Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur - Philipp Gut - E-Book

Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur E-Book

Philipp Gut

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Beschreibung

Das Thema einer »deutschen Kultur« durchzieht das gesamte Werk von Thomas Mann und nimmt darin eine Schlüsselstellung ein. Dennoch fehlte bis heute eine umfassende systematische Untersuchung. Philipp Gut hat sie nun vorgelegt. In seiner brillanten Studie analysiert er Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur vom Frühwerk bis zu den letzten Texten. Er kontrastiert den Kulturbegriff mit den Gegenbegriffen »Barbarei« und »Zivilisation« und arbeitet den Wandel heraus, dem Manns Denken in dieser Frage unterliegt. Neben den explizit politischen Texten stehen besonders die literarischen Texte im Zentrum der Untersuchung. Damit gelingt Philipp Gut eine neue Sicht auf den politischen Thomas Mann, der die Problematik der deutschen Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrer ganzen Ambivalenz reflektiert hat. »Philipp Gut ist ein glänzender Formulierer, bei aller Bewunderung auch nicht unkritisch gegenüber seinem Gegenstand, und er verfügt in großer Souveränität über seinen Stoff.« Tages-Anzeiger »… die wohl anregendste Studie zum politischen Thomas Mann.« Hans Rudolf Vaget

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Philipp Gut

Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur

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Inhalt

WidmungEinleitung1 Thema und Fragestellung2 Textkorpus, Aufbau, Vorgehen3 Begriffsgeschichtliche Voraussetzungen und ForschungsstandTeil I: Kultur vs. Zivilisation (1909–1933)1 Der ästhetische Ursprung des Gegensatzes von Kultur und Zivilisation in Geist und Kunst (1909)1.1 Grundzüge und Kontext: Décadence, Zivilisationskritik und ästhetische Moderne um 19001.2 Der Künstler als Barbar: Die irrationalen Wurzeln der Kultur1.3 Die »Kultur des sprachlichen Ausdrucks«2 Krieg der Worte: Deutsche Kultur vs. westliche Zivilisation (1914–1918)2.1 Grundzüge und Kontext: Der Kulturkrieg der europäischen Intellektuellen2.2 Gedanken im Kriege (1914)2.3 Betrachtungen eines Unpolitischen (1918)3 Ausgleich ohne Gleichgewicht: Kultur und Zivilisation (1918–1924)3.1 Grundzüge und Kontext: Die Weimarer Republik und der Traum von einem deutschen Kulturstaat im Umfeld der Konservativen Revolution3.2 Tagebücher 1918–19213.3 Konservative Revolution3.4 Der Traum von einem deutschen Kulturstaat: Goethe und Tolstoi (1921)3.5 »Nihilismus der Menschenfreundlichkeit«: Auch ein Brief über den ›Humanismus‹3.6 Oliver: Fußnote zur Impotenz3.7 Von deutscher Republik (1922)3.8 Abkehr von Spengler4 »Herr der Gegensätze«? Der Zauberberg (1924)4.1 Grundzüge und Kontext: Der Zauberberg als Zeitroman der europäischen Epochenschwelle 1914/184.2 Lodovico Settembrini oder der Zivilisationsliterat4.3 Madame Chauchat oder die asiatische Versuchung4.4 Leo Naphta oder der Prophet des antihumanen Rückschlags4.5 Mynheer Peeperkorn oder der Triumph der Persönlichkeit über die politischen Meinungen4.6 Hans Castorp oder die deutsche Mitte4.7 Thomas Mann oder die Befreiung durch die Kunst5 Die Revision der Antithese von deutscher Kultur und Zivilisation (1925–1933)5.1 Grundzüge und Kontext: Von den Goldenen Zwanzigerjahren zur völkischen Barbarei5.2 Westorientierung5.3 »Immer nur 3 Schritte vom Barbarischen entfernt«5.4 Korrektur der Kriegsideologie: Kultur und Sozialismus (1928)5.5 Intime Faschismuskritik: Die Wiedergeburt der Anständigkeit (1931)Teil II: Zivilisation vs. Barbarei (1933–1955)1 Die »Kulturkatastrophe des Nationalsozialismus« (1933–1945)1.1 Grundzüge und Kontext: Drittes Reich – Exil – Zivilisationsbruch Auschwitz1.2 »Rebarbarisierung«: Das Phänomen des zivilisatorischen Rückschlags und der kulturdiagnostische Paradigmenwechsel in den Tagebüchern 1933–19341.3 »Wo ich bin, ist die deutsche Kultur« – der Repräsentant im Exil1.4 Die Verteidigung der Zivilisation in der politischen Publizistik 1935–19452 Mit Goethe gegen die deutschen Barbaren: Lotte in Weimar (1939)2.1 Grundzüge und Kontext: Das »Binom Weimar–Buchenwald« und die Goethe-Rezeption in der deutschsprachigen Exilliteratur2.2 »Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins«2.3 Die Kultivierung der Barbaren2.4 Gebändigte Dämonie: Goethe als Inbegriff der deutschen Kultur3 Hochkultur auf der Kippe: Joseph und seine Brüder (1933–1943)3.1 Grundzüge und Kontext: Die »späte Frühe« des Morgenlandes als Abbild und Gegenbild einer barbarischen Moderne3.2 Barbarei des Ursprungs3.3 Dekadenz3.4 Roman der Synthese3.5 Fiktion und Realität4 Zivilisation durch Gewalt: Das Gesetz (1943)4.1 Grundzüge und Kontext: Die Verteidigung der Zehn Gebote gegen Hitler4.2 »Der Fortschritt in der Geistigkeit«4.3 Die Ordnung des »Würgeengels«4.4 Moses – ein Kryptofaschist?5 Zwischen Nationalkultur und Weltzivilisation (1939–1945)5.1 Grundzüge und Kontext: Der Zweite Weltkrieg als Motor globaler Vereinheitlichung5.2 One World mit Vorbehalten6 Epochenroman als Selbstkritik: Doktor Faustus (1947)6.1 Grundzüge und Kontext: Zeitgenössische Deutungen der deutschen Katastrophe6.2 Von der Krise der Moderne in die Katastrophe6.3 »Ästhetizismus als Wegbereiter der Barbarei«6.4 »Intentionelle Re-Barbarisierung«6.5 Renaissance des »Kulturgedankens«? Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947)6.6 »The German Culture that Produced both Wagner and Hitler«6.7 Deutsche Kultur und deutsches Verbrechen – eine historische Bilanz7 Deutsche Einheit in Besatzungszeit und Kaltem Krieg (1945–1955)7.1 Grundzüge und Kontext: Deutsche Teilung, Dauerexil und die Kultur als Gegenmittel zur Politik7.2 Auf dem »vorgeschobenen Posten deutscher Kultur«: Die Auseinandersetzung mit den inneren Emigranten (1945)7.3 Der Schriftsteller als Garant der Einheit im Jahr der Teilung (1949)7.4 »Verzweifelt deutsch«: Der Künstler und die Gesellschaft (1952) – ein FazitSchluss1 Zusammenfassung2 Wertung und AusblickAnhangAbkürzungen und ZitierweiseBibliographieQuellenDarstellungenInternetNamen- und Sachregister

Meinen Eltern

Einleitung

1Thema und Fragestellung

Die »Kultur« hat Konjunktur. In Deutschland und anderen Einwanderungsländern diskutiert man, inwieweit sich die hier lebenden Minderheiten an die »Leitkultur« halten sollen.[1] In weltgeschichtlicher Perspektive dominiert Samuel Huntingtons These von einem »Kampf der Kulturen«.[2] Meist hat der Kulturbegriff einen positiven Wert, und er wird derart inflationär verwendet, dass manche bereits von einer »Kulturkultur« sprechen, um seinen ästhetischen Kernbereich von den zahllosen Komposita zu unterscheiden.[3] Was jeder im Alltag beobachten kann, wenn etwa von »Unternehmenskultur« oder »Gesprächskultur« die Rede ist, gilt auch für die Wissenschaften: Nachdem im angelsächsischen Raum die Cultural Studies vor einigen Jahrzehnten ihren Siegeszug durch die Universitäten angetreten haben, erleben die Kulturwissenschaften nun auch in der deutschsprachigen Bildungslandschaft einen Boom.[4] Kultur ist zu einem Modebegriff geworden; zu einem Etikett, das anzeigt, dass man up to date ist – mit paradoxen Folgen. Der »culture cult«[5] droht den Begriff zu entwerten; wo alles Kultur ist, ist nichts mehr Kultur. »Kultur ist keine Kunst«, schreibt der österreichische Philosoph Rudolf Burger.[6]

Man braucht kein nostalgisch gestimmter Spätbürger zu sein, um die Pointe dieses Satzes zu verstehen. Offenbar besteht auch unter den Bedingungen der sogenannten Postmoderne das Bedürfnis nach einer durch Kompetenz eingegrenzten Bedeutung des Begriffs, wie sie dem Bildungsbürgertum des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts noch selbstverständlich gewesen ist. Eine solche Kultur mag, wie schon Robert Musil im 1930 erschienenen ersten Band seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften feststellte, eine Illusion sein, die dem Bedürfnis entspringt, »eine menschliche Einheit vorzutäuschen, welche die so sehr verschiedenen menschlichen Betätigungen umfassen soll und niemals vorhanden ist«.[7] Trotzdem konnte Musil beschreiben, was seine Figuren unter Kultur verstehen.

Wer sich in historischer Absicht dem Problem nähert, steht in einer vergleichbaren Situation. Er wird keine womöglich allgemein gültige Definition liefern, sondern rekonstruieren, wie die Kultur von bestimmten Personen in bestimmten Diskussionszusammenhängen gedeutet worden ist. Aus dem Mann ohne Eigenschaften lässt sich noch eine weitere relevante Erkenntnis gewinnen. Mit der Einschränkung, dass es seinen Figuren besonders um die »österreichische Kultur« gegangen sei, ironisiert der Autor eine Vorstellung, die mittlerweile in Misskredit geraten ist, aber für die von Musil beschriebene Zeit vor dem Ersten Weltkrieg typisch war: diejenige einer Nationalkultur. Auf die höchsten Werte einer menschlichen Gemeinschaft zielend, war der Kulturidee von Beginn weg eine nationalistische Tendenz eingeschrieben. Ihr Glanz und ihr Elend zeigten sich schon bei Friedrich Schiller. Die deutsche Größe lag für den Dichter »in der Kultur« – in bezeichnender Abgrenzung von den politisch und wirtschaftlich erfolgreicheren Franzosen und Briten, die er neidvoll verachtete.[8] Doch der emphatische Kulturbegriff, den sich das Bürgertum im Gefolge Herders und des Deutschen Idealismus zu eigen machte, hatte eine politische Schattenseite, wie 1914 endgültig sichtbar wurde: Im Ersten Weltkrieg diente die »Kultur« dazu, die machtpolitischen Auseinandersetzungen geistig zu überhöhen; der Gegensatz von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation rückte ins Zentrum der intellektuellen Kriegsdeutung.

Diese Ambivalenz deutscher Kulturfixierung kommt nun nirgends plastischer zum Ausdruck als bei Thomas Mann. Der Schriftsteller, der 1875 ins neugegründete Deutsche Kaiserreich hineingeboren wurde und 1955 im verlängerten Exil in Zürich starb, hatte ein ausgeprägtes Selbstverständnis, die deutsche Kultur zu repräsentieren – eine Aspiration, die im Urteil vieler Zeitgenossen gerechtfertigt war und von der Nachwelt schließlich bestätigt wurde. Offizieller Höhepunkt dieser Wertschätzung war die Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler zum 50. Todestag des Autors im August 2005 in Lübeck. Köhler sagte, Mann habe die »deutsche Kultur« auf »einzigartige Weise verkörpert«, seine Werke hätten »unauflöslich mit Deutschland zu tun«.[9]

Dieses Buch will klären, was es damit auf sich hat. Welche Vorstellung einer deutschen Kultur hatte Thomas Mann? Wie veränderte sie sich durch den Gang der Geschichte? Wie stellt sich die Problematik einer deutschen Kultur in seinen Werken dar? Um das Thema präzis in den Griff zu bekommen, aber auch, weil sich das Objekt bei genauerem Hinsehen in dieser Weise präsentiert, arbeitet die Studie mit zwei fundamentalen Gegenbegriffen zur Kultur: der Zivilisation und der Barbarei (der dritte klassische Gegenbegriff, die Natur, spielt eine geringere Rolle). Nur in Abgrenzung von ihnen gewinnt Manns Kulturidee ihr Profil, während sich so gleichzeitig deren Bezug zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts offenbart. Die Differenzbestimmungen gegenüber der Zivilisation und der Barbarei korrespondieren nämlich, grob gesprochen, mit zwei historischen Epochen: dem Ersten Weltkrieg einerseits, der Ära des Nationalsozialismus andererseits.

Im Großen Krieg 1914–1918 betätigte sich Mann als herausragender Exponent jener polemischen Debatte, die sich die europäischen Intellektuellen unter der Affiche »deutsche Kultur vs. westliche Zivilisation« lieferten. Die deutsche Seite konnte dabei auf Argumentationsmuster zurückgreifen, welche die Zivilisationskritik seit den 1880er Jahren bereitgestellt hatte. Auch bei Mann liegt der werkgeschichtliche Ursprung der sogenannten Kultur-Zivilisations-Antithese vor dem Krieg. Er hatte sie bereits 1909 in einem Notizenkonvolut mit dem Titel Geist und Kunst entwickelt und konnte sich daher, als der Gegensatz 1914 in nationalisierter Form die Kriegsdeutung beherrschte, in besonderer Weise mit Zeit und Nation verbunden fühlen. Inhaltlich war diese Vorstellung einer deutschen Kultur durch Tiefe, Innerlichkeit und eine heroische Moral bestimmt, während die westliche Zivilisation als oberflächlich und rhetorisch galt und mit der parlamentarischen Demokratie, ja einer grundlegenden Politisierung der Gesellschaft überhaupt identifiziert wurde. Mit den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) verfasste Mann am Ende des bürgerlichen Zeitalters das Hauptdokument jener Kulturtradition, die das »deutsche Wesen« von der Politik reinzuhalten versuchte.

Das wäre historisch bedeutsam genug; wichtiger aber ist, was folgte. Die Leidenschaft des Schriftstellers für die deutsche Kultur blieb erhalten, doch unterzog er die Idee einer eingehenden Kritik. Das Sonderwegdenken, das in der deutschen Front gegen die demokratische westliche Zivilisation zum Ausdruck kam, wurde in Thomas Mann selbstreflexiv – und damit bereit zu einer Korrektur, die das Bürgertum in der Weimarer Republik insgesamt verpasste. Als Vernunftrepublikaner, der die humane Ordnung durch einen antidemokratischen Nationalismus und schließlich durch die nationalsozialistische Revolution gefährdet sah, kam Mann zur Einsicht, dass gerade das politische Manko des deutschen Kulturbegriffs das Heraufkommen der totalen Politik des Dritten Reichs begünstigte.

Aufgrund dieser Erfahrung richtete Mann seine Vorstellung einer deutschen Kultur neu aus. Ihr Gegenbegriff war nun nicht mehr die Zivilisation, sondern die völkische Barbarei. In dem Maß, wie der Nationalsozialismus sein barbarisches Potenzial enthüllte, wuchs bei Mann die Überzeugung, dass die Grundwerte der Zivilisation – Freiheit, Demokratie, Menschenrechte – unverzichtbar seien. Dementsprechend war es sein Anliegen, den deutschen Kulturbegriff den zivilisatorischen Werten zu öffnen. Diese Öffnung bildete die Voraussetzung dafür, dass der Autor im Exil gegenüber dem NS-Staat ein »anderes Deutschland« verkörpern und zum wichtigsten intellektuellen Gegenspieler Adolf Hitlers werden konnte. Neben seinen Werken, die längst Klassikerstatus erlangt haben, verdankt Mann seinen hervorgehobenen Platz im kulturellen Gedächtnis der Deutschen dem Umstand, dass er damals entschieden auf der richtigen Seite stand. Allerdings liegt seine eigentliche Leistung nicht im Triumph, vor dem Tribunal der Geschichte recht bekommen zu haben. Sie ist vielmehr in der schonungslosen Kritik dessen zu sehen, was ihm am liebsten war: der deutschen Kultur.

Die vielfach uninformierten Diskussionen darüber, ob und inwiefern Mann ein politischer Schriftsteller gewesen sei, verliefen fruchtbarer, wenn sie ihr Augenmerk auf diesen Punkt richteten: seine eminente Selbstkritik in der Reflexion auf die deutsche Kulturtradition. Sie ist sein genuiner Beitrag zur Analyse jener extremen geschichtlichen Verwerfungen, die mit der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs begannen, in der Zwischenkriegszeit nur eine vorübergehende Stabilisierung fanden und am Ende in den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die deutsche Katastrophe mündeten. Mann sah in der deutschen Geschichte keinen Determinismus, aber eine Entwicklung von tragischer Konsequenz. Die Tragik besteht darin, dass das höchste Gut der Deutschen, ihre Kultur, das Unheil nicht nur nicht verhindern konnte, sondern in einem dialektischen Umschlag seinerseits ins Böse kippte. Aus der Kultur wurde Barbarei. Was man heute als Zivilisationsbruch bezeichnet, registrierte der Romancier als einen Prozess der »Re-Barbarisierung«, den er nicht einfach den Nationalsozialisten anlastete. Er machte dafür auch die kulturelle Elite verantwortlich, der er selber angehörte.

Wie sehr Manns zeitgeschichtlichen Diagnosen ein Moment der Selbstkritik eignet, wird am philologischen Detail deutlich. Seine Revision des deutschen Kulturbegriffs verweist, oft unausgesprochen, auf eigene Positionen; sogar im prekärsten Punkt, der Nähe der Kultur zur Barbarei. Als er die Kultur erstmals von der Zivilisation unterschied, bemerkte er zugleich, dass Kultur und Barbarei keine Gegensätze zu sein brauchten – eine Linie, die im Ersten Weltkrieg verstärkt wurde und über die Konservative Revolution der Zwanzigerjahre in die willentliche Re-Barbarisierung der NS-Zeit weiterführte. Hier besteht ein Zusammenhang, der bisher nicht klar herausgearbeitet worden ist. Wenn die Abspaltung einer deutschen Kultur von der Zivilisation als eine geistige Ursache der nationalsozialistischen Barbarei namhaft gemacht werden kann, war das barbarische Potenzial der Kultur bereits im Augenblick der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts angelegt. Manns hochpolitisches Werk reflektiert genau dies: den Konnex zwischen der Krise der modernen europäischen Zivilisation um 1900 und der Katastrophe von 1933/45.

2Textkorpus, Aufbau, Vorgehen

Das Thema einer deutschen Kultur ist omnipräsent bei Thomas Mann. Man begegnet ihm in den ästhetischen und politischen Essays, der Belletristik, den Briefen, Notizen und Tagebüchern. Angemessen erfassen kann man es nur, wenn man dieses gesamte Œuvre in die Untersuchung einbezieht. Allzu oft hat die historisch-politisch interessierte Forschung die literarischen Werke ausgeblendet, was unvollständige und schiefe Resultate ergab. Der Schriftsteller führte die Auseinandersetzung mit der deutschen Zeitgeschichte, die im Ersten Weltkrieg in seinen Gesichtskreis rückte, wesentlich in seinen Romanen, vom Zauberberg (1924) über Lotte in Weimar (1939), Joseph und seine Brüder (1933–1943) bis hin zum Doktor Faustus (1947). Diese Erzählwerke nehmen hier den ihnen gebührenden Platz ein. Zusammen mit den explizit politischen Texten, den brieflichen Äußerungen und den ebenfalls die historischen Geschehnisse verzeichnenden Tagebüchern ergeben sie eine immense Fülle an zeitdiagnostischen und kulturtheoretischen Reflexionen, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts ihresgleichen sucht.

Selbst der vierbändige Josephroman, der auf den ersten Blick eskapistisch scheinen mag, offenbart unter dem hier eingenommenen Blickwinkel einen zeitkritischen Charakter. Aus ihm lässt sich so etwas wie eine Typologie der barbarischen Gefährdungen einer Hochzivilisation gewinnen. Sensibilisiert durch die katastrophale Dynamik der deutschen Geschichte, die Mann aus prekärer Affinität früh erkannte, spiegeln die erwähnten Romane die Erfahrung der Epoche, dass eine Kultur nicht nur von außen bedroht sein kann, sondern auch von innen. Manns Werk ist daher in viel stärkerem Maß, als dies etwa die 68er Generation mit ihrem engen Kriterium für politisches Engagement wahrhaben wollte, eine Auseinandersetzung mit einem Grundproblem des 20. Jahrhunderts: der Selbstzerstörung einer hochentwickelten Kultur.

Sichtbar wird an diesem Punkt, dass das Thema einen anthropologischen Aspekt aufweist. Wenn man zwischen einer ästhetischen Kernkultur der Künste, einer nationalen Gesamtkultur und der menschlichen Kultur überhaupt unterscheiden kann, ist damit der Horizont umrissen, in dem sich die Überlegungen zu einer deutschen Kultur grundsätzlich bewegen. Zwischen diesen drei Dimensionen bestehen vielfältige Bezüge, wobei je nach Perspektive und historischer Konstellation die eine oder die andere in den Vordergrund tritt. So akzentuiert der Josephroman die anthropologische Dimension, indem er die in allen Kulturen bestehende Möglichkeit atavistischer Rückfälle gestaltet; während der Doktor Faustus wiederum eine Variante des deutschen Sonderwegs inszeniert, in der die Überbetonung des Ästhetischen gegenüber dem Politischen zur Katastrophe führt. Dass der im Faustus propagierte Zusammenhang von musikzentrierter Kultur und Geschichte keine bloße Konstruktion war, erfuhr der Autor am eigenen Leib: Der sogenannte Protest der Richard-Wagner-Stadt München gegen seine kritische Verehrung des Komponisten besiegelte im Februar 1933 sein Exil. Worauf es nur folgerichtig schien, dass der Führer zum gerngesehenen Gast auf dem Grünen Hügel in Bayreuth wurde.

In methodischer Hinsicht macht der Einbezug der belletristischen Werke plausibel, dass sich die Untersuchung nicht allein an den in Frage stehenden Begriffsfeldern orientieren kann. Es gilt auch, die dazugehörigen Themen respektive deren Transformation in fiktive Handlung aufzuspüren. Aufschlussreich ist überdies Manns Beschäftigung mit prägenden Gestalten der deutschen Kultur, allen voran Goethe, Wagner und Nietzsche, die nicht nur mächtige Anreger waren, sondern auch Adressaten einer Kritik, die sich unmittelbar aus der zeitgeschichtlichen Erfahrung des 20. Jahrhunderts ergab.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut und in zwei Teile gegliedert, entsprechend den in den jeweiligen Zeiträumen dominierenden Gegenbegriffen. Der erste Teil steht unter dem Titel Kultur vs. Zivilisation; der zweite ist mit Zivilisation vs. Barbarei überschrieben, um anzuzeigen, dass Manns Kulturidee unter dem Eindruck der faschistischen Re-Barbarisierung eine Allianz mit der Zivilisation einging. Die einzelnen Kapitel beginnen mit einem Abschnitt, der die Grundzüge der behandelten Texte herausstellt und sie im historischen Umfeld verortet. Gemäß dem erläuterten Verfahren, Manns Konzept einer deutschen Kultur an Gegenbegriffen zu profilieren, setzt das erste Kapitel dort ein, wo er die Kultur zum ersten Mal in einen Gegensatz zur Zivilisation bringt (nämlich in Geist und Kunst von 1909). Auf Vorstufen des Gegensatzes im Mann’schen Frühwerk verweist der entsprechende Einführungsabschnitt. Neben der Kontextualisierung zu Beginn der Kapitel berücksichtigen auch deren Hauptteile die Ideen anderer zeitgenössischer Autoren. Mann hat seine Vorstellung einer deutschen Kultur nicht nur in Reaktion auf die Geschichte gebildet, sondern auch in stetem Dialog mit Mitstreitern und Antipoden. Das gilt für die im engeren Sinn politischen Debatten, wie etwa den Kulturkrieg von 1914/18, aber auch für Manns theoretische Orientierung, beispielsweise an Oswald Spengler, Sigmund Freud oder der Zivilisationstheorie von Norbert Elias. Der Romancier verfügte über ein kulturhistorisches Wissen, das sich auf der Höhe der Zeit bewegte und dem Versuch diente, literarische Antworten auf die Herausforderungen durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu formulieren.

Die für Mann charakteristische Verknüpfung von Zeit- und Selbstkritik verlangt ein Vorgehen, das sowohl die werkgeschichtlichen Zusammenhänge aufdeckt als auch die historischen Bezugspunkte beleuchtet, auf die das Werk gerichtet ist. Es mag Momente geben, wo einem die Selbstfixierung des Schriftstellers auf die Nerven geht. Dieser Preis ist zu bezahlen, wenn man in ihm einen Repräsentanten ehrt, der die deutsche Kultur auf »einzigartige Weise verkörpert«. Der Gewinn, den man aus der intensiven Beschäftigung mit seinem Œuvre ziehen kann, überwiegt bei weitem. Es schildert die Problematik deutscher Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrer ganzen Ambivalenz; und es weist zugleich über sie hinaus, indem es ein Panorama des Kulturwesens Mensch und seiner stets gefährdeten zivilisierten Ordnung entwirft.

3Begriffsgeschichtliche Voraussetzungen und Forschungsstand

Die kombinierte germanistisch-historische Behandlung, die der Gegenstand erfordert, spiegelt sich in der beigezogenen Forschungsliteratur. Sie lässt sich grob in drei Bereiche unterteilen: die Thomas-Mann-Forschung, allgemeine historische Darstellungen sowie begriffsgeschichtliche Untersuchungen. Daneben kommt anthropologische, soziologische, politologische und philosophische Literatur zum Zug, sofern sie etwas zur Erhellung der behandelten Probleme beitragen kann. Eine gesonderte Kommentierung verdienen neben der Fachliteratur zu Mann die begriffsgeschichtlichen Studien, weil sie in gewisser Hinsicht die Basis rekonstruieren, auf der auch der Schriftsteller agierte. Kultur und Zivilisation stehen – als Kernbegriffe menschlicher Selbstreflexion – im Fokus dieser Forschung; den Barbareibegriff hat sie weniger systematisch aufgearbeitet.[10]

Den umfassendsten Überblick über die Begriffsgeschichte von Kultur und Zivilisation seit ihren Anfängen in der Antike bietet Jörg Fisch in seinem Lexikonartikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen. Vorarbeiten haben unter anderen Michael Pflaum und Isolde Baur geliefert.[11] Eine wichtige Station in der Karriere des Kulturbegriffs, der seine Wurzeln im lateinischen colere (pflegen, bebauen) hat, von dem die Substantive cultus und cultura abgeleitet wurden, ist mit dem Namen Ciceros verbunden. Er hatte von einer »cultura animi« gesprochen und damit eine Bedeutungsübertragung vom Bereich der Landwirtschaft in denjenigen der Bildung vorgenommen,[12] an welche die neuzeitliche Tradition anschließen konnte. Im 18. Jahrhundert kam es im Deutschen, angeregt durch Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791), zu einer Ausweitung des Begriffs, der im emphatischen Sinn Geisteskultur und Bildung meinte, darüber hinaus aber die menschlichen Leistungen insgesamt erfasste.[13] Träger der Kultur waren in erster Linie die »Völker«, was den Blick auf Differenzen und unterschiedliche Stufen der Kulturentwicklung lenkte.

Während der Zivilisationsbegriff, der auf das lateinische civis (Bürger) und seine Ableitungen civilis und civilitas zurückgeht, bis dahin eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt hatte, stieg er im 18. Jahrhundert durch die Neubildung civilisation/civilization im Französischen und Englischen zum Pendant des modernen, weitgefassten Kulturbegriffs auf. Zivilisation fand dann Eingang ins Deutsche, womit der hier entscheidende Punkt in den Blick gerät: ihre Entgegensetzung zur (deutschen) Kultur. Wenn er Kultur und Zivilisation als asymmetrische Gegenbegriffe verwendet[14], steht Thomas Mann in einer Tradition, deren Beginn der Soziologe Norbert Elias in seiner Studie Über den Prozess der Zivilisation (1939) ins 18. Jahrhundert legte.[15] Die jüngere Forschung hat diese Datierung als unhistorisch ausgewiesen, weil damit eine spätere Entwicklung zurückprojiziert werde.[16] Bis in die 1880er Jahre hinein wurden die beiden Begriffe meist synonym gebraucht. Im Zeitalter des scheinbar grenzenlosen Fortschritts drückten sie vor allem ein gesamteuropäisches Selbstbewusstsein aus. Wenn sie danach zunehmend in ein Oppositionsverhältnis gebracht wurden, dann deshalb, weil man nun besonders im Deutschen begann, die negativen Folgen des Fortschritts der Zivilisation zuzuschlagen.

Auf diese zivilisationskritische Basis konnten die intellektuellen Kulturkrieger 1914 zurückgreifen, als sie den Gegensatz in nationalisierter Form zu einem Instrument der Kriegsdeutung machten.[17] Für den damit erreichten begriffsgeschichtlichen Höhepunkt der Antithese von Kultur und Zivilisation führen die einschlägigen Abrisse Mann jeweils als Kronzeugen an, wobei sie weder den Ursprung in Geist und Kunst (1909) erwähnen, noch die Revision, die er in den Zwanzigerjahren vorzunehmen begann.[18] Eine genauere werkgeschichtliche Behandlung des Themas hat selbst die Thomas-Mann-Forschung bisher nur in Ansätzen geleistet, mit Ausnahme der die Vorgeschichte einbeziehenden Arbeit Besslichs.

Die relevante Fachliteratur zu Mann lässt sich am übersichtlichsten durch eine gemischte Kategorisierung bündeln, die sich einerseits an Themen, andererseits an verdienten Forschern orientiert. Zu Letzteren zählen Eckhard Heftrich, Helmut Koopmann, Hermann Kurzke, Herbert Lehnert, Hans Rudolf Vaget, Hans Wißkirchen und Hans Wysling. Sie alle sind in der Bibliographie mit mehreren Arbeiten aufgeführt.[19] Besonders Kurzke und Vaget haben den historisch-politischen Thomas Mann ins Zentrum gerückt. Während Kurzke mit Vorliebe den konservativen und ästhetizistischen Tendenzen in Manns Werk nachspürt, betont Vaget – wie es auch hier geschehen wird – die Bedeutung, die dem Autor als Diagnostiker der Zeitgeschichte zukommt.

Ins nähere Umfeld der Studie gehören diejenigen Untersuchungen, die sich mit dem Deutschlandthema sowie mit Manns Verhältnis zur Politik befassen – was seit jeher, schon unter den Zeitgenossen,[20] zu den umstrittensten Bereichen der Forschung gehörte. Grundlegend auf diesem Feld war der Politologe Kurt Sontheimer mit seiner Monographie Thomas Mann und die Deutschen (1961),[21] die das Bild eines engagierten Fürsprechers der Demokratie zeichnet. Eine paradigmatische Gegenposition vertritt Joachim Fest in seinem Essay Die unwissenden Magier (1985). Der Titel nimmt ein Zitat des Historikers Golo Mann über seinen Vater Thomas und seinen Onkel Heinrich auf, das zum geflügelten Wort für die angebliche Inkompetenz der Brüder in politischen Fragen geworden ist. Mit dem Anspruch, die Analyse um die Sontheimer noch nicht vorliegenden Tagebücher und Briefeditionen zu erweitern, hat sich kürzlich Manfred Görtemaker des Themas angenommen. Obgleich er feststellt, politisches Engagement und literarisches Schaffen ließen sich in Manns Fall »nur schwer trennen«, berücksichtigt der Historiker die Romane und Erzählungen nicht.[22] Er verpasst damit das Ziel, den Autor umfassend als politischen Schriftsteller zu würdigen. Eingeschränkter, aber präziser operiert Frank Fechner in Thomas Mann und die Demokratie (1990). Die fundierteste neuere Studie über die »Repräsentation Deutschlands« im Mann’schen Werk ist Jochen Strobels Entzauberung der Nation (2000).

Zum Kernthema einer deutschen Kultur existieren keine systematischen Untersuchungen, viele Arbeiten behandeln aber einzelne Aspekte davon. Insgesamt lässt sich sagen, dass Mann zu den am besten erforschten Autoren zählt. Deswegen in die topische Klage über die Unüberblickbarkeit der Fachliteratur einzustimmen, wäre verfehlt. Es gilt, ihr Reflexionsniveau zu nützen, um ein Thema zu verfolgen, das doppelt legitimiert scheint. Zum einen durch den Stellenwert, den es in Manns Werk einnimmt; und zum andern durch seinen Bezug zur existenziellen Herausforderung, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht nur der deutschen, sondern der Kultur der Menschheit überhaupt stellt. Was Kultur ist, was sie sein soll, wodurch sie sich womöglich selbst gefährdet: Das ist in Manns Œuvre so komplex wie anschaulich dargestellt.

Teil I:Kultur vs. Zivilisation (1909–1933)

1Der ästhetische Ursprung des Gegensatzes von Kultur und Zivilisation in Geist und Kunst (1909)

1.1Grundzüge und Kontext: Décadence, Zivilisationskritik und ästhetische Moderne um 1900

1.1.1Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich (1871–1918)

Mit der Ausrufung Wilhelms I. zum deutschen Kaiser am 18. Januar 1871 kam ein spektakulärer Prozess zum Abschluss. In wenigen Jahren war es Kanzler Otto von Bismarck gelungen, die europäischen Machtverhältnisse zu verändern und einen deutschen Nationalstaat zu schaffen, der das internationale Gleichgewicht erst nach der Entlassung seines Gründers im Jahr 1890 massiv zu gefährden begann. Der junge Kaiser Wilhelm II. setzte auf eine imperiale Weltpolitik und führte das Reich in eine Isolation, deren Folgen sich nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo offenbarten. Aufgrund der einseitigen Ausrichtung des Reichs auf die Habsburgermonarchie und des verwickelten internationalen Bündnissystems mündete die Krise auf dem Balkan in den Ersten Weltkrieg, der 1918 nicht nur mit einer deutschen Niederlage, sondern auch mit dem Zusammenbruch der Hohenzollern-Herrschaft endete.

Im Innern war das Reich durch eine eigentümliche »Schwebelage« zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie gekennzeichnet.[23] Zwar war der Kanzler nicht dem Parlament, sondern dem Kaiser gegenüber verantwortlich, aber dank der Gesetzes- und Haushaltshoheit von Bundesrat und Reichstag, zu dem ein uneingeschränktes Wahlrecht für Männer bestand, blieb er vom Parlament abhängig. Das Deutsche Reich war ein Rechtsstaat, doch bestimmten die alten Eliten die Justiz- und Verwaltungspraxis. Für die aufstrebende Schicht des Bürgertums gab es wenig politischen Spielraum. Nach der Erfüllung der nationalen Wünsche von oben zog sich insbesondere das Bildungsbürgertum weitgehend aus der Politik zurück – ein Zustand, für den Thomas Mann die Formel einer »machtgeschützten Innerlichkeit« prägte. (Leiden und Größe Richard Wagners [1933], IX, 419)[24]

Damit gerät das Verhältnis von Politik und Kultur in den Blick, in dem der Historiker Thomas Nipperdey einen Schlüssel für das Verständnis der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sieht.[25] Eine tragende Rolle spielte die Figur des unpolitischen Deutschen, die in Mann ihren herausragenden Protagonisten und bedeutendsten Kritiker zugleich fand. Die Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 sind Ausdruck und Abgesang einer bürgerlichen Tradition, die Kultur und Bildung in einen Gegensatz zur Politik brachte, mit emphatischer Präferenz für die unpolitische Sphäre der Kultur – und mit politischen Folgen. »Eine behütete Provinz jenseits der Politik konnte es nicht auf Dauer geben, hier wuchs das Potenzial, das dem Sog totaler und antihumaner Politik nicht widerstehen konnte«, schreibt Nipperdey am Ende des ersten Bandes seiner Deutschen Geschichte 1866–1918.[26] Das entspricht der Einsicht, die Mann nach dem Ersten Weltkrieg zu einer kritischen Revision der deutschen Kulturidee veranlasste.

Schon Friedrich Schiller hatte 1797, ernüchtert durch den Verlauf der Französischen Revolution und die politische Ohnmacht seiner zersplitterten Heimat, die deutsche Größe in die »Kultur« verlegt und behauptet, sie bleibe von den »politischen Schicksalen« der Nation unabhängig.[27] Diese Hochschätzung der Kultur entsprang einerseits historischen Enttäuschungen. Andererseits setzt sie den funktionalen Ausdifferenzierungsprozess der Moderne voraus: In den Ideenhimmel konnte die Kultur erst aufsteigen, nachdem sie ein eigenständiger Bereich der Gesellschaft geworden war und sich von ihrer Funktion im Dienst der Religion befreit hatte. Am Ende des 18. Jahrhunderts machte sich ein neues kulturelles Selbstbewusstsein breit, wie es Johann Wolfgang Goethe im neunten Kapitel seiner Zahmen Xenien ausdrückt: »Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, / Hat auch Religion; / Wer jene beiden nicht besitzt, / Der habe Religion.«[28]

Als Kunstreligion konnte der ästhetische Kernbereich der Kultur kompensatorisch an die Stelle der eigentlichen Religion treten; die an die Kunst gerichteten Ansprüche wuchsen buchstäblich ins Unendliche. Verschiedene Denker in Deutschland, die ein Unbehagen in der Moderne verspürten, betrachteten sie als Heil- und Erlösungsmittel. Friedrich Nietzsche sprach im Vorwort an Richard Wagner, das er seiner Geburt der Tragödie (1872) voranstellte, von der Kunst als der »höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit« des Lebens.[29] Mit dem Werk des Musikdramatikers verband der Philosoph die Hoffnung auf die Wiedergeburt einer »tragischen« Kultur, die der oberflächlichen Gegenwart »Tiefe« verleihen sollte.[30]

1.1.2Die großen Anreger einer deutschen Kultur: Wagner und Nietzsche

Von Wagner und Nietzsche gingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidende Impulse für die Idee einer deutschen Kultur aus, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirkten. Die intellektuelle Biographie Thomas Manns ist ein Beispiel für diese Wirkung, bei der es nicht nur um die Pflege der Tradition, sondern auch um eine Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen und Problemen ging – vom Fin de Siècle bis zu Hitler.[31]

Einflussreich wurden Nietzsche und Wagner durch ihre Utopie, einen neuen Mythos aus dem Geist der Musik zu stiften,[32] aber auch durch ihren Ansatz. Beide verbanden das Ideal einer erneuerten deutschen Kultur mit einer Kritik der Gegenwart, die sie als kraftlos und verflacht ansahen. Bei Nietzsche nahm diese Kritik eine Wende gegen die positivistische Gelehrsamkeit, gegen das Anhäufen von totem Wissen im Historismus, gegen Fortschrittszufriedenheit und das selbstherrliche Ausruhen auf den Lorbeeren des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71, von dessen siegreichem Ausgang er befürchtete, er könnte sich »in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ›deutschen Reiches‹« verwandeln.[33] Nietzsche war enttäuscht von der im Krieg errungenen Reichsgründung, weil sie nicht jene Auffrischung der Kultur brachte, die er – alles andere als ein Pazifist – vom »militärischen Genius« erhofft hatte.[34] Er war überzeugt, »dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege – also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei – bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen«.[35]

Die Vorstellung einer kulturerneuernden Wirkung des Kriegs, die sich schon beim vorsokratischen Philosophen Heraklit und seinem Wort vom Krieg als Vater aller Dinge findet, hängt unmittelbar mit Nietzsches kulturdiagnostischem Gegensatzpaar des Apollinischen und des Dionysischen zusammen. Hinter Nietzsches bellizistischen Ansichten steht ein Kulturmodell, das er zunächst in ästhetischem Kontext zur Deutung der griechischen Tragödie entwickelt hatte.[36] In der grundlegenden Frühschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) ist die »Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen« der Schlüssel, um das – wie es Rüdiger Safranski pointiert – »Betriebsgeheimnis der Kultur« zu verstehen.[37] Das dionysische Prinzip ist die eigentliche Lebensmacht, ähnlich dem »Willen« Schopenhauers[38], schöpferisch, rauschhaft, entgrenzend, heillos und grausam. Der Name Apollos dagegen steht für die Sublimierung der dionysischen Energien, für Form, Maß, Klarheit und das principium individuationis. In diesem Spannungsfeld verortet Nietzsche die Kultur: Sie lebt von der dionysischen Grundsubstanz, muss sich aber gleichzeitig von ihr abgrenzen, um nicht im orgiastischen Chaos unterzugehen. Umgekehrt ist die Kultur in ihrer schöpferischen Potenz und damit in ihrer Lebenskraft gefährdet, wenn sie den Bezug zu ihrem dionysischen Grund verliert.

Von hier aus wird ersichtlich, warum für Nietzsche die Denkfigur eines Rückfalls in die Barbarei so wichtig wurde: Sie sollte der Wiederbelebung einer saftlosen Kultur dienen, die zwar viel wissen mochte, aber nichts mehr schuf. Mit dieser Position, die ihren emphatischen Kulturbegriff aus radikaler Kulturkritik gewann, beeinflusste Nietzsche das Denken einer ganzen Generation. Mit ungeheurem Erfolg popularisiert wurde sein Ansatz durch Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890), einen kulturkritischen Bestseller, der es in zwei Jahren auf neununddreißig Auflagen brachte. Wie Fritz Stern in seiner Untersuchung über den Kulturpessimismus als politische Gefahr (1963) darlegt, warnten vielgelesene Publizisten wie Langbehn, Paul de Lagarde oder Arthur Moeller van den Bruck vor dem Verlust kultureller Werte, indem sie in ihren Büchern all das zusammenstellten, was sie an der industriellen Zivilisation als unbefriedigend empfanden.[39] Dieses Unbehagen fand seit den 1880er Jahren einen begrifflichen Niederschlag in der Unterscheidung von positiv bewerteter Kultur und negativ taxierter Zivilisation, der man die Folgelasten der Modernisierung zuschlug.

Unter dem Stichwort »Kultur contra Zivilisation« ist ebenfalls schon bei Nietzsche zu lesen:

Die Höhepunkte der Kultur und der Zivilisation liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus von Kultur und Zivilisation nicht irreführen lassen. Die großen Momente der Kultur waren immer, moralisch geredet, Zeiten der Korruption; und wiederum waren die Epochen der gewollten und erzwungenen Tierzähmung des Menschen (›Zivilisation‹ –) Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen. Zivilisation will etwas anderes, als Kultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes …[40]

Mit der, wie man sie im Fachjargon nennt, lebensphilosophischen Revolte gegen die moderne Zivilisation ist nur ein wichtiger Impuls beschrieben, der von Nietzsches Denken auf das Fin de Siècle ausging. Ein zweiter Rezeptionsstrang ergab sich aus dem psychologischen Kritizismus, den er nach seinem Bruch mit Wagner nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Idol bewies, insbesondere im Fall Wagner (1888). Nietzsche, so gelesen, ist dann nicht der Stichwortgeber einer mythischen Kulturrevolution, sondern der schonungslose Analytiker, der mit seiner Entlarvungspsychologie den Typus des modernen, »dekadenten« Künstlers durchleuchtet. Wagner wurde schon im Fin de Siècle keineswegs nur als rückwärtsgewandter, deutschtümelnder Mystagoge wahrgenommen, sondern auch als Modernist par excellence.[41]

Das ist nicht allein aus Gründen der historischen Gerechtigkeit gegenüber zwei Figuren zu betonen, die oft einseitig vereinnahmt oder verfemt werden; wichtig ist dieser Umstand auch für Thomas Mann. Die Notizensammlung Geist und Kunst[42] – Materialbasis für einen unausgeführten Literatur-Essay und die Keimzelle der kulturtheoretischen Überlegungen des Schriftstellers – ist in ihren widersprüchlichen Resultaten nur vor dem skizzierten Hintergrund verständlich. Obwohl die Stoßrichtung des geplanten Aufsatzes, anders als die antiliberalen Kulturkritiker Langbehn und Lagarde, dem psychologisch-kritischen Nietzsche folgte, entwickelte Mann hier zugleich die Grundlagen für seine zivilisationsfeindliche Einstellung im Ersten Weltkrieg.

1.1.3Zwischen »Geist« und »Leben«: Geist und Kunst im Kontext des Frühwerks

Das Notizenkonvolut Geist und Kunst zeugt von Manns Versuch, einen ästhetischen Essay nach dem Vorbild von Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1796) zu verfassen. Mit Hilfe einer Künstlertypologie wollte der Autor Klarheit über das Wesen der Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen erlangen. Er orientierte sich überdies stark an Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagner,[43] und zwar nicht vornehmlich in historischer, sondern in zeitkritischer Absicht. Die »verwirrenden Wirkungen«, die von Wagners Schriften ausgingen, seien »erst jetzt in unserem geistigen Leben so recht spürbar geworden«, schrieb Mann während der Beschäftigung mit dem geplanten Essay. (In einer Antwort auf eine Rundfrage, 7.3.1910, DüD I, 288) Seine Erörterungen reagierten auf die kulturelle Situation der Epoche, vor allem auf eine von ihm diagnostizierte »Literaturfeindschaft« der Deutschen, die er auf Wagners Vorstellung des überliterarischen Gesamtkunstwerks zurückführte. (Geist und Kunst, Not. 10) Besonders spürbar sei diese Feindschaft in seinem damaligen Wohnort München gewesen, »einer Stadt, deren Sinnen- und Festkultur den Norddeutschen entzückt, deren geistige Kultur aber die eines Bräuknechtes ist«. (DüD I, 288)

Während seine eigene künstlerische Existenz mit ihrer Faszination für den Verfall und ihrem »Interesse am Pathologischen« in der Décadence wurzelte (Geist und Kunst, Not. 103),[44] wandte sich Mann gegen eine Zeittendenz, die im Namen eines einfachen und gesunden Lebens eine Regeneration der Kunst und der Kultur anstrebte. Die Bezeichnung »Literat« wurde in solchem Umfeld zu einem »Schimpfwort« (DüD I, 288; vgl. Geist und Kunst, Not. 27), und Manns Ziel war es, diesen Künstlertyp, der sich durch psychologische Scharfsicht und analytische Erkenntnis auszeichnete, zu rehabilitieren. Die modische, spezifisch deutsche Abwertung des Schriftstellers oder Literaten gegenüber dem Dichter, der gestalte, statt zergliedere, wies er zurück. (DüD I, 289f.; Geist und Kunst, Not. 39, 46, 47)[45] Alle »sittliche Veredelung und Steigerung« entstamme dem Geist der Literatur, hält Notat 41 fest.

Diese Ansicht wird verständlich, wenn man einen Blick auf die Begriffe »Geist« und »Kritik« wirft, die Mann einander gleichsetzte. (Über die Kritik [1905], XIII, 246) Entfernt davon, den Geist der Kritik für zersetzend zu halten, wie es mit einem antisemitischen Unterton oft geschah,[46] lobte er ihn als »Prinzip der Ungenügsamkeit«, das die Menschen zu Höherem treibe. In seinem Frühwerk findet sich deshalb der Topos des Literaten als Heiligen – in einer Ausprägung, die der Kunstreligion der ästhetischen Moderne und ihrem Oberpriester, dem Dichter Stefan George, widersprach. Der Literat war für Mann heilig, nicht weil er nach dem Credo des ästhetischen Katholizismus, dem George huldigte, »künstlichen Weihrauch« produzierte,[47] sondern durch die Klarheit und die Schärfe seiner Erkenntnis.

Die bisher skizzierten Gedanken des (geplanten) Literatur-Essays scheinen eine einheitliche Richtung aufzuweisen. Liegen sie nicht ganz auf der Linie der Künstlernovelle Tonio Kröger (1903), die, beispielhaft für Manns Frühwerk, den Fundamentalgegensatz von Geist und Leben gestaltet?[48] Die Novelle stellt den schwierigen Geist des Schriftstellers den »Wonnen der Gewöhnlichkeit« gegenüber, die das Leben der Blonden und Blauäugigen auszeichne – was keineswegs abschätzig gemeint ist. (Tonio Kröger [1903], VIII, 303) Die gewöhnlichen, einfachen Menschen haben das »Glück« auf ihrer Seite, nach ihnen sehnt sich der einsame Künstler:

Nein, das ›Leben‹, wie es als ewiger Gegensatz dem Geiste und der Kunst gegenübersteht, – nicht als eine Vision von blutiger Größe und wilder Schönheit, nicht als das Ungewöhnliche stellt es uns Ungewöhnlichen sich dar; sondern das Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer Sehnsucht, ist das Leben in seiner verführerischen Banalität! (VIII, 302)

Während die Begriffe »Geist« und »Kunst« im Tonio Kröger zusammenfallen, treten demgegenüber in den Notizen zum Literatur-Essay signifikante Verschiebungen auf. Die Kunst gerät hier in einen doppelten Gegensatz zum Geist. Im ersten, unproblematischeren Fall spiegelt diese neue Opposition das erwähnte Vorurteil der sinnenfreudigen Kunststadt München gegen den Geist der Literatur. Kunst war in diesem Diskussionszusammenhang mit »Plastik« im Sinn einer positiven Kreativität verbunden, die Literatur aber wurde mit dem Stigma der zersetzenden Kritik versehen. Auch wenn Mann diesbezüglich von einem bornierten Begriff des Plastischen spricht (Geist und Kunst, Not. 104), gehört es als ästhetische Kategorie zu seinem gedanklichen Repertoire (vgl. einen Brief an Kurt Martens, 28.3.1906, Br I, 62).

Ist Kunst nicht doch mehr als kritischer Geist? Das ist die Frage, die der Literatur-Essay stellt und schließlich mit ja beantwortet. Zwar entlarvt er die Rede vom »wahren Dichtertum« als ideologisch, aber Mann wusste, dass ein Kunstwerk sich nicht in aufgeklärter Rationalität erschöpft. An einigen Stellen von Geist und Kunst versuchte er die irrationalen Wurzeln künstlerischer Produktivität freizulegen, und das begriffliche Werkzeug, mit dem er diesen Versuch unternahm, ist der Gegensatz von Kultur und Zivilisation. Dabei stieß er auf Resultate, die schwer mit der Grundaussage des geplanten Essays vereinbar waren, die aber später, als der Kriegsausbruch das geistige Klima verändert hatte, unter politischen Vorzeichen aktualisiert werden konnten.

In Geist und Kunst liegt der werkgeschichtliche Ursprung jenes Gegensatzes, der 1914 zum zentralen Instrument intellektueller Kriegsdeutung wurde, sowohl in Deutschland wie aufseiten des französischen Erbfeinds. Während die Begriffshistoriker in ihren Überblickdarstellungen davon keine Kenntnis nehmen, weiß die Thomas-Mann-Forschung seit längerem um diesen Ursprungsort.[49] Selbst Spezialisten übersahen jedoch die Bedeutung, die den entsprechenden Notizen in Manns Œuvre weit über den Ersten Weltkrieg hinaus zukommt. Indem er die Kultur nicht nur von der Zivilisation unterscheidet, sondern sie gleichzeitig in die Nähe der Barbarei rückt, ergibt sich von hier aus ein Zusammenhang mit der Epoche des Nationalsozialismus, die für Mann durch eine willentlich vollzogene Re-Barbarisierung gekennzeichnet war. Noch der Doktor Faustus (1947), der sich angesichts der Erfahrungen der NS-Zeit kritisch mit der deutschen Kulturtradition auseinandersetzt, nimmt auf die prekäre Konstellation Bezug, die der Autor in Geist und Kunst probte – ohne damals zu ahnen, dass der Rückfall in die Barbarei zu einem Signum des Jahrhunderts werden sollte.

1.2Der Künstler als Barbar: Die irrationalen Wurzeln der Kultur

Der Literatur-Essay war ein zu weites Experimentierfeld, als dass Mann dafür eine definitive Struktur gefunden hätte. Er trat das Projekt schließlich an eine seiner Figuren ab. Im Tod in Venedig (1912) wird der Protagonist Gustav Aschenbach als Verfasser einer »leidenschaftlichen Abhandlung über ›Geist und Kunst‹« vorgestellt, »deren ordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit ernste Beurteiler vermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naive und sentimentalische Dichtung zu stellen«. (VIII, 450) Über Schillers Künstlertypologie, die, inspiriert von einer lebhaft empfundenen Differenz zu Goethe, einen unmittelbar-schöpferischen von einem modernen, mit kritischem Bewusstsein konstruierenden Dichter unterscheidet, kam Mann selber nicht hinaus.[50] Er lobte Schillers Aufsatz als »klassischen Essay der Deutschen, der eigentlich alle übrigen überflüssig« mache, fügte aber hinzu, dass die Wirklichkeit in dessen »Antithesenwelt« niemals rein aufgegangen sei. (Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ [1925], IX, 177) Die Kritik ist auch als Selbstkritik zu lesen. Noch in Der Künstler und der Literat (1913), einem Text, der im Kern auf die Notizen 5, 41 und 62 aus Geist und Kunst zurückgeht, steht die Bemerkung voran:

Eine große Abhandlung über Geist und Kunst, Kritik und Plastik, Erkenntnis und Schönheit, Wissen und Schöpfertum, Zivilisation und Kultur, Vernunft und Dämonie wurde vor Jahren erträumt und verworfen. Der Gegenstand führte ins Ungemessene, und die essayistische Disziplin des Verfassers reichte nicht aus, ihn zu komponieren. (X, 62; vgl. Not. 124)

Das Feld, um das Manns Gedanken zum Literatur-Essay kreisten, wird hier von paarweise aufeinander bezogenen Begriffen abgesteckt, die, jeweils unter sich in einem bestimmten Verhältnis stehend, in ihrer Gesamtheit zwei verschiedenen Sphären angehören. Einer Reihe »Geist«, »Kritik«, »Erkenntnis«, »Wissen«, »Zivilisation«, »Vernunft« stehen die Begriffe »Kunst«, »Plastik«, »Schönheit«, »Schöpfertum«, »Kultur« und »Dämonie« gegenüber. Die titelgebenden Termini des Literatur-Essays führen die Listen an. Wie die entscheidende Passage in den Notizen zeigt, standen sie nicht in einem Identitäts-, sondern in einem Oppositionsverhältnis: »Der Geist ist zwar solidarisch und identisch mit der Kultur, sofern Kultur der Gegensatz von Natur ist«, heißt es in Notat 118. »Aber das ist sie ja nur in einem gewissen Sinne, und es gilt hier, sich über die Begriffe der Kultur und der Zivilisation zu verständigen.«

Niemand werde leugnen, »daß etwa Mexiko zur Zeit seiner Entdeckung Kultur besaß, aber niemand wird behaupten, daß es damals civilisiert war«. Zivilisation und Kultur, wie auch Geist und Kunst, werden unter dieser Perspektive zu Gegenbegriffen. (Vgl. Not. 62) Doch damit nicht genug. Der Gedankengang des Autors, dem man hier regelrecht beim Denken zuschauen kann, führt weiter. »Kultur ist offenbar nicht der Gegensatz von Barbarei«, folgert er aus der Tatsache, dass die meisten Hochkulturen in der Geschichte der Menschheit keineswegs den zivilisatorischen Standards der Moderne entsprachen. Kultur sei »oft genug nur eine stylvolle Wildheit« gewesen,

und civilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Styl, Form, Haltung, Geschmack, ist irgend eine gewisse geistige Organisation der Welt und sei das Alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Cultformen, Veitstanz, Inquisition, Autodafes, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und den buntesten Greuel umfassen. Civilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisirung, Auflösung, – Geist.

Lässt man die ethischen Implikationen dieses Definitionsversuchs einmal beiseite, liegt es durchaus in der Logik eines Bestrebens, das darauf aus ist, die Kultur am Gegenbegriff der Zivilisation zu schärfen, wenn jene ältere Antithese aufgelöst wird, welche die Kultur in Abgrenzung zur Barbarei bestimmte. Im neuen Gegensatz, an den sich Mann tastend heranwagt, während er wenige Jahre danach zur Freund und Feind scheidenden Kampfparole mutieren sollte, steht die Kultur für das formbildende, schöpferische Prinzip. Die kulturellen Hervorbringungen sind durch eine innere Einheit und Geschlossenheit geprägt, sie tragen die Handschrift eines spezifischen Formwillens – ein Punkt, in dem sich Manns Definition mit derjenigen Nietzsches in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung (1873) trifft, wonach Kultur »vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes« sei.[51]

Brisanz erhält die Passage aus Notat 118 durch die Erkenntnis, dass die Kulturphänomene einen Eigenwert haben, der sich nicht an ethischen Maßstäben und Vernunftkriterien messen lässt. Diese sind Sache der Zivilisation: Sie tritt der moralisch indifferenten Kultur als nachgeordnetes, auflösendes, zersetzendes Moment entgegen. Insofern sie Geist und Vernunft ist, sucht sie den kulturellen Bestand kritisch-rational zu durchdringen. Ihrem aufklärerischen Impetus entspringt die Absicht, die Leidenschaften zu kontrollieren, den Aberglauben auszurotten und den Exzess durch menschliches Maß zu ersetzen.

Die Kunst, um die es Mann gemäß der ästhetischen Ausrichtung seiner Reflexionen zuerst und zuletzt ging, erscheint so in einem veränderten Licht. Der Fokus richtet sich nicht mehr auf ihre Beziehungen zum Geist, sondern auf die irrationalen Wurzeln der Produktivität. »Wohin die Kunst gehört, ob sie eine Sache der Kultur oder der Zivilisation ist, könnte danach nicht zweifelhaft sein, selbst wenn nicht ein kluger Künstler einmal eine lehrreiche und entscheidende Bemerkung darüber angestellt hätte«, notierte Mann im Anschluss an die Definition der beiden Begriffe.[52] Dieser Künstler war Georges Bizet, der Komponist der Oper Carmen (1875), dessen Äußerungen Notat 75 wie folgt zusammenfasst:

Er sagt, daß der geistige Fortschritt die Kunst tötet, daß die abergläubigsten Gesellschaften die künstlerischsten waren. Er glaubt an keine Kunst der Vernunft, der Wahrheit, der Exaktheit. Er würde eine viel bessere Musik schreiben, wenn er an Alles glaubte, was nicht wahr ist. Die Kunst geht in dem Maße herunter, wie die Vernunft fortschreitet.

Das im Kommentar des Herausgebers Wysling als »nicht ermittelt«[53] geltende Zitat stammt aus einem Brief, den Bizet im Oktober 1866 an seinen Schüler und Freund Edmond Galabert richtete.[54] Mann hat die Quelle gut gewählt: Sie ist eines der bedeutendsten Briefzeugnisse des Komponisten, das dessen Wandel von einem Homme des Lumières im Geist Voltaires zu einem Kritiker des zivilisatorischen Fortschritts illustriert.[55] Im Original lauten die Sätze:

Mais malheureux que vous êtes, votre progrès inévitable, implacable, tue l’art! […] Les sociétés les plus infectées de superstitions ont été les grandes promotrices de l’art […]. Le fantastique, l’enfer, le paradis, les Djinns, les fantômes, les revenants, les Péris, voilà le domaine de l’art! Ah! prouvez-moi que nous aurons l’art de la raison, de la vérité, de l’exactitude, et je passe dans votre camp avec armes et bagages. […] Comme musicien, je vous déclare que si vous supprimez l’adultère, le fanatisme, le crime, l’erreur, le supernaturel, il n’y a plus moyen d’écrire une note. […] Tenez, je suis un piètre philosophe (vous le voyez bien) eh bien, je vous assure que je ferais de meilleure musique si je croyais à tout ce qui n’est pas vrai! Bref, résumons-nous: l’art dégringole à mesure que la raison avance.[56]

Écrasez l’infâme: Mit dieser Parole formulierte der Philosoph Voltaire im 18. Jahrhundert den klassischen Schlachtruf aufgeklärter Rationalität. Ihm widerspricht Bizet mit der Leidenschaft eines Apostaten vom modernen Säkularismus. Seine Perspektive war vor allem eine produktionsästhetische: Weil die Einbildungskraft seiner Auffassung nach von Chimären und Gesichten lebt,[57] gelangte er zur Überzeugung, die Konjunkturen von Kunst und Wissenschaft verliefen – wissenschaftlich ausgedrückt – umgekehrt proportional. Bizets Aufzählung irrationaler, immoralischer Kunsterscheinungen, die Fanatismus, Aberglauben, Irrtum und Verbrechen einschließen, inspirierte Mann offensichtlich zur Liste jener bunten »Greuel«, die er in Notat 118 der »Kultur« zurechnete. Ähnlich heißt es auch bei Nietzsche: »Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren.«[58]

Auf dieser Basis errichtete Mann eine für ihn neue antithetische Ordnung, in der die Kunst als Teilbereich der Kultur dem Geist der Zivilisation gegenübersteht. »Der Geist ist bürgerlich, er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaft, der Natur, er ist antidämonisch, antiheroisch, er ist selbst antigenial …«, heißt es am Schluss der Notiz. Ein antigenialer Geist? Das eben ist fortan der Geist der Zivilisation.

Belegt wird diese Zuordnung durch eine geringfügig veränderte Fassung von Notat 118, die zusammen mit einigen weiteren Notizen aus dem geplanten Essay am 25. Dezember 1909 im Berliner Tag erschien.[59] Dort steht in der Reihe jener Phänomene, die Bizet als das »Verhängnis der Kunst« bezeichnet habe, neben »Vernunft« und »Fortschritt« auch ein Wort, das im Original zwar nicht vorkommt, aber von Mann umstandslos als sinngemäß eingesetzt wurde: die »Zivilisation«. Die »Barbarei« hingegen sah Mann ausdrücklich »nicht« in einem Gegensatz zur Produktivsphäre der »Kultur« – ein Umstand, den das kursive Schriftbild zusätzlich hervorstreicht.

Der Künstler als Barbar: Dieser Gedanke markiert die äußerste Gegenposition zur Vorstellung vom Literaten, der die Gesellschaft moralisch bessern will. Was im Ergebnis als Widerspruch erscheint, lässt sich innerhalb des Notizenkonvoluts von Geist und Kunst als Prozess verfolgen, der wiederum nicht losgelöst vom kulturellen Umfeld des beginnenden 20. Jahrhunderts ablief. Er macht es nötig, das Bild zu korrigieren, wonach der Literatur-Essay eindeutig die »Intellektualität des repräsentativen modernen Künstlers« verteidigt – im Sinn einer Auffassung, die in der ästhetischen Selbstreflexion ein permanentes Binnenproblem der Kunst der Moderne sieht. (Geist und Kunst, Not. 13) Notat 103 registriert beunruhigt, aber fasziniert das Heraufkommen einer »neue[n] Generation« von Schriftstellern, die »jenseits der Modernität« agiere, das heißt jenseits psychologisch-intellektueller Problematik. Als Repräsentant dieser neuen Generation, die im Kontext der Lebensreform- und der Wandervogel-Bewegung[60] eine »unverhunzte Gefühlsintensität« anstrebte, nannte Mann den 1887 geborenen Wilhelm Speyer, der in der Novelle Wie wir einst so glücklich waren (1909) die programmatische Forderung aufstellte, man müsse »das Leben mit gesunden Händen anfassen«.[61]

In solchen Aussagen schlug sich jene andere Nietzsche-Rezeption nieder, die nicht auf den Kritiker und Moralisten, sondern auf den Bejaher des Lebens und des »Leibes« rekurrierte. (Geist und Kunst, Not. 103) Gesundheit wurde zu einem Kernbegriff dieser lebensphilosophisch angehauchten Weltanschauung. Wie Mann nicht entging, war Nietzsche einer der einflussreichsten Anreger der »Jüngsten« – neben dem amerikanischen Lyriker Walt Whitman. (Geist und Kunst, Not. 103) Der Dichter aus der Neuen Welt verkörperte für die neue Generation jene regenerativen Kräfte, die sie im europäischen Fin de Siècle vermisste.[62] Interessant ist nun, dass in diesem Rezeptionszusammenhang der Begriff der »Barbarei« fällt. Der Wiener Schriftsteller Hermann Bahr bemerkte 1908 unter dem schlichten Titel Barbaren in der Neuen Rundschau, die Menschheit habe bei Whitman »etwas Barbarisches in ihrer fraglosen Unschuld«: »Der Apfel vom Baum der Erkenntnis ist verdaut, nun weiss sie weder das Gute noch das Böse mehr, es ist ihr alles recht, sie geht wieder im Paradiese.«[63]

Wie eine Briefstelle dokumentiert, kannte Mann Bahrs Whitman-Interpretation, die seiner latenten Sehnsucht nach irrationaler Lebensunmittelbarkeit entgegenkam. Am 11. Januar 1909 schrieb er an Kurt Martens, Bahr halte es neuerdings mit Whitmans »indianischem Rousseauismus und mit der demokratischen Bewegung in Deutschland«. (Br I, 79) Was er hier in politischer Hinsicht aussetzte, sollte er 1922 in seiner Rede Von deutscher Republik kopieren: Die Berufung auf Whitman dient dort dazu, der nationalkonservativen deutschen Jugend die Demokratie schmackhaft zu machen.[64]1909 war Mann am demokratischen Whitman noch nichts gelegen. Mit den begrifflichen Unterscheidungen, die er im Hinblick auf den Literatur-Essay traf, versuchte er das Wesen der Kunst herauszupräparieren. Wer deswegen aber glaubt, Mann habe damals in ästhetischer Unschuld mit einer Begriffskonstellation experimentiert, die 1914 einen ganz anderen Gehalt bekam, täuscht sich. Bereits ein halbes Jahrzehnt vor Kriegsausbruch notierte er, Bizet habe seufzend erkannt, »daß die Zukunft nicht der Kunst, sondern ›den Vervollkommnungen unseres sozialen Kontraktes‹ gehört«.[65] Genau dies ist die Furcht, die auch die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) motivierte – die Furcht, die ästhetisch-metaphysische deutsche Kultur könnte dem Nivellierungsdruck der Zivilisation erliegen.

1.3Die »Kultur des sprachlichen Ausdrucks«

Dass sich Mann in seiner Volte gegen den zivilisatorischen Geist vom Franzosen Bizet leiten ließ, erhält vor seiner späteren Identifikation der Zivilisation mit Frankreich eine ironische Note. Allerdings spricht Bizet nirgends von einem Gegensatz der Zivilisation zur Kultur. Der begriffsgeschichtliche Hintergrund legt nahe, dass die Anregung dazu aus dem deutschen Sprachraum stammte, denn dort vor allem wurde dieser Gegensatz gepflegt. Tatsächlich exzerpiert Mann in Notat 67 ein Zitat des Kulturhistorikers Karl Lamprecht, der als Verfasser einer mehrbändigen Deutschen Geschichte (1891–1909) und einer Unzahl weiterer Werke zu den bekanntesten und umstrittensten Geisteswissenschaftlern seiner Zeit gehörte[66] – ein Zitat, das die Antithese von Kultur und Zivilisation in klassischer Gestalt zeigt. Typisch war die Zuordnung der Zivilisation zur Technik, während die Kultur vornehmlich auf geistige Phänomene bezogen und, was die Wertung betrifft, als höher eingestuft wurde. Lamprecht definiert:

Zivilisation bedeutet Herrschaft über die leblose Natur und die organische Natur, einschließlich der bloßen, fremder Gewalt unterworfenen Physis des Menschen durch aeußere, technische, in unserer Zeit vor allem wissenschaftlich-technische Mittel: Kraftkonzentratoren, Kraftumwandler, Arbeits- und Zerstörungs Maschinen etc. (Geist und Kunst, Not. 67)[67]

Zivilisation in diesem Sinn habe mit »Kultur« nur indirekt zu tun. Sie könne bestehen,

ohne daß von einem spezifisch hohen Kulturstand Besonderes zu bemerken wäre … Kultur ist etwas anderes, und zwar, wie schon eine elementare universalgeschichtliche Erfahrung ergiebt, weit Höheres. Kultur bedeutet die spezifische geistige Behauptung der Welt: ist Religion, Kunst, Wissenschaft, insofern diese der Weltanschauung zustrebt: ist das Unvergängliche, weil unbedingt Traditionsfähige im Leben der Völker und dadurch das, was letzten Endes Ansehen und Ausschlag giebt im Verlauf der Geschichte.

Kultur als das höhere geistige Leben – Mann hat diesen definitorischen Kern von Lamprecht übernommen und ihn unmittelbar in seine ästhetische Fragestellung integriert. Dabei ist offensichtlich, dass Lamprechts »geistige Behauptung der Welt« inhaltlich nichts mit jenem Geist gemein hat, den Mann der Zivilisation zuschlug. Im Rückgriff auf Lamprecht mag der Grund für die terminologische Unschärfe liegen, die darin besteht, dass Notat 118 die Kultur als »eine gewisse geistige Organisation der Welt« bestimmt (wo doch der Geist zur Zivilisation gehört). Das Gewicht liegt bei dieser Formulierung auf der »Organisation«: Es geht um die Konstruktion einer Ordnung, eines geschlossenen Bedeutungssystems, das nach dem Maßstab der auf technische und soziale Praxis gerichteten Ratio der Aufklärung durchaus unvernünftig sein konnte. Wenn Notat 118 diese Ansicht zur Behauptung zuspitzt, »Kultur« sei »nicht der Gegensatz zur Barbarei«, bewegen sich die Überlegungen in Notat 67 auf einer vergleichsweise harmlosen Stufe. Aus ihnen spricht noch der ursprüngliche Impetus von Geist und Kunst, die »Literatur« zu verteidigen. Die Höherbewertung der Kultur gegenüber der Zivilisation wird hier durch ihre »notwendige« Bindung an die »literarische Form« begründet. Rhetorisch heißt es im Anschluss an Lamprechts Zitat:

Ist eine solche geistige Behauptung und Organisation der Welt, ist, individuell und national genommen, Kultur als Styl, Form, Haltung, Geschmack denkbar ohne die Kultur des sprachlichen Ausdrucks? Die gute literarische Form ist der natürliche, notwendige Ausdruck aller persönlichen und nationalen Kultur, denn es giebt Dinge, die man überhaupt nicht ausdrückt, es sein denn, man drückte sie gut aus, und mir hat immer geschienen, daß alle Dinge, deren sprachlicher Ausdruck, wie der aller Technika, irrelevant ist, und über die man überhaupt schlecht, häßlich und gemein sprechen und schreiben kann, kulturell nicht in Betracht kommen …

Der Passus ist in zweierlei Hinsicht grundlegend für die weitere Beschäftigung Manns mit der (deutschen) Kultur:

Durch den von Lamprecht vorgegebenen Bezug der Kultur auf das »Leben der Völker«, mit andern Worten: das Konzept einer Nationalkultur. Diesem eignet eine prinzipielle Ambivalenz, die sich in Manns Werk deutlich manifestiert: Es kann zu einer nationalistischen Verengung führen (wie im Ersten Weltkrieg), aber auch eine differenzierte Betrachtung der verschiedenen Kulturen im Plural ermöglichen (wie in Manns Globalisierungskritik von 1945).

Durch die Verbindung von nationaler und persönlicher Kultur, die im Medium des guten sprachlichen Ausdrucks gegeben sei. Einem Schriftsteller, der die »literarische Form« besonders virtuos beherrscht, kommt nach dieser Logik die Rolle eines kulturellen Repräsentanten zu – eine Rolle, die Manns Selbstverständnis prägte. Am klarsten drückt diese Verbindung der Briefwechsel mit Bonn (1937) aus. Seine Bücher, schreibt Mann dort, seien »das Produkt einer wechselseitigen erzieherischen Verbundenheit von Nation und Autor«; sie rechneten mit Voraussetzungen, die er »selber erst in Deutschland habe schaffen helfen«. (XII, 787f.) Im Klartext: Die deutsche Epik, die lange hinter der französischen oder russischen zurückgeblieben war, sei maßgeblich durch den Nationalschriftsteller Thomas Mann auf ein höheres Niveau getreten – und damit die deutsche Kultur überhaupt.

Als Fazit dieses ersten Kapitels lässt sich festhalten, dass die Notizen zu Geist und Kunst die Keimzelle für Manns kulturtheoretische Reflexionen darstellen. Vieles, was er später ausführte, ist hier bereits angelegt, insbesondere der Gegensatz von Kultur und Zivilisation sowie die daraus abgeleitete Affinität der Kultur zur Barbarei. Beide Denkfiguren machten in seiner intellektuellen Biographie Epoche – in einem ungeahnten, durch die historischen Ereignisse bestimmten Ausmaß. Während die Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, mit Mann an vorderster Front, zum beliebtesten Deutungsmuster des Ersten Weltkriegs wurde, offenbarte die deutsche Kultur in der Ära des Nationalsozialismus ihr barbarisches Potenzial. Konfrontiert mit einer Barbarei in praxi, wandelte sich der Kronzeuge des deutschen Widerstands gegen die westliche Zivilisation schließlich zu deren Verteidiger.

Über diese inhaltlichen Aspekte hinaus erfährt man in Geist und Kunst einiges über den Denkstil des Autors. Bei all seinen Positionsbezügen, so polemisch sie ihrer Form nach sein mochten, sollte man sich eine Einsicht gegenwärtig halten, die Notat 142 formuliert: »Zeitkritik im Grunde Selbstkritik«. Von daher rührt die leidenschaftliche Involviertheit, mit der er das Schicksal der deutschen Kultur in einem Zeitalter der Extreme[68] bedachte. Erklärbar wird von daher aber auch, warum Mann nicht nur in verschiedenen historischen Phasen, sondern selbst innerhalb eines bestimmten Texts scheinbar entgegengesetzte Ansichten äußern konnte. Das geistige Experiment des geplanten Literatur-Essays, der letztlich wegen seiner inneren Widersprüche gescheitert ist, hat er perpetuiert, oder anders ausgedrückt: Es war ein Spiegel seiner Existenz, deren Schöpferkraft sich aus der Spannung von Gegensätzen nährte.

Wenn der Schriftsteller politisch Position bezog, tat er das zwar mit Bestimmtheit, aber immer im Wissen darum, dass auch die Argumente der Gegenseite relative Gültigkeit besaßen. Das politische Engagement bedingte eine Komplexitätsreduktion, die er manchmal als misslich, manchmal als erlösend empfand. Im Fall des Ersten Weltkriegs, mit dem sich das folgende zweite Kapitel befasst, war die Erlösungshoffnung dominant – für ihn, wie für die meisten der Zeitgenossen. Manns unbedingtes Eintreten für die barbarisch kriegführende Nation, das Leser und Interpreten regelmäßig verwirrt,[69] kann auf der Basis des bisher Dargestellten nicht nur aus der publizistischen Situation des Kulturkriegs, sondern auch aus der persönlichen Disposition eines Autors erklärt werden, der auf der »Suche nach der verlorenen Irrationalität«[70] war und im Augusterlebnis von 1914 jene Verschmelzung mit dem »Leben« zu finden glaubte, nach der sich sein »Geist« immer schon gesehnt hatte. Weil mit dem Gegensatz von westlicher Zivilisation und barbarischer deutscher Kultur auf die Tagesordnung kam, was er selber längst formuliert hatte, konnte sich Mann in besonderem Maß mit Zeit und Nation verbunden fühlen.

2Krieg der Worte: Deutsche Kultur vs. westliche Zivilisation (1914–1918)

2.1Grundzüge und Kontext: Der Kulturkrieg der europäischen Intellektuellen

Der August 1914 markiert eine weltgeschichtliche Zäsur, die die Historiker auf griffige Formeln gebracht haben. Für Eric Hobsbawm ist der Große Krieg die Epochenschwelle, die das lange 19. Jahrhundert (1789–1914) vom kurzen 20. Jahrhundert (1914–1991) trennt. Wolfgang J. Mommsen sieht im Ersten Weltkrieg den »Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters«, während ihn George F. Kennan »the great seminal catastrophe of the twentieth century« nennnt – eine Bezeichnung, die vielfach aufgegriffen worden ist (deutsch als Urkatastrophe).[71] Der Krieg führte zum Zusammenbruch der alten europäischen Ordnung. Lenin und die Bolschewiken machten im Oktober 1917 die Russische Revolution, das Habsburgerreich löste sich in verschiedene Nachfolgestaaten auf, aus dem Deutschen Reich wurde 1918/19 die Weimarer Republik. Die Selbstzerfleischung der europäischen Nationen, die rund

8 Millionen Tote und 20 Millionen Verwundete forderte, läutete den Niedergang der Vormachtstellung Europas in der Welt

ein. Die USA traten als politischer Global Player auf den Plan, der sich mittelfristig als Gegenspieler der Sowjetunion in einem bipolaren System etablierte. Neben der Beschleunigung sozialer und kultureller Entwicklungen brachte der Erste Weltkrieg eine Demokratisierung des Kontinents, die jedoch durch die kommunistische Sowjetdiktatur, durch Faschismus und Nationalsozialismus bald wieder bedroht und teilweise rückgängig gemacht wurde. Die nach 1918 gehegten Hoffnungen auf eine friedliche Stabilisierung bewahrheiteten sich nicht, sodass die Rede von einem neuen Dreißigjährigen Krieg, der von 1914 bis 1945 dauert, eine gewisse Plausibilität hat – vorausgesetzt, sie impliziert nicht einen determinierten Geschichtsverlauf, demgemäß der Zweite Weltkrieg die notwendige Folge des Ersten wäre.

Urkatastrophe, das ist in diesem, aber auch in einem weiteren Sinn eine Bestimmung ex post: Die Mehrzahl der Zeitgenossen, darunter besonders die Künstler und Intellektuellen, erlebten den Kriegsausbruch als grandioses Ereignis; sie schwärmten von »dieser grossen Zeit«.[72] Die ambivalente Gefühlslage des sogenannten Augusterlebnisses, dem sich nur wenige entzogen (darunter Thomas Manns Bruder Heinrich, Wilhelm Herzog, Kurt Hiller, René Schickele und Romain Rolland), brachte der Maler Max Beckmann auf den Punkt. Er sprach von einer »großartigen Katastrophe«.[73] Diese Bejahung des Kriegs durch die kulturellen Eliten und der damit einhergehende Nationalismus sind der engere Kontext, in dem Manns Überlegungen zur deutschen Kultur zwischen 1914 und 1918 stehen. Parallel zum realen Kriegsgeschehen trugen Schriftsteller, Künstler und Gelehrte einen Kulturkrieg aus, der im Rahmen einer geistigen Mobilmachung die politischen Ziele der Akteure zu einem Kampf ideeller Prinzipien und nationaler Mythologien verklärte.[74]

Der Begriff »Kulturkrieg« stammt aus der Epoche selbst, geprägt hat ihn der evangelische Theologe Ernst Troeltsch.[75]