Tiefenkontrolle - Lutz Dettmann - E-Book

Tiefenkontrolle E-Book

Lutz Dettmann

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Beschreibung

Klaus Levitzow, der Held des Romans „Wer die Beatles nicht kennt“ von Lutz Dettmann ist jetzt zwanzigjährig und wird zur NVA berufen. Er begibt sich in eine fremde Welt mit eigenen Gesetzen, Ritualen und einer eigenen Sprache. Klaus ist kein Held, der gegen das System aus Befehlsgehorsam und Tageszahl kämpft. Er ist einer der Millionen von jungen Männern, die versucht haben, einigermaßen aufrecht diese Zeit zu überstehen. Er schildert eine Armeezeit, die nicht nur aus Druck und Schikane besteht, sondern in der auch die Liebe, die Kameradschaft und die Freundschaft eine wichtige Rolle spielen. Dieses Buch beschreibt einen Zeitabschnitt und eine Welt innerhalb der DDR, die nicht vergessen werden darf. Wer Leander Haußmanns NVA-Film und –Buch kennt und dessen Schenkel klopfende („Haben wir doch damals toll gesoffen und sind über den Zaun gegangen!“) Aufbereitung für unrealistisch erkannt hat, ist in diesem Buch gut aufgehoben. Es schildert die NVA authentisch, ohne dabei den menschlichen Aspekt zwischen den Soldaten auszublenden. Authentisch sind auch die Orte beschrieben, an denen das Buch spielt: Dabel (im Buch Buchholz) eine von vielen NVA-Kasernen im Norden der damaligen DDR und Schwerin, die Bezirksstadt im Nordwesten der kleinen DDR.

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Impressum

Lutz Dettmann

Tiefenkontrolle

Jugendjahre im Arbeiter- und Bauernstaat, 2. Teil

Das Buch erschien erstmals 2006 im Weiland-Verlag Lübeck.

ISBN 978-3-95655-704-0 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2016 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

1. Kapitel

Die Sonne brennt vom Himmel hinab. Es ist sommerlich heiß, obwohl es erst Anfang Mai ist. Die Griffe der schwarzen Reisetasche schneiden tief in meine Hand. Das frische Grün an den Bäumen interessiert mich nicht; ich achte nicht auf die beiden Mädchen in ihren engen Jeans, die mich überholen. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Immer wieder höre ich die Stimme von Sabine am Telefon, dass ich sie nicht vergessen soll, dass sie an mich denkt, ich möchte sofort schreiben, wenn ich Zeit habe, dass sie mich liebt. Ihr Schluchzen am anderen Ende der Leitung klingt noch in meinen Ohren, und ich könnte selbst heulen, so beschissen ist mir zumute. Mir läuft der Schweiß von der Stirn, und die Tasche wird von Meter zu Meter schwerer; absetzen kann ich sie nicht, denn in einer viertel Stunde muss ich am Treffpunkt sein, und die Schlossgartenallee ist so lang, und das Wehrkreiskommando ist fast am Schweriner See.

Meine Gedanken haben einen neuen Kreis gebildet. Immer wieder denke ich an die 18 Monate, die ich nun von zu Hause weg sein werde. Was mich erwartet, ahne ich, denn einige Freunde waren schon bei der Armee.

Warum muss ich gerade im Mai dorthin? Der Sommer liegt vor mir; Sabine wollte mit mir zelten. Bei meiner Großmutter auf dem Boden wollten wir die beiden großen Bodenkammern ausbauen. Dann wären wir zusammengezogen.

Warum nur gerade im Mai? Wäre ich im November eingezogen worden, hätte ich zwei Winter gehabt, die mir nicht so schwergefallen wären. Aber mein Chef musste ja unbedingt eine Rückstellung beantragen!

Zwei Sommer muss ich nun durchhalten! Aber auch sonst würde es alles genauso schlimm sein.

Ich setze meine Tasche in den Straßenstaub und massiere meine schmerzenden Finger. Der Schweiß läuft mir hinunter, meine langen Haare kleben auf der Stirn. Ich hätte vielleicht doch vorher zum Friseur gehen sollen. Doch sie würden sie mir trotzdem noch einmal schneiden. Denn Fassonschnitt können die nur noch beim Kommiss, hat mein Großvater gesagt. Man muss ja schließlich als Neuer erkannt werden. Das war früher so und wird auch noch heute so sein. Schließlich ist die NVA ja eine richtige Armee, und nicht solch ziviler Verein, wie die da drüben. Hier wird auf so etwas noch geachtet, meinte er.

Als ich ihm von meiner Einberufung bei Vaters Geburtstagsfeier erzählte, begann er gleich von seiner Barraszeit im Krieg zu erzählen. Immer diese alten Kamellen, die ich auf jeder Feier schon gehört habe! Zum Glück war mein Großonkel da, der meinem Großvater nach einigen Sätzen ins Wort fiel. Denn er kann dieses Thema nicht ab, weil er vier Jahre an der Ostfront war, während mein anderer Opa ein gestandener Heimatkrieger ist. So kriegten die beiden Alten das Streiten, und das Thema „Nationale Volksarmee“ war beendet. Als ich mich dann verabschiedete, gab es zum Glück keine Tipps mehr.

Plötzlich fällt mir auf, dass ich nicht der einzige bin, der mit seiner schwarzen Reisetasche die Schlossgartenallee entlanggeht. Einige Meter vor mir schleppen zwei kurzhaarige Gestalten leicht schwankend ihre Taschen. Auch auf der anderen Straßenseite kämpft jemand mit seinem Gepäck, das Gesicht missmutig verzerrt. Und ich glaube, diesen Jungen zu kennen. Es muss der lange Uwe sein, der in meine Parallelklasse ging. Nun bleibt er stehen und nestelt nach einer Zigarette. Es ist der Lange! Ich erkenne ihn an seinen klodeckelgroßen Händen, mit denen er in der Handballjugendauswahl jeden Ball aus dem Netz gefischt hat.

Es wird gemunkelt, dass das auch weiter unten bei ihm so ist, denn trotz seiner Riesengestalt und der großen Nase hat er immer die schärfsten Mädchen abgeschleppt.

„Langer, du hier?“

Ein breites Grinsen geht über sein Gesicht.

„He, Klaus, haben sie dich auch erwischt! Nun geht die Scheiße los, was?“ und der Lange kommt zu mir herüber.

„Mann, siehst du aus. Mit der Zeit und mit die Jahre gehen der Bart und gehen die Haare, was?“

Ich muss mir ein Grinsen verkneifen.

Der Lange winkt ab.

„Komm, hör auf zu lästern. Deine Matte fällt auch in den nächsten Stunden. Wo kommst du hin?“

„Fast vor die Haustür, nach Buchholz. Aber trotzdem ewig weit entfernt.“

Das Gesicht des Langen hellt sich auf.

„Da muss ich auch hin. Vielleicht haben wir ja Glück und kommen zusammen. Dann kennt man schon wenigstens jemanden.“

Schweigend, jeder an seinen Gedanken hängend, gehen wir weiter.

Was wird mich erwarten in Buchholz? Komme ich in die Führungsbatterie? Henry, ein Kollege von mir, war dort Vermesser. Vielleicht habe ich ja Glück. Dann brauche ich keine Wachen zu schieben. Und die Zimmer sind auch nicht so groß. Aber warum soll ich mir jetzt den Kopf zermartern? Ich habe doch keinen Einfluss darauf! Ab heute wird für mich gedacht.

18 Monate - eine wahnsinnig lange Zeit. Über 500 Tage,ein Sommer, ein Weihnachtsfest, ein Silvester, mein Geburtstag, Frühling und wieder ein Sommer. Wenn dann die Wildgänse fliegen, gehst du nach Hause, hat mein Cousin gesagt.

Wenn bloß nicht diese zwei Sommer wären! Sabine alleine am Strand, und ich in der Kaserne! Alle werden um sie herumschwänzeln. Hoffentlich bleibt sie mir treu!

Das Wehrkreiskommando, eine große Villa aus der Gründerzeit, liegt vor uns. Vor dem Tor verabschieden sich einige Kurzhaarige von ihren Mädchen. Die Gesichter sind traurig, die Mädchen schluchzen. Es ist wie auf einer Beerdigung.

Als ich dem Posten meinen Einberufungsbefehl zeige, grinst er mich an.

„Immer herein in die gute Stube. Eure Stahlhelme werden gerade gepresst. Unten auf dem Hof findet die Verladung statt.“

„Eine komische Art von Humor. Aber der hat ja auch gut lachen.“

Der Lange winkt ab: „Der steht hier noch, wenn wir uns hier wieder abmelden“, und zeigt auf den Hof.

„Da stehen die anderen Nasenbären.“

Der Hof der Villa gleicht einem Heerlager. Jungen stehen in kleinen Gruppen herum und versuchen krampfhaft locker auszusehen. Einige Gesichter sind mir bekannt, und plötzlich fühle ich mich irgendwie leichter. Hier auf dem Hof steht eine Schicksalsgemeinschaft. Es wird gelacht. Wir begrüßen uns, auch ich benehme mich betont lustig. Wir tun so, als ob wir einen Betriebsausflug machen wollen. Nur die Mädchen fehlen, sonst könnte das Bild stimmen. Aber alles wirkt künstlich, das Lachen verkrampft, das Grinsen aufgesetzt.

Die große Flügeltür oberhalb der Freitreppe öffnet sich und ein Offizier tritt heraus. Er wird nicht beachtet. Wir erzählen weiter, lachen, und plötzlich donnert der Offizier los.

„Kippen aus! Sagen Sie einmal, was denken Sie, wo Sie sind?“

„Na nicht im Sandkasten!“, ertönt es aus einer hinteren Gruppe, und der Offizier explodiert fast. Die Hände in die Seiten gestützt, tobt er los, und nun erfolgt kein Zwischenruf mehr.

„Na also, es geht doch“, stellt er zufrieden fest. Dann erschallen Kommandos.

In drei Reihen aufgestellt, wird Name für Name vorgelesen. Es bilden sich einzelne Gruppen, die auf ihre Lkws warten, um in die Kasernen zu kommen. Betretenes Schweigen herrscht. Mich beschleicht wieder die Angst. Mein Name fällt, ich stehe mit dem Langen in einer Gruppe. Doch wir wagen keine Unterhaltung. Alle spüren: Nun wird es Ernst.

Drei meiner zukünftigen Kameraden kenne ich: Hagemann, der in meine Berufsschule ging. Ein Schleimer, der sich bei den Lehrern anbiederte, und auch jetzt keine Schwierigkeiten damit haben wird, Christian, er wohnte bis vor zwei Jahren in der Schulstraße, und den Langen. Christians Gesicht glänzt und wirkt so groß ohne seinen Seehundbart.

Auch der Lange starrt ihn an.

„Oh, Robbe, was haben sie nur mit uns gemacht? Unsere schönen Schnauzer! Wer hat sie genommen?“

Der Offizier steht noch immer oben auf der Treppe. Breitbeinig, die Hände in die Seiten gestützt, wippt er auf seinen Stiefelspitzen. Er beginnt eine Art Abschiedsrede.

„Genossen, die nächsten Monate werden für Sie schwer und ungewohnt werden. Sie sind nun von ihren Familien getrennt, werden ungewohnte körperliche Anstrengungen haben. Es wird viel von Ihnen verlangt werden. Aber denken Sie in diesen Wochen daran: Sie dienen der Deutschen Demokratischen Republik. Sie leisten ihren Beitrag, dass ihre Familien in Frieden leben und arbeiten können. Ich wünsche Ihnen für die nächsten Monate alles Gute, Genossen!“

Toll, seine Rede. Einige grinsen mitleidig. Den Schmarren haben wir doch schon hundertmal gehört. Sollen wir uns jetzt mit dieser epochalen Feststellung leichter fühlen?

Beifall hat er wohl auch nicht von uns erwartet. Er grüßt noch einmal. Dann wendet er sich an einen Soldaten, der neben ihm steht, und übergibt das Kommando.

„Taschen auf! Links um! Zu den Lkws!“ wird befohlen, und wir drehen uns wie eine Hammelherde nach links, nach rechts oder gar nicht. Das Kommando wird noch einmal wiederholt, jetzt klappt es besser. Nun bin ich also schon Genosse, kein Herr oder Kollege mehr. Ich werde mich an meine neue Anrede gewöhnen müssen.

Unten am Franzosenweg stehen vier große Ural bereit. Die Fahrer lümmeln sich an ihre Wagen und rauchen. Sie grinsen und haben schon lange vergessen, dass auch sie einmal diesen Tag vor sich hatten. Unsere Taschen fliegen auf die zugewiesenen Lkws, dann steigen wir auf. Vorne, an der Bordwand, ist noch ein Platz frei. So kann ich mich noch von der Stadt verabschieden, die ich nun Monate nicht sehen werde.

Außer den Langen kenne ich niemanden auf der Ladefläche. Die meisten der Jungen tragen ihre Haare noch lang. Einige rauchen. Hinten hat jemand eine Flasche Schnaps aus seinem Gepäck genommen. Er nimmt einen tiefen Schluck. Sein Adamsapfel tanzt. Er setzt die Flasche ab, schüttelt sich und gibt sie an seinen Nachbarn weiter. Schräg gegenüber sitztUwe. Er hat sich nach hinten an die Bordwand gelehnt und schaut nachdenklich vor sich hin. Was er wohl denkt?

Ich bin froh, dass der Lange auch nach Buchholz kommt. Wir kennen uns schon einige Jahre. Er wohnte in der Wittenbergerstraße, einige Häuserblöcke von mir entfernt. Als Kinder hatten wir manchmal zusammen gespielt. Doch dann hatten wir uns aus den Augen verloren, denn er zog aus unserer Gegend fort. Einige Jahre später trafen wir uns dann auf der Berufsschule wieder.

Er lernte Maurer. Da unsere Klasse an seine Berufsschule angegliedert war, sah ich ihn oft, und wir gingen manchmal zusammen Bier trinken oder zur Disco.

Immer versuchte er das schönste Mädchen am Abend abzuschleppen, und ich war dann oft für die nicht ganz so schöne Freundin des schönsten Mädchens zuständig.

Zu zweit mussten wir schon baggern, damit die Freundinnen sich nicht erzürnten, oder das schönste Mädchen ein schlechtes Gewissen bekam, wenn sie ihre weniger schöne Freundin alleine zurückließ.

Ich war sozusagen der Tröster der allein zurückgelassenen Freundin, des schönen Mädchens, die meistens auch nicht hässlich war. Wir beide hatten dabei schon eine richtige Technik entwickelt, machten Teamwork. In den letzten Monaten klappte es nicht mehr mit unserer Zusammenarbeit. Ich lernte Sabine kennen, und er wurde von einem Mädchen, superblond und stadtbekannt heiß, eingefangen. Uwe ist lustig in seiner Art. Doch heute ist davon nicht viel zu spüren.

„Langer, was ist los? Da müssen wir durch.“

Er winkt ab.

„Klaus, ich weiß. Mann, vor zwei Stunden war ich mit meinem Mädchen noch im Bett. Und nun?“

Er zeigt in die Runde.

„Guck doch, wie wir aussehen. Alles Scheiße, deine Elli“, und er winkt ab.

Mein Nachbar stößt mich an und drückt mir die fast leere Schnapsflasche in die Hand.

Ich will jetzt nicht trinken und gebe die Flasche weiter.

Es ist herrliches Frühlingswetter. Unsere Kolonne fährt am Faulen See entlang, und mir fällt auf, dass die Bäume am Straßenrand schon frisches Grün tragen.

Könnte es jetzt nicht regnen? Das würde zu meiner Stimmung passen. So fällt mir der Abschied noch schwerer.

In unserem Lkw herrscht noch immer Schweigen. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Ich halte meinem Nachbarn meine Schachtel Zigaretten hin und bekomme sie halb leer wieder, da sie gleich eine Runde macht.

Wir fahren an der Gaststätte „Zur Mueßer Bucht“ vorbei. Vor einer Woche habe ich dort oben mit der Clique meinen Ausstand gefeiert - natürlich ohne Mädchen. Wir waren sternhagelvoll, als wir aus der Kneipe flogen. Es musste ein Zeichen des Protestes gesetzt werden, und so kam Karsten auf die grandiose Idee, die Republikfahnen, die vor der Kneipe den 1. Mai einflatterten, auf Halbmast zu setzen. Wenn man uns dabei erwischt hätte, wäre ich wohl nicht zur Fahne gekommen - aber woanders hin! Wir waren mit unseren besoffenen Köpfen auch noch stolz auf unsere Ruhmestat, die nicht die letzte an diesem Abend sein sollte. Laut grölend zogen wir durch den Schlossgarten und absolvierten einen Grabenweitsprungwettkampf an der Albert-Richter-Kampfbahn, unserem Schulsportplatz, den natürlich niemand gewann. Lachend zogen wir uns gegenseitig auf allen vieren die Böschung hoch. Meine Jeans war hin. Aber mir war in dieser Nacht alles egal.

Ich kam sternhagelvoll nach Hause. „Und nach dem Krieg ab sechs im Kelch!“, brüllten sie zu meiner Verabschiedung im Chor vor meiner Haustür. Doch meinem Vater gefiel der Schwejksche Humor am frühen Sonntagmorgen nicht. Und ich hatte einen verlorenen Sonntag, den letzten freien für Monate und ärgerte mich über die verschwendeten Stunden.

Am Ortsschild fliegt meine Kippe in hohem Bogen auf die Straße. Mein Abschiedsgeschenk!

Die Stadt liegt hinter uns. Die Ural gewinnen an Fahrt, und wir fahren in Richtung Kinitz, beißenden Auspuffqualm zurücklassend. Erste Gespräche kommen auf. Mein Nachbar fragt mich, wo ich gewohnt habe. Eine neue Schachtel Zigaretten macht die Runde, eine neue Schnapsflasche taucht von hinten auf. Ich nehme einen Schluck, da alle trinken. Wir sind nun eine Gemeinschaft, und ich will mich nicht ausschließen. Der Junge neben mir spricht ein schauderhaftes Deutsch, erzählt mir, dass er bei der Bahn in einer Rotte arbeitet, dass er sich seine Frau heute noch einmal vorgenommen hat. Er labert und labert, und ich lasse ihn reden und achte nicht auf seinen Wortschwall.

Was für Leute wohl in Buchholz auf der Bude sind? Hoffentlich sind sie halbwegs normal, dass man sich unterhalten kann.

Die Zeit verrinnt, vielleicht noch eine dreiviertel Stunde, dann wird sich das Kasernentor hinter uns schließen.

Unsere Kolonne wird langsamer, quält sich den steilen Berg vor Kinitz hinunter. Auf der rechten Seite leuchtet über den Dächern die rote Kirche. Die kleinen Häuser der Stadt drängen sich wie Küken um ihre Glucke. Immer wieder finde ich dieses Bild schön. Diese Stadt kenne ich gut.

Früher haben hier meine Großeltern gelebt. Hier wohnt Cornelia. Sie war meine erste richtige Freundin. Aber wir haben schon lange keinen Kontakt mehr.

Ich schaue noch einmal die Hauptstraße entlang, sehe die „Sonne“, in der mein Großvater seinen Sonntagsfrühschoppen hielt und die Einmündung zur Wallstraße, in der meine Großeltern wohnten.

Etwas wie Wehmut kommt auf. Am besten die Zeit zurück für einige Jahre! Dieser Sommer vor vier Jahren mit Cornelia war toll! Was sie wohl jetzt macht?

Gott, ich tue ja, als ob ich Abschied vom Leben nehme!

Die alte Scheune mit der verwitterten Löwenwerbung, dahinter der steile Weg, der zum ehemaligen Garten meiner Großeltern führt. Für ein paar Sekunden leuchtet die grüne Laube meiner Großeltern durch eine Buschlücke. Dort habe ich mit Cornelia einen wahnsinnigen Abend gehabt.

Dann gewinnen die Lkws wieder an Fahrt, und ich schaue nicht mehr hinaus.

Das alte Dorf Neuhof liegt hinter uns. Auf der linken Seite stehen Neubaublöcke an der Dorfstraße. Sie wirken, als ob sie aus einem gigantischen Baukasten in diese ländliche Gegend gesetzt wurden.

Mein Nachbar stößt mich an.

„Das ist Neuhof. In den Neubauten wohnen die Offiziere.“

Unser Fahrer bremst. Die ersten zwei Wagen biegen ab.

„Die armen Schweine da drin. Bei denen geht der Tanz schon jetzt los!“, ruft jemand von hinten.

„Wir sind auch gleich dran“, meint mein Nachbar.

„Buchholz ist nicht mehr weit.“

Er grinst mich an. „Die wetzen dort drinnen sicher schon die Messer!“

Aber niemand lacht. Mir ist flau im Magen. Die Minuten rennen, und ein schlimmes Gefühl beschleicht mich. Ich fühle mich so ausgeliefert und schutzlos!

Wieder führt die Straße durch einen Wald. Am Straßenrand stehen Schilder: „Sperrgebiet“.

Es wird nicht mehr weit sein bis Buchholz.

Unser Lkw hält. Wir sind angekommen. Für einen winzigen Augenblick habe ich das Gefühl, als ob sich die Straße bewegt. Rufe ertönen. Als ich mich über die Bordwand lehne, werde ich angeblafft.

Ein großes Schild neben dem Lkw fordert:

„Genossen Kraftfahrer, fahrt rücksichtsvoll!“

Der Posten am Durchlass grinst und redet mit dem Fahrer. Nur Satzfetzen wehen zu mir herüber.

„Na, Radachsen heil geblieben bei der Tagelast, die du gefahren hast?“

Der Fahrer lacht, und der Wagen ruckt an, während das Tor geöffnet wird.

„Willkommen im Klub, ihr Glatten!“ und der Posten schließt das Tor hinter dem letzten Lkw.

Buchholz, ich habe diesen Namen schon oft gehört, von älteren Freunden, von Kollegen, die hier gedient haben. Sie haben mir von Trinkgelagen, von den Schikanen zwischen den Diensthalbjahren, von dem Drill der Vorgesetzten erzählt. Sie meinten, da müsste man durch. Man würde auch etwas lernen. Sie seien als Männer wiedergekommen.

Ich habe über ihre Erzählungen gelacht, gestaunt, und einiges konnte ich nicht glauben, so unrealistisch hörten sie sich an. Auch Ehen oder Freundschaften sind durch die Trennung kaputtgegangen; es sei eben eine Probe für das Leben, hieß es.

Nun bin ich in Buchholz. Nach einigen Metern biegt unser Lkw wieder ab und hält auf einem großen, asphaltierten Platz. Einige Soldaten eilen herbei, die Bordwand wird heruntergelassen.

„Absitzen!“

Als ich von der Ladefläche springe, weiß ich nicht so recht, was von mir erwartet wird. Auch der andere Wagen hält.

Wieder Kommandos. Einer der Abgestiegenen muss gestützt werden, da er betrunken ist. Uns wird befohlen, in drei Reihen anzutreten. Alles geht nun schnell. Man kommt nicht einmal zum Nachdenken. Namen werden gerufen.

„Ahlert - Schallmess. Da rüber!“

„Behrens, auch Schallmess.“

„Cherek, Panzerjäger. Nach links!“

Einzelne Gruppen bilden sich. Niemand spricht. Nur die Kommandos schallen über den weiten Platz.

„Hennies, Führungsbatterie!“

Der Lange stößt mich leicht an.

„Dann wollen wir mal“, und nimmt seine Tasche auf.

Name auf Name wird gerufen. Unser Haufen wird immer kleiner. Es bilden sich immer mehr Gruppen.

„Levitzow, Führungsbatterie!“

Gott sei Dank, ich bin beim Langen! Er nickt mir zu.

„Büschow, Führungsbatterie!“

Auch Robbe stellt sich zu uns und grinst.

„Na, nun sind wir die drei Musketiere.“

„Ruhe im Glied!“, herrscht ihn der Offizier an.

„Moment, stimmt, da rührt sich gar nichts“, kommentiert Robbe. Doch niemand reagiert.

Schließlich sind alle Namen verlesen.

Vor jeder Gruppe baut sich ein Unteroffizier auf. Der uns führen soll, ist strohblond. Seine Schulterstücke hängen traurig auf den Schultern, und seine Mütze sieht wie durchgewaschen aus. Auch sonst gibt er sich ziemlich zivil.

„Mal herhören. Mein Name ist Knorr. So wie die berühmte Suppe aus Omas Paket. Ich werde Sie jetzt zu den einzelnen Stationen bringen, damit die Einkleidung durchgeführt wird. Es wird nicht gesprochen! Bilden Sie Dreierreihen. Und auf geht’s!“

Nach einigen Schritten dreht er sich um und strahlt über das ganze Gesicht.

„Und wenn’s geht, im Gleichschritt!“

Und ein ungeordneter Haufen trottet hinter dem Uniformierten her.

Erstaunlich, diese Offenheit.

Die Kaserne scheint ziemlich neu zu sein. Keine protzige Backsteinburg wie die alten Kasernen in der Bezirksstadt. Hier wirkt alles funktionell, aus Platten errichtet, rundherum Wald, fast gemütlich, wenn nicht die Uniformen herumlaufen würden.

Wir marschieren die Hauptstraße hinunter. Auf der rechten Seite vor dem Exerzierplatz befinden sich zwei große Blöcke hintereinander. Das scheinen die Unterkünfte zu sein. Gegenüber stehen einige flache Bauten. Das Gebäude mit den großen Fenstern wird die Kantine sein. Ein Denkmal steht an der Straße. „Paul Krassowsky“ steht auf dem Stein. Ich kenne den Namen nicht. Sicher ein toter Ortskommunist aus der Nähe.

Die meisten Kasernen tragen Namen von irgendwelchen Kommunisten, Interbrigadisten oder anderen Helden unseres Vaterlandes.

Vor einigen Stunden war ich noch bei Sabine, und dies alles schien so weit entfernt. Und jetzt? Noch sind wir ein ziviler Haufen, ein verwaschener blauer Fleck inmitten des Armeegrüns. In einer Stunde werde ich den Drillich tragen. Dann bin ich Soldat, und Sabine und die Freunde sind für mich in einer anderen Welt.

Schadenfreude ist in den Gesichtern der Soldaten, die uns entgegenkommen.

Knorr lässt vor einem flachen Gebäude halten. Er dreht sich zu uns.

„Mal herhören, dies ist die BA-Kammer. Hier werden Sie einen Teil Ihrer Ausrüstung erhalten. Trainingsanzüge, Uniformen. Die Teile werden in die Zeltbahn eingeschlagen. Dann geht es in die Unterkünfte. Ich bitte mir Ruhe aus.“

Von Kammer kann keine Rede sein. Der flache Bau ist mindestens dreißig Meter lang.

Unsere Gruppe rückt ein. Wir müssen warten, denn vor uns sind noch andere beim Einkleiden. Stimmung herrscht, es wird gelacht. Unbeeindruckt rauchen die beiden Unteroffiziere neben der Tür. Als einer aus unserer Gruppe eine Zigarette aus seiner Tasche holt, wird er sofort von ihnen angefahren. Nun beginnen die Klassenunterschiede. Uns Neuen steht es nicht zu, zu rauchen.

Hinter der Absperrung arbeiten einige Frauen. Sie sind älter, resolut springen sie mit den Neuen um. Da werden Uniformmützen gerade gerückt. Passt eine Jacke bei der zweiten Anprobe nicht, wird sie für passend erklärt.

Plötzlich taucht eine Frau, fast noch ein Mädchen, die gar nicht zu diesen resoluten Frauen passt, aus dem hinteren Teil der Halle auf. Ich bin erstaunt. Woher kommt diese Pflanze inmitten der lauten Männer und Frauen in diese Umgebung? Sie strahlt eine Ruhe aus, legt die Uniformteile gelassen auf die Theke, holt eine Mütze, dann noch eine Mütze von hinten, bis der zukünftige Träger zufrieden ist. Sie ist hübsch, groß und hat ein offenes Gesicht, mit hohen Wangenknochen. Eine stille Heiterkeit geht von ihr aus, sie wirkt gelöst. Ich muss sie einfach anschauen, ob ich will oder nicht.

Ihr ruhiges schönes Gesicht mit den blonden, hochgesteckten Haaren erinnert mich an Tanja, ein Mädchen, das ich im letzten Sommer beim Zelten in Malchin kennengelernt hatte. Tanja wirkte auch so ruhig, als ob sie schwebte. Wir dachten, sie wäre eingebildet, und niemand von uns traute sich an sie heran. Ich traf sie dann einmal alleine vor dem Dorfkonsum. Sie war verzweifelt, denn ihr Fahrrad hatte einen Platten. Ich half ihr und begleitete sie zu ihrem Zelt. Aber Tanja war überhaupt nicht ruhig und eingebildet. Leider wohnte sie in Berlin, und so war unsere Freundschaft von vornherein nur für den Sommer. Sie schrieb mir dann noch einmal aus Westberlin, war zu ihrem Vater gezogen.

Wie kommt so ein Mädchen hierher, frage ich mich. Ruhig steht sie inmitten der Hektik und macht ihre Arbeit. Sie spricht mit dem Jungen, den sie bedient, lächelt dabei.

Ich lasse sie nicht aus den Augen. Aber sie spürt nicht meine Blicke, so ist sie mit dem Anprobieren beschäftigt.

Der Haufen vor uns wird kleiner, nun sind wir an der Reihe. Leider erwischt mein Vorgänger das ruhige Mädchen, und ich muss mit einer der älteren Damen vorlieb nehmen. „Konfektionsgröße?“

Woher soll ich die denn wissen? Ich kenne nur meine Jeansgröße.

„32/34. Andere Hosen habe ich schon ewig nicht mehr angehabt.“

„Das wird sich ändern. Rankommen!“ und mir wird ein Bandmaß um den Bauch gelegt, dass ich fast nach vorne falle.

Die Frau rauscht nach hinten ab. Neben mir bedient das Mädchen. Sie hat ein schönes Profil, aber ihre Figur wird von einem Nylonkittel verdeckt. Nylonkittel hasse ich! Sie sehen so spießig aus: Nach Lockenwicklern, Tratsch im Treppenhaus und Ehemann im Feinrippunterhemd und mit Bierbauch.

Doch sie wirkt auch so anmutig. Der Lange grinst kurz zu mir herüber, als sie nach hinten geht.

„Schau sie dir genau an! Wer weiß, wann wir das nächste Mädchen sehen werden.“

Recht hat er! Doch plötzlich höre ich Sabines Stimme im Ohr, und mir wird wieder beschissen zumute.

Die Frau knallt mir meine Uniformteile auf den Tisch.

„Hier wird nicht geträumt. Anprobieren und dann in die Zeltplane legen.“

Und während ich die Teile vor den Leib halte, trägt sie alles auf eine Karte ein.

Da türmt sich nun der Berg Uniformteile vor mir: Sommerdienst, ein brauner Trainingsanzug, Turnschuhe, Käppi, Kochgeschirr; immer mehr bringt sie heran, und ich verstaue alles in der Plane. Oben auf den Berg kommt meine Reisetasche.

„Zwei Paar Stiefel. Die kommen auch noch in die Plane.“

Ungläubig schaue ich sie an.

„Aber ein Paar ist ja getragen. Soll ich mir Fußpilz holen?“

„Diskutieren Sie nicht. Ihnen wird schon kein Zacken aus der Krone brechen.“

Wir sind fertig. Draußen steht schon der nächste Trupp.

„Planen zuziehen!“

Wie soll ich diesen Haufen zusammenkriegen? Man fühlt sich so unsicher. Alles ist neu. Ich komme mir vor, als ob ich wieder laufen lernen muss.

Schließlich erbarmt sich der Unteroffizier und zeigt es an einer Plane.

Wir rücken ab. Die alten Frauen unterhalten sich und lachen, während das schöne Mädchen etwas abseitssteht, als ob sie ein fremdes, edles Tier inmitten des Rudels ist. Sie ist wirklich schön wie ein Reh.

Vor der Tür blendet die Helligkeit.

„Gleichschritt aufnehmen. Wir gehen in die Unterkunft. Dort ziehen Sie sich um. Auf ein Kommando treten Sie im Trainingsanzug heraus. Dann geht es zum Friseur. Im Gleichschritt! Marsch!“

Und wieder setzen wir uns wie eine Herde in Bewegung. Knorr ist unser Leittier.

Der erste Block, dessen lange Seite auf den Ex-Platz zeigt, wird unsere Unterkunft werden.

Die Flure sind verwaist, als wir die Treppen hochgehen. Nur im Treppenhaus steht in jeder Etage ein Tisch, an dem ein sich langweilender Soldat sitzt. In der vierten Etage haust die Führungsbatterie.

Dies wird unsere Einheit für die nächsten 18 Monate sein. 18 Monate, das sind über 500 Tage! Gott ist das eine lange Zeit!

Als wir die Treppe hochkommen, erhebt sich der Soldat am Tisch, gähnt und reckt sich. Er hat eine rote Armbinde um. „GUvD“ steht auf ihr. Ein Unteroffizier, auch er hat eine Armbinde, schaut aus einem offenen Raum und grinst.

„Na Roland, hast du die Glatten mitgebracht. Hauptsache, du hast dich nicht an ihren Tagen angesteckt!“

Dann lachen alle drei. Irgendwie scheinen sich alle hier zu freuen, nur uns ist nicht lustig zumute.

„Herhören, Sie ziehen jetzt ihre Trainingsanzüge an. Danach warten Sie auf mein Kommando.“

Er schaut auf einen Zettel.

„Hennies, Sie sind im Zimmer 545, Wolf 541, Schabowski und Jablonski 541, Büschow 545, Hagemann 544, Levitzow 546. Wegtreten, und zwar in die Richtung“, und wir zotteln in Richtung seines erhobenen Arms den langen Gang entlang und suchen unsere Zimmer.

Der braune Trainingsanzug ist angezogen, und meine Zivilsachen sind in der Tasche verstaut. Nun bin ich Soldat! Nichts mehr - kein Zivilist mit Jeans, Turnschuhen und Parka. Aber noch sind meine Haare lang!

Ruhe herrscht wieder auf dem Flur. Seit zwei Stunden bin ich das erste Mal alleine. Niemand schubst mich hin und her, niemand treibt mich an, keine Kommandos ertönen.

Auf einem Hocker am Fenster sitzend, strecke ich meine Beine aus. Die Zeltplane mit meinen Sachen liegt vor mir. Meine Sachen? Sind das meine Sachen? Die zwei Paar Stiefel, der graugrüne Pullover, die Ausgangsuniform? Sie sind fremd für mich, abstoßend, uniform. Graue Masse werde ich in ihnen sein, gesichtslos. Kein Individuum, nur noch einer von vielen, im Gleichschritt marschieren, die Arme hochreißen, Befehlen gehorchend. Ich will nicht so werden!

Hier soll ich nun 18 Monate verbringen, besser gefangen sein!

Ein Besenspind rechts neben der Tür wird mein Handwerkszeug, Besen, Schrubber, Feudel, Bohnerkeule für die nächsten sechs Monate behüten. Zwei Soldatenspinde an jeder Wand, zwei Doppelstockbetten, in der Mitte des Zimmers, vor dem Fenster, ein Tisch mit vier Hockern, das ist die Einrichtung der Stube 546. Meiner Stube?

Die Wände sind blassblau gekalkt, kein Bild, kein Poster. Alles ist kalt und steril, unpersönlich. Dies scheint hier System zu sein.

Vom Flur tönen Rufe. Sie gelten nicht mir. Namen werden ausgerufen. Wieder kommt die Unsicherheit. Soll ich trotzdem hinaustreten?

Die Fensterscheibe kann meine heiße Stirn nicht kühlen. Die Sonne taucht den großen Platz unter mir in helles Licht. Sie müsste sich doch eigentlich verstecken! Gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, ist das Stabsgebäude.

„Da hausen die Bullen drin“, hat mir einer der Unteroffiziere beim Einkleiden gesagt, als ich nach dem Zweck des Gebäudes fragte. Ich schaute ihn ungläubig an.

„Die Bullen?“

„Mann, die Offiziere, du Glatter“, und er hatte den Kopf über meine Dummheit geschüttelt. Diese Unsicherheit!

Der Platz liegt verwaist. Ein Soldat will sich den Weg abkürzen und überquert ihn im schnellen Schritt. Fast über den Platz, kommt ein Offizier, ich erkenne ihn an den Beutelhosen, aus dem Stabsgebäude. Der Soldat erstarrt, doch er findet keine Deckung auf dem Beton. Durch die Scheibe höre ich den Offizier schreien. Der Soldat winkelt seine Arme an und beginnt zu laufen. Jetzt muss er den ganzen Platz zur Strafe umrunden. Ist der Ex-Platz ein Heiligtum, das man nicht betreten darf?

Irgendwie fühle ich mich wie in einer anderen Welt, deren Naturgesetze ich noch nicht begriffen habe.

Damals vor drei Jahren, als ich den Befehl für die Musterung im Kasten fand, war dies alles für mich so weit entfernt. Irgendwann würde ich gezogen werden, und irgendwie würde ich die 18 Monate schon herumbekommen. Plötzlich die Karte für die Musterung, und ich bekam meine ersten Zweifel. Stuhl an Stuhl in einer endlosen Reihe, an einer Kellerwand des Internatskomplexes in Lunow, hockten Jungen des Jahrgangs 1960. Die Ausweise und den Musterungsbefehl hatten wir vorne an der Pförtnerloge bei einem Offizier abgegeben. Es wurde herumgeflapst, und wir warteten, was nun geschehen würde. So richtig wohlfühlten wir uns nicht in unserer Haut.

Neben mir saß ein kleiner, blasser Typ. Ihm schien es nicht gut zu gehen. Als ich ihn fragte, sagte er mir, dass er keine Waffe anfassen würde. Ich glaubte ihm nicht, doch er beteuerte wieder, dass er Spatensoldat werden wolle. Ihm war klar, dass er in der nächsten Stunde leiden würde. Im Stillen bewunderte ich ihn. Lust hatte wohl niemand, zur Fahne zu gehen. Aber mir fehlte der Mut zur Verweigerung.

Unsere Unsicherheit wollten wir durch unsere scheinbare Unbekümmertheit überspielen. Einem Offizier wurde es schließlich zu laut. Wutentbrannt kam er auf den Flur und brüllte. Eingeschüchtert wie Mäuse hockten wir auf unseren Hockern. Namen wurden aufgerufen. Gruppenweise mussten wir uns bis auf die Turnhose ausziehen, standen in langer Reihe vor der Waage und dem Zentimetermaß. Dann die Aufforderung: „Hosen runter!“

Wir schauten uns ungläubig an. Hier vor den jungen Schwestern, in Gruppe?

Die barsche Aufforderung des Armeearztes: „Wird’s bald!“

Vorne in der Gruppe stand ein Junge mit rotem Kopf. Er hatte einen Ständer fabriziert und versuchte ihn nun schamhaft vor den Schwestern zu verbergen. Aber es gelang ihm nicht.

Der Arzt grinste nur kurz, ein kurzes Schnipsen von ihm, der Ständer war weg, und der Kopf noch dunkler. Niemand lachte.

„Bücken!“

„Kurz Husten!“

Bei jedem von uns die gleiche Prozedur. Völlig unpersönlich, ohne ein freundliches Wort, wurde an uns herumhantiert.

Meine Brust wurde abgehorcht, ein fester Griff um meine Handgelenke.

„Ganz schön dünn, die Arme. Na, die Muskeln werden beim MKE noch kommen.“

Ich konnte meine Hose wieder hochziehen, war entlassen. Was zum Teufel war MKE?

Hinten in der Gruppe wurde gelacht. Jetzt lachte der Arzt mit.

Ein Junge, er sah älter aus als wir, versuchte, seine Blöße zu verdecken. Doch es gelang ihm nicht. Sein Schwanz strahlte in jugendlicher Reinheit, ohne ein Härchen.

„Wohl Sackratten gehabt?“, fragte der Arzt und grinste.

Der Junge nickte.

„Und das bei der ersten richtigen Freundin.“

Er seufzte auf.

„Und sie sah so schön aus.“

„So ist das Leben, mein Junge. Aber freue Dich, so etwas kann Dir in der Kaserne nicht passieren.“

Unsere Gruppe war durch. Wir konnten uns anziehen. Dann wieder Warten auf dem Flur. Namen wurden aufgerufen, dann auch der des kleinen, blassen Jungen. Laute Stimmen hinter der dünnen Sperrholztür, sie wurde aufgerissen. Ein Offizier mit viel Lametta auf den Schultern stürzte aus dem Zimmer. Wieder wurde hinter der Tür diskutiert. Die Zeit verging. Alle spürten, dort passierte etwas. Wir wurden zu einem einzigen Ohr. Der Junge kam wieder heraus, nun rot im Gesicht. Beim Vorbeigehen nickte er mir zu und lächelte schwach. Seinen Willen hatte er wahr gemacht. Er würde keine Waffe anfassen.

Auch mein Name fiel. Ich wurde noch einmal in einen Raum gerufen. Vor mir saßen drei Offiziere und ein Zivilist. Einer wollte wissen, ob ich länger zur Armee gehen wolle. Am müden Ton erkannte ich, dass diese Frage nur noch der Form halber kam. Wieder brachte ich meinen Standardsatz heraus, dass ich gleich nach der Armee studieren wolle und nicht warten könne. Mein Betrieb bräuchte mich. Wir seien schon so unterbesetzt. Man nickte, ich solle es mir doch noch einmal überlegen. Ich könnte mich an die Genossen des Reservistenkollektivs in meinem Betrieb oder direkt ans Wehrkreiskommando wenden.

Auch ich nickte freundlich zurück, und man teilte mir mit, dass ich für den militärtopografischen Dienst gemustert sei. Vermesser sollte ich also werden. Gut, Ahnung hatte ich davon nicht. Auf dem Flur herrschte Stimmung, denn ein nervöser Junge hatte mit seinem gerade erhaltenen Wehrdienstausweis herumgespielt und dabei die Blechmarke durchgebrochen. Der Offizier am Eingang gab mir meinen Ausweis wieder. Ich steckte meinen Wehrpass weg, und das Thema „Armee“ war für mich wieder in weite Ferne gerückt.

Und nun bin ich hier in Buchholz. Und das schneller, als ich gedacht habe.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Erschrocken fahre ich herum.

„Faul ich denn!“

Der Soldat mit der roten Armbinde steht vor mir, die Hände in die Seiten gestemmt.

„Sag mal, sind wir hier auf der Fritz Heckert und genießen die schöne Aussicht?“, knurrt er mich an.

„Los raus, und draußen antreten. Ich schreie mir auf dem Flur die Seele aus meinem alten Hals, und der Glatte guckt aus dem Fenster und wartet auf ’ne schriftliche Einladung.“

Als er die Tür freigibt, husche ich an ihm vorbei auf den Flur.

„Dich werde ich mir merken. Wart ab, wenn Du vereidigt bist!“, ruft er mir noch hinterher.

Wir Neuen stehen seit zehn Minuten vorne an der Treppe, neben dem GUvD-Tisch. Seltsam sehen wir aus, in unseren braunen Trainingsanzügen. Wie Zivilisten wirken wir nicht mehr im einheitlichen Braun. Doch unsere Köpfe wirken zivil. Nur der Lange und die polnischen Zwillinge, die ich Jablonski und Schabowski bei mir nenne, waren schon beim Friseur.

„Trotzdem zu lang!“, hatte der Hauptfeldwebel festgestellt, nachdem er sich als „Mutter der Batterie“ bei uns vorgestellt hatte und sofort wieder verschwunden war.

Dass Hagemann, der Kratzer aus der Berufsschule, auch in meiner Batterie ist, gefällt mir gar nicht.

Oh Gott, jetzt sage ich schon „meine Batterie“, obwohl ich doch erst ein paar Stunden hier bin.

So, wie wir aussehen, fühle ich mich auch. Nicht mehr zu Hause bei den Freunden, bei Karsten und Andreas und den anderen, nicht mehr bei Sabine, aber auch noch nicht angekommen in Buchholz. Ich fühle mich seit Stunden unsicher, wie schon lange nicht mehr, habe Angst, jeden Schritt verkehrt zu machen. Zu neu ist diese Welt für mich. Aber ich sehe in den Gesichtern der anderen, dass es ihnen genauso geht.

„Abrücken!“

Wie ein Tier im Zirkus fühle ich mich, als ich das Grinsen und die Blicke der uns entgegenkommenden Soldaten auf der Straße spüre.

Alles scheint in Buchholz nach einem strengen Zeitplan zu funktionieren.

Die beiden Friseurinnen warten schon auf uns, als wir einrücken.

Der Haarschneideautomat summt, Strähne um Strähne fällt, und mein Kopf wird immer mehr entstellt. Da gehen sie hin, meine langen dichten Haare, seit der achten Klasse liebevoll Zentimeter um Zentimeter gezüchtet und gepflegt, wie die einzige Jeans. Nichts wird mehr im Wind wehen, wenn ich mit dem Moped fahren kann.

„Könnte“, mein Lieber, „könnte“ muss es heißen. Lieber Klaus, hier ist das Reich des Konjunktivs. Denn die nächsten Monate werde ich nicht einmal ein Moped sehen. Kein liebevolles „Haare hinter die Ohren legen“ von Sabine, wenn wir uns küssen könnten. Richtig gelernt, Klaus. Wer weiß, wann wir uns wieder küssen können.

Da liegt die Pracht auf dem Boden. Es ist alles so zum Kotzen!

Meine Leidensmine erweicht sogar die Friseurin.

„Ich kann doch auch nichts dafür. Was meinen Sie, wie oft ich diesen flehenden Blick schon aushalten musste? Wir haben Anweisung, so kurz zu schneiden.“

Wirklich, hinten im Nacken stehen die Haare nur noch einige Millimeter. Sogar die Kopfhaut ist zu sehen. So sind wir Neuen auch von hinten zu erkennen.

Ich fühle mich wie skalpiert. Weiße Frau hat meinen Skalp genommen. Roter Krieger ist entehrt. Roter Krieger wird immer in Schmach leben müssen.

Quatsch, ich soll ja erst Krieger werden.

Die Prozedur an mir ist beendet. Ich bin entlassen. Nun ist der lange Uwe dran. Auch er schaut fassungslos, als die Haarschneidemaschine noch einmal einen Zentimeter von den schon kurzen Haaren wegfrisst. Aber er scheint sein Schicksal mit mehr Fassung zu ertragen.

„Klaus, nun sehen wir wie Ärsche mit Ohren aus“, grinst er mich an, als der Rasierer verstummt. Leidensgenossen steigen auf die hohen Frisierstühle und schauen gefasst in den Spiegel. Die Haarpracht häuft sich bunt unter den Stühlen, während die ehemaligen Besitzer nicht so recht wissen, ob sie lachen oder heulen sollen.

Plötzlich wirken unsere Gesichter so jung. Robbe grinst mich an, als ich mit meiner Hand über seinen fast kahlen Kopf streiche.

„Mann, wir sehen aus wie die Milchreisbubis. Wir könnten glattweg zur Jugendweihefahrt starten. Aber da hatte ich meine Haare auch schon länger.“

Wenn wir im Block zurück sind, sollen wir unsere Zivilklamotten verpacken, die Spinde einräumen und die Betten beziehen. Auf der Betonstraße herrscht nun Betrieb.

Soldaten in verstaubten Uniformen marschieren von der Ausbildung zurück. Die ersten Essenskolonnen kommen uns entgegen. Auch im Block herrscht Treiben.

Als wir in der vorletzten Etage sind, kommt mir Hilmar Baum entgegen. Ich kenne ihn gut, wir haben zusammen gelernt. Baum war ein Lehrjahr über mir. Er grinst mich schon von oben an. Als ich ihn begrüßen will, winkt er nur ab.

„Wir sehen uns gleich. Ich habe Küchendienst. Wir sind zusammen auf einer Bude“, und schon ist er vorbei.

Endlich kenne ich jemanden, an den ich mich halten kann, der schon Erfahrung hat und mir helfen wird.

Der lange Flur in unserer Batterie ist voller Soldaten. Die Waffenkammer beim UvD ist geöffnet. Ein Trupp gibt seine Waffen ab. Jemand schimpft. Die Leute scheinen gereizt zu sein, und ich drücke mich an dem staubigen Haufen vorbei, um kein Angriffsziel zu bieten.

Da werde ich plötzlich von einem Gefreiten angerempelt. Zornig funkelt er mich aus seinen dunklen Augen an.

„Eh, Du Glatter. Pass auf. Soll ich mich anstecken?!“

Wütend wischt er an seinem Ärmel, als ob ich ihn beschmutzt hätte. Eine Entschuldigung stammelnd, will ich mich an ihm vorbeidrücken.

„Eh, Günzel, nun mach den Neuen doch nicht gleich an!“, wird er von einem anderen Gefreiten besänftigt.

Trotzdem schaut er mich wütend an. Ich habe den ersten Feind. Das spüre ich an seinem Blick.

Auch mein Zimmer ist nicht mehr verwaist. Meine beiden zukünftigen Zimmergenossen sind von der Ausbildung zurück. Ihre Gesichter sind von Anstrengung gezeichnet, und sie sehen staubig aus.

Ein kleiner, gedrungener Typ dreht sich um, als ich in das Zimmer trete.

„Eh Holger, der Neue ist da.“

Er kommt mir entgegen und hält mir seine Hand hin. Mir fällt auf, dass sie sehr groß ist, obwohl er fast einen Kopf kleiner ist als ich.

„Ich bin Busch, dein Stubenältester. Das ist Holger. Wir sind deine Es.“

Auch Holger gibt mir seine Hand. Er grinst.

„Na ja, was Es sind, wirst du noch lernen“, fügt er in Magdeburger Dialekt hinzu.

„Bäumchen, du kennst ihn ja, wird dir nachher zeigen, wie die Klamotten im Spind verstaut werden. Da gibt’s auch noch ein paar Regeln, die er dir beibringen wird. Hast du Probleme, wende dich an Bäumchen. Weißt du, die letzten paar Tage hier wollen wir uns keinen Kopf machen. Wenn du spurst, wird es dir gut gehen. Wenn nicht, wirst du hier die Hölle haben. Mach’s dir nicht schwerer, als es schon ist.“

Er klopft mir auf die Schulter.

„Also willkommen an Bord. Schnapp dir dein Essbesteck. Es wird gleich zum Essen gerufen.“

„Blick zur Sonne!“

Busch lässt für eine Sekunde sein Bandmaß aus einem kleinen Schuh schnellen.

„Noch ’ne Grundregel: Zeigt ein EK dir sein Bandmaß, musst du ehrfürchtig strammstehen. Klar?“

Ergeben nicke ich.

Als ich mein Essbesteck herausgesucht habe, ertönt auch schon der Pfiff; der Befehl zum Heraustreten kommt.

Unsere kleine Truppe ist beim Essen in Ruhe gelassen worden, da Knorr uns von den anderen getrennt in den Saal gebracht hat. Der Flur ist verwaist, da die Gruppen nach der Dienstausgabe abgerückt sind.

Hilmar ist für mich abgestellt und zeigt mir, wie ich meinen Spind einzuräumen habe. Weit geöffnet ist der Schrank.

Er wird für die nächsten Monate mein einziges privates Reich sein, ihn kann ich abschließen, hier sind meine Sachen aufbewahrt. Mehr werde ich nicht besitzen. Aber was heißt „privat“? Jeder Unteroffizier, jeder EK kann ihn kontrollieren.

Vor uns liegt die aufgeschlagene Plane mit meinen Habseligkeiten.

Nach dem Essen habe ich mich umgezogen und meine Schulterstücken in die Felddienstuniform eingezogen.

„Pass auf, dass du deine Schulterstücke nicht knickst. Am besten, du ziehst ein Sägeblatt hinein. Knicken die Schulterstücke, gibt es Ärger.“

Hilmar zeigt auf seine Schultern.

„Hier, wenn du Ritze bist, darfst du einen Knick haben. Aber der wird dir verliehen.“

Wieder stelle ich fest, dass ich keine Ahnung von den Gepflogenheiten hier habe.

„Zunächst wirst du dein Bett beziehen.“

Hilmar drückt mir den blau-weiß gewürfelten Bezug und das Kissen in die Hand. Ich, als Neuer, muss auf dem oberen Bett schlafen.

„Schau dir mein Bett an. Die Linie der blau-weißen Würfel muss genau ausgerichtet zur Bettkante sein.“

„Und wofür soll das gut sein?“, wage ich zu fragen.

Mein Gegenüber schaut mich wie ein weiser Buddha an.

„Frage hier nie, wenn dir etwas rätselhaft vorkommt. Hier gibt es keine Logik. Die blau-weißen Reihen wurden schon seit der Erfindung des Armeebetts so ausgerichtet, und so wird dies auch noch in 100 oder 200 Jahren geschehen. Da gibt es keine Erklärung für, nimm es so hin, und damit basta.“

Alleine quäle ich mich mit dem Beziehen der Decke. Sie muss umgeschlagen werden, damit sie genau in den Bezug passt. Es will mir einfach nicht gelingen. Schließlich stopfe ich die Decke irgendwie in den Bezug, richte die Würfel einigermaßen aus, falte die Überdecke am Fußende und beziehe das Kopfkissen. Eigentlich bin ich mit meinem Werk zufrieden. Doch Hilmar ist anderer Meinung. Seine Hand fährt über den Bezug.

„Siehst du die Gebirgslandschaft?“ und schon reißt er die Decke herunter. Er drückt mir zwei Sicherheitsnadeln in die Hand.

„Befestige die umgeschlagene Decke damit. Dann kann sie nicht verrutschen“, und schon ist er verschwunden. Diesmal gelingt mir der Bettenbau besser. Aber vor Hilmars Augen findet mein Bett keine Gnade. Die Linie der Würfel verläuft nicht parallel, und wieder fliegt die Decke auf den Boden. Mir schwillt langsam der Kamm.

„Sag mal, spinnst du? Ich bin doch nicht der Sklave deiner Launen!“

Wütend beginne ich wieder mit dem Bettenbau. Hilmar schaut mich an. Ich sehe an seinem Blick, dass ihm dies keinen Spaß macht. Warum auch? Wir haben zusammen ein Jahr gelernt, kamen ganz gut miteinander aus. Und nun muss er mir Betrieb machen. Er scheint meine Gedanken zu ahnen.

„Meinst du, mir macht das Spaß? Aber wenn es bei dir nicht klappt, bekomme ich Betrieb von den Alten. Das ist so. Sie haben Betrieb bekommen und geben ihn nun weiter. Ich bin gerannt, und nun rennst du. Und in einem Jahr werden andere für dich rennen. So sind nun einmal die Gesetze hier. Wenn ich dich anschreie, denke daran. Mir macht es auch keinen Spaß.“

„Aber man kann doch normal miteinander auskommen. Wir sind doch alle angeschissen“, wage ich einzuwenden.

„Ach, hör auf, Klaus! Das war vor 50 Jahren so, und das wird auch in 50 Jahren noch so sein. Das ist das gleiche wie mit den Bettbezügen. Wenn du einige Wochen hier bist, wirst du das verstehen.“

Er mustert noch einmal mein Bett.

„Okay, das kann so bleiben. Nun geht es an den Spind.“

Ungläubig schaue ich auf den Kleiderhaufen.

„Das soll alles reinpassen?“

„Wart ab“, und Hilmar beginnt mir, den Aufbau des Spinds zu zeigen.

„Die Unterwäsche kommt oben ins Fach. Da sie neu ist, dient sie nur optischen Zwecken, wird mit dem „ND“ als Päckchen verstärkt. Dahinter verschwindet dann die normale Wäsche. Unter dem Wäschefach ist das Essenfach.“

Er öffnet die Klappe.

„Hast Glück, sind keine Kakerlaken drin. Immer einen Deckel über die Esssachen. Sonst hast du Laufspuren von den Kakerlaken auf der Butter.“

„Kakerlaken?“

Ich schaue Hilmar ungläubig an: „Solche Viecher existieren wirklich noch?“

Baum schaut mich mitleidig an.

„Was meinst du, wenn man abends aus dem Fernsehraum kommt, wie sie dann flitzen, wenn man das Licht anmacht. Wir knacken jeden Tag etliche. Aber sie vermehren sich ununterbrochen.“

Mein Spind ist mit Hilmars Hilfe eingeräumt. Es hat fast eine Stunde gedauert, bis alles verstaut war. Hilmar hat mir vieles erzählt, was ich beachten muss. Und das Wichtigste für mich war, dass jemand normal mit mir gesprochen hat.

Als ich meine Reisetasche ordne, finde ich ganz unten ein Buch. Mein Vater muss es mir mit hineingelegt haben, denn es stammt aus seinem Bücherschrank. Es ist Falladas „Blechnapf“.

Ein Gefängnisroman. Ob Vater sich etwas dabei gedacht hat? In meinem Wertfach wird es am sichersten liegen. Dort habe ich auch mein Tagebuch versteckt. Doch ich werde keine Zeit finden, es weiterzuführen. Denn meine EKs scheinen nicht zu lesen.

Auf dem Gang sind klappernde Eisen zu hören. Von Hilmar weiß ich, dass ein EK mit Stiefeleisen naht. Auch ein Privileg, wie so viele. Die Tür wird aufgerissen, und Busch steht in der Tür. Ich sehe sofort, dass er schlecht gelaunt ist.

„Das lieben wir. Während der Alte auf dem Park knüppeln muss, gammeln die Zwischenflieger und Glatten ab. Na wollen mal sehen, ob Bäumchen dir was beigebracht hat. Er schiebt Hilmar beiseite und mustert mein Bett.

„Das sieht zu gut aus. Da hat Bäumchen geholfen!“

Ein Griff, und alles liegt auf dem Boden. Ich könnte vor Wut platzen. Aber soviel weiß ich schon: Wenn ich jetzt etwas sage, bin ich fällig. Busch sieht mich aus seinen wasserblauen Augen an, und ich komme mir vor wie die Maus vor der Schlange. Kalt ist sein Blick.

„Wolltest du etwas sagen, mein Freund?“, fragt er leise.

Ich kann nur den Kopf schütteln. Angst, richtige Angst, wie ich sie schon ewig nicht mehr gespürt habe, fällt mich an.

„Das möchte ich dir auch geraten haben!“

Plötzlich mehrere schnelle Griffe in den Spind. Die Unterwäsche, die Mütze, die Uniformjacke fliegen in hohem Bogen auf das glänzende Linoleum.

„Das kannste dann gleich anschließend einräumen. Übung macht den Meister. Und du, Bäumchen, kochst zwei Kaffee. Der Glatte hat zu tun. Ab morgen macht er das dann.“

Jetzt weiß ich, wie es in den nächsten Wochen für mich laufen wird. Und meine Hände zittern, während ich mein Bett erneut baue.

Es ist kurz nach 20.00 Uhr. Unsere Batterie ist zum Abendbrot marschiert. Dabei habe ich die Magdeburger und Berliner gesehen, die heute Nachmittag gekommen sind. Wir sind nun zehn Neue in unserer Batterie.

Auf den Stuben herrscht nach dem Abendbrot eifriges Treiben. Es wird gebastelt und gesägt.Ich hatte mich mit dem Langen im Waschraum verabredet. Wir wollten miteinander reden, den ersten Tag auswerten. Doch kaum waren wir zusammen, kam sein EK, es ist der Gefreite, der mich am Mittag angerempelt hatte, und jagte uns auseinander.

„Vielleicht quatschen die Glatten schon!“, fuhr er uns an.

„Warte ab, wenn du vereidigt bist, du Spralle. Dann wirst du rotieren“, knurrte er noch.

Und an seinem Blick merkte ich, dass er seine Drohung wahr machen wird.

Als ich aus dem Waschraum zurückkomme, sitzt Hilmar am Tisch und schreibt einen Brief.

Hentschel ist im Fernsehraum, und Busch liegt auf seinem Bett und blättert im „Magazin“. Mein Spind ist eingeräumt. Busch hat nach dem fünften Versuch keine Mängel mehr gefunden, und ich fühle mich müde und geschafft. Doch kann ich mich hinsetzen? Er wird doch sofort wieder etwas finden und mich rotieren lassen. Als ob Busch meine Gedanken gelesen hat, schaut er auf.

„Levitzow, hast du nichts zu tun?“

Er schaut zu Hilmar.

„Eh Bäumchen, der Glatte steht herum und hält Maulaffen feil. Muss der Alte sich denn um alles kümmern?“

Er knurrt schon wieder, und ich spüre meine Hände feucht werden. Diese Scheißangst!

„So Levitzow, stillgestanden! Dann vernimm die Grundregeln der Armee:“

Er dreht sich zu Hilmar.

„Zeig ihm mal, wie stillgestanden geht“, und Hilmar springt auf und knallt die Hacken zusammen. Das reinste Affentheater, denke ich bei mir.

„Alles klar, Levitzow? Also stillgestanden!“

Und ich knalle meine Hacken zusammen und zweifle an Buschs Verstand.

„Also nun gib fein acht: Es gibt in der NVA zwei Dienstgrade, und die sind?“, fragt er in dozierendem Ton. Ich zucke mit den Schultern und setze mein dümmstes Gesicht auf. Vielleicht kann ich mich ja so vor ihm retten.

„Der Gefreite und der General. Mehr Dienstgrade gibt es nicht. Ist das klar, mein Sohn?“

Mein Sohn - Busch ist vielleicht fünf Jahre älter als ich!

„Ja!“

„Also, dann wiederhole, was du eben gelernt hast.“

Für einen Augenblick frage ich mich, ob er dieses Spiel ernst meint. Doch sein Gesicht ist so ernst, dass ich seinen Lehrsatz lieber wiederhole.

„Fein, Levitzow“, fährt er fort.

„Zweiter Grundsatz: Der EK denkt, der Vize lenkt und die Spralle rennt. Die du in diesem Fall bist. Und das gilt vom ersten Tag an, bis der Alte geht. Den tiefen Sinn dieses Lehrsatzes wirst du in den nächsten sechs Monaten erfahren. Also wiederhole.“

Und mit dem ergriffensten Gesicht der Welt wiederhole ich Buschs Lehrsatz.

Er strahlt, als hätte ich den Baum der Erkenntnis gefunden.

Meine Angst ist bei dieser Lehrvorführung verschwunden. Die Prozedur scheint mir einfach zu lächerlich. Aber ich weiß, dass Busch es ernst meint.

Nun wendet er sich wieder an Hilmar.

„Und eins gilt noch Bäumchen: Wenn der Glatte nicht pariert, rennst du. Du hast Dich um Levitzow zu kümmern, dass er sich nicht langweilt.“

Seine Stimme, die schon wieder ruhig war, wird drohend. Gegen ihn hätte ich keine Chance. Er würde mich fertigmachen.

„Also Bäumchen, der Glatte darf jetzt sitzen, und du wäschst meine Kragenbinden.“

Hilmar steht auf. Auch er weiß, dass er keine Chance gegen Busch hat. Als er zu Buschs Spind geht, treffen sich unsere Blicke, und ich weiß, dass ich morgen fällig bin. Mit den Kragenbinden verschwindet er in Richtung Waschraum.

„Setz dich hin!“, herrscht Busch mich an.

„Wer weiß, wann du wieder Zeit zum Sitzen hast.“

Und ich sitze auf meinem Hocker und starre auf den Ex-Platz hinaus. Was ist dies für eine Welt? Busch, ein Kraftfahrer mit acht Klassen, behandelt mich wie seinen Leibeigenen. Er kann mich für Arbeiten an die EKs der anderen Buden verleihen, kann mich schikanieren. Ihn interessiert es nicht, dass ich mit Logarithmen rechnen kann, dass ich weiß, wie man mit dem Skribent zeichnet. Für ihn bin ich der Glatte, die Spralle, der Ficker mit über 500 Tagen. Nur das zählt hier, sonst nichts! Nur die zu dienenden Tage zählen! Das habe ich am ersten Tag, eigentlich schon in den ersten zwei Stunden, gelernt.

Busch liegt wieder auf seinem Bett, blättert in der Zeitschrift und pfeift. Seltsam, wie dieser Mensch innerhalb weniger Sekunden seine Stimmung ändern kann.

Trotz der Hektik dieser Stunden muss ich immer noch an das Mädchen in der BA-Kammer denken.

„Sag mal Buschi, das Mädchen in der BA-Kammer. Kennst du die?“

Busch schaut erstaunt auf. Jetzt wird er wieder explodieren.

„Du hast wohl keine anderen Sorgen am ersten Tag, was? Steigt dir schon der Saft zu Kopf? Bist wohl Triebmensch?“

„Nein.“

Ich druckse herum.

„Sie fiel mir nur auf. Weil sie irgendwie nicht hier hineinpasst.“

Busch lacht auf.

„Toller Feger, was? Aber vergiss sie. Das ganze Regiment fängt an zu hecheln, wenn sie die Straße entlanggeht. Was meinst du, wie gerne wir zur BA kommandiert werden. Aber schlag dir den Gedanken, falls du einen hast, aus dem Kopf. Das Mädchen ist eine Heilige. Außerdem ist sie mit einem Offizier vom Park verheiratet. Der würde jeden umbringen, der sie auch nur anfasst. Aber hübsch ist sie schon.“

Busch blättert in seinem „Magazin“.

„Hier, für uns bleiben nur diese Bräute. Wenn es gar nicht mehr geht, wird das Heft mit aufs Scheißhaus genommen.“

Er zeigt mir die Monatsnackte.

„Und Levitzow, wenn das nicht hilft, sag Bescheid. Du kannst so viel Reviere bekommen, dass du gar nicht mehr weißt, wie ein Mädchen aussieht, weil du nicht mehr zum Nachdenken kommst.“

Er spricht völlig ruhig, und ich weiß, er meint es wieder ernst. Noch eine Frage von mir, und er würde explodieren. Ein kurzes Nicken, und das Thema ist beendet.

Hilmar kommt mit den gewaschenen Kragenbinden wieder und hängt sie über das Bettgestell zum Trocknen.

„Schnapp dir den Besen und feg das Zimmer. Nachher ist Stubendurchgang.“

Mein Besen gleitet über den staubfreien Boden. Kein Krümel bleibt an dem Lappen hängen, mit dem ich den Tisch wische.

„Was nun?“

„Gleich ist Stubendurchgang. Danach ist Zapfenstreich“, erklärt Hilmar.

„Muss ich schon meinen Schlafanzug anziehen, und wann kann ich mich waschen?“

Nichts weiß ich. Nach allem muss ich fragen.

„Natürlich machst du dich vorher fertig. Du musst noch Päckchen bauen.“

Wieder schaue ich ihn fragend an.

„Mann stell dich doch nicht so an!“, fährt Busch dazwischen.

„Die Unterwäsche muss auf den Hocker gelegt werden. Heute zeigt Baum dir das. Ab morgen kannst du es, verstanden?“

Kopfschüttelnd über so viel Dummheit verschwindet er in den Waschraum.

Hilmar zeigt mir, wie er sein Päckchen aus der Unterwäsche baut. Auch im Sommer tragen wir lange Unterhosen. Warum, kann mir keiner sagen. Es ist Vorschrift.

„Pahl ist gekommen! Er macht heute Stubendurchgang“, erzählt Busch, als er zurückkommt.

„Levitzow, zeig mir deine Stiefel. Hast du auch den Steg geputzt? Pahl ist unser Zugführer. Da muss alles glänzen. Sonst gibt es keinen Ausgang. Für uns“, ergänzt er.

„Ihr Glatten kriegt natürlich keinen.“

Er ist mit meinen Stiefeln zufrieden. Hentschel kommt aus dem Fernsehraum zurück und grinst.

„Pahl ist in Form heute. Er hat den GUvD vorne gleich rund gemacht. Bäumchen, alles in Ordnung bei uns?“

Und zu mir gewandt: „Jetzt lernst du deinen Zugführer kennen.“

Vorne ertönt die Stimme des GUvD: „Batterie, fertigmachen zum Stubendurchgang. Stubendurchgang in fünf Minuten!“

Busch kontrolliert noch einmal meinen Spind. Doch er findet nichts.

Entfernt klappen Türen, eine Stimme ist laut. Das Türenklappen und die Stimmen kommen näher. Was werden sie bei mir finden? Sind die Würfel des Bezuges ausgerichtet? Ist die Kragenbinde in die Felddienst richtig geknüpft?

Mein erster Stubendurchgang, von vielen. Vor 24 Stunden wusste ich noch nicht einmal, dass es den gibt.

An der Tür des Nebenzimmers wird Meldung gemacht. Mein Herz klopft aufgeregt. Diese Angst! Es ist zum Verrücktwerden. Vor den Freunden habe ich noch vorgestern getönt, dass ich mich nicht unterkriegen lassen werde. Und nun! Angst und Unsicherheit beherrschen mich. Ob es dem Langen auch so geht?

Busch hat sich vor die Tür gestellt. Neben meinem Bett warte ich auf den Leutnant.

„Zimmer 546 mit vier Mann belegt, gereinigt und gelüftet, zum Stubendurchgang bereit. Es meldet Gefreiter Busch.“

Busch tritt beiseite, und der Leutnant tritt mit dem UvD in die Stube. Der Leutnant wirkt auf mich, als ob er in dieser Uniform geboren wurde. Er ist groß und schlank. Die Offiziersstiefel sitzen wie angegossen an seinen Beinen. Sein Gesicht ist glatt und wirkt energisch. Es gräbt sich in mir ein und verbindet sich sofort mit dem blonden Offizier, den ich auf einer alten Postkarte auf dem Dachboden meiner Eltern fand.

Er steuert auf mich zu und mustert mich dabei von Kopf bis Fuß. Ich spüre, in diesem Moment bildet er sich seine Meinung von mir. Energisch und sicher will ich auf ihn wirken. Warum? weil ich in den nächsten Monaten von ihm abhängig bin? Aus Ehrgeiz?

Mit meiner Meldung ist er zufrieden. Er stellt sich vor. Seine Stimme klingt schnarrend, mit südlichem Dialekt. Aber er sächselt nicht.

„So, sie sind also der neue Vermesser/Funker. Ich erwarte in der Ausbildung viel von meinen Soldaten. Arbeiten wir gut miteinander, haben Sie es gut bei mir. Aber wenn jemand denkt, dass er hier in Buchholz einen ruhigen Lenz schieben kann, hat er sich getäuscht. Der wird Spießruten laufen.“

Bei dem letzten Satz hat er leicht gegrinst. Amüsiert er sich selbst über seine Wortwahl, oder habe ich ein so dummes Gesicht gemacht. Denn für einen winzigen Augenblick glaubte ich an den Spießrutenlauf.

Der Leutnant kontrolliert mein Bett und schaut nach, ob der Steg unter den Stiefeln glänzt. Er findet keine Mängel in unserem Zimmer, grinst Busch beim Herausgehen an.

„Gut, meine Herren“, und ist mit dem UvD im nächsten Zimmer verschwunden.

Hentschel lacht.

„So ist er, unser Leutnant Pahl. Irgendwie verrückt. Aber trotzdem in Ordnung.“

„Mit ihm darfst du es dir nicht verscherzen und auch nicht mit dem Spieß. Pahl verlangt viel von uns, aber auch von sich. Wenn du ein Problem hast, gehe zu ihm. Er wird dann helfen. Aber vorher frage mich oder Buschi. Aber glaube nicht, dass du uns anscheißen kannst.“

Der Stubendurchgang ist beendet. Pahl ist verschwunden, und der UvD sitzt wieder vorne an der Treppe. Hochbetrieb herrscht im Waschraum, als ich ihn betrete. Die beiden langen Reihen der Waschbecken sind voll, und ich muss warten. Alle Neuen sind beim Waschen, aber nicht ein EK. Sicher gehen sie später, wollen mit uns nichts zu tun haben. Die Magdeburger, die heute Nachmittag gekommen sind, kenne ich noch nicht. Schabowski und Jablonski, die beiden polnischen Zwillinge, haben natürlich zwei benachbarte Becken. Hagemann sehe ich, der lange Uwe ist beim Zähneputzen und nickt, als er mich sieht.

„Komm ran, Klaus, ich bin fertig.“

Beim Waschen werte ich nebenbei den heutigen Tag mit ihm aus.

Uwe erzählt, dass er zwei EKs auf der Bude hat. Einer von ihnen sei ein Arschloch. Günzel heißt er. Und dann noch mit Vornamen Alfonso. Den anderen, Mecklenburg, hätte er noch nicht gesehen, da er Dienst im Nachrichtenbunker schiebt. Ich erzähle ihm von meinen Erlebnissen. Plötzlich unterbricht er mich.

„Scheiße, da kommt der Günzel!“

Im Spiegel erscheint ein dunkler, lockiger Typ, nur in Badehose. Der Vorname passt wirklich zu ihm. Vielleicht war sein Vater ein verirrter Gastarbeiter, der die beiden Deutschlands verwechselt hatte. Gastarbeitersohn Alfonso steht in der Tür und schaut grimmig. Und den kenne ich! Der hat mich heute Mittag auf dem Flur angemacht.

Und schon blafft er los.

„Was ist denn hier los. Der Alte will sich waschen, und da stehen hier nur Glatte herum und versuchen, ihre Tage abzuwaschen. Alle Waschbecken voll. Das kann doch nicht sein.“

Die Angst macht sich breit zwischen uns. Was wird nun folgen? Alle reinigen sich angestrengt, putzen sich die Zähne, tun beschäftigt, um ja nicht aufzufallen.

Uwe verschwindet lautlos mit seiner Waschtasche. Doch Günzel blafft noch hinterher.

„Langer, Du bist auch noch dran.“

Günzel postiert sich in der Mitte des Raums. Im Spiegel sehe ich, wie er seine Muskeln anspannt, um uns zu imponieren. Seine Stimme droht.

„Sagt mal, ihr glatten Schweine, wollt ihr nicht Platz machen für euren E? Soll ich hier die letzten Tage noch festwachsen?“

Hagemann schaut auf.

„Mein Platz ist frei. Ich kann mich auch nachher waschen.“

„Deinen Platz möchte ich nicht. Ich habe hier mein Stammwaschbecken. Wisst ihr, im Laufe der Jahre hat man so seine Gewohnheiten. Und die ändere ich nicht, weil irgendein Glatter mein Waschbecken benutzt. Ist das klar!“

Dieser Angeber. Was bildet er sich überhaupt ein? Aber meine Angst wächst, denn ich spüre nun Günzel in meinem Rücken.

Unsere Blicke treffen sich im Spiegel.

Ich drehe mich um.

„Levitzow, das ist mein Waschbecken. Verpiss dich.“

Ich will etwas sagen. Doch da fliegt meine Waschtasche auf den Boden.

Er grinst.

„Siehste, die weiß, was sich gehört.“

Meine Angst wird immer größer. Aber plötzlich überfällt mich auch Wut. Dieses Schwein, was bildet er sich ein?

Als ich auf dem Boden knie, um meine Sachen einzusammeln, treffen sich unsere Blicke. Günzel grinst. Hohn ist in seinen Augen.

„Levitzow, ich weiß, dass du dir fast in die Hosen scheißt. Aber trotzdem würdest du mich am liebsten anfallen. Du würdest lieber einen Arschvoll riskieren, als vor mir zu kuschen. Stimmt’s?“

Sein Grinsen wird immer breiter.

„Stimmt’s?“

Und ich nicke.

„Vergiss deine Gedanken. Ich mache dich alle. Darauf kannst du Gift nehmen!“

Und er dreht sich um und pfeift, während im Waschraum Totenstille herrscht, und ich verschwinde.

Ich stehe für Sekunden an die Flurwand gelehnt und schließe die Augen.

Dieses Schwein! Ich könnte ihn tothauen! Was bildet er sich ein? Doch ich habe keine Chance gegen ihn.

Es ist kurz nach zehn. Der Zugführer hat den Batteriebereich verlassen. Die Nachtruhe ist ausgerufen worden. Aus dem Mannschaftsgebäude hinter unserem Block dröhnt es plötzlich wie Posaunenklang zu uns herüber.

„Die Glatten von den Huks blasen ihre Tage ab“, erklärt Busch unter mir.

Mit den Huks meint er die Leute an den Kanonen. Hier gibt es für fast jedes Ding eine andere Bezeichnung oder Abkürzung. Die Soldaten scheinen eine Art Armeesprache zu verwenden. Auch ich werde sie in den nächsten Wochen lernen.

„Morgen seid ihr dann dran. Die Bullen haben heute genug zu tun.“

„Und wie fabrizieren die den Lärm?“, frage ich in das Dunkle.

„Bäumchen wird dir das zeigen. Dafür nimmst du den oberen Bügel des Bettgestells. Wenn du dich nicht so glatt anstellst, wirst Du schönen Krach damit machen.“

Es herrscht wieder Ruhe im Zimmer. Die anderen beiden im Bett gegenüber scheinen schon zu schlafen.

Auch die Kanoniere aus dem Nachbarblock sind wieder ruhig geworden. Plötzlich klirrt es unten auf den Ex-Platz.

„Feiner Wurf! Die erste leere Flasche des Abends. Die Schallmess feiert unten Geburtstag. Da wird der Bulle vom Dienst wieder rotieren“, verkündet Busch unter mir.

„Und die Außenreviere morgen früh, wenn sie die Scherben vom Ex-Platz fegen müssen“, ergänzt Hentschel von gegenüber.

„Noch was zum Merken: Wichtigster Befehl für die kämpfende Truppe: dreißigvierundsiebzig. Da hat uns nämlich unser weiser, greiser Armeegeneral verboten, Schnaps zu trinken. Aber Verbote sind dazu da, nicht befolgt zu werden. Und etwas Verbotenes zu tun, macht viel mehr Spaß, als wenn das Gleiche erlaubt wäre. Und darum wird auch immer mehr gesoffen. Nur erwischen lassen darf man sich nicht. Aber ehe ihr sauft ...“

Hentschels Stimme klingt, als ob bis dahin noch tausend Jahre vergehen werden.

Ein kleines Taschenlampenlicht brennt. Ich beuge mich leise herunter. Busch liest ein Taschenbuch. Die Lampe hat er auf das Radioregal gelegt. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser poltrige Kerl überhaupt ein Buch anfassen würde.

Das Radio läuft leise. Die grüne Skalenbeleuchtung taucht unsere Ecke in ein seltsam diffuses Licht.

Nun ist mein erster Tag in Buchholz vorbei. Über 500 werden noch folgen. Wie wird diese lange Zeit verlaufen? Ich fühle mich so unglücklich. Morgen wird der Druck richtig losgehen. Das hat mir Holger schon gesagt. Diese Scheißarmee! Warum können die uns nicht in Ruhe lassen. Alles Quatsch, was der Offizier heute Morgen erzählt hat. Kollektivgeist und Kameradschaft, wo sind sie hier? Wozu dieser ganze Zirkus, von revolutionärer Wachsamkeit? Die drüben haben doch mit sich selbst zu tun. Warum sollen die uns angreifen?

Wie in einer anderen Welt fühle ich mich. Hast du ein Bandmaß in der Tasche, bist du der König. Hast du es nicht, bist du der letzte Arsch. Diese Grundregel habe ich bereits gelernt.

Sabine, was sie wohl macht? Ich höre wieder ihre Stimme. Habe ich sie nach 18 Monaten noch? Alles ist so unsicher.

Am ersten Tag habe ich schon meinen ersten Feind. Günzel wird mich fertigmachen, denn er hasst mich. Warum habe ich Idiot nur genickt? Das war doch die reinste Provokation von mir. Aber ich kann doch nicht klein beigeben. Das wollen die doch nur! Ich will denen nicht den Arsch lecken und herumkriechen. Alles Lügen, was uns vorher erzählt wurde. Alles Lügen, wie so oft.

Im Radio läuft leise „Bright Eyes“ von Art Garfunkel. Die sehnsuchtsvolle Melodie macht mich fertig. Ich will gegen dieses Gefühl ankämpfen. Kann er da unten nicht die Kiste ausmachen! Ich starre an die Decke und spüre, wie sich meine Augen füllen. Ach Scheiße! Ich wälze mich auf den Bauch, und mein Kopfkissen wird nass.

2. Kapitel

Ein greller Pfiff hat mich geweckt.

„Batterie, fertigmachen zum Frühsport! Heraustreten in drei Minuten!“

Obwohl ich noch hundemüde bin, springe ich sofort aus meinem Bett. Busch würde mich sofort mitsamt Matratze auf den Boden kanten, wenn ich auch nur eine Minute liegen bleiben würde. Zwei Monate bin ich nun schon hier und habe mich noch immer nicht an den Tagesrhythmus gewöhnt.

Schlafanzug aus, das kurze rotgelbe Sportzeug an. Obwohl wir Ende Juni haben, ist es am Morgen noch frisch. Sommerdienst ist befohlen, und dann wird kurz getragen. Auch wenn es schneien würde. Als der UvD die Tür aufreißt, hat sich auch Hilmar angezogen. Busch und Hentschel bleiben liegen.

„Tür zu!“, knurrt Hentschel, als sich der Unteroffizier aufs Betteln verlegt.

„Wir Alten machen Frühsport, wenn wir Lust haben. Und heute haben wir keine Lust!“

„Batterie, abrücken zum Frühsport! Im Laufschritt!“, kommandiert der Spieß, der gerade, mit rotem Kopf und schnaufend, die Treppe hochgestiefelt ist.

„Kommando zurück! Herrschaften, bei ‚im Laufschritt‘ werden die Arme angewinkelt. Also: Im Laufschritt!“

Und nun reißen alle die Arme hoch. Der Hauptfeld scheint schlechte Laune zu haben, und dann ist nicht gut Kirschen essen mit ihm.

Während wir die Treppen hinuntertoben, flucht oben der Spieß, weil er mitbekommen hat, dass die Hälfte der EKs fehlt.