Tiranorg: Schwertverrat - Judith M. Brivulet - E-Book

Tiranorg: Schwertverrat E-Book

Judith M. Brivulet

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Beschreibung

Band III der epischen High Fantasy Saga »Wir kämpfen aus dem Untergrund, fügen den Schlangenanbetern an allen möglichen Stellen Schaden zu. Dazu brauchen wir Waffen und Verbündete. Wir müssen sie ständig an den verschiedensten Orten angreifen, dürfen nicht ruhen. Ich nenne es die Taktik der Nadelstiche.« (Esmanté d’Elestre, Schwertmeisterin)In Tiranorg spitzt sich die Lage zu. Kaum aus Gwyn Nogkt entkommen, werden Esmanté, Loglard und ihre Kameraden von dem Drachen Blutschatten gejagt. Überraschend bieten die Koadeck ihre Hilfe an. Aber können die Gefährten ihren ehemaligen Feinden vertrauen? Sind die Waldgeister die geeigneten Führer auf den verlassenen Pfaden der Zwerge?Währenddessen formieren sich ihre Gegner. Esmanté und Loglard erkennen, dass sie das Blatt nur wenden können, wenn sie alte Feindschaften überwinden und im Kampf neue Wege beschreiten.Die alles entscheidende Frage lautet: Wer findet das mächtigste Artefakt von Tiranorg? »Schwertverrat« ist der dritte Band der abgeschlossenen vierteiligen High Fantasy Saga um die Zukunft der Elfenvölker in Tiranorg. Band I Tiranorg, Schwertliebe -Band II Tiranorg, Schwertmagie - Band III Tiranorg, Schwertverrat - Band IV Tiranorg, Schwertmacht

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Tiranorg

Schwertverrat

Ein Roman von Judith M. Brivulet

 

 

Atav feal!

Der Schwur des Lebens

 

© 2019 Judith M. Brivulet

www.brivulet.com

1. Auflage

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme, des Nachdrucks in Zeitungen und Zeitschriften, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

 

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder realen Ereignissen sind rein zufällig.

 

Lektorat: Carolin Olivares

www.olivares-canas.com

 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.com

Bilder © Depositphotos.com/ fxquadro, camilabo

© Shutterstock.com/Alex Tooth

 

 

Impressum:

Impressumssservice:

Fa. bachinger software

Am Wimhof 20

94034 Passau

www.bachinger-software.de

 

 

 

 

 

 

 

Für Christoph, die Liebe meines Lebens,

ohne ihn wäre die Geschichte nie entstanden.

Für meine drei Töchter,

die immer an mich glaubten.

Für meine Eltern,

die mich lehrten nie aufzugeben.

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

1. Ärger, nichts als Ärger

2. Willkommene Hilfe

3. An der kurzen Leine

4. Unter Tage

5. Vertrauensbeweise

6. Eine gute Geschichte

7. Rache

8. Neue Weidegründe

9. Wahre Macht

10. Neue Pläne

11. Ein gutes Zeichen

12. Krähen und Geister

13. Der Odem des Todes

14. Adamas und Kunst

15. Ein stolzer Zwerg

16. Wut und Gier

17. Drei goldene Waagen

18. Egk Mort

19. Trainingseinheiten

20. Auf dem richtigen Weg

21. Fasten und meditieren

22. Ein Schandfleck

23. Das Ende der Welt

24. Alte Freunde

25. Der Schwur des Lebens

26. Eine Mausefalle

27. Unverhoffter Besuch

28. Die hartnäckige Gefährtin

29. Auf eigenen Beinen

30. Das Windspiel

31. Der verlassene Steinbruch

32. Die Wahrheit

33. Alan Eiler – das Mondfest

34. Ein Stärkungszauber

35. Zeit, zu grübeln

36. Dankbarkeit und Rache

37. Retter in der Not

38. Bittere Wahrheit

39. Lyn Darwych

40. Feine Nadelstiche

41. Fuchs und Hase

42. Den Nachschub sichern

43. Ein kühner Plan

44. Plan und Wirklichkeit

45. Unbeugsame Entschlossenheit

46. Esmantés Traum

47. Spätes Geständnis

48. Dinge, die man ändern kann

49. Personenverzeichnis Tiranorg III

50. Zum Schluss

1. Ärger, nichts als Ärger

 

»Morgen brechen wir auf. Jede Faser meines Körpers sagt mir, dass hier etwas nicht stimmt«, erklärte Sigrith an diesem Abend und fuhr sich durch die kurzen Haare. »Egal, wer mitkommt, ich verschwende nicht noch mehr Zeit.«

»Die Jäger aus dem Dorf sagen, dass es noch Tage lang schneien wird. Das ist vollkommen normal für diese Jahreszeit in den Bergen«, hielt Kharem dagegen.

Er war der Einzige, der unbeeindruckt von Sigriths Launen seine Auffassung vertrat. Na gut, auch ich hielt meistens nicht mit meiner Ansicht hinter dem Berg, was natürlich wenig dazu beitrug, die Spannungen zwischen Sigrith und mir zu mildern.

Mit gemischten Gefühlen blickte ich von einem zum anderen. Wir saßen in Amarachs Küche um den großen Tisch, alle gezeichnet vom Kampf gegen die verdammten Schwarzmagier. Sigrith, blass und mit geröteten Augen, versuchte, zu verbergen, wie sehr ihn die Brandwunden immer noch schmerzten. Kharem saß wie so oft neben Mira. Normalerweise heiterte meine Freundin eine Gesellschaft gern mit guten Geschichten und zweifelhaften Witzen auf, aber seit Téfors Verrat brütete sie fast immer vor sich hin. Uth wirkte zufrieden, er hatte wieder einen Platz neben Eobar ergattert. Noreia schmiegte sich an Loglard und las in einem Buch.

Ein Schneesturm jagte den anderen, rüttelte an den dicken Mauern von Gwyn Nogkt und hinderte uns daran, Amarachs unheimliche Burg zu verlassen. Im Stillen gab ich Sigrith recht. Auch ich würde lieber heute als morgen verschwinden, denn ich traute dem Frieden nicht. Wer konnte sagen, welche Übel hier noch lauerten?

Seit gestern war unsere Stimmung noch bedrückter. Wir hatten Pert begraben. Loglard war nichts anderes übrig geblieben, als zusammen mit Uth und Kharem unter Zuhilfenahme ihrer Zauberstäbe etwas abseits vom Turm eine schmale Stelle vom Schnee zu befreien. In einer kurzen Zeremonie hatte er Perts Seele der Großen Mutter empfohlen. Ein dunkelroter Blitz aus Loglards Zauberstab hatte die Leiche viel zu schnell verbrannt. Eine ehrenhafte Beisetzung, wie sie dem Anführer der Gwydd-Bogenschützen zugestanden hätte, sah anders aus.

»Lasst uns weiterspielen«, schlug ich vor, um mich abzulenken.

Kharem nickte, schickte sich an, zu würfeln. In diesem Augenblick schrien Loglard und Sigrith gleichzeitig auf, sprangen hoch und hielten sich die Seite.

Nur einen Moment später stürmte Fiom herein. »Unter uns sind so komische Geräusche. Die Koadeck ist halb verrückt vor Angst, aber ich verstehe nicht, was sie sagt«, keuchte er völlig außer Atem.

»Kümmere dich um Noreia, Fiom! Ihr beiden bleibt bei der Koadeck«, befahl Loglard mit verzerrtem Gesichtsausdruck.

Aus seiner Hand floss das rote Heilende Licht, mit dem er Sigrith und sich selbst über die schmerzenden Stellen fuhr.

»Eobar, geh mit den Kindern!« Kaum hatte ich den Satz zu Ende gesprochen, nahm meine Schülerin Noreia an der Hand und bedeutete Fiom vorauszulaufen. Mary, unsere Wichtelin, erschien aus dem Nichts und schwebte hinterher.

Loglard rannte los, dicht gefolgt von Sigrith, Uth und Kharem. Mit einem komischen Gefühl im Bauch schloss ich mich Mira an. Welche Überraschung bescherte uns Amarach jetzt wieder?

Die Gward folgten einer für mich unsichtbaren Spur, eilten die Treppen hinab in den Eingangsbereich, dann zu einer Tür, die mir bisher nicht aufgefallen war. Das war kein Wunder, da eine lebensgroße Statue des nackten Weingottes sie verdeckte. Hinter der Tür erwartete uns ein schmaler Treppenabgang in den Keller. Falls auch dieser Gang zum Wehrturm führte, würden wir nicht weit kommen, denn der war verschüttet.

»Groß, verflucht groß!«, knurrte Sigrith.

Ich fragte mich, was genau er damit meinte. Es klang nicht gut.

»Bleib hinter mir, Esmé!«

Nur ungern kam ich Loglards Bitte nach, aber falls ein magisches Wesen im Keller sein Unwesen trieb, würde ich mit meiner Schwertkunst und Kampferfahrung nicht weit kommen.

Jetzt hörten wir ein Rumpeln, ein rhythmisches Stampfen – und schließlich einen sehr, sehr tiefen Ton, der die Wände zum Vibrieren brachte.

Von Stufe zu Stufe steigerte sich das seltsame Geräusch. Ein Ächzen mischte sich hinein, das auf keinen Fall von einem Elfen stammte. Dann knirschte es, als würde etwas sehr Schweres über Kieselsteine gezogen. Im Rhythmus eines imaginären Atemzuges bebten die Grundfesten des Hauses.

»Was bei allen beschissenen Dämonen der Anderswelt ist das?«

Einerseits freute es mich, wieder etwas von Mira zu hören. Andererseits klang ihre Stimme trotz der Flüche so gefühllos, dass mir bang wurde.

Stöhnend blieb Loglard stehen. Sogar durch den Stoff des Leinenhemdes sah ich, wie mehrere Krended glühten. Sigrith sog scharf die Luft ein, was mich davon überzeugte, dass er dieselben Schutzzeichen an sich hatte wie mein Gefährte. Kharem grunzte und fluchte lästerlich. Uth war kreidebleich und gab keinen Ton von sich.

»Bleib zurück, Esmé«, wiederholte Loglard. »Keine Ahnung, was dort vorne wütet. Auf jeden Fall verfügt es über mächtige Magie.«

»Von mir aus!« Schulterzuckend ließ ich die Gward vorbei.

Sogar in dieser Situation grinste mich Sigrith herausfordernd an, als er sich an mir vorbeidrückte. Kopfschüttelnd hielt ich Abstand.

Die Treppen mündeten in einen Gang. Ich fragte mich, wie das Haus der Lady du Lenn überhaupt stehen konnte, da der Untergrund so löchrig war wie Käse aus dem Süden. Lauernd gingen die Gward weiter, Loglard als Erster, dicht gefolgt von Kharem. Dabei hielten sie ihre Kampfstäbe in voller Länge nach vorne gerichtet. Erst gestern hatte mir Loglard die Funktionsweise der Stäbe erklärt. Der Einsatz der Lanzenspitze verlangte natürlich einiges an körperlicher Kraft. Noch komplizierter verhielt es sich mit der Erzeugung der Lichtsalven, denn der Stab holte sich die Energie von seinem Besitzer zurück.

Jetzt pulsierten die Griffe in ihren Händen. Für mich war es noch immer seltsam, meinen Gefährten als Kämpfer zu erleben. Wie die Dinge lagen, würde ich mich daran gewöhnen müssen. Jäh blieben sie stehen.

»Runter!«, schrie Loglard.

Das Poltern verschluckte jedes weitere Wort. Wir warfen uns auf den schwankenden Boden, schlossen geblendet die Augen. Eine Feuerwalze rollte über uns hinweg, leckte an den Wänden. Intensiver Brandgeruch erfüllte die Luft. Oh, nein! Das konnte nur eines bedeuten …

Die Gward spurteten los, Mira und ich folgten. Um keinen Preis würde ich meinen Gefährten allein mit einem Drachen kämpfen lassen. Als ich um die nächste Ecke bog, wäre ich beinahe gegen Sigrith geprallt.

Der Anblick, der sich mir bot, verblüffte mich. Ja, es handelte sich um einen Drachen, der uns seinen feurigen Atem entgegengeschleudert hatte, aber etwas stimmte nicht mit ihm. Nur Kopf, Hals und ein Vorderbein waren frei, der Rest des Körpers steckte in der Grundmauer des Hauses. All das Poltern und Vibrieren rührte daher, dass das Tier mit aller Macht versuchte, freizukommen.

»Ein letztes Geschenk von Amarach«, knurrte Sigrith.

Wir alle starrten den Drachen an. Ihn als riesig zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Selbst jetzt, zusammengerollt, sodass die Schwanzspitze das halb offene Maul berührte, betrug der Durchmesser sicher zehn Klafter. Im wahrsten Sinn des Wortes ruhte das Gebäude auf ihm, die Zacken auf seinem Rücken bildeten die Sockel der meisten Stützpfeiler. Gerade lagen die Tatzen, die gut und gern die Größe eines Rundschildes aufwiesen, neben seinem Körper. Zwar gab es noch andere Fundamente, doch es war offensichtlich, dass die Hauptlast auf dem Drachen ruhte.

»Durch Amarachs Tod verliert das Gehorsamkeitssiegel allmählich seine Kraft«, sagte Loglard, die Stirn in Falten gelegt. »Sigrith, hilf mir! Wir müssen ihn stärken, sonst werden wir hier lebendig begraben.«

»Ich bin Kämpfer, Loglard, kein Großmagier wie du«, erwiderte Sigrith kopfschüttelnd. »Ich weiß nicht einmal, womit ich anfangen soll.«

Noch bevor Loglard antworten konnte, passierte es. Die Drachenhaut platzte an der Bauchseite auf, gelblicher Schnodder floss heraus, vermischte sich mit grünem Drachenblut. Der Kopf, der aus der Wand herausragte, erschlaffte, ebenso der Hals. Das Bein knickte ein.

Die Szene, die sich vor uns abspielte, wurde endgültig zum Albtraum. Aus der Drachenhülle zwängte sich eine etwas kleinere Version des ursprünglichen Tieres heraus. Ein überwältigender Schwefelgeruch schlug uns entgegen. Ich würgte, den anderen erging es nicht viel besser.

Der Boden zitterte, als der Drache sich schüttelte. Tiefe Risse zogen sich über die Wände, Staub und Mauerstücke rieselten herab. Noch stützte die abgelegte Drachenhülle die Mauer.

»Elfen!«, dröhnte es.

Das Maul öffnete sich, offenbarte ein wahres Meer an spitzen Zähnen.

»Ist diese Heimsuchung immer noch in Tiranorg?«, dröhnte der Drache, während er sich in Zeitlupe bewegte.

Ein Funke entzündete sich in seinem schlaff herabhängenden Bauch. Rechts von mir bröckelte der Putz von den Wänden. Ein Knirschen ertönte, der Boden bebte. Jetzt erst sah ich, dass die große Halle, in der wir standen, von einem See begrenzt wurde. Der Drache öffnete das Maul, seine Nasenflügel bebten. Er schickte sich an, einen Schritt zur Seite zu gehen. Offensichtlich wollte er zu dem See, aber Loglard stand ihm im Weg.

»Verschwinde, Elf!«

Er hätte genauso gut Wanze oder Laus sagen können, nichts hätte sich an seiner Stimmlage geändert. Türkise Augen mit einer waagerechten Pupille von tiefstem Schwarz, feuerbekränzt, hefteten sich auf Loglard. Mir blieb fast das Herz stehen.

»Interessante Aura«, brummte der Drache. »Was ist? Willst du wirklich als Erster sterben?«

»Mein Name ist Loglard de Gralon.« Mein Gefährte richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Stolz postierte er sich vor dem riesigen Tier und reichte ihm doch nicht einmal bis zu den Kniegelenken.

»Was kümmert mich das?«, höhnte der Drache und zog die Lefzen hoch.

Rauch wölkte aus den Nasenlöchern, der Funke in seinem Bauch wuchs in atemberaubender Geschwindigkeit zu einer veritablen Flamme an. Mist! Bald würde er Feuer speien. Hinter seinem Rücken bedeutete uns Loglard mit den Händen, dass wir uns in Richtung Ausgang zurückziehen sollten. Nein! Auf keinen Fall ließ ich ihn allein.

»Ausgerechnet die Gralons!«, stöhnte der Drache. »Sie sind nichts weiter als ein Haufen eingebildeter, hochnäsiger Waldelfen, die glauben, ihr kümmerliches Reich würde sich bis in die Trollspitzen erstrecken.« Das Äquivalent eines Lachens erschütterte den massigen Leib.

»Es gab nicht viele Drachen, die meine Familie kannten«, gab Loglard stirnrunzelnd zurück.

Der Schwanz des Ungetüms peitschte, mein Gefährte sprang hoch und landete zwei Schritte von ihm entfernt.

»Gib auf, Gralon! Bastard!«, fauchte der Drache. »Du bist nicht der Erste aus diesem jämmerlichen Geschlecht und wahrscheinlich auch nicht der Letzte, den ich verspeisen werde.«

Fast streifte der Schwanz Uth, der sich in letzter Sekunde in Sicherheit brachte. Keiner der Gward hatte bisher mit dem Kampfstab angegriffen. Momentan war unser Gegner zwar geschwächt, trotzdem waren wir ihm nicht gewachsen. Mittlerweile glühte die komplette Unterseite seines Bauches. Was sollten wir tun? Ich war geneigt, die Flucht zu ergreifen. Die Risse an den Wänden vertieften sich. Immer wieder erschütterte ein Ächzen den Raum. Wie lange würde die Decke noch halten?

Jetzt gab das Monstrum seinen Plan, aus dem See zu trinken, auf und hechtete flügelschlagend auf Mira zu. Die brachte sich mit einer Sprungrolle in Sicherheit, hielt dabei ihr Schwert nach oben und stieß zu, doch dem Drachenbauch konnte ihre einfache Klinge nichts anhaben.

»Ärger, nichts als Ärger!«, fauchte das Ungeheuer.

Einige Rauchwölkchen, die seiner Nase entwichen, verwandelten sich in kleine Flammen. Es würde nur noch wenige Herzschläge dauern, bis er uns zu Asche verbrannte. Meine Gedanken rasten. Der Drache versperrte Loglard und Kharem den rettenden Weg nach draußen. Wie konnte ich ihnen helfen?

In diesem Moment holte der Drache tief Luft, sein Bauch stand mittlerweile in hellen Flammen. Wir drückten uns an die Wände, aber das würde uns nicht schützen.

»Arsa~v Nithor!« Ihre Stimme schnitt durch die aufgeheizte Luft, hatte so ganz und gar nichts Kindliches an sich.

Ich wirbelte herum. Tatsächlich. Meine Kleine stand aufrecht, die Arme ausgebreitet, ein paar Schritte vor dem Ausgang. Ihre Augen glühten fast so wie der Drachenbauch. Eine Kraft ging von ihren Worten und Händen aus, die mich schwindeln ließ.

»Du kennst meinen Namen? Sind die Elfen schon so verzweifelt, dass sie Kinder für sich kämpfen lassen?« Wieder produzierte der Drache so etwas wie ein Lächeln, die hochgezogenen Lefzen offenbarten erneut die Armada der Zähne.

»Gehorche mir, so wie du Amarach gehorcht hast – Senti~fi!«, befahl Noreia.

Jetzt tauchte Eobar hinter ihr auf. Kreidebleich stand sie da und wusste offensichtlich nicht, wie sie Noreia helfen sollte.

Loglard ächzte. Auch Sigrith, Kharem und Uth krümmten sich stöhnend, als mehrere ihrer Krended erglühten. Ich mutmaßte, dass sich gerade ein stummes magisches Kräftemessen abspielte, obwohl ich natürlich nichts sah. Wie lange würde Noreias Kraft reichen? Doch meine Tochter wankte weder, noch zögerte sie. Beharrlich hielt sie den Blick des Drachen gefangen. Wie hatte sie ihn genannt? Nithor?

Jetzt hob Noreia die Arme ein wenig. Loglard und Sigrith richteten sich wieder auf, rannten um den Drachen herum und nahmen neben ihm Aufstellung. Das riesige Tier knurrte, Feuer züngelte über Nüstern und Maul. Doch es konnte nicht speien, so viel stand fest. Allmählich senkte sich der schlaffe Bauch, setzte schließlich auf dem Felsboden auf. Die Kniegelenke knirschten, als der Drache sie beugte. Das Knurren ging in ein tiefes Brummen über, das die Wände erbeben ließ.

Dies alles schien Noreia nicht wahrzunehmen. Kerzengerade stand sie da – wie eine der Schicksalsgöttinnen. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst und umflossen ihr schmales Gesicht. Sie presste die Kiefer so sehr zusammen, dass ich dachte, sie würde sich bald einen Zahn ausbeißen. Die Arme hielt sie eisern vor sich gestreckt, ihre Augen spiegelten die unheimlichen Pupillen des Drachen. Nach schier endlosen Herzschlägen lag Nithor brav wie ein riesiger Hund vor uns. Nur sein Blick war unverhohlen feindselig.

Auf Loglards Kommando entstand ein magisches Netz, das die Gward über den Drachen warfen. Nicht eine Sekunde zu früh, denn Noreia begann zu zittern, wollte sich an der Mauer abstützen und verfehlte sie. Eobar machte Anstalten, sie zu stützen, doch Fiom schob sich an ihr vorbei und fing meine Tochter auf.

»Das war knapp, bei den Göttern.« Sigrith rang nach Atem. »Woher kennst du diesen Zauber, Mädchen?«

Noreia schüttelte leicht den Kopf.

»Von den Dryaden«, mutmaßte ich. Sie nickte.

»Wir sollten uns beeilen. Ewig hält der Bann nicht.« Sigrith setzte sich Richtung Ausgang in Bewegung.

Kharem und Uth wollten ihm folgen. Loglard jedoch ging auf den Drachen zu und begann in Windeseile mit dem Kampfstab Glyphen in den Boden zu brennen. Noreia straffte sich, flüsterte Fiom etwas zu, befreite sich aus seiner Umarmung und half ihrem Vater. Als Sigrith das sah, kehrte er um, Kharem und Uth ebenfalls. Zusammen brannten die Magier verschiedene Zeichen in den Boden, die sofort orange aufleuchteten. Loglard verband jeweils einen Strang des Netzes mit einer Glyphe am Bode.

»Packt zusammen, so schnell es geht«, presste er hervor. »Nehmt nur das Nötigste mit, aber so viel warme Kleidung wie möglich. Beeilt euch! Ich weiß nicht, wie lange das hier hält.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

»Eobar, wir beide packen das ganze Zeug zusammen«, brummte Mira, die zu meiner Freude ein wenig mehr Farbe im Gesicht hatte. Dann eilte sie voraus. Eobar rannte hinterher, offensichtlich erleichtert, dass sie etwas zu tun hatte.

»Fiom, du suchst deine und Noreias Sachen zusammen«, befahl ich.

Der Junge nickte und lief ebenfalls los. Normalerweise hätte ich mich selbst darum gekümmert, doch ich hatte noch etwas zu erledigen. Als ich wenig später ziemlich außer Atem das Krankenzimmer betrat, bemerkte ich, dass die Koadeck bereits ohne fremde Hilfe auf den Beinen war, das erste Mal, seit sie entbunden hatte. Bei meinem Eintreffen drehte sie sich um. Mittlerweile wusste ich, dass der schnelle doppelte Augenaufschlag eine Begrüßung war.

Meisterin, erklang es klar und deutlich in meinem Kopf. Er ist wach, nicht wahr? Er ist die größte Heimsuchung, die der Nordwald kennt.

»Ja, da stimme ich zu«, erwiderte ich. »Kannst du gehen?« Ich bezweifelte, dass wir ein Pferd finden würden, das bereit wäre, sie zu tragen.

Ja, außerdem sind meine Leute unterwegs. Sie werden uns helfen.

Puh, noch mehr Koadeck! Sigrith würde seine Freude haben. Andererseits waren die Waldgeister die ersten Bewohner Tiranorgs. Loglard hatte sie einmal als Teil des Waldes bezeichnet. Angesichts des Schneesturmes draußen konnten wir ihre Hilfe sehr gut gebrauchen. Wie eine Antwort auf meine Gedanken klirrten die Gläser nach einer besonders heftigen Böe.

»Dann hoffe ich, dass du recht hast. Wir sind dankbar für jede Unterstützung, die wir kriegen.«

Die Koadeck schenkte sich eine Erwiderung, durchsuchte stattdessen einen Stapel offensichtlich abgetragener Kleidung. Angesichts ihrer Größe war es wohl schwierig, etwas Passendes zu finden. Doch das sollte nicht mein Problem sein.

Flugs rannte ich in unsere Kammer und erlebte die nächste Überraschung. Elenor war dabei, unsere wenigen Habseligkeiten zu packen.

»Nithor ist sehr gefährlich, Meisterin«, wisperte die Wichtelin, so als stünde der Drache hinter der Tür. »Blutschatten nennen sie ihn.«

Obwohl sie offensichtlich beunruhigt war, schaffte sie es, meine Sachen sorgfältig zusammenzulegen und in die Satteltaschen zu packen.

»Mein Dolch«, entfuhr es mir, als sie die zwei Teile in ein Tuch hüllte.

»Ja, wir haben ihn geholt, nachdem der Schutzschild zusammengebrochen war. Aber wir können ihn nicht reparieren.« Die Wichtelin hob entschuldigend die Schultern. »Vater war sogar bei Breck, einem der besten Schmiedewichtel, den wir kennen, aber er sagt, es sei eine Zwergenarbeit. Sie widersteht unserer Magie.«

Aus welchem Grund auch immer, auf jeden Fall fühlte ich mich sicherer, als sie die Teile des Dolches ebenfalls in die Satteltasche packte. Ich trug die Tasche hinunter, begegnete Eobar und übergab sie ihr, um nach Noreia zu sehen.

Leah hatte meine Tochter gut versorgt. Sie trug nun mindestens drei Schichten warme Kleidung. Gerade brachte die Fee einen Umhang, dessen Innenseite und Kapuze mit einem kuschligen Fell gefüttert waren. Er musste ein Vermögen wert sein. Die beiden tuschelten, meine Tochter kicherte hinter vorgehaltener Hand.

»Was ist so lustig?«

»Pah, das willst du nicht wissen.« Noreia drehte sich weg, aber ich sah, dass sie eine Grimasse schnitt und ausschritt, als wäre sie eine Königin.

Was mich auf den Gedanken brachte, dass sie eigentlich die Prinzessin von Gwyneddion war und ihr deshalb teure Kleidung zustand, wenn – ja, wenn ich sie nicht völlig anders erzogen hätte.

Zusammen schleppten wir unsere Sachen und vor allem einiges an Vorräten ins Erdgeschoß, in dem ein wildes Durcheinander herrschte. Natürlich wussten mittlerweile alle Bewohner des Hauses, was geschehen war.

Die allerletzten Dienstboten verließen in Windeseile das Haus. Mira, Eobar und die Wichtel sortierten das herbeigeschaffte Gepäck. Wenig später liefen Loglard und die übrigen Gward die Treppen herauf.

»Das Netz hält einen Tag, höchstens zwei.« Schwer atmend stützte sich mein Gefährte an der Wand ab.

Sigrith schwieg entgegen seiner Gewohnheit. Er war blass, ließ die Schultern hängen und auch er schöpfte nach Atem.

»Verfluchtes Vieh«, schimpfte Kharem.

»Sogar das Netz mussten wir erneuern«, stöhnte Uth. »Dem will ich nicht begegnen, wenn er wach wird und Hunger hat.«

2. Willkommene Hilfe

 

Die letzten Diener brachten die Pferde. Leah umarmte Noreia, die sichtlich nicht sehr angetan war von dieser Liebesbezeugung. Unser Angebot mitzukommen, hatte die Fee ausgeschlagen.

Als Letzte kam die Koadeck die Treppe herunter. Sie bewegte sich sehr vorsichtig, war in mehrere Kleidungsstücke gehüllt und hatte ihr Kind vor der Brust umgebunden.

Meisterin, wir sollten aufbrechen. Der Sturm lässt für ein paar Stunden nach, hörte ich sie in meinem Kopf. Übrigens ist mein Name Maidinn. Wenn man eine Wanderung beginnt, sollte man die Namen der Kameraden kennen. So etwas wie Lachen begleitete ihre Gedanken. Ein leichter Schauder fuhr über meinen Rücken, denn ich hatte das Gefühl, dass die Koadeck mit jedem Tag kräftiger und mächtiger wurde.

»Gut, ähm, also: Ihr Name ist Maidinn«, sagte ich in die Runde und ignorierte die fragenden Blicke. »Sie teilt uns mit, dass der Sturm ein wenig nachlässt und dass wir aufbrechen sollten. Außerdem kommen ihre Leute. Sie meinte, die würden uns helfen«, fuhr ich schnell fort.

Sigrith sog scharf die Luft ein, doch der Großen Mutter sei Dank schwieg er.

Wir traten aus dem Haus und – blieben erst einmal stehen. Nicht nur, dass die ewigen dicken, grauen Wolken aufrissen und just in diesem Moment die Sonne eine gleißend weiße Welt erhellte – nein, es gab noch mehr. In einem Halbrund erwarteten uns zehn schweigende Koadeck. Jeder hielt einen Morgenstern in der Klaue.

Keine Gefahr, raunte Maidinn, die hinter den Gward aus dem Haus getreten war, in meinen Gedanken. Einige Herzschläge lang blieb sie stehen, den Kleinen im Tragetuch fest an ihre Brust gedrückt, sog die frische, klare Luft ein, breitete die Arme aus und stieß einen Laut aus, der wie eine Mischung aus Wolfsgeheul und Baumrauschen klang.

Das Empfangskomitee reagierte umgehend. Zuerst verstauten sie die Morgensterne. Danach breiteten sie die Arme aus, traten näher und nahmen Maidinn in die Mitte. Jeder legte ihr eine Hand auf die Schultern oder den Rücken, sodann steckten sie die Köpfe zusammen. Ein stetes Wispern und sanftes Brummen umgab die Gruppe. Wir waren ausgeschlossen.

Unbehaglich standen wir herum. Die Sonne bot zwar Helligkeit im Übermaß, sodass ich geblendet die Augen schloss, doch es fehlte die Wärme. Ich sah mich unter meinen Gefährten um. Sigrith fluchte leise, senkte den Kopf, wischte immer wieder über die Augen. Wahrscheinlich schmerzten sie. Loglard trat näher und fuhr mit dem Heilenden Licht darüber. Dankbar atmete Sigrith auf. Noreia griff nach Fioms Hand. Beruhigt registrierte ich, dass sowohl meine Tochter als auch ihr Beschützer warm angezogen waren. Nur zu deutlich stand mir noch das Bild der fiebernden, hustenden Noreia vor Augen, als Loglard ihr nicht helfen konnte. Ich dankte Scathach ein weiteres Mal für ihre Rettung. Kharem, Uth und Eobar unterhielten sich leise. Mira stand stumm daneben.

Unsere Wichtel, Mary, John und Elenor wuselten geschäftig herum. Mitunter fand ich es etwas anstrengend, dass Wichtel ihre Aufgaben zwar immer zuverlässig erfüllten, aber zwischendurch auch nach Gutdünken verschwanden.

Fiom trug stolz ein kurzes Schwert, eher einen großen Dolch, den Loglard ihm gegeben hatte. Traurig dachte ich an den zerbrochenen Scheibendolch meiner Mutter. Gerade jetzt, wo wir zu einem unbekannten Ziel aufbrachen, hätte ich mich sicherer gefühlt, wenn er griffbereit an seinem angestammten Platz an meinem Bein gewesen wäre. Dankbar strich ich über die warme Kleidung aus Amarachs Schrank. Schade, dass mein Wams in Rhioghains Dunkler Burg verschwunden war.

Mit einem Mal kam in die Gruppe der Waldgeister Bewegung. Ein Koadeck, augenscheinlich ihr Anführer, löste sich und schritt auf uns zu. Mira und Eobar bemerkten es ebenfalls und traten zu mir. Er überragte mich um mindestens zwei Köpfe. Eingehüllt war er in bodenlange, zottlige dunkle Fellmäntel, die ein derber Ledergürtel umschloss. Die Füße steckten in knielangen schwarzen Lederstiefeln. Sieben Finger wuchsen aus beiden Händen, jeder endete in spitzen Krallen. Das längliche Gesicht überzog wächserne Haut, Brauen fehlten völlig. Die rußfarbenen, waagerechten Pupillen musterten mich ruhig. Die Nase bestand lediglich aus zwei Öffnungen, über die sich die Haut runzelte. Aus dem Maul ragten links und rechts Fangzähne, die bis zum Kinn reichten. Gedrechselte Hörner wuchsen beidseits aus der Stirn und ragten um mindestens eine Armlänge über den massigen Körper hinaus.

»Friede!«, brummte er. »Mein Name ist Cervek.«

Überrascht sah ich zu Eobar und Mira. Sie erwiderten meinen Blick. Seit wann redeten die Koadeck in der gemeinsamen Sprache? Loglard fasste sich als Erster und erwiderte den Gruß. Wir anderen taten es ihm gleich.

Nun trat Noreia nach vorne und sagte: »Friede Euch, Clan der Tannenrüttler.«

»Ich danke Euch für Maidinns Rettung. Sie ist meine ...« Offensichtlich suchte er nach dem passenden Wort.

Ganz kurz erhaschte ich einen Blick auf seine Gedanken. Ein Paar saß unter einer Tanne. Gefährtin, half ich ihm stumm.

Der Koadeck senkte den Kopf, wobei die Hörner mir sehr nahekamen. Erschrocken trat er einen Schritt zurück. Ich atmete auf und beglückwünschte mich dafür, dass ich ruhig geblieben war.

»Gefährtin, hm – dieses Wort klingt … gering. Wir nennen unsere Partner den zweiten Teil der Seele«, erwiderte er.

Seine Stimme enthielt so viel Wärme. Das hätte ich von einem derart wilden Geschöpf niemals erwartet. Unwillkürlich musste ich lächeln. Noreia schenkte mir einen verschmitzten Blick. Jetzt stellte sich Maidinn an Cerveks Seite. Der intensive Blick, den sie wechselten, rührte mich.

»Mein Gefährte …« Ich deutete auf Loglard. »… hat geholfen, deinen Sohn auf die Welt zu bringen.«

»Das habe ich gern getan«, sagte Loglard schnell.

Auch ihm nickte Cervek kurz zu, bevor er fortfuhr: »Wir stehen in Eurer Schuld. Maidinn wünscht, dass wir Euch helfen. Was ist Euer Ziel?«

»Die Eherne Zinne«, antwortete ich.

Cervek grunzte, drehte sich weg und beratschlagte mit seinen Leuten. Maidinn blieb stets neben ihm.

»Ihr seid Gward?« Rußfarbene Pupillen schwenkten über unsere kleine Gruppe.

»Nicht alle«, erklärte ich, »aber diese vier schon.« Damit deutete ich auf die Männer.

Sigrith hatte bisher ruhig dabeigestanden. Er hielt seinen stattlichen Hengst an den Zügeln.

»So sei es.« Cervek gab ein Brummen von sich, versetzt mit einem Klicklaut.

Sofort packten seine Koadeck die Waffen und marschierten los. Cervek ging neben Maidinn. Ab und zu strich er mit den beängstigend großen Händen über das Gesichtchen seines Sohnes, wobei dieser jedes Mal glückselig gluckste.

»Mir muss doch niemand zeigen, wie ich zur Ehernen Zinne komme!«, protestierte Sigrith leise zu uns gewandt. »Schon gar keine dahergelaufenen …«

»Schluss damit!«, zischte Loglard. »Du bist nicht allein, Sigrith. Wir haben Kinder dabei. Und wer weiß, wann es wieder anfängt zu schneien. Bist du dir ganz sicher, dass du auch im größten Sturm einen sicheren Weg findest? Nehmen wir ihre Hilfe an, wir können sie wirklich gebrauchen.«

Stumm maßen sie sich. Ich wusste nicht, auf wen ich gewettet hätte. Nach kurzer Zeit gab Sigrith nach und grummelte: »Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, dich zum Prior zu ernennen.«

Loglard schüttelte nur den Kopf und saß auf. Wir alle folgten seinem Beispiel und trabten hinter den Koadeck in den tief verschneiten Wald. Die Waldgeister schritten kräftig aus. Mit den Pferden hielten wir jedoch gut mit. Wie immer bei längeren Reisen verfiel ich in eine Art Trance, behielt aber die Umgebung im Auge. Das rhythmische Auf und Ab im Sattel, der Geruch von Fell und Leder vermischten sich mit Erinnerungen an frühere Abenteuer und an Kameraden, die bereits bei Scathach ihren Dienst versahen.

Mit einem Mal drang eine kurze Melodie an mein Ohr. Sie wurde beantwortet, abgeändert, weitergereicht. Mal war der Singsang laut und kräftig, dann wieder fein und leise. Die Melodie durchzog die Gruppe der vor uns marschierenden Koadeck, verband sie miteinander, verwob sie mit der Erde und dem Wald. Als ich mich im Sattel aufrichtete, bemerkte ich, dass sowohl Loglard als auch Noreia die Koadeck fasziniert beobachteten.

Man konnte nichts sehen. Es wurde kein Licht weitergegeben oder Ähnliches. Vielmehr sang ein Waldgeist im Gleichklang seiner Schritte, brach ab und schon mit dem folgenden Tritt nahm der Nächste die Melodie auf, veränderte sie, versetzte sie mit dem Trällern eines Vogels oder dem Ruf eines Kauzes. Sein Nachbar übernahm, manchmal noch während der erste sang, führte die Tonfolge weiter, untermalte sie mit dem Knurren eines hungrigen Wolfes oder dem Rauschen der Blätter einer Birke im Hochsommer.

Ich stutzte. Woher wusste ich, was die einzelnen Melodien bedeuteten? Ein Blick von Maidinn traf mich, sie zwinkerte mit ihren schwarzen Augen. Jetzt begriff ich: Die Gedanken kamen von ihr! Mit der Zeit erkannte ich Unterschiede in der Tonfolge, je nachdem, ob ein Mann oder eine Frau sang, ein junger Koadeck oder ein alter.

Trotzdem war klar, dass sich alle Lieder um den Wald, seine Bewohner und das Leben darin drehten. Noreias Augen glänzten. Ihr Mund stand sogar ein wenig offen. Eine Wolke bildete sich vor ihren Lippen, als sie die warme Atemluft ausstieß. Erst als Fiom irgendetwas murmelte, schloss sie den Mund und tätschelte beruhigend seinen Arm.

Dagda hatte wohl beschlossen, dass nun Schluss sei mit dem schönen Wetter. Es begann erneut zu schneien. Die erwachsenen Koadeck wechselten sich ab, immer ging einer voraus und bahnte, scheinbar mühelos, einen Weg durch teils hüfthohen Schnee. Auf diese Weise war es für uns einfach, ihnen auf den Pferden zu folgen.

Früh senkte sich Dunkelheit herab und Cervek ließ anhalten. Schon bevor wir damit fertig waren, die Pferde abzusatteln, standen bereits zwei Weidegeflechte zwischen den Bäumen. Sie waren nicht sehr groß und nicht hoch. Als jetzt noch Tannenzweige und eine derbe Plane darübergebreitet wurden, wirkten sie jedoch regelrecht einladend. Cerveks Leute bezogen den etwas größeren Unterstand. Davor entfachten zwei Koadeck mithilfe eines Stöckchens und eines Zunderschwamms ein Feuer.

Wir scharten uns unter das zweite Geflecht und legten unsere Sachen darin ab. Währenddessen sammelten Eobar und die Kinder Feuerholz, das Mira vor dem Geflecht stapelte. Anschließend entzündete Loglard mit einem kurzen Zauberspruch unser Lagerfeuer.

Kharem war ein guter Bogenschütze. Er hatte drei Rebhühner aufgescheucht und erlegt. Jetzt brutzelten sie am Spieß, den Fiom über das Feuer hielt und beständig drehte. Ich saß zwischen Loglard und Sigrith. Kharem und Uth hatten hinter uns auf einem flachen Felsen Platz genommen. Mir gegenüber auf der anderen Seite des Feuers dösten Mira und Eobar, während Noreia ins Feuer blickte.

»Ihr erlaubt?«

Ich schreckte hoch.

Cervek stand vor uns, neben ihm eine ältere Koadeck.

»Ja, bitte, setzt Euch«, antwortete Loglard sofort.

Wir rückten zusammen. Kurzzeitig verursachten Cerveks Hörner ein kleines Chaos, als sie knapp an Fiom vorbeischwenkten. Doch bald saßen die Koadeck in unserem Kreis.

»Dies ist die ehrwürdige Mutter meines Clans – Haleg.«

»Lady Haleg!« Loglard neigte den Kopf.

Zu unserem Erstaunen gab die Koadeck ein glucksendes Geräusch von sich, ihre rauchfarbenen Augen funkelten.

»Eure Ehrbezeichnung ist bei mir nicht nötig. Ja, manche sagen, dass eine Mutter den Clan führt. Aber ich denke nicht so. Ein Clan ist nur so stark wie all seine Mitglieder. Wenn mein Rat gebraucht wird, gebe ich ihn gern. Ansonsten bin ich nur eine in die Jahre gekommene Koadeck.«

Sie sprach flüssig, beinahe fehlerfrei. Ihr Humor machte sie mir sehr sympathisch. Cervek sah, wenn ich seine Miene richtig interpretierte, allerdings nicht sehr glücklich aus.

»Die Dryaden lehrten mich, dass es in fast jedem Clan eine ehrwürdige Mutter gibt«, sagte Noreia. Ihr Blick glitt in die Ferne. »Sie muss nicht unbedingt die leibliche Mutter des Clanführers sein. Aufgrund ihres Alters und der Erfahrungen, die sie gesammelt hat, genießt sie den Respekt aller Mitglieder der Gruppe.«

»So ist es«, brummte Cervek und nickte Noreia anerkennend zu.

»Also hätte ich mit der ehrwürdigen Mutter sprechen müssen, um mit Euch in Kontakt zu treten«, murmelte Loglard.

»Für alles, was im Leben passiert, gibt es eine richtige und eine falsche Zeit.« Haleg sprach so laut, dass jeder es hören konnte. »Die Götter zeigen uns, dass jetzt die richtige Zeit ist, um mit euch Elfen zu sprechen.«

Mein Blick fiel auf die anderen Koadeck, die vor ihrem Unterstand saßen. Einige blickten zu uns herüber und nickten.

»Maidinn berichtete uns, dass die Herrin de Lenn tot sei!« Damit wandte Haleg sich an Loglard.

»Ja, Amarach lebt nicht mehr. Ich nehme an, sie hat auch euch gejagt?«

Cervek schnaubte.

Haleg senkte den Kopf und knurrte: »Ja, sie nahm sich, was sie wollte. Und sie hatte mächtige Verbündete. Der Blutschatten ist nur einer davon. Kennt ihr den Graumann, der den Felsen durchmisst?«

»Ihr meint den Bergmann? Ja, wir haben seine Bekanntschaft gemacht!«, erwiderte Loglard.

Flüche erhoben sich um uns herum. Cervek verzog den Mund, was wohl so etwas wie ein Grinsen sein sollte.

»Wie lange wird der Blutschatten noch dort unten festgehalten?«, wollte Haleg wissen.

Loglard wechselte einen Blick mit Sigrith und Noreia. »Einen Tag, vielleicht zwei – allerhöchstens.«

Am Feuer der Koadeck wurde diese Nachricht mit einem gefährlichen Grollen aufgenommen.

»Ihr seid ein mächtiger Magier.« Cervek richtete seine Worte nun direkt an Loglard. »Dennoch könnt Ihr dem Drachen nicht trotzen?«

Mein Gefährte holte tief Luft, legte Sigrith, der eben hochfahren wollte, eine Hand auf das Knie und erwiderte ruhig: »Nithor gehört dem ältesten Drachengeschlecht an. Es gibt Geschichten über ihn und seine Fähigkeiten. Sein Feuer soll so stark sein, dass sogar Steine schmelzen.«

Die Koadeck brummten zustimmend.

»Selbst dann, wenn ich all meine Hilfsmittel zur Verfügung hätte und genügend Zeit für Vorbereitungen bliebe, wäre es mehr als fraglich, ob ich ihn besiegen könnte. Und unter diesen Umständen? Wir haben zwei Kinder dabei, auf die ich Rücksicht nehmen muss. Unser Heil liegt in der Flucht.« Er hob die Schultern und breitete die Arme aus. »Wie gesagt, selbst wenn ich es versuchen wollte, mir fehlt meine Ausrüstung. Nie hätte ich gedacht, dass ich so lange von Gwyneddion weg sein würde.« Ein schmerzlicher Zug erschien um seinen Mund.

Cervek musterte ihn. Haleg nickte.

»Wir hörten davon, dass Ihr abgesetzt wurdet. Auch wenn wir den Norden des Flüsternden Waldes unser Eigen nennen und eigentlich nichts mit dem Leben der Elfen zu tun haben wollen, wissen wir trotzdem, was im Rest des Landes vor sich geht.« Cervek hielt kurz inne. »Und – natürlich kennen alle Koadeck Eure Gefährtin.«

Dann erschien unvermittelt ein Bild in meinem Kopf, das mich keuchen ließ: viele tote Koadeck. Ein Gefühl unendlicher Trauer überschwemmte mich wie eine riesige Welle.

»Man nennt Euch die Trägerin des Dornenschwertes«, fuhr er fort. »Es war nicht leicht, meine Männer dazu zu bewegen, Euch zu helfen. Aber Ihr habt Maidinn gerettet, deshalb stehen wir in Eurer Schuld. Die Koadeck halten sich an die uralten Gesetze von Ehre und Gastfreundschaft.«

Loglard wollte mir die Hand reichen, doch ich schüttelte den Kopf. Ich hatte gekämpft, ich hatte es zu verantworten und musste mich dem stellen.

»Es ist wahr«, begann ich zögernd. »Ja, ich habe viele Eurer Leute getötet und zu sagen, dass es mir leidtäte, wäre nicht ganz aufrichtig.«

Loglard stöhnte.

»Es geschah im Kampf und nicht mutwillig. Ich wollte Gwyneddion beschützen. Das ist alles, was ich zu meiner Verteidigung vorbringen kann.«

Einige Zeit herrschte Ruhe, abgesehen von brummigen Sätzen am Feuer der Koadeck. Cervek starrte lange in die Flammen, genauso wie Haleg.

»Ihr seid ehrlich, fast schon schmerzhaft ehrlich«, schnaubte Cervek und fuhr sich mit der großen Hand über den Mund. »Auch wir haben Elfen getötet. Obgleich Ihr uns das jetzt nicht vorhaltet, wissen wir doch, dass es so ist. Mir ist auch bekannt, dass einer der Clans im Süden sich von den Arsuri kaufen ließ. Sie haben Euch überfallen und Eure Tochter bedroht. Auch deshalb verstehe ich, dass Ihr meinem Volk nicht wohlgesonnen seid.«

»Das muss nicht so bleiben«, hielt ich ruhig dagegen. »Wie Ihr schon gesagt habt, stehen wir einem gemeinsamen Feind gegenüber. Der Feind meines Feindes ist mein Freund, lehrte mich einst mein Meister. Vielleicht können wir Freunde werden?«

Empörtes Gemurmel kam auf, das Cervek mit einer Geste beendete. »Ich kenne das Sprichwort. Es beinhaltet viel Wahrheit. Wir werden sehen. Zuerst einmal müsst Ihr uns vertrauen. Da der Blutschatten schon morgen erwachen könnte, werden wir einen anderen Weg einschlagen, der uns in die Tiefe führt. Ihr müsst mir folgen, als gehörtet ihr zu unserem Clan und meinen Befehlen gehorchen. Seid Ihr dazu in der Lage?«

Er sah uns nacheinander in die Augen. Bei Sigrith verweilte er länger, bis dieser schnaubend nachgab. »Wenigstens könntet ihr uns sagen, wohin wir gehen«, murrte er.

Cervek wechselte einen Blick mit Haleg, die langsam den Kopf senkte. »Die Wege der Koadeck durchziehen den gesamten Flüsternden Wald. Schließlich leben wir schon länger hier, als es Elfen in Tiranorg gibt. Unser Wegenetz ist ein Geheimnis und für Eure Augen nicht sichtbar. Im Großen und Ganzen müssen wir durch eine Klamm, an zwei Wasserfällen vorbei und einen kurzen Weg unter Tage laufen. Nithor kann uns dorthin nicht folgen, weil ...«

»… dort eine andere Kreatur haust«, unterbrach ihn Loglard.

Überrascht musterte Cervek meinen Gefährten. »Ihr verfügt über großes Wissen, Lord de Gralon.«

»Wie gedenkt Ihr, an Jangdril vorbeizukommen?«, versetzte Loglard.

Sigrith wich zurück, Uth schluckte. Kharem sprang auf und rief: »Das ist nicht dein Ernst!«

Die Koadeck an ihrem Feuer beäugten uns wachsam, doch Cervek blieb ganz ruhig.

»Ja, wir müssen am Schrecken von Izkhat vorbei. Doch sie schläft um diese Zeit. Wenn Ihr Euch an meine Anweisungen haltet, wird uns nichts passieren. Mal sehen, ob die Gward wirklich so mutig sind, wie in den Geschichten berichtet wird.« Damit stemmte er die behuften Beine in den harten Boden, stand auf und half Haleg.

»Alles wird gut.« Mit diesen Worten verabschiedete sich die ehrwürdige Mutter.

Eine Weile schwiegen wir. Mira strich sich müde über die Augen. Eobar warf mir einen fragenden Blick zu. Ich hob die Schultern. Fiom drehte weiter den Spieß. Noreia stellte sich neben ihn. Mir fiel auf, wie entspannt, sie wirkte.

Schließlich drang mir ein verführerischer Duft in die Nase. Mary hatte ungerührt von unserem Besuch eine kräftige Suppe gekocht. »Von den kleinen Vögeln da werden gewisse junge Herren mit Sicherheit nicht satt«, sagte sie schmunzelnd.

Fiom zuckte ungerührt mit den Schultern und tat sich an ihrem Essen gütlich. Auch vom Feuer der Waldgeister wehte ein köstlicher Geruch herüber, ohne dass ich genau benennen konnte, wonach es roch. Noreia, die sich mittlerweile neben mich gekuschelt hatte, schnupperte ebenfalls.

Mir fiel auf, dass zwischen den Koadeck einige Worte gewechselt wurden. Dann kam Bewegung in ihre Reihen. Der Jüngste – wenigstens nahm ich das an, denn sein Gesicht war noch glatt und die Hörner waren nur halb so lang wie die der anderen Waldgeister – steckte ein paar Knuffe ein, die er spielerisch abwehrte. Haleg reichte ihm eine irdene Schale, aus der es dampfte. Der Junge nahm sie, stieg über zwei besonders große Exemplare seiner Art, die ihm etwas sagten, was die Übrigen zu Heiterkeitsbekundungen veranlasste, woraufhin der Junge empört knurrte. Er trat an unser Feuer, verbeugte sich kurz, zwinkerte zweimal. Dann reichte er Noreia die Schüssel. Meine Tochter kicherte, als hätte er etwas Lustiges gesagt, und nahm die Schale entgegen. Der Koadeck zog sich zurück. Die beiden großen Kämpfer empfingen ihn mit Schulterklopfen, so als hätte er sich in einem harten Kampf bewährt, was er mit einem halb ärgerlichen Brummen quittierte.

»Aha!«, kommentierte ich das Ganze.

Noreia lief rot an und tauchte ihren Löffel in die Schale.

»Der soll noch mal kommen.« Fiom hatte seine Schüssel beiseitegestellt und starrte mit zusammengepressten Lippen zu den Koadeck hinüber.

Noreias Verehrer stierte unentwegt zurück. Egal, ob Elfen oder Koadeck, Eifersucht war überall gleich.

»Hier, probier mal!« Noreia hielt mir den Löffel vor den Mund.

Darin schimmerte ein hellbraunes Mus. Eigentlich war mir mein eigener Löffel lieber. Wenn man mit einem Trupp Krieger unterwegs war, lernte man schnell, eigenes Besteck zu schätzen. Doch ich wollte Noreia nicht enttäuschen und vor allem die Koadeck nicht zurückweisen. Also probierte ich.

Das volle Aroma von Pilzen füllte meinen Mund, als wären sie noch roh, stünden frisch im Wald. Gleichzeitig wusste ich, dass sie angebraten waren. Zwiebeln roch ich, einige Kräuter und Maronen. Es schmeckte herrlich.

»Wie du das essen kannst«, keifte Fiom, sprang auf und machte Anstalten, zu den Koadeck hinüberzulaufen.

Doch Kharem reagierte schnell und hielt ihn zurück.

»Setz dich, Kleiner. Manch andere Mutter hat auch schöne Söhne, also pass auf deine Herzallerliebste auf. War ein Rat von meinem Vater, den ich gern an dich weitergebe«, erklärte Uth grinsend.

Sigrith lächelte. Ich konnte nicht anders, als ihn anzuglotzen. Ich hätte nicht geglaubt, dass der grimmige Gward Sinn für Humor hatte.

»Stimmt, Bruder, und ich sage dir, dass viele Mütter sehr schöne Töchter haben«, erwiderte Kharem.

Sie lachten, Loglard stimmte mit ein.

»So, so, andere Mütter haben also auch schöne Töchter, oder wie?« Das konnte ich mir nicht verkneifen.

»Das hast du nun davon, Loglard.« Sigrith wischte sich über die Augen. »Nichts als Eifersucht und keine Ruhe mehr.«

»Das ist es wert, glaub mir, Bruder.« Mein Gefährte legte den Arm um meine Taille und zog mich enger an sich.

»Hm, ich werde mir mal die hübschen Söhne ansehen«, murrte ich, um nicht zuzugeben, wie sehr ich es genoss, dass er wieder lachte.

Derweil aß Noreia ungeniert ihre Schüssel leer und putzte sie mit einem alten Stück Brot sauber aus. Dann stand sie auf, trat an das Feuer der Koadeck, verbeugte sich ehrerbietig vor Haleg, übergab die Schüssel und bedankte sich.

Die Koadeck senkte nur ansatzweise den Kopf, sodass ihre Hörner keinen Schaden anrichten konnten und erwiderte: »Es freut mich, dass es dir geschmeckt hat. Soweit wir wissen, ist es das erste Mal, dass eine Elfe mit so großem Appetit von uns zubereitetes Essen gekostet hat. Ich nehme es als gutes Zeichen für den morgigen Tag.«

»Es war wirklich ausgezeichnet, danke«, konterte meine Tochter – ganz der Vater – und ging zurück, wobei sie an dem Jungen vorbeilief, der die Augen nicht von ihr lassen konnte.

»Das riecht nach Ärger«, kommentierte Sigrith das Geschehen, wieder ganz der Alte.

Noreia beachtete ihn nicht, ging zu Fiom und flüsterte lange mit ihm. Ihre Worte schienen ihn zu beruhigen. Beide setzten sich wieder ans Feuer und schwiegen.

 

Noch bevor auch nur der Hauch eines Sonnenstrahles zu sehen war, weckte mich Loglard. Die Feuerstelle glomm in einem schwachen Rot, meine Glieder waren steif vor Kälte. Fast geräuschlos bauten die Koadeck die Weidengeflechte ab und verstauten sie in großen Säcken, die sie sich über die Schultern warfen. Während John das Zaumzeug unserer Pferde richtete, verteilte Mary kalte Brotfladen, denn für ein Feuer blieb keine Zeit. Mir fiel auf, dass die Wichtel sich immer wieder leise unterhielten. Etwas schien sie zu beschäftigen. Das letzte Mal, als sie sich gesorgt hatten, waren wir in den Hinterhalt des Bergmannes geraten. Deshalb ging ich zu ihnen.

»... braucht uns«, hörte ich Mary sagen.

»Ja, wir brauchen euch sogar sehr.« Ich lächelte die Wichtel an, die angesichts der kühlen Temperaturen feste tannengrüne Westen und derbe Stiefel trugen.

»Äh, Mylady, ja, danke«, stammelte Mary. Dabei warf sie, entgegen ihrer sonstigen Art, ihrem Gefährten einen hilfesuchenden Blick zu. John stopfte jedoch in aller Ruhe seine Pfeife und achtete nicht auf sie.

»Was ist los, was beunruhigt euch?«

»Nein, wir sind nicht beunruhigt, Meisterin.« Mary polierte einen Topf, sodass er im Schein zweier Fackeln glänzte. Mit einem Seufzen gab sie ihn an Elenor weiter.

»Mary, bitte, sind wir in Gefahr?«

»Nein …« Sie schluckte, wandte sich dann an John und zeterte los: »Herrschaftszeiten, sag doch auch mal was!«

»Jetzt brauchst du mich also wieder?« Der Wichtel sprang von dem dicken Ast, auf dem er es sich gerade bequem gemacht hatte. Der Schnee, der herunterrieselte, glitzerte wie Edelsteine.

Stirnrunzelnd trat Loglard an meine Seite.

»Ja, ich brauche dich«, erwiderte Mary leicht genervt. »Bitte, versteht uns nicht falsch, Mylady, Mylord.«

»Kurz gesagt, wurde uns gestern mitgeteilt, dass unsere Hilfe an anderer Stelle benötigt wird. Mary lässt Euch nur ungern im Stich, aber es gibt Situationen, in denen wir keine Wahl haben.« John hob die Schultern, das Wams wanderte mit und offenbarte ein hellrotes Hemd.

»Natürlich.« Loglard lächelte. »Wir sind in Eurer Schuld. Ihr habt uns und vor allem Noreia so sehr geholfen. Das können wir nie wiedergutmachen.«

»Sagt das nicht, Mylord«, wehrte Mary verlegen ab. »Ich frage mich nur die ganze Zeit, wer dafür sorgen soll, dass der junge Master genug zu essen bekommt.« Sie blickte zu Fiom, der zwei Fladen in der Hand hielt.

»Das mache ich.« Elenor erschien neben mir und stemmte die Arme in die Seite. »Ich werde bleiben.«

Oh, das bedeutete nichts Gutes. Tatsächlich lief Marys Gesicht rot an. John trat einen Schritt zurück und musterte seine Tochter mit zusammengekniffenen Augen.

»Soll das heißen, du lässt deine hart arbeitenden Eltern im Stich?«, polterte Mary los und blies ihre Backen auf.

»Nein, das soll heißen, dass ich endlich meine eigenen Entscheidungen treffe. Dafür ist es höchste Zeit!« Elenor gab den Blick ihrer Mutter ruhig, aber entschlossen zurück.

»Sag doch was, John!«, flehte Mary.

»Elenor hat recht.« In Johns Augen traten Tränen, die er nachlässig abwischte. »Sie hat von dir alles gelernt, was es zu lernen gibt. Du wolltest sie verheiraten, aber sie will nicht. Auf keinen Fall werde ich sie dazu zwingen. Lass sie gehen, Frau. Sie kann zu uns zurückkehren, wann immer sie will.«

Wir alle standen wie vom Donner gerührt, damit hatte niemand gerechnet.

»Bist du dir ganz sicher, Elenor?«, fragte Loglard und sah auf sie hinunter.

»Ja, das bin ich. Ich habe es mir lange überlegt und hoffe, dass wir uns nicht im Streit trennen, Mutter.« Jetzt klang sie wieder wie ein Mädchen.

Mary schnaubte, senkte den Kopf, scharrte mit dem Fuß am Boden. Dann gab sie sich einen Ruck, lief zu ihrer Tochter und drückte sie an sich, lange und innig. »Mach mir keine Schande, hörst du? Und pass auf dich auf! Du weißt, wie du uns erreichen kannst«, schluchzte sie.

Elenor nickte stumm, auch sie weinte. Diese Szene erinnerte mich fatal an ein Mädchen und ihre Mutter vor drei Jahrhunderten. Das Mädchen hatte darauf beharrt seinen eigenen Weg zu gehen, obwohl die Mutter damals nicht sehr begeistert gewesen war.

»Lebt wohl, Mylord, Mylady. Ich bin ziemlich sicher, dass wir uns noch einmal wiedersehen«, sagte John mit fester Stimme.

Mary nickte. Dann verschwanden sie, ließen aber ihre gesamte Ausrüstung zurück, worüber Elenor sichtlich erfreut war. Noreia half ihr, die Sachen einzupacken. Kurze Zeit später brachen wir auf.

 

Wie so oft in den letzten Tagen bemerkte ich, dass Loglard sich im Sattel aufrichtete und den Himmel absuchte. Der färbte sich allmählich grau. Krähen – echte Krähen – stritten sich um Beute. Ab und zu sahen wir die Fährte eines Rehs.

»Wo kann er nur sein?«, murmelte Loglard.

Er hatte die Hoffnung, Garrabeth zu finden, noch nicht aufgegeben. Auch ich verstand nicht, wo der Falke blieb. Er war Loglards treuer Begleiter, der immer seinem Ruf folgte. Doch so sehr mein Gefährte auch den kalten grauen Himmel mit Blicken durchbohrte, der Falke tauchte nicht auf.

Auch den folgenden Abend verbrachten wir im Schutz des Weidengeflechts hinter großen Felsen. Dieses Mal nahm Noreia die Einladung der ehrwürdigen Mutter an, das Essen bei den Koadeck einzunehmen. Angeregt unterhielt sie sich mit den Frauen. Unnötig zu sagen, dass Fiom finster hinüberstarrte und vor allem den jungen Koadeck keine Sekunde aus den Augen ließ. Der gab die Blicke zumindest äußerlich ungerührt zurück.

Cervek teilte uns mit, dass wir am nächsten Morgen den Weg erreichen würden, der in den Berg führte. Nach der Begegnung mit dem Bergmann hatte niemand so recht Lust dazu, doch es half nichts. Loglard betonte noch einmal, dass er allein gegen den Drachen nicht viel ausrichten konnte.

 

Am nächsten Tag wanderten die Koadeck nicht so heiter wie bisher. Mehr als einmal brach die Melodie abrupt ab. Immer wieder drehte sich einer verstohlen um. Öfter als sonst legte Cervek den Kopf in den Nacken, um den Himmel zu beobachten.

»Wir mussten schon einmal unter der Knute des Blutschattens leben«, erklärte Maidinn, die seit einer Weile neben meinem Pferd marschierte.

Mit einem Mal zügelte Loglard Morgenröte, wodurch er den ganzen Trupp durcheinanderbrachte. Einige Koadeck schimpften. Fassungslos sah ich ihn an. Hatte er den Drachen entdeckt? Er saß ab, ohne auf meine Blicke zu reagieren und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Von den grauen Wolken löste sich ein Schatten, kreiste viele Male über uns, flog endlich langsam näher. Sollte es sich um Garrabeth handeln, legte er ein seltsames Verhalten an den Tag. War er verletzt? Irgendwie sah seine Silhouette anders aus.

Loglard bedeutete uns, mehr Platz zu machen; wir gehorchten. Die Koadeck hatten sich bereits von selbst zurückgezogen. Fasziniert beobachtete ich, wie sie auf irritierende Weise mit den Bäumen, dem Schnee und den Felsen verschmolzen, als hätte es sie nie gegeben. Jetzt ließ Garrabeth seinen Schrei hören, segelte dicht über uns und ließ ein Bündel fallen. Dann stieg er noch einmal auf, drehte eine Runde und landete, entgegen seiner üblichen Gepflogenheit, auf dem untersten Ast des Baumes, der Loglard am nächsten stand. Jetzt sah ich, warum er das getan hatte.

»Konntest du keinen besseren Platz finden? Nein? Wie es Master Garrabeth beliebt, jetzt muss ich auch noch hinunterspringen. Gehört sich so etwas für einen Wiesenkobold, der gut und gerne achthundert Jahre auf dem Buckel hat?«

Wienot stieg vom Rücken des Falken. Wie winzig er aussah! Seine piepsige Stimme war fast nicht zu verstehen. Über den Baumstamm glitt er herunter. Erst als die hundeähnlichen Beine den Boden berührten, stand er in seiner angestammten Größe vor uns. »Master, Mylady, Prinzessin! Wie schön, Euch wohlbehalten zu sehen.«

Der Kobold verbeugte sich vor uns. Noreia kicherte, was mit Sicherheit daran lag, dass er gleichzeitig mit den Ohren wackelte und die Verbeugung deshalb etwas unelegant ausfiel.

»Wienot, was machst du hier?« Loglard hatte die Stirn in Falten gelegt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er mit etwas nicht einverstanden war. Wohl aus diesem Grund wich der Kobold einen Schritt zurück.

»Bitte, lasst es mich erklären, Mylord.«

»Das bin ich nicht mehr. Himmel, wie oft muss ich das noch sagen!«, entfuhr es Loglard.

Der Kobold senkte den Kopf und schnaufte.

»Sei nicht so streng mit ihm und hör dir erst einmal an, was er zu sagen hat.« Ich trat näher, beugte mich zu Wienot hinunter und nahm sein Kinn in die Hand. »Also, warum bist du hier?«

Wienot streifte den Falken, der auf dem Ast ungeduldig hin und her trippelte, mit einem Blick.

»Du hast Garrabeth gerufen?« Loglard stemmte die Arme in die Seiten. Oh weh!

Wienot wich mehrere Schritte zurück und stammelte: »Ja, Master. Es tut mir leid – oder nein, eigentlich nicht. Bitte, versteht mich! Ihr wurdet abgesetzt und kehrt sicher nicht so schnell zurück nach Gwyneddion. Aber ich bin doch an Euch gebunden. Erinnert Ihr Euch nicht? Mir war klar, dass Ihr Euch auf den Weg zu den Gward machen würdet. Wo sonst solltet Ihr denn auch hin? Und da dachte ich, dass Ihr Eure magische Ausrüstung gebrauchen könntet.«

Die Hand, die so sehr an eine Pfote erinnerte, zeigte auf den Beutel, den Garrabeth hatte fallen lassen. In einem Augenblick war er nur handgroß, im nächsten lag ein Sack vor uns, größer als der Kobold selbst.

Loglard atmete tief durch, seine Mundwinkel zuckten. Jetzt wusste ich, dass er die ganze Sache lustig fand. »Hm, mal sehen, was du eingepackt hast.« Er spähte in den Sack, versenkte beinahe den Kopf darin und murmelte etwas.

Der Kobold fiel in sich zusammen. »Puh, meine Güte, das wäre ja fast schief gegangen.« Dann begann er, in unserem Gepäck herumzukramen.

In diesem Augenblick erschien eine zornsprühende Elenor. »Wirst du wohl deine klobigen Pfoten aus den Sachen der Herrschaften nehmen?«, wetterte sie.

In diesem Moment glich sie ihrer Mutter mehr als ihr wahrscheinlich lieb war. Wienot runzelte die Stirn, seine Ohren legten sich an den Kopf. Er knurrte leise, fast wie ein Hund.

»Pah! Glaubst du, ich fürchte mich vor einem schäbigen Wiesenkobold? Ich bin für die Herrschaften zuständig. Also zieh Leine!« Elenor wedelte mit der Hand, was einen Luftwirbel verursachte, der den Kobold tatsächlich einige Fuß weit wegschob.

In diesem Moment kam Kel bellend angerannt und stellte sich schützend vor Wienot, der ihn immer mit Leckereien verwöhnte.

»Ich bin an den Lord gebunden. Verstehst du das? Ich bin älter als du jemals sein wirst und ich habe hier das Sagen!« Wienot stampfte auf.

Daraufhin liefen Wellen unter dem Schnee den Boden entlang auf Elenor zu. Die Wichtelin erhob sich nur eine Handbreit über den Boden und streckte den Arm aus. Sofort verebbte die Welle.

Bisher hatte ich dem Schlagabtausch still zugesehen, aber bevor sie uns noch Gewitter und Erdbeben schickten, musste ich eingreifen, zumal Loglard immer noch in dem Sack herumwühlte.

»Moment mal, was soll das hier werden?«, rief ich, so streng wie ich es vermochte. »Wir haben wahrlich genug Sorgen. Dass sich ein Wiesenkobold und eine Wichtelin unnötig streiten, fehlt uns gerade noch.«

»Ich bin der Leibdiener des Masters und die hier ...« Wienot suchte nach einem Wort, aber mir entging nicht, dass er dennoch Vorsicht walten ließ.

»Glaubst du, der Lord und die Lady könnten auf meine Hilfe verzichten? Warst du dabei, als Noreia fast gestorben wäre? Als wir gegen die Magierin gekämpft haben? Oder gegen den Drachen? Der im Übrigen hinter uns her ist. Alles können wir gebrauchen, nur keine Verzögerung!«, hielt ihm Elenor mit entgegen.

Wienot rang um eine Antwort. Doch da ertönte die geliebte, ruhige Stimme meines Gefährten hinter mir: »Wie wäre es denn, wenn Wienot sich um mich kümmert wie bisher, Elenor hingegen für Esmanté und Noreia zuständig ist?«

»Auch ich hätte nichts gegen ein wenig Wichtelhilfe«, murrte Sigrith.

Kharem und Uth nickten. Das versöhnte Elenor. Sie schnaubte kurz in Wienots Richtung. Beleidigt drehte sich der Kobold weg.

In diesem Augenblick stutzte Loglard. Noreia stöhnte auf und hielt sich den Arm. Sofort eilte Fiom zu ihr. Eobar und Mira, die sich wie meist in den letzten Tagen bei den Pferden aufhielten und alles beobachtet hatten, traten zu uns.

»Was ist los?«, wollte Sigrith wissen.

»Der Drache hat sich befreit!«, stöhnte Loglard.

Wie aus dem Nichts erschien Cervek neben uns. Die Koadeck überraschten mich immer wieder. Ich war mir sicher, dass er alles mitangehört hatte. »Nithor wird schneller hier sein, als wir gedacht haben, nicht wahr?«, fragte er ruhig.

Loglard nickte grimmig, während er sich die Seite hielt. »Bei der Spannweite seiner Flügel kann er uns in wenigen Stunden eingeholt haben, je nachdem, ob er vorher frisst oder sich gleich auf die Suche macht«, erwiderte er. »Eines ist gewiss, er ist sicher wütend. Die Art von Bann, die wir in der Eile gewoben haben, ist nicht ohne. Er verursacht keine sehr starken Schmerzen, aber immerhin ist es demütigend.«

Cervek fluchte. Natürlich verstand ich nichts von dem, was er grollte, aber es klang nach jeder Menge sehr übler Flüche. Er ging zu seinen Leuten und beriet sich mit der ehrwürdigen Mutter. Dann kam er mit ihr zu uns.

»Wir wissen, dass das Band der Freundschaft, das wir gerade erst gewoben haben, noch sehr dünn ist«, erklärte Haleg. »Trotzdem unterbreiten wir Euch diesen Vorschlag. Der Weg, den wir einschlagen wollten, führt noch einen weiteren Tag über der Erde entlang. Das ist nun zu gefährlich. Es gibt eine andere Möglichkeit. Nicht weit von hier befindet sich der Zugang in das Innere des Berges. Der Pfad im Berg führt allerdings sehr nah an Jangdrils Ruhestätte vorbei, näher als wir es beabsichtigt haben.« Sie sah uns ernst an, einen nach dem anderen.

»Das ist noch nicht alles«, mutmaßte ich.

»Nein. Der Weg ist zu schmal für Eure Pferde.«

Ein Sturm der Entrüstung folgte. Keiner von uns wollte auf die Pferde verzichten, weder auf die Ausrüstung, noch auf die Tiere selbst. Auf keinen Fall würde ich Wolkenwind allein und schutzlos im Schnee zurücklassen, womöglich als Drachenfutter.

Haleg hob die Hand. Nach und nach kehrte Ruhe ein. »Wir schlagen Euch Folgendes vor. Einer von uns kümmert sich um die Pferde. Nicht weit von hier befindet sich einer unserer Unterschlupfe. Sobald Nithor weitergezogen ist, bringt unser Bruder die Tiere nach Lagard.«

»Wo liegt Lagard?« Damit brach Eobar ihr Schweigen. »Warum können wir nicht mitkommen?«, fügte sie hinzu.

»Ich gehe auf keinen Fall ohne mein Pferd«, mischte sich nun auch Mira ein.

»Ich verstehe Eure Aufregung, aber je länger wir hier stehen und beratschlagen, umso größer ist die Chance, dass uns der Blutschatten findet. Unser Unterschlupf bietet nicht genügend Platz für alle. Er würde uns entdecken.« Dann wandte sich Haleg direkt an Loglard. »Ihr habt gesagt, dass ihr den Drachen nicht besiegen könnt. So ist es doch?«

Rauchgraue Augen hefteten sich auf meinen Gefährten. Der strich sich über die Stirn und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, auch mit den Sachen, die Wienot mitgebracht hat, wäre es schwierig. Außerdem ist das Terrain nicht günstig, um einen Angriff abzuwehren, mit oder ohne Magie.« Er musterte die ehrwürdige Mutter. »Auch ich lasse Morgenröte nur sehr ungern zurück.«

»Es ist eine Frage des Vertrauens«, entgegnete Haleg.

Wäre sie eine Elfe gewesen, hätte ich gesagt, dass sie schmunzelte. Doch es war schwierig, in ihrem Gesicht zu lesen.

»Wir machen uns auf den Weg«, entschied Cervek. »Entweder Ihr kommt mit uns und seid in Sicherheit, oder ihr versucht Euer Glück hier draußen. Spätestens morgen wird es wieder stärker schneien. Dann sind die Wege bald unpassierbar.«

Damit wandte er sich ab, um Anweisungen zu erteilen. Aus der Runde seiner Leute trat einer der älteren Krieger heraus und wartete etwas abseits. Wir sahen uns an. Niemand sagte etwas, jeder dachte das Gleiche. Konnten wir den Koadeck unsere Pferde mitsamt dem größten Teil des Proviants und der Ausrüstung anvertrauen?

»Das gefällt mir nicht!«, schimpfte Sigrith. »Der Weg führt an Jangdril vorbei und wir haben niemanden außer den Waldgeistern. Verflucht und zugenäht!«

Noreia, die bisher mit geschlossenen Augen auf einem Felsen neben Fiom gesessen hatte, sprang nun auf und rief: »Er ist unterwegs. Ich kann ihn spüren. Er hat das Gehorsamkeitssiegel gebrochen und das Haus zerstört.«

Niedergeschlagen kam sie nun zu mir. Ich erschrak darüber, wie blass und müde sie aussah. Außerdem schien sie zu frieren. Es wurde Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

»Also gut! Ich sage euch: Wir wagen es«, erklärte ich. »Die Koadeck werden doch wohl kaum ihre eigenen Leute in Gefahr bringen, nicht wahr? Das mit den Pferden gefällt mir genauso wenig wie euch, aber im Zweifelsfall findet Morgenröte bestimmt nach Hause.«

Als ich Loglard einen fragenden Blick zuwarf, nickte er.

»Dann sagst du deiner Stute, dass sie die anderen Pferde führen muss, falls sich der Koadeck nicht gut um sie kümmert«, schlug ich vor. »Noch Einwände?«

Völlig entgeistert sahen die Kameraden Loglard und mich an. Der stumme Blickkontakt kam mir wie eine Ewigkeit vor. Beinahe glaubte ich, sie würden widersprechen. Doch dann begann Mira damit, ihr Gepäck umzuladen. Die anderen taten es ihr gleich und ich atmete erleichtert auf.

Loglard überließ Wienot das Packen. Er nahm Morgenrötes großen Kopf in die Hände, legte sogar seinen Kopf an ihren. Erst als alle fertig waren, trennte er sich von seinem Pferd. Auch ich verabschiedete mich von Wolkenwind.

Ein kräftiger Koadeck nahm Morgenrötes Zügel. Sie schnaubte, wehrte sich jedoch nicht. Als der Waldgeist ausschritt, stimmte er eine Melodie an, die ich noch nie gehört hatte. Wie auf einen stummen Befehl hin, reihten sich unsere Pferde hinter ihm ein. Wolkenwind bildete den Abschluss. Schnell entfernten sich die Tiere, ihr trauriges Wiehern war kaum zu ertragen. Da kam Kel angerannt. Ihn hatte ich fast vergessen. Er bellte freudig, blieb neben mir stehen, um Streicheleinheiten zu bekommen. Loglard räusperte sich, der Hundekopf ruckte zu ihm. Mein Gefährte sah ernst auf Kel herab. Wenige Augenblicke später bellte er einmal auf, leckte meine Hand ab und lief sodann den Pferden hinterher. Obwohl er nur ein Hund war, beschlich mich das Gefühl, ein wichtiges Familienmitglied verloren zu haben.

»Er ist ein Wildhund. Auch wenn du ihn als Welpen aufgenommen hast, sagt ihm das Blut seiner Vorfahren, was er zu tun hat.«

Ich lächelte Loglard an und war mir sicher, dass er Kel seine Instruktionen erteilt hatte.

Wienot hievte sich theatralisch den Sack über die Schulter, verkleinerte ihn jedoch im Schwung des Hochhebens und marschierte stumm los. Elenor musterte den Kobold mit einem Funkeln in den Augen. Sie schüttelte den Kopf, doch den Göttern sei Dank sagte sie nichts, sondern folgte ihm.

Binnen kurzem holten wir die Koadeck ein, die betont langsam vorausgegangen waren. Schneefall setzte wieder ein. Ich begann, die Berge aus tiefstem Herzen zu hassen.