sie.
Ross und der Paartherapeut saßen auf ihren Stühlen und reagierten nicht. Katie verspürte einen unwillkommenen Anflug von Enttäuschung und Frustration; dieses Gefühl bekam sie immer, wenn ihr Team im Büro nicht auf dem Laufenden war. Sie hasste sich dafür, aber andererseits: Was sollte sie hier, wenn sie sich nicht mehr über Ross’ chronische Passivität aufregen durfte?
Bevor sie ihre Zunge hüten konnte, platzte es aus ihr heraus. »Hören Sie, wir sind doch hier, um alles auszudiskutieren, oder?«, blaffte sie den Eheberater an. »Sie haben uns doch aufgetragen, eine Liste aufzustellen mit allen Dingen, die bei uns nicht funktionieren!«
»Eine Liste«, murmelte Ross. »Und keinen verdammten Roman!«
Peter, der Eheberater, rührte sich. »Nun ja, es ist gut, einmal alles offen zur Sprache zu bringen. Lassen Sie uns nun aber zu Ihrer Liste mit den positiven Dingen kommen, die Sie in Ihrer Ehe glücklich machen.«
Katie blätterte die Seite um und schluckte. »Erstens: Ross ist ein toller Vater. Zweitens: Wir haben ein schönes Haus. Drittens …« Sie hielt das Notizbuch höher, damit Ross nicht sehen konnte, dass sie nur drei Punkte für diese Auflistung gefunden hatte. Ross hatte sie bei dem Punkt, er sei ein toller Vater – was sie fairerweise wirklich zugeben musste -, mit großen Augen angestarrt und hätte sie am liebsten umgebracht, wenn Blicke töten könnten. Manchmal wünschte sie fast, er möge es doch endlich tun. Alles war besser als diese langweilige Vorhersehbarkeit, die ihre Ehe so langsam zu einer Art Bruder-Schwester-Beziehung geraten ließ.
Katie Parkinson wusste nicht mehr, welche Eigenschaften ihrer Ehe sie noch glücklich machten. Sie hatte hart gearbeitet, um alles zu erreichen, was sie für ein glückliches Leben zu brauchen glaubte – einen anständigen, treuen, gut aussehenden Mann, ein großes Haus mit Garage, einen Job, für den sie von dem besagten hübschen Haus aus nicht weit fahren musste, zwei wunderbare Kinder – und alle schienen glücklich zu sein, mit Ausnahme von ihr selbst. Sie hatte all ihre Hoffnungen auf den Therapeuten gesetzt, dass er herausfinden würde, was nicht stimmte, und das Problem dann beheben könnte (oder bestätigte, dass es nicht mehr wiedergutzumachen war), doch bis dato hatte er höchstens verdrießlich genickt, während sie beide verlegen auf ihren Stühlen herumgerutscht waren.
Ross schaute zu ihr herüber. »Das ist alles?«
»Drittens«, fuhr sie fort, »wir haben zwei wundervolle Kinder. Sie machen mich glücklich.«
Ross nickte zustimmend und wollte es damit, wie immer, allen recht machen.
Er erinnert mich an einen Cockerspaniel, dachte Katie und wünschte sich, er würde sie, wie früher, noch an einen echten Kerl erinnern. Ein schokoladenbrauner Cockerspaniel mit Schlappohren, treu-doofem Hundeblick und großen Füßen.
»Ja, die haben wir«, erklärte Ross dem Therapeuten. »Jack ist gerade zwei geworden, und Hannah ist vier. Die beiden sind wirklich zauberhaft. Aufgeweckt, lieb und fröhlich.«
»Womit er mal wieder andeuten will, dass mir das nicht auffällt, da ich eine Vollzeitstelle habe, doch mir ist es aufgefallen.« Katie konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Jetzt hör schon auf, dich wie eine dumme Kuh zu benehmen! »Ähm, viertens«, improvisierte sie geschwind, um ihr Verhalten wiedergutzumachen, »Ross hat sich wirklich viel Mühe mit dem Garten gegeben. Wir wollen uns vielleicht einen Wintergarten anschaffen, wenn ich dieses Jahr befördert werden sollte. Diese unmenschlich langen Arbeitstage im Stadtplanungsamt haben durchaus auch einen Vorteil, Ross – ich weiß, wie man einen Antrag für eine Baugenehmigung stellt!«
Ihre Bemerkung – eigentlich als Witz gemeint – klang bissiger, als Katie beabsichtigt hatte.
Ross und Peter lächelten nicht. Katie ließ sich auf den harten Plastikstuhl zurückfallen.
Es gibt keine Probleme, nur Lösungen, ermahnte sich Katie. Bei der Arbeit war dies ihr Motto. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fragte sie sich, ob dieser Spruch womöglich nicht ganz der Wahrheit entsprach.
»Ross?«, hakte Peter nach und wandte sich mit freundlicher Miene Katies Ehemann zu. »Warum lesen Sie uns nicht Ihre Liste vor? Lassen Sie uns ruhig dieses Mal mit den positiven Aspekten beginnen.«
Ross warf Katie einen bösen Blick zu und holte ein Blatt Papier hervor. »Okay. Wir haben das Beste aus unserer Situation gemacht – als die Kinder zu Welt kamen, haben wir nachgerechnet und herausgefunden, dass die Kinderbetreuung mehr kosten würde, als ich damals verdiente.« Er sah zu Peter hinüber. »Ich bin Grafikdesigner. Ich war freiberuflich tätig und bin eigentlich ganz gut zurechtgekommen, aber na ja, Sie wissen ja, wie viel Kindertagesstätten heutzutage kosten. Katies Stelle hatte weitaus bessere Zukunftsaussichten, und sie verdient doppelt so viel wie ich …«
Wenn du dir nur die Mühe gemacht hättest, dich um Aufträge zu kümmern …, dachte Katie und schaffte es dieses Mal, ihre Gedanken für sich zu behalten.
»… deswegen schien es sinnvoll zu sein, dass ich zu Hause blieb. Ich denke, eine Ehe muss schon ziemlich belastbar sein, damit sie einen solchen Rollentausch aushält, aber es funktioniert. Jedenfalls was mich betrifft«, fuhr Ross fort und zuckte gekränkt die Schultern. »Und die Kinder scheinen auch glücklich zu sein.«
»Nein, Ross, es funktioniert eben nicht! Warum sind wir sonst hier?«, protestierte Katie. Typisch Ross, den Kopf mal wieder in den Sand zu stecken! »Vielleicht ist es für die Kinder okay, aber nicht für uns beide! Du kannst nicht einfach ignorieren, dass wir beide uns nur noch darüber unterhalten, wer die Kinder zur Schule bringt oder welche Rechnungen beglichen werden müssen! Und außerdem …«
Katie hielt plötzlich inne. Vielleicht sollten sie ihr nicht mehr vorhandenes Liebesleben für die nächste Sitzung aufsparen.
»Bist du jetzt fertig?« Ross schien verärgert zu sein.
»Ja.«
»Sprechen Sie ruhig weiter, Ross«, ermunterte ihn Peter, als sei er solche Zankereien gewöhnt. »Es ist gut, wenn diese Dinge alle einmal thematisiert werden.«
Katie fragte sich, wie Peter das alles hier nur ertragen konnte und wie er es schaffte, immer wieder einen positiven Aspekt zu entdecken.
»Zweitens: Ich schätze mich glücklich, mit solch einer intelligenten, erfolgreichen Frau verheiratet zu sein. Ich bin sehr stolz auf Katie und das, was sie alles erreicht hat. Ich weiß, dass es nur sehr wenige weibliche Städteplanerinnen gibt – und sie macht ihre Sache wirklich gut. Ihr Job ermöglicht uns eine hohe Lebensqualität, und das weiß ich sehr zu schätzen.«
Ross hörte sich so gefasst und vernünftig an! Katie platzte innerlich fast vor Wut. Peter bekam ein völlig falsches Bild von ihrem Zusammenleben, doch je mehr sie protestierte, desto härter und kühler würde sie wirken. Und sie hasste nichts mehr, als in der Öffentlichkeit schmutzige Wäsche zu waschen.
»Drittens: Wir hatten oft viel Spaß zusammen, und ich weiß, dass es auch immer noch so sein könnte, wenn wir uns ein wenig mehr Mühe geben würden. Viertens: Hannah und Jack sind gesund und glücklich, und es ist schön für sie, dass sie einen von uns beiden bei sich zu Hause haben.« Ross schaute von seinem Zettel auf. »Katie, sie wollen dich noch einmal sehen, bevor sie ins Bett gehen, aber deine Überstunden sind einfach schwer abzuschätzen. Wie soll ich für einen geregelten Tagesablauf sorgen und ihnen versichern, dass sie regelmäßig von Mummy ins Bett gebracht werden, wenn sich dein Feierabend von Tag zu Tag ändert?«
»Aha, das ist also der Grund, warum wir zu Hause keine geregelten Abläufe haben?«, sprudelte es aus Katie hervor. Ross wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste, um in ihr Schuldgefühle zu wecken. »Es ist also meine Schuld, dass ich eine arbeitende Mutter bin!«
Ross starrte sie an, während sich sein Mund in eine harte, dünne Linie verwandelte. »Sie haben einen geregelten Tagesablauf. Meinen Tagesablauf. Es ist aber nun einmal Tatsache, dass dein Leben über keine Regelmäßigkeit verfügt.«
»Wenn du aber so stolz auf das bist, was ich beruflich erreicht habe, warum begreifst du dann nicht, wie schwer es für mich ist, pünktlich um sieben von der Arbeit nach Hause zu kommen? Insbesondere in einem Amt wie dem unseren, wo eine ganze Horde von Idioten nur darauf wartet, mir schlampiges Arbeiten vorzuwerfen?«
»Konzentrieren Sie sich bitte auf die Liste«, ermahnte Peter sie.
Dabei war sie gar nicht scharf darauf, Überstunden zu schieben. Wenn sie erst einmal das Büro verlassen hatte, kam ihr selbst eine zehnminütige Verkehrsstörung vor, als würde sie um ihre kostbare Zeit mit Jack und Hannah betrogen.
Doch Ross fuhr fort und traf ihren wundesten Punkt.
»Fünftens: Wir haben genügend Geld, und ich würde mir wünschen, dass Katie damit aufhört, einer Beförderung nach der anderen hinterherzujagen, und sich stattdessen etwas mehr Zeit nimmt, um das zu genießen, was wir haben.«
»Das ist prinzipiell richtig, aber du bist schließlich nicht derjenige, der sich jeden Monat die Kreditkartenabrechnung anschaut!«, unterbrach sie ihn, weil sie nicht wollte, dass Peter einen falschen Eindruck bekam. »Wir haben nicht genug Geld! Du bist bei allem so schrecklich kurzsichtig! Wenn wir wollen, dass die Kinder später auf die Uni gehen sollen, müssen wir schon jetzt mit dem Sparen beginnen! Außerdem weißt du nur allzu gut, dass ich nicht einfach eine Beförderung ablehnen kann! So einfach ist das alles nicht!«
»Ach, ist es nicht?«, schoss Ross zurück. »Man könnte fast annehmen, du hättest keine Lust, abends nach Hause zu kommen!«
»Vielleicht habe ich tatsächlich keine Lust, wenn es zu Hause aussieht wie in einem Schweinestall und die Kinder wild herumlaufen!«, blaffte Katie zurück.
»Sie spielen! Sie sind Kinder!«
»Könnten wir auf Ihre Liste zurückkommen, Ross?«
»Sechstens: Katie hat den schönsten Mund, den ich je bei einer Frau gesehen habe.« Ross ließ den Zettel auf den Schoß sinken. »Zumindest hatte sie ihn. Bevor sie mich damit nur noch ununterbrochen angeschrien hat.«
Mehr wegen ihres schlechten Gewissens denn aus Leidenschaft wollte Katie erwidern, dass Ross wunderschöne Augen habe oder vielmehr hatte, bevor er den lieben Tag lang nur noch aussah wie ein begossener Pudel, doch sie schloss ihren hübschen Mund wieder, schwieg und starrte ihn stattdessen finster an.
»Nun ja, da haben wir ja allerhand positive Aspekte«, fasste Peter beruhigend zusammen. »Ich denke, dass es äußerst hilfreich für Sie beide ist, sich gegenseitig zuzuhören, anstatt sich bei einem Konflikt immer nur im Kreis zu drehen, wie viele andere Pärchen es tun.«
Katie nickte. Genauso lief es mittlerweile ab, wenn Ross und sie sich in die Haare bekamen: Wütend drehten sie sich unauf hörlich im Kreis, wie zwei Züge auf Gleisen, deren Wege sich nicht kreuzten und die kein Ziel erreichten.
»Gut«, nickte Peter. »Sollen wir …?«
Ross winkte mit seiner Liste. »Wollen Sie meine Negativliste gar nicht hören?«
»Hmmm.« Nervös ließ Peter den Blick zwischen ihnen beiden wandern. »Glauben Sie, das wäre hilfreich?«
Ross hielt seine Liste hoch. Darauf war nur ein einziger Punkt in seiner ausgedehnten Designerschrift zu erkennen. Die Schrift, die Katie einmal so entzückend kreativ gefunden hatte.
Wie lautete noch einmal diese dumme Plattitüde? Heute top, morgen flop?
»Wir haben einfach aufgehört, es miteinander zu versuchen. Katie hat für sich beschlossen, dass es zu Ende ist, und wenn sie etwas entscheidet, dann ist das so.«
»Du bist kindisch«, protestierte Katie, die immer noch von Gewissensbissen geplagt wurde. »Immerhin bin ich hier, oder etwa nicht?«
»Aber nur, weil du versuchst, unsere Beziehung überprüfen zu lassen! Ich weiß genau, was du vorhast, Katie. Du willst, dass jemand anderer uns bewertet, genauso, wie du irgendein … marodes Gebäude bewerten würdest!« Ross sah zugleich wütend als auch mitleiderregend aus. »Du willst, dass jemand anderer dir sagt, ob wir unsere Ehe begraben sollen! So läuft das aber nicht!«
»Ach, nicht? Du willst doch gar nicht zuhören, wenn ich Vorschläge mache, wie es besser laufen könnte …!«
»Aber nur, weil du mir immer das Gefühl gibst, du seist die Einzige, die in der Lage ist, über mein Leben zu entscheiden, und dennoch bist du nicht bereit, es einfach mal zu versuchen, die -«
»Ruhe jetzt, alle beide!«, brüllte Peter und sah sie verzweifelt an. »Entschuldigung, tut mir leid. Wie wäre es, wenn wir uns alle jetzt wieder etwas beruhigen würden?«
Katie schüttelte frustriert den Kopf. Ihr Haar schaukelte und legte sich danach wieder zu dem honigblonden Bobschnitt, der pünktlich alle sechs Wochen geschnitten wurde – aber nur, weil sich der Friseursalon direkt neben dem Stadtratsgebäude befand. Konnte Ross denn nicht sehen, wie sehr sie sich bemühte? Einmal ganz davon abgesehen, wie schwer es gewesen war, im Büro früher Schluss zu machen, hatte es sie eine Menge Energie gekostet, einen Babysitter zu finden. Dabei war sie sich nicht einmal sicher, ob sie Gemma Roberts die Kinder mehr als zwei Stunden lang anvertrauen konnte.
Peter rieb sich den Bart. Er war der Typ Therapeut mit Bart und Kuschelpulli, freundlichen Augen, Bierplauze und einem warmen Lächeln, das die Preisgabe von peinlichen Familiengeschichten ein wenig erleichterte. »Als Beobachter fällt mir auf, Katie, dass sich die Ihrer Meinung nach einzigen positiven Aspekte in Ihrer Ehe allein auf Ihr Haus beziehen. Finden Sie das fair? Dass es Ihr Haus ist, das Sie glücklich macht?«
Sie holte tief Luft. Es war wohl am besten, ehrlich zu sein und die Streitereien am Morgen und das eisige Schweigen nachts zu erwähnen. Vielleicht war Peter tatsächlich in der Lage, auf der Stelle zu entscheiden, dass es für alle das Beste sei, den Schaden zu begrenzen und sich zu trennen. Das würde ihnen allen eine Menge Zeit und Tränen ersparen. Vielleicht sollte man die Ehe einfach begraben, wie Ross schon sagte, um ein schmerzhaftes Auseinandergehen zu vermeiden.
Doch sobald Katie sich auch nur vorstellte, wie Ross auszog, wie ihre Familie auseinanderbrach, ihre Träume von einem perfekten Leben wie Seifenblasen zerplatzten und sich die letzten sieben gemeinsamen Jahre als Zeitverschwendung herausstellen würden, wurde ihr das Herz bleischwer.
»Ja«, antwortete sie bissig. »Mein Haus macht mich glücklich. Ich habe das Gefühl, dass ich alle Rechnungen bezahle, für Disziplin sorge und so viele Stunden arbeite und doch keinerlei Spaß habe …«
Peter ging schnell dazwischen. »Und was denken Sie über Ihr Haus, Ross?«
»Es ist unser Zuhause«, antwortete er. »Dort ziehen wir unsere Kinder groß.«
»Sie sind also ein häuslicherer Typ als Katie?«
»Nein«, mischte sich Katie ein. »Nein, nein, nein! So ist es nun auch wieder nicht! Ich bin schon gerne zu Hause – ich habe nur einfach kaum noch die Gelegenheit dazu!«
Peter spielte mit seiner Brille. Katie hatte schon längst bemerkt, dass er jedes Mal an etwas herumspielte, bevor er ganz beiläufig eine niederschmetternde Bemerkung fallen ließ. Katie machte sich innerlich auf das Schlimmste gefasst.
Ich mag die Person nicht, die ich geworden bin, dachte sie plötzlich. Ross ebenfalls nicht. Aber hatte ich eine Wahl? Einer von uns musste arbeiten gehen, um Geld zu verdienen – und hätten wir von Ross’ Einkommen leben müssen, hätten wir niemals …
Sie schob den Gedanken an diese Vorstellung beiseite. Ross’ Einkommen wäre nicht nur zu gering gewesen; hinzu kam außerdem noch, dass seine Antriebslosigkeit von Tag zu Tag abstoßender wurde und er immer mehr aus den Augen zu verlieren schien, wie viel Kinder heute kosteten. Er übernahm den lustigen, spielerischen Teil, während ihr der brüllende, ermüdende Teil der Elternrolle zufiel. All dies machte sie zu einer Person, die sie so nicht kannte.
»Eine Ehe lässt sich nicht an einer Skala von eins bis zehn bemessen«, erklärte Peter sanft. »Ich bin nicht hier, um Ihnen Punkte dafür zu verleihen, wer hier der bessere Ehepartner ist.«
»Was haben Sie dann vor?«, fragte Katie. Sie fühlte sich ertappt, ein Gefühl, das sie in letzter Zeit öfters hatte, ganz gleich, was sie tat.
Peter lächelte. »Ich werde Ihnen dabei helfen, Ihre Probleme auszudiskutieren, Sie zum Zuhören ermuntern. Das wird Ihnen hoffentlich dabei helfen, Ihre Probleme zu lösen.«
»Und wie lange wird das ungefähr dauern?«
Er zuckte mit den Schultern. »So lange, wie es eben dauert. Das ist nicht mal eben auf die Schnelle zu erreichen. Normalerweise werden sechs Sitzungen empfohlen, um einiges genauer unter die Lupe zu nehmen, aber vielleicht dauert es auch länger. Wenn Sie eine Sitzung pro Woche zeitlich nicht schaffen, können wir uns auch gerne alle vierzehn Tage treffen. Doch den schwersten Schritt haben Sie schon hinter sich gebracht, indem Sie hergekommen sind. Was meinen Sie?«
Katie spürte, wie sich ihr Magen vor Frust zusammenzog. »Aber nach ein paar Sitzungen wissen Sie doch sicherlich, was wir tun sollen, oder?«
»Katie, es steht mir nicht zu, über irgendetwas zu entscheiden. Es ist allein Ihre Ehe. Aber …« Wieder spielte er an seiner Brille herum. »In erster Linie sollen Sie hier lernen, einander wieder zuzuhören und ehrlich über Ihre Gefühle zu sprechen. Das ist nichts Ungewöhnliches – ich habe schon viele Paare hier gehabt, die einfach aufgehört haben, sich füreinander Zeit zu nehmen. Und wenn Sie beide den Wunsch hegen, gute Eltern zu sein, und das scheint ja offensichtlich der Fall zu sein, dann kann es nur hilfreich sein, außerhalb des Familienlebens Zeit in Ihre Beziehung zu investieren. Sie müssen ein wenig Zeit allein miteinander verbringen.«
»Keine Chance«, schnaubte Ross. »Da müsste ich ihr schon das Mittagessen zur Arbeit bringen.«
Peter überging seine gereizte Stichelei mit einer Gelassenheit, um die ihn Katie sehr beneidete. »Haben Sie jemals ein Hobby miteinander geteilt? Haben Sie vielleicht eine Sportart zusammen ausgeübt?«
Katie und Ross warfen einander einen Blick zu – zum ersten Mal, seit sie sich hingesetzt hatten. Ihr fiel auf, wie müde er aussah. Bisher hatte sie Ross immer allen als »jungenhaft« beschrieben: kastanienbraunes, naturgelocktes Haar, große braune Augen mit langen Wimpern, und eine spitze Nase, die er sich immer unbewusst mit der linken Hand rieb, wenn er nervös wurde. Ross besaß eine drahtige Figur und eine olivfarbene Haut, die sich unerwartet zart anfühlte. Voller Bewunderung hatte sich Katie früher immer vorgestellt, dass er, falls er mit dreiunddreißig Jahren diese Vorzüge immer noch besaß, wohl bis zu seinem Lebensende so aussehen würde.
Jetzt war er sechsunddreißig Jahre alt und sah längst nicht mehr so jungenhaft aus; vielmehr wirkte er ein wenig zerzaust. Offensichtlich hatte er am Morgen keine Zeit mehr gehabt, um sich zu rasieren, und die Fältchen um seinen Mund herum hatten sich während der angespannten Gespräche über ihre Ehe immer mehr vertieft. Ross war, wie sie nun wusste, ein Spezialist darin, Dinge zu bestreiten oder sie einfach zu ignorieren. Anscheinend zog er es vor, nichts zu sagen und zu hoffen, dass sie schon von selbst auf das Problem kommen würde.
Dies entsprach so gar nicht Katies Art. Katie nannte die Dinge lieber beim Namen und diskutierte gern alles. Doch ihr fiel mittlerweile immer öfter auf, dass sie ihre Fragen einfach hinunterschluckte, weil sie wusste, dass sie niemals bis in den Sumpf seiner verschwiegenen Gefühle vordringen würde. Stattdessen versuchte sie, die ausgefahrenen Gleise zu verlassen. Dies war der Grund, warum sie hier waren.
»Bevor Hannah zur Welt kam, haben wir gelegentlich ein wenig Badminton gespielt«, erklärte Ross. »Wir haben damit jedoch aufgehört, als Katie schwanger wurde, und …« In seinen Mundwinkeln zeigte sich der Anflug eines Lächelns. »Wir waren damals ziemlich gut, oder?«
»Du hast mich immer gewinnen lassen«, erinnerte ihn Katie.
Das Lächeln erlosch. »Aber nur so lange, bis du schließlich besser wurdest als ich.« Ross schaute Peter an. »Katie ist überaus ehrgeizig. Sie muss immer gewinnen.«
»Sehr gut«, erwiderte Peter schnell. »Ich würde Ihnen empfehlen, gemeinsam etwas Neues auszuprobieren. Etwas, was keiner von Ihnen bislang gemacht hat, und sie sollten dafür mindestens eine Stunde pro Woche erübrigen, wenn möglich, mehr. Nutzen Sie diese Zeit, um etwas zusammen zu tun, sich gegenseitig zu helfen und den Alltagsstress einmal hinter sich zu lassen, okay?«
»Okay«, wiederholte Katie zögernd.
»Sehr gut! Beim nächsten Mal möchte ich, dass Sie beide mir – jeder für sich – erzählen, wie Sie sich kennengelernt haben und was Sie am Anfang aneinander so anziehend fanden.«
Was soll das bringen, dachte Katie skeptisch, als sie aufstanden und sich verabschiedeten. Wir sind einfach nicht mehr dieselben wie damals.
 
Es schien fast eine halbe Ewigkeit her zu sein, doch in Wirklichkeit waren es gerade einmal sieben Jahre, dass sich Katie Rogers und Ross Parkinson in einem überfüllten Pub in Manchester kennengelernt hatten. Sie hatte gerade ihre erste Stelle als Stadtplanerin angetreten und lebte in einer winzigen Wohnung in Castlefield. Ross arbeitete in einem Designstudio in der Nähe des Pubs. Ihre erste Unterhaltung, eigentlich völlig nichtssagend und unverbindlich, war Katie vorgekommen, als hätte sie jemanden getroffen, den sie schon als Kind gekannt hatte. Obwohl sie beide auf den ersten Blick recht unterschiedlich zu sein schienen, gab es doch in ihrem Inneren so viele Verbindungen, die sie wie Magneten zusammenhalten ließen – Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Geschmack und Aussehen, weniger hinsichtlich der Logik. Ross duftete wie ein kleiner Junge, trug die richtige Designerbrille, hatte die Angewohnheit, sich den Pony – damals noch lang und fransig – aus dem Gesicht zu streichen, was Katie an einen längst vergessenen Jugendschwarm erinnerte. Zudem besaß er einen Sinn für Humor, der Katies Herz jedes Mal höher schlagen ließ, wenn er seine Augenbraue hob und zaghaft einen Witz machte, von dem er dachte, dass nur er und Katie ihn verstehen würden. Darüber hinaus war zwischen ihnen jedoch noch etwas anderes gewesen, etwas Besonderes, was ihr plötzlich das Gefühl gab, dass sie beide in dem jeweils anderen das passende Gegenstück gefunden hatten, mit dem sie vollendet wurden. Etwas, was selbst die rational denkende, analytische Katie nicht genau erklären konnte.
Dem ersten Abend im Pub folgten weitere. Sie trafen sich jedoch nie in Restaurants, die sie mit befreundeten Arbeitskollegen frequentierte, sondern besuchten Konzerte und verschwitzte Indie-Clubs oder spazierten gemütlich am Kanal entlang. Jener Sommer in Manchester war lang und heiß gewesen, und jede Erinnerung daran ging mit einem Prickeln einher: wie sie bis zum Morgengrauen geredet hatten und mit dem Heulen der Sirenen die stickige, nach Curry duftende Luft herübergeweht wurde, oder das wohlige Brennen von zu warmen Decken auf nackter Haut, während sie im Dunkeln der Musik lauschten, ihre Arme und Beine umeinandergeschlungen, das gemeinsame Schweigen genießend. Eigentlich war Ross gar nicht ihr Typ gewesen, doch völlig ohne Grund oder Erklärung hatte sie sich verliebt, was die Richtigkeit des Ganzen jedoch nur zu bestätigen schien.
Damals hatte Ross ihre Karriere noch nicht als Ärgernis betrachtet. Obwohl Katie den aus Modeklamotten und Starbucks bestehenden Lebensstil der Städter vielleicht geteilt haben mochte, war sie jedoch kein typischer Stadtmensch. Im Gegenteil – sie war auf dem Land in der Nähe von Tewkesbury, Gloucestershire, aufgewachsen. Ehrgeizig, wie sie war, hatte sie an einem Graduiertenprogramm teilgenommen, weshalb sie auch nach ihrem Studium noch in Manchester geblieben war. Nachdem Katie ihre Zulassung bekommen hatte, waren ihre Eltern nach Spanien ausgewandert, sodass es für Katie plötzlich keinen Grund mehr gab, nach Tewkesbury zurückzukehren.
Sie hatte schon immer im Bereich der Städteplanung arbeiten wollen, doch es war für sie alles andere als leicht gewesen; sie hatte schon nach kurzer Zeit gemerkt, dass sie doppelt so hart arbeiten musste wie ihre männlichen Kollegen, um voranzukommen. Nachdem Ross und sie bereits über ein halbes Jahr miteinander ausgegangen waren, hatte man ihr überraschend eine Stelle mit besserer Bezahlung und mehr Verantwortung angeboten – jedoch auf dem Land, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem sie aufgewachsen war, in einem mittelgroßen Marktstädtchen namens Longhampton.
Katie befand sich in einer Zwickmühle. Sie hatte sich niemals wirklich an Manchester gewöhnt, und das geschäftige, hektische Treiben dort hatte ihr immer irgendwie das Gefühl verliehen, ein Landei zu sein, ganz gleich, wie schick und gestylt sie sich kleidete. Sie hatte es ertragen, um beruflich voranzukommen – was ihre Eltern ihr immerzu eingeschärft hatten -, doch im Grunde wäre es für sie kein Problem gewesen, Manchester zu verlassen, nicht nur wegen eines so guten Stellenangebots. Was jedoch Ross betraf, der viele Aufträge von Medienunternehmen erhielt, so würde es schwierig werden, ihn dazu zu bewegen, mit ihr ans Ende der Welt zu ziehen. Katie war klar gewesen, dass sie damit sehr viel von ihm verlangte.
Dennoch hatte sich Ross schnell entschieden.
»Nimm das Angebot an«, hatte er gesagt, bevor sie ihm überhaupt alles erklärt hatte.
»Aber was ist mit … uns?« Sie waren an dem heiklen Punkt angelangt, statt vier Nächte pro Woche miteinander zu verbringen, nun ganz zusammenzuziehen. »Du hast so viele Kunden aus der Medienbranche, du musst in Manchester bleiben!«
»Hast du schon mal etwas vom Internet gehört? Außerdem werde ich auch andere Kunden bekommen«, hatte er erklärt und seine Hände um ihr Gesicht gelegt. »Katie oder Job? Katie oder Job? Hmmm. Katie.« Und dann hatte er sie geküsst.
Plötzlich entwickelte sich ihre Beziehung genauso schnell wie Katies Karriere. Innerhalb von eineinhalb Jahren waren sie verheiratet, und dann war auch schon Hannah unterwegs. Für Ross schien es nur logisch zu sein, ein Jahr lang zu Hause zu bleiben, da Katie sich keine Auszeit erlauben konnte. Und dann wurde sie mit Jack schwanger, und obwohl sie es hasste, Hannah zurückzulassen, schien alles gut zu klappen … Also warum eigentlich nicht? Ross blieb zu Hause, und sie arbeitete.
Alles war so schleichend passiert, wie ein Foto, das im grellen Tageslicht langsam verblasste, und nach und nach hatten die Arbeit, die Babys, das Haus und die Rechnungen alle Erinnerungen an die stickig-schwülen Nächte in Manchester verdrängt. Sie gaben einander flüchtige Küsschen, anstatt sich leidenschaftlich zu küssen, fielen jeden Abend erschöpft ins Bett und scherzten darüber, wie unattraktiv sie sich fühlten, und es war leichter, sich wegen der Unordnung im Haus übereinander zu ärgern, als einen Babysitter für einen gemeinsamen Abend zu finden, für den letztlich keiner von ihnen genügend Energie aufbringen konnte. Das schöne, dynamische Pärchen aus Manchester verwandelte sich in die Eltern von Hannah und Jack. Ross und Katie wurden zu zwei dauermüden Menschen, die einander zwar liebten, aber genauso gern am Abend früh schlafen gingen.
Eines Morgens quälte sich Katie wie gewohnt zur Arbeit, steuerte einen Zehner bei für das gemeinschaftliche Hochzeitsgeschenk für einen Kollegen, ging dann zur Toilette, um ihr Make-up für die Mittagspause aufzufrischen, und konnte plötzlich nicht mehr aufhören zu weinen. Auf ihren Schultern schien eine unsichtbare Last zu ruhen, weil so viele Dinge nicht mehr mit dem Leben übereinzustimmen schienen, das auf dem Papier so vorbildlich und erstrebenswert ausgesehen hatte.
Nun war sie hier. Und hatte nur noch fünf Sitzungen vor sich, um das Problem zu lösen oder einen Schlussstrich unter diese Ehe zu ziehen.
Als sie die Therapiestunde verließen, saß schon ein anderes Paar auf den orangefarbenen Stühlen vor Peters Beratungszimmer und wartete schweigend, mit verbitterter Miene und verschränkten Armen. Katie und Ross gingen den schäbigen Korridor des Gemeindezentrums hinunter, ohne das Pärchen anzusehen. Nur ihre Schritte durchbrachen das Schweigen zwischen ihnen.
Es hatte geschmerzt, dachte sie, Ross einige der Dinge sagen zu hören, die er ihr offensichtlich ohne die Anwesenheit einer anderen Person niemals hätte eingestehen können. Dass er das Gefühl hatte, sie würde sich keine Mühe mehr geben. Wie selbstverständlich er sich vorkam. Sie hatte angenommen, ihre Gefühle gut vor ihm verborgen zu haben, doch obwohl er eben nie etwas gesagt hatte, hatte sie dennoch den tiefen Schmerz in seinem Blick bemerkt. Niemand konnte so sehr leiden wie Ross. Wenn sie ehrlich war, war dies genau der Grund, warum sie ihm während der Sitzung nicht in die Augen hatte schauen können. Sie fragte sich, ob Peter, dem so gut wie nichts entging, es bemerkt hatte.
Katie blieb stehen und beobachtete, wie Ross den Korridor hinunterging und dabei die Schultern niedergeschlagen hängen ließ. Er war groß und gut aussehend, und sein Haar war noch immer so dicht und voll wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte. Was also war es, was sie so sehr vermisste?
Aus Angst, die Antwort laut auszusprechen, ließ sie den Gedanken daran nur selten zu. Die Antwort war sexistisch, selbstsüchtig und einfach nur unfair. Doch es stimmte: Ross hatte seine Männlichkeit verloren, all das, was sie an ihm anziehend gefunden hatte – eine unerwartete Bemerkung, das Gefühl der Geborgenheit. Und alles war einzig und allein ihre Schuld.
Ich fand ihn so toll, dachte Katie, als ob sie sich plötzlich an etwas erinnern würde, was ihr jemand einmal gesagt hatte. Mir stockte jedes Mal der Atem, wenn er sich nachts das T-Shirt auszog und ich einen Blick erhaschte auf den schmalen Haarstreifen auf seinem Bauch, der in seine Jeans hineinlief. Jetzt aber habe ich immer nur das Gefühl, dass mich zwei Kleinkinder und ein schmollender Teenager zu Hause erwarten. Ich fühle mich ungefähr so sexy wie meine Mutter, dabei sollte ich mich den Magazinen und Zeitschriften zufolge eigentlich in der besten Zeit meines Lebens befinden.
Ross war vor der Informationstafel stehen geblieben und studierte die Angebote. Katie bemerkte, dass seine Jeans mit Plakatfarbe besprenkelt war und gar nicht mehr designermäßig aussah. Sie erinnerte Katie allein daran, dass er die Wäsche nie ordentlich sortierte.
»Wie wäre es hiermit?«, fragte er und deutete auf eine handgeschriebene Anzeige.
»Womit?«, erwiderte sie und fühlte sich nicht einmal in der Lage, genügend Interesse zu heucheln.
»Singen.« Er ließ ein tapferes, künstliches Lächeln auf blitzen, wie er es auch Hannah gegenüber aufsetzen würde. »Tritt in den Chor ein. Keine Karaoke-Erfahrungen benötigt.«
»Singen? Ernsthaft? Nein, danke.«
»Töpfern vielleicht?«
Katie verzog das Gesicht.
»Musst du so negativ sein?«, beschwerte sich Ross. »Die Hauptsache ist ja wohl, dass wir etwas ausprobieren, das keiner von uns schon mal gemacht hat.«
»Tut mir leid.« Katie gab sich einen Ruck. »Wie wäre es mit einem …« Ihr Blick wanderte über das Durcheinander aus Kinder-Gymnastikkursen und Treffen der Anonymen Alkoholiker. »… Tanzkurs? Er beginnt morgen.«
Ross betrachtete die Anzeige genauer. Im Gegensatz zu den anderen Werbezetteln war dieser hier ordentlich und mit einem Computer gestaltet worden; an den Ecken funkelte silberner Glitzer. Die grellen Lichtröhren verliehen der Anzeige einen hübschen, fast animierten Anblick. »Tanzkurs. Uhh.«
»Du müsstest allerdings auf den Tanzlehrer hören, anstatt dich einfach treiben zu lassen, sodass ich dir dann hinterher wieder alles erklären muss«, fügte sie gereizt hinzu, bevor sie die Bemerkung hinunterschlucken konnte.
Ross vergrub das Gesicht in seiner großen, bleichen Hand. »Mein Gott, Katie, warum versuchst du eigentlich andauernd, mit Gewalt einen Streit vom Zaun zu brechen?« Er ließ die Hand sinken und sah Katie mit ernstem Blick an. »Hör zu. Ich weiß, dass die Therapie deiner Meinung nach eine reine Zeitverschwendung ist, aber mir ist es wirklich ernst damit. Wir machen gerade eine harte Zeit durch, aber wir müssen es einfach versuchen! Allein schon der Kinder wegen. Lass uns an dem Tanzkurs teilnehmen! Aber denk dran: Nur unter der Voraussetzung«, fügte er hinzu und hob die Augenbrauen, »dass wir ausschließlich Tänze lernen, bei denen ich keine engen Satinhosen oder diese schicken Netz-Shirts tragen muss wie im Fernsehen. Auf diesen Anblick ist die Welt noch nicht vorbereitet.«
»Satinhosen und Netz-Shirt – für dich oder für mich?«, fragte sie regungslos.
»Für uns beide.« Er hielt inne. »Obwohl ich ja, wie du weißt, schon immer etwas für Olivia Newton-John aus Grease übrighatte. Wenn du also unbedingt darauf bestehst, diese engen Satinhosen zu tragen …«
Der Versuch war ein wenig lahm, doch Katie wusste die Mühe zu schätzen, die er sich gab. Sie wünschte sich nur, dass Ross’ Versuche nicht so plump und offensichtlich waren.
»Okay«, sagte sie und kapitulierte. »Dann also der Tanzkurs.«
»Toll. Das wird schon nicht allzu schlimm werden!« Ross notierte sich flüchtig die Details und schaute dann mit einem hoffnungsvollen Lächeln von seinem Notizbuch auf. »Komm schon. Wir wollen doch nicht Gemma das Geld für eine dritte Stunde geben, oder?«
Schweigend eilten sie den hallenden Korridor hinunter.
»War die Sitzung so schlimm, wie du sie dir vorgestellt hattest?«, fragte Katie schließlich.
»Sie war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte«, antwortete Ross stoisch. »Eben nicht einfach. Aber du weißt schon … Nichts Wichtiges ist einfach. Ich will die Sache wirklich in Ordnung bringen«, erklärte er, blieb stehen und nahm plötzlich ihre Hand. »Ich wünsche mir sehr, dass wir wieder dahin zurückkommen, wo wir einmal waren.«
Aber ich weiß nicht, ob ich das kann, dachte Katie. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich das überhaupt will!
»Vieles hat sich verändert.«
»Aber vieles ist auch gleich geblieben!«, antwortete Ross beharrlich, und eine ganze Weile lang starrten sie einander an. »Und wir haben so viel dazugewonnen! Denk doch bloß einmal an all die Dinge, die wir erreicht haben und von denen wir nur träumen konnten, als wir uns kennengelernt haben, Katie!«
Ein Hypothekendarlehen. Fettpölsterchen. Die Fähigkeit, Sex zu haben, ohne dabei aufzuwachen. Die zunehmende Befürchtung »Das war’s jetzt also?«.
Katies Magen verkrampfte sich. »Wann haben wir aufgehört, einander zu lieben?«, hörte sie sich dann sagen.
»Wir haben aufgehört?« Ross’ Gesicht ließ eine schmerzliche Enttäuschung erkennen. »Ich habe nicht aufgehört«, erklärte er verbissen. »Aber vielen Dank für die Erinnerung daran, wie du dich fühlst.«
»Ross!« Katie wollte seinen Arm packen, doch Ross stürmte schon mit großen Schritten auf den Parkplatz hinaus.
2
Lauren Armstrong hatte zum letzten Mal Netball gespielt, als sie vor über vier Jahren die Schule verlassen hatte, doch in ihrer Vorstellung war sie immer noch Verteidigerin – und würde es auch immer bleiben.
»Bleib einfach da stehen, Lauren«, hatte ihr Mrs. Hathaway immer von der Seitenlinie aus zugerufen. »Bleib stehen, streck deine langen Arme aus, und versuch ja keine Tricks!«
Lauren brauchte keine Tricks auszuprobieren, da sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr knapp 1,80 Meter groß war und damit die meisten anderen um gute zehn Zentimeter überragte. Sie war sogar fast zwanzig Zentimeter größer als ihre Mutter und etwa zweieinhalb Zentimeter größer als Mr. Huddart, der Direktor. Mrs. Hathaway wollte einfach nicht, dass Lauren irgendwelche Tricks versuchte, weil dabei jedes Mal etwas umfiel. Der Torpfosten, der Angreifer der gegnerischen Mannschaft, manchmal sogar Lauren selbst. Da jedoch Lauren ihr Bestes gab, blockte sie mehr Korbwürfe ab, als sie andere Spieler umrempelte, und wurde daher fast immer ins Team gewählt, was ihr zweifelndes Selbstwertgefühl fürs Leben stärken sollte.
Lauren war mittlerweile zweiundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Reception Manager/Lead IT Administrator in der Longhampton Park Praxis. In einem recht späten Moment der Erkenntnis war ihr kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag aufgefallen, dass sie eigentlich für ihre schlaksigen Beine dankbar sein konnte, insbesondere in Verbindung mit ihrem langen blonden Haar. Doch leider gehörte ihre Ungeschicklichkeit nicht nur einer Entwicklungsphase ihrer Jugend an. Andauernd fielen irgendwelche Gegenstände um. Genau das war der Grund, warum sie einige Monate vor dem großen Tag, an dem sie Mrs. Christopher Alan Markham werden würde, fest entschlossen war, die Braut zu werden, von der sie schon von klein auf geträumt hatte.
An ihrem Hochzeitstag, so hatte sich Lauren »Big Bird« Armstrong vorgenommen, würde sie wie eine Prinzessin aus den Disney-Filmen aussehen: hinreißend schön, elegant, anmutig und hundertprozentig nicht schlaksig.
Dies war jedoch nicht so einfach, wie sie gedacht hatte. Lauren war stets frohen Mutes und ein wahres Organisationstalent bei der Arbeit. Zu Hause stürzte sie sich mit Feuereifer auf die Organisation der Hochzeit. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie dabei jemanden zur Seite haben würde, der noch felsenfester entschlossen war als sie selbst, die Hochzeit in ein romantisches Märchen zu verwandeln. Die Rede war nicht etwa von ihrer Mutter, Bridget, die Freude daran hatte, Lauren wie gewohnt freie Hand zu lassen, sondern von Irene »Nenn mich ruhig Mum!« Markham, ihrer zukünftigen Schwiegermutter.
Oder, wie Lauren sie in ihren Hochzeitsnotizen nannte, die SMIS (Schwiegermutter in spe); Lauren war die BIS (Braut in spe), Bridget die MdB (Mutter der Braut) und so weiter.
Lauren saß an Irenes marmornem Küchentresen und hatte einen Stapel Magazine vor sich liegen, die Irene der Reihe nach durchblätterte auf der Suche nach einem gläsernen Schuh, der auf der Spitze der Hochzeitstorte ruhen sollte und über den sie gerade diskutiert hatten.
Verstohlen warf Lauren einen Blick auf die Uhr. Eigentlich sollten sie auf ihre Mutter warten, die nachkommen wollte, sobald die Schule zu Ende war. Doch es war fast ein Ding der Unmöglichkeit, Irene aufzuhalten, wenn sie einmal in Fahrt war. Fast so, dachte Lauren, als würde sie sich nicht mich, sondern sich selbst in diesen Kleidern vorstellen.
»Wenn du dich für das Dornröschen-Thema entscheiden solltest, dann brauchst du eine Kutsche und ein bezauberndes, ausladendes Kleid. Außerdem musst du dann beim Empfang zu ›Once Upon A Time‹ einen Walzer tanzen.« Irene nickte Lauren vielsagend zu. »Während du beim Schneeweißchen-Thema zugegebenermaßen ein sehr viel aparteres Kleid brauchtest mit einem Korsett und einem Überrock, wie du schon sagtest. Aber dann wird sich jeder fragen, wo wohl die Zwerge geblieben sind.«
»Es ist meine Hochzeit«, erwiderte Lauren und hoffte, dass sie den scherzhaften Ton ihrer Antwort verstehen würde; man musste Schwiegermüttern zeigen, wer die Hosen anhatte. Doch Irene fand kein Ende. Lauren musste sich schon sehr zurückhalten, um weiterhin zu lächeln und zu nicken. »Mums Erstklässler könnten doch meine Zwerge sein!«
»Schon, aber willst du wirklich, dass sich deine Mutter als die böse Stiefmutter verkleiden muss?«
Lauren blinzelte. Darauf wollte Irene also hinaus. »Ich habe eigentlich nicht vorgehabt, dass sich die Gäste ebenfalls verkleiden sollten. Aber wenn du meinst, es sei eine gute Idee …«
»Oooh!« Irene suchte nach ihrem dicken Notizbuch, in dem schon hunderte Post-it-Zettelchen klebten und herausgerissene Seiten aus Brautmagazinen gesammelt waren. »Äpfel! Ich denke, wenn du dich für das Schneewittchen-Thema entscheidest, könnte man Desserts mit Äpfeln anbieten …«