Tizianrot - Ruth Gogoll - E-Book

Tizianrot E-Book

Ruth Gogoll

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Beschreibung

Tanita schwärmt unsterblich für ihre neue, junge Mathematiklehrerin Frau Gropius. Nach Tanitas Abitur verlieren sie sich aus den Augen. Zufällig treffen sie sich Monate später wieder, und die Überraschung ist perfekt, als sich herausstellt, dass auch Diana Gropius Interesse an Tanita hat. Schnell kommen sie sich näher, die Erfüllung aller Träume scheint nah, doch da tauchen unerwartete Schwierigkeiten auf.

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Ruth Gogoll

TIZIANROT

Roman

Originalausgabe: © 2006 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

1. Buch

Die neue Mathematiklehrerin war nicht ohne. Als sie das erste Mal über den Gang der Schule lief, in einem leichten Sommerkleid, mit wehenden tizianroten Haaren und sehr energischen Schritten ihrer langen Beine, prägte das Bild sich sofort in Tanitas Gedächtnis ein.

Leider war sie keine Leuchte in Mathe und hatte den Leistungskurs, den die neue Lehrerin gab, nicht gewählt. Sie war froh, wenn sie den Grundkurs einigermaßen gut bis zum Abi überstand, das war schon schwierig genug, wenn man lieber träumte und las wie sie, statt jeden Nachmittag Rechenaufgaben zu lösen, von denen sie sowieso nicht wusste, wozu sie gut sein sollten. Später im Leben, hieß es immer. Später im Leben . . . wann sollte das sein? Konnte man sich das überhaupt vorstellen – mit siebzehn?

Ein paar Tage später lief Tanita zufällig während der Pause am Klassenzimmer des Mathe-Leistungskurses vorbei und sah durch die offene Tür die neue Lehrerin, Gropius hieß sie, mit einigen Schülerinnen um das Lehrerpult herumstehen – es gab ausschließlich Schülerinnen, dieses Gymnasium war eine reine Mädchenschule – und mit ihnen lachen.

Lachen. Eine Lehrerin. In Mathe.

Tanita fand das so ungewöhnlich, dass sie stehenblieb und die Szene noch einen Augenblick länger beobachtete. Es waren erstaunlich viele Schülerinnen, die um das Pult herumstanden. Hatten die denn so viele Fragen? In ihrem eigenen Kurs waren immer alle froh, wenn sie das Klassenzimmer während der Pause endlich verlassen konnten. Aber die Leistungstussis waren da vielleicht anders. Die mochten Mathe ja.

Noch einen Augenblick blieb Tanita stehen und sah sich diesen Ausschnitt im Rahmen des Klassenzimmers an, den sie vom Gang aus erkennen konnte. Die neue Lehrerin lachte schon wieder und lächelte dann sehr – ja, wie sollte man das nennen? Sehr intensiv vielleicht? – eine der Schülerinnen an, dabei hob sie die Hand und strich leicht mit ihrem Handrücken, nein: nur zwei Fingern, über die Wange des Mädchens, fast zärtlich. Dann lächelte sie auch noch einmal den anderen zu, nahm ihre Bücher und verließ das Klassenzimmer.

Sie kam genau auf Tanita zu, die schnell in eine andere Richtung blickte, denn sie hatte Frau Gropius angestarrt – zu unwirklich war ihr die Szene erschienen – und dann, als Frau Gropius vorbeigezischt war – sie hatte wirklich eine ganz schöne Geschwindigkeit drauf mit ihren langen Beinen, aber Tanita kam es dennoch fast so vor, als ob sie schwebte, ganz schön merkwürdig – blickte sie ihr immer noch irritiert hinterher, bis sie am anderen Ende des Ganges im Lehrerzimmer verschwunden war.

Ohne dass sie es richtig merkte, schlich Tanita in den folgenden Tagen immer wieder am Mathe-Kursraum vorbei, legte sich ihre Wege so, dass sie an diesem Zimmer vorbeikommen musste. Und jedesmal schlug ihr Herz höher, wenn die Tür in Sicht kam. Meistens war sie verschlossen, oder wenn sie es nicht war, erblickte sie nur ein leeres Zimmer oder ein paar ihrer Kameradinnen aus dem Jahrgang, niemals aber Frau Gropius. Anscheinend hielt sie sich während der Pausen nicht mehr in ihrer Klasse auf. Das erste Mal war wohl eine Ausnahme gewesen.

Als sie wieder einmal enttäuscht in das leere Zimmer hineinblickte, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich.

»Wollen Sie in meinen Kurs?« fragte sie.

Tanita fuhr herum. Frau Gropius betrachtete sie mit gerunzelter Stirn.

Tanita zitterte am ganzen Körper und versuchte sich zu beruhigen. »Ich bin nicht so gut in Mathe«, erwiderte sie mühsam, während ihr der Anblick fast den Atem raubte. »Mein Lieblingsfach ist Deutsch.«

»Wie schade.« Frau Gropius lächelte leicht. »Dann werden wir uns wohl kaum im Unterricht sehen.«

»Ja . . . nein . . .« Tanita stammelte herum. Sie wusste nicht, was sie sagen geschweige denn tun sollte. Ihre Haut kribbelte, als ob sie sich gleich ablösen wollte. Die roten Haare so dicht vor ihr, wie eine Korona, und dazwischen dieses Gesicht, dieses wunderschöne, lächelnde Gesicht –

Tanita fühlte, wie sie rot wurde. Sie schluckte krampfhaft. Eine Lehrerin! Das konnte nicht sein! Das dürfte einfach nicht sein!

Frau Gropius’ Lächeln verstärkte sich. »Wenn Sie schon nicht in meine Klasse möchten, darf ich vielleicht hinein?« Sie schmunzelte heftig.

»Ja. Ja, natürlich . . . entschuldigen Sie.« Tanita trat zur Seite, nein, sie stolperte fast, weil der Blick ihrer Augen getrübt war und sich ihre Muskeln kaum mehr unter ihrer Kontrolle befanden. Steif wie eine Marionette machte sie ein paar Schritte.

Frau Gropius schwebte kraftvoll und dennoch sanft wie ein Engel an ihr vorbei, und dabei schien sie aus dem Augenwinkel noch einen verschmitzten Blick auf Tanita zu werfen. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Tanita erholte sich nur schwer von der kurzen Begegnung. Frau Gropius’ durchdringende Augen schienen sie durchschaut zu haben, wenn Tanita auch nicht genau wusste, was sie gesehen haben konnten, denn was da wohl Interessantes in ihr sein könnte, war ihr selbst nicht klar.

~*~*~*~

»Wie alt ist sie?«

Eine logischere Frage konnte niemand stellen. Nein, das war eindeutig eine Spezialität von Tanitas Sandkastenfreundin Andrea.

»Ich . . . ich weiß nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Sie ist neu an der Schule, möglicherweise frisch von der Uni, also wahrscheinlich Ende Zwanzig, Anfang Dreißig«, vermutete Tanita vage.

»Dreißig?« Andreas Stimme klang, als hätte Tanita hundert gesagt.

»Na ja, vielleicht auch noch nicht. Ich kann das nicht so beurteilen«, erwiderte Tanita unglücklich.

»Auf jeden Fall ist sie erheblich älter als du – und sie ist Lehrerin!« Das letzte Wort klang aus Andreas Mund fast wie eine Beschimpfung.

»Mathe-Lehrerin«, fügte Tanita noch unglücklicher hinzu.

»Ausgerechnet!« Andrea lachte spöttisch. »Wo das schon immer dein Lieblingsfach war!«

»Ja, ausgerechnet. Und sie gibt nur Leistungskurse. Ich werde nie einen Kurs bei ihr belegen können.« Tanita litt unsäglich.

»Na, Gott sei Dank!« Andrea hingegen schien erleichtert. »Dann hat der Horror ja bald ein Ende! Wenn du sie nicht siehst . . .«

»Ich sehe sie ja.« Tanita klammerte sich an den letzten Strohhalm. »Auf dem Gang, in der Pause, auf dem Hof, wenn sie Aufsicht hat . . . morgens, wenn sie zur Schule kommt und manchmal nachmittags, wenn sie geht.«

»Du scheinst ununterbrochen am Fenster zu stehen«, vermutete Andrea ironisch.

»Andrea, ich –« Tanita richtete ihre Augen mit einem verwundeten Blick auf ihre alte Freundin, »ich kann an nichts anderes mehr denken, seit sie da ist, seit sie mit mir gesprochen hat . . .«

»Sie hat so was gesagt wie ›Geh mir aus der Sonne‹. Das würde ich nicht gerade ein Gespräch nennen«, stellte Andrea nüchtern fest.

»Sie hat mich angeschaut.« Tanitas Augäpfel verwandelten sich in glitzernde Sterne. Sie strahlten von innen heraus.

»Du bist verrückt.« Andrea seufzte. »Verliebt in eine Lehrerin! Was soll das werden? Du hast keine Chance, und sie kriegt den größten Ärger, wenn sie sich mit dir einlässt. Falls sie das möchte . . .«

»Oh, sie – du hast sie nicht gesehen, Andrea.« Tanita schwärmte mit immer leuchtenderen Augen. »Sie ist . . . sie ist unvergleichlich. Und sie hat mich angesehen, als ob –«

»Als ob was?« Andrea gab ein abschätziges Geräusch von sich. »Als ob sie mit dir ins Bett gehen wollte? Eine Lehrerin? Sie hat bestimmt einen Freund. Wenn sie so berauschend ist, wie du sagst, wird sie ja wohl kaum allein sein – in ihrem Alter.«

Tanita musste lachen. »Du sprichst von ihr, als wäre sie senil!«

»Ist sie ja auch. Dreißig! Pft!« Andrea blickte uninteressiert in die Gegend.

»Eventuell noch nicht«, wiederholte Tanita. »Und außerdem ist es mir egal. Sie ist einfach umwerfend. Ich denke nur noch an sie. Ich träume von ihr. Jeden Tag.«

»Dann träum von ihr, aber lass mich damit in Ruhe. Ich bin froh, dass ich die Schule hinter mir habe!« fauchte Andrea wütend.

»Sei mir nicht böse.« Tanita strich Andrea um Verzeihung bittend über den Arm. »Ich weiß, du hasst das Thema Schule. Aber du bist doch froh, dass du abgegangen bist, oder? Du hast jetzt schon fast einen Beruf – im Gegensatz zu mir.«

»Ja, stimmt schon.« Andrea grummelte noch ein wenig vor sich hin, schien jedoch besänftigt. »Aber ich werde nie vergessen, wie ich die Schule gehasst habe und die Lehrer – und Lehrerinnen«, fügte sie mit Betonung hinzu, »die besonders. Alles verklemmte Zicken.« Sie zog die Mundwinkel herunter.

»Ach, Andrea . . .« Tanita lächelte verständnisvoll. »Sie konnten halt mit deinem Outfit nichts anfangen. Du musst zugeben, dass das zum Teil auch ein wenig . . .«, sie zögerte, »gewagt war. Sie wollten dich vielleicht nur beschützen.«

»Beschützen? Wovor?« Andrea schüttelte den Kopf. »Die haben nichts verstanden. Gar nichts. Sollte ich etwa bis in alle Ewigkeit Jungfrau bleiben?«

»Ich bin’s noch«, sagte Tanita leise, »und weißt du, was ich mir wünschen würde? Dass sie es tut . . . dass sie mich zur Frau macht.«

»Du bist doch total übergeschnappt!« schimpfte Andrea, nun jedoch bei weitem nicht mehr so wütend wie zuvor. »Du weißt genau, dass sie das niemals tun würde. Warum sollte sie?«

»Ja, warum sollte sie?« Tanita seufzte. Auf einmal wurde ihr klar, dass ihre ganzen Träumereien auf tönernen Füßen standen. Sie hatten keinerlei Grundlage. Nur einen – vielleicht – zufälligen Blick.

»Tanita, wirklich . . . eine Lehrerin . . . das ist doch Schwachsinn.« Andreas Stimme klang nun liebevoll, beinahe mitleidig.

»Ja, Schwachsinn«, stimmte Tanita wieder müde zu. »Totaler Schwachsinn.«

»Eben«, bekräftigte Andrea heftig. »Hör auf, daran zu denken. Such dir eine nette Freundin in deinem Alter.«

Tanita sah sie mit etwas gequält verzogenem Gesicht an. »Wozu denn? Ich habe doch dich.«

»Das ist wohl kaum dasselbe«, sagte Andrea. »Wir sind wie Schwestern.«

»Weißt du noch?« fragte Tanita etwas nachdenklich. »Unsere Englischlehrerin damals? Die Amerikanerin?«

»Wen meinst du?« Andrea runzelte die Stirn. »Lily?«

»Ja, Lily. Ich war verliebt in sie. Ich habe schon immer für Lehrerinnen geschwärmt, schon seit der ersten Klasse.«

»Grundschule?« fragte Andrea entgeistert.

Tanita lachte ein wenig. »Ja, genau. Grundschule. Schon in meine Grundschullehrerin war ich verliebt.«

»Du hast ja früh angefangen«, meinte Andrea beinahe bewundernd.

»Ich wusste es nicht«, bemerkte Tanita leise. »Ich dachte, alle Mädchen empfinden so.«

»Na ja, das hast du ja wohl mittlerweile mitgekriegt, dass das nicht so ist«, sagte Andrea. »Aber das ändert nichts an deinem akuten Problem. Lass sie in Ruhe. Verlieb dich in jemand anders.«

Tanita stieß ein resigniertes Lachen aus. »Als ob das so einfach wäre!«

~*~*~*~

In den nächsten Tagen versuchte Tanita, den Anblick von Frau Gropius zu vermeiden. So, wie sie zuerst ihre Nähe gesucht hatte, ging sie nun auf Abstand. Das Lehrerzimmer, der Mathe-Kursraum, selbst der Gang, der zu dem Zimmer führte, war für sie tabu. Auf dem Hof zog sie sich in eine Ecke zurück, in die sich nie ein Lehrer verirrte. Ihre Freundinnen schüttelten nur noch den Kopf über sie. Auch von ihnen zog sie sich zurück.

Wenn sie irgendwo rotes Haar sah, ging sie in die andere Richtung. Es hätte ja Frau Gropius sein können. Trotzdem zog es sie eigentlich zu ihr hin. Es wurde immer schlimmer. Je weniger sie sie sah, um so mehr träumte sie von ihr. Die Situationen, die sie sich mit ihr vorstellte, wurden immer haariger. Sie hatte das Gefühl, keine Nacht mehr allein zu schlafen.

Und dabei kenne ich noch nicht einmal ihren Vornamen, dachte sie. Immer wenn ich mir vorstelle, dass sie neben mir im Bett liegt, nenne ich sie ›Frau Gropius‹.

Sie musste über sich selbst lachen. Sie schloss die Augen. Sofort erschien das bekannte Gesicht vor ihr. Die Lippen öffneten sich. Ein Kuss – ein Kuss – ein Kuss . . .

Sie schluckte. Nie würde es das geben. Niemals.

Dritte Stunde. Mathe. Tanita seufzte schon im voraus. Im Leben würde sie das nicht begreifen. Funktionen, Logarithmen, Integralrechnung – all das war ein Buch mit sieben Siegeln für sie. Sie schleppte sich mühsam von Klausur zu Klausur, immer in der Angst, einmal endgültig abzustürzen und deshalb nicht zum Abitur zugelassen zu werden. Ihr Mathematiklehrer war eine alte Trantüte, der den einen oder anderen Fehler übersah – wahrscheinlich weil er zu faul zum Arbeiten war; nur deshalb befand sie sich noch in den Gefilden der Seligen, sprich auf dem Gymnasium. Eigentlich hätte es ihr zwar gereicht, wenn es hier nur Deutschunterricht gegeben hätte, aber man musste sich eben mit den Realitäten abfinden – dreizehn Fächer, nicht nur eins. Dreizehn . . . das war wirklich eine Unglückszahl, denn – davon war Tanita überzeugt – das dreizehnte Fach war Mathe.

Sie starrte auf ihre Hausaufgaben, die sie zwar gemacht, aber nicht verstanden hatte; das würde jedoch wahrscheinlich gar nicht auffallen, denn ihr Mathematiklehrer pflegte statt zu unterrichten lieber Geschichten aus seiner Zeit als Soldat in Russland zu erzählen. Geschichten, die die Mädchen nicht im geringsten interessierten, die sie aber dennoch über sich ergehen ließen, weil das einfacher war als einem geregelten Mathematikunterricht folgen zu müssen. Keine in Tanitas Kurs wollte das; es war der sogenannte »Doppel-D-Kurs«, ein Synonym für »doppelt dämlich«, wie manche an der Schule behaupteten. Tanita scherte das wenig und die anderen Mädchen im Kurs auch nicht.

Sie blätterte in ihrer letzten Mathematikarbeit und versuchte die vielen roten Stellen zu übersehen. Seufzend blickte sie zur Tür. Wo blieb der Alte denn? Bislang war er doch immer pünktlich gewesen. Sonst konnte er ja nicht viel, aber daran hatte es noch nie gemangelt. Das wäre ja mal etwas ganz Neues. Nicht dass ihn jemand vermissen würde, aber es störte doch die allgemeine Routine, die eher darin bestand, sich in der Mathematikstunde auszuruhen. Nun musste man erst noch konzentriert warten, bis dieser Zustand endlich eintrat.

Plötzlich zeigte sich eine Bewegung in der Tür. Aha, der Alte war da. Tanita wollte sich gleich wieder von der Tür ab- und dem Buch unter ihrer Bank zuwenden, als statt eines grauen ein roter Schopf erschien. Auch das Tempo, mit dem sich dieser Rotschopf bewegte, war reichlich forsch und hatte nichts mit dem des alten grauen Raunzers gemein, das die Mädchen gewöhnt waren. Ein Ruck ging durch die Klasse. Alles Raunen verstummte, was normalerweise nie der Fall war, wenn der Alte den Raum betrat. Dann änderte sich der Geräuschpegel aus der Pause kaum.

Tanita saß wie betäubt in der Bank und starrte mit gebanntem Blick nach vorn.

»Herr Murnau ist krank«, verkündete Frau Gropius fröhlich. »Ich vertrete ihn. Ich hoffe, Sie helfen mir dabei.« Sie schaute mit strahlendem Blick um sich und schien jedes Mädchen einzeln um Zustimmung zu bitten, indes schon wissend, dass sie sie ihr erteilen würden.

Tanita starrte immer noch ohne sich zu rühren.

Frau Gropius ließ ihren Blick auch zu ihr schweifen. »Wir kennen uns doch schon, nicht wahr?« fragte sie.

Tanita schüttelte sich leicht, wie wenn sie einen Geist loswerden müsste. »Ich . . . ich glaube nicht«, sagte sie mit etwas krächzender Stimme.

»Doch, doch«, widersprach Frau Gropius, während sie schon ihre Tasche auspackte und Bücher auf das Lehrerpult stapelte. »Sie standen einmal vor meiner Klasse.« Dann schien sie das Thema jedoch nicht mehr zu interessieren. Sie blickte an die Tafel und dann auf die Mädchen. »Wollen wir ein bisschen Integralrechnung üben?« Sie strahlte, als hätte sie den Mädchen ein wundervolles Angebot gemacht. Die Mädchen stöhnten automatisch auf. Frau Gropius lachte. »Na, so schlimm ist es ja auch nicht! Sie werden sehen, das kann ganz lustig sein.« Den Zweifel in den Gesichtern ihrer Schülerinnen ignorierte sie einfach.

In Tanitas Gesicht stand nicht nur Zweifel, sondern beinahe schon Entsetzen. Sie würde sich blamieren, entsetzlich blamieren – und das vor der Frau ihrer Träume, der einzigen Frau, an deren Wertschätzung ihr etwas lag.

»Im Klassenbuch stand, dass Sie Hausaufgaben für heute hatten«, fuhr Frau Gropius gutgelaunt fort. »Ich werde sie einsammeln, um mir ein Bild von Ihrem Leistungsstand zu machen. In der nächsten Stunde weiß ich dann besser, wo wir ansetzen müssen«, verkündete sie zuversichtlich.

Wie betäubt gab Tanita ihre Aufgaben an den Rand des Tisches durch, wo eine der beflissensten Schülerinnen aufstand und sie nach vorn trug. Das würde eine Katastrophe geben! Ab morgen würde Frau Gropius kein Wort mehr mit ihr sprechen!

Die ganze Nacht lag Tanita wach und wälzte sich herum. Sie sah Frau Gropius’ fröhlich blitzende Augen vor sich und fürchtete sich davor, sie wütend blitzen zu sehen, wenn sie erst einmal Tanitas Unfähigkeit in Sachen Zahlen erkannt hatte. Sie wollte auf keinen Fall ihren Ärger heraufbeschwören. Lieber hätte sie das Gegenteil heraufbeschworen . . .

Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Das Gegenteil . . . Liebe . . . es war ein zu gewagter Traum. Solange sie ihn noch aus der Ferne träumen konnte, war er ihr wenigstens noch erfüllbar erschienen – erfüllbar auf eine merkwürdig schemenhafte Art, die sich keiner Schuld und keiner Realität bewusst war, die ihn verdrängen konnte. Aber nun – fast jeden Tag in der Klasse – sie sehen zu müssen, ihre Verachtung ertragen zu müssen, die Tanitas schlechte Noten garantiert in ihr hervorrufen würden. Tanita sah sie erneut vor sich, in ihrer Erinnerung, damals, als sie dem einen Mädchen aus ihrem Leistungskurs so zärtlich über die Wange gestrichen hatte . . . das würde sie niemals mit Tanitas Wange tun. Nur die besten erfuhren diese Vorzugsbehandlung, davon war Tanita überzeugt.

Endlich gegen Morgen schlief sie ein und wankte nur wenige Stunden später mit verklebten Augen in die Schule. Es nützte ja nichts. Damit war ihr Abitur wahrscheinlich gelaufen. Bisher hatte sie sich in dem Kurs vom alten Murnau noch durchmogeln können, aber nun war es vorbei. Frau Gropius würde mehr verlangen – und wenn sie es nicht bekam, nun . . . dann würde es schlechte Noten hageln, die Tanitas Punktezahl in tiefsten Abgründen verschwinden lassen würden; da konnte auch eine brillante Benotung in Deutsch nichts mehr helfen. Und das alles ausgerechnet von ihr – der heimlichen Königin ihres Herzens. Was sie natürlich nie erfahren würde . . . erfahren dürfte. Die nächste Zeit hielt hartes Brot für Tanita bereit. Hoffentlich konnte sie es verkraften.

Heute musste Tanita länger warten, erst die fünfte Stunde brachte Erlösung in Form einer durchaus annehmbar lächelnden Frau Gropius, die ins Zimmer schwebte, ihre Tasche auf den Tisch stellte und die gestern eingesammelten Hausarbeiten herausnahm. »Sie sind nicht gerade eine Zierde ihres – unseres – Geschlechtes, meine Damen«, sagte sie etwas spöttisch. »Oder manche würden wahrscheinlich sagen, Sie sind es. Jedenfalls sind Ihre Arbeiten eines Mathematikkurses der zwölften Klasse kaum würdig. Sie scheinen die letzten Jahre geschlafen zu haben.«

Eine Schülerin, immer bereit, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, meldete sich. »Es ist sehr viel Unterricht ausgefallen«, stellte sie richtig. »In Mathe hatten wir zwei Jahre lang fast überhaupt keinen.«

»Ich weiß«, sagte Frau Gropius, »und das ist sehr bedauerlich. Da werden wir wohl einiges nachholen müssen. Und – meine Damen«, sie schaute mit einem bezaubernden Lächeln um sich, das jedes Mannes Herz sicherlich sofort erweicht hätte, an diese Mädchen jedoch verschwendet war – bis auf eine –, »wenn ich Hausaufgaben aufgebe, erwarte ich, dass sie auch gemacht werden. Auf meiner Liste fehlen etliche, die mir gestern nichts abgegeben haben. Diesmal lasse ich das noch durchgehen, weil sie es wahrscheinlich nicht . . .«, sie räusperte sich diskret, »gewöhnt sind, kontrolliert zu werden, aber das nächste Mal – geben Sie sie besser ab.«

Die Mädchen schauten genauso entsetzt, wie sich Tanita gestern schon gefühlt hatte. Jetzt fühlte sie sich nicht mehr so, sondern einfach grauenhaft. Keine Chance, gar keine Chance. Frau Gropius würde nicht den leisesten Fehler übersehen. Sie würde erwarten, dass man einfach keine machte. Und das war Tanita unmöglich.

Sie schaute Frau Gropius an, und sofort entstand trotz allen Entsetzens wieder dieses Gefühl der Zärtlichkeit in ihr, das jeder Gedanke an Frau Gropius hervorrief. Sie sah die Augen und den Mund, in die sie sich sofort verliebt hatte, sie spürte die Ausstrahlung, die sie um den Verstand brachte und den Wunsch in ihr entstehen ließ, aufzustehen und diese Frau, ihre Lehrerin, zu streicheln und zu küssen, ihr zu sagen, wie sehr sie –

»Tanita, kann ich Sie nach dem Unterricht noch sprechen?« fragte Frau Gropius’ Stimme neben ihr. Sie legte ihr die Hausaufgaben von gestern auf den Tisch.

Vor Tanitas Augen verschwamm alles. War das ein einziges Rot? Nein, sie sah nichts, weder rot noch sonst irgendeine Farbe. Wahrscheinlich hatte Frau Gropius sich gar nicht die Mühe gemacht – bei den vielen Fehlern . . .

»Natürlich«, flüsterte Tanita. Ihre eigene Stimme klang fremd in ihren Ohren, kaum menschlich.

Der Unterricht rauschte an ihr vorbei; sie bekam nicht das geringste mit. Es hatte ja auch gar keinen Sinn mehr. Nachdem der Unterricht beendet und alle gegangen waren, blieb Tanita einfach sitzen. Sie wartete auf ihre Verurteilung, die endgültige.

Frau Gropius schloss die Tür und kam zu ihr. »Was lesen Sie gerade?«

Tanita war so überrascht, dass sie zuerst nichts sagen konnte.

»Sie sagten doch, Ihr Lieblingsfach sei Deutsch«, fuhr Frau Gropius lächelnd fort, »deshalb nahm ich an, dass Sie gern lesen.«

»Ja.« Tanita räusperte sich, um ihren Hals freizubekommen. »Ja, das tue ich.«

»Und was?« Frau Gropius lächelte immer noch freundlich.

»Die . . . Die Leiden des jungen Werther . . .«, stammelte Tanita.

»Ach du meine Güte!« Frau Gropius lachte. »Im Unterricht?«

»Nein. Ja – ja, auch, aber da sind wir eigentlich schon beim Faust«, erklärte Tanita, nun etwas ruhiger, da sie sich über Dinge unterhielten, die sie interessierten und von denen sie etwas verstand.

»Das ewig Weibliche zieht uns hinan«, zitierte Frau Gropius merkwürdig lächelnd. »Goethe, Goethe und kein Ende. Ist das alles, was im Lehrplan steht?«

»Ich weiß nicht«, sagte Tanita unsicher, »ich lese Goethe eigentlich ganz gern.«

»Ihr Glück«, entgegnete Frau Gropius, »sonst wäre die Schule wohl ziemlich langweilig für Sie.«

Tanita antwortete nicht. Sie fühlte sich wie auf einer Folterbank. Wann kam Frau Gropius denn endlich zum Punkt? Was sollte dieses Gerede über Goethe und Lesen? In Wirklichkeit wollte sie sie doch mit ihrem vernichtenden Urteil über Tanitas Mathematikkenntnisse konfrontieren. Warum tat sie das nicht einfach und beendete die Qual?

»Sie machen sich Sorgen, nicht wahr?« fragte Frau Gropius mitfühlend. »Über Ihre Mathematiknote.«

Tanita nickte. Zum Sprechen war sie momentan nicht fähig; ein Kloß so groß wie ein Findling saß in ihrem Hals.

Frau Gropius seufzte leicht. Sie setzte sich halb auf Tanitas Pult. »Sie haben auch allen Grund dazu. Ich bin ehrlich zu Ihnen«, bemerkte sie mit betrübt gerunzelter Stirn.

»Ich weiß«, sagte Tanita. »Zahlen sind nicht mein Ding. Sie drehen sich vor mir im Kreis, wenn ich sie ansehe, bilden merkwürdige Formen und haben sogar Gesichter – nur ein Ergebnis sehe ich leider so gut wie nie.«

Frau Gropius stand auf und sah auf Tanita hinunter. »Das habe ich gemerkt. Ihre Hausaufgaben sprechen eine deutliche Sprache. Die Logik fällt Ihnen schwer.«

»Ja, die Logik . . .«, stimmte Tanita müde zu. »Es erscheint mir alles so . . . unlogisch.« Sie konnte es nicht besser ausdrücken.

»Und Goethe nicht?« fragte Frau Gropius.

»Nein, Goethe nicht. Da ist alles klar.«

»Sie wissen, dass Goethe ein großer Naturwissenschaftler war?«

»Ja. Das habe ich gelesen.« Tanita wagte es endlich wieder zu Frau Gropius aufzublicken. »Aber das war wohl eine Ausnahme, dass er beides konnte. Ich kann es jedenfalls nicht. Ich weiß gar nichts.«

»Das halte ich für eine Übertreibung.« Frau Gropius lächelte und wandte sich ab, um zum Fenster zu gehen. Dort drehte sie sich um. »Es ist sehr viel Unterricht ausgefallen, und zum Schluss hatten Sie einen ungeheuer schlechten. Glauben Sie mir«, sie lachte kurz auf, »auch wenn ich noch nicht so lange hier bin, aber ich kenne Lehrer wie Herrn Murnau – nur zu gut.«

»Es liegt nicht an Herrn Murnau.« Tanita widersprach überzeugt. »Es liegt an mir. Ich kann es eben nicht. Ich kann nicht rechnen, ich konnte noch nie gut mit Zahlen umgehen. Es interessiert mich einfach nicht.« Etwas trotzig hob sie den Kopf und schaute Frau Gropius ins Gesicht.

Frau Gropius nickte anerkennend. »Sie sind kein Feigling, Tanita, das imponiert mir. Ich hasse Leute, die nicht die Verantwortung für ihre eigenen Taten übernehmen.« Sie kam wieder auf Tanita zu. »Aber lesen interessiert Sie, nicht wahr? Und nicht nur Goethe.« Sie blickte erneut freundlich auf Tanita hinunter.

Tanita nickte. »Nicht nur Goethe, ja. Ich lese vieles. Fast alles, was mir unter die Finger kommt. Schon als kleines Kind habe ich gern gelesen.«

»Das ist doch sehr schön«, sagte Frau Gropius leise, und ihre Stimme klang auf einmal unsagbar weich. Ihre Augen schienen Tanita wie mit sanften Armen zu umfangen, während sie sich vorbeugte. Unvermittelt richtete sie sich wieder auf und räusperte sich heftig. »Ich könnte Ihnen helfen«, sagte sie, »ich meine, in Mathe. Ich könnte Ihnen Nachhilfestunden geben.«

Tanita spürte ein warmes Gefühl ihren Körper durchrieseln. Frau Gropius’ Augen hatten sie mit magnetischer Kraft angezogen, und sie hätte gern mehr davon gehabt. Wie schön wäre es gewesen, Nachhilfestunden . . .

»Vielen Dank«, sagte sie, »aber das geht leider nicht. Bei mir ist doch sowieso Hopfen und Malz verloren. Ich begreife es nie. Und außerdem – ich hätte gar nicht das Geld . . . ich meine, wir haben nicht genug Geld bei uns in der Familie, um Nachhilfestunden bezahlen zu können.«

»Das macht nichts«, entgegnete Frau Gropius sofort. »Ich verlange kein Geld dafür. Ich möchte nur, dass Sie das Abitur bestehen.«

Tanita starrte sie eine Weile an. »Warum?« fragte sie dann. »Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Vielleicht kenne ich Sie besser, als Sie glauben«, erwiderte Frau Gropius nachdenklich. »Also – was denken Sie? Wollen Sie sich verbessern? Wollen Sie arbeiten? Rechnen, bis Ihnen der Kopf raucht?«

Tanita musste über Frau Gropius’ Enthusiasmus schmunzeln. Der Lehrerin schien viel mehr an Tanitas Erfolg zu liegen als ihr selbst. »Nein, das möchte ich eigentlich nicht. Das ist eine Horrorvorstellung für mich«, antwortete sie etwas gequält und verlegen.

Frau Gropius warf laut lachend den Kopf in den Nacken. Ihre Haare tanzten wild um ihren Kopf wie ein hüpfender Sonnenaufgang. »Sie sind wenigstens ehrlich!« stieß sie hervor. »Das gefällt mir.«

Tanita sah sie an, und wieder spürte sie dieses warme Gefühl, das sie zu Frau Gropius hinzog. Aber da hatte sich nun wohl auch die letzte Hoffnung zerschlagen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin einfach . . . unbegabt. Damit muss ich mich wohl abfinden.«

»Sie sind nicht unbegabt!« Frau Gropius protestierte heftiger als erwartet. »Sie sind einfach nur ungeübt. Übung macht den Meister – in jeder Beziehung.« Sie lachte noch einmal. »Und auch die Meisterin, sogar in Mathematik.«

»Schwer zu glauben«, erwiderte Tanita. Ihre Stimme klang so skeptisch, dass Frau Gropius nähertrat und ihr über die Wange strich, genauso wie sie es damals bei dem anderen Mädchen getan hatte, als Tanita es beobachtete. Ein Schlag durchfuhr Tanita, aber da war es auch schon wieder vorbei. Frau Gropius hatte ihre Hand zurückgezogen.

»Versuchen Sie es doch wenigstens«, sagte Frau Gropius in weichem Tonfall. »Es lohnt sich – bestimmt.« Sie hob die Hände gefaltet vors Gesicht und ließ sie dann wieder sinken. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir versuchen es eine Weile zusammen, und wenn es nichts bringt, hören wir wieder auf.«

Tanita spürte noch immer die warme Berührung an ihrer Wange und war so verwirrt wie selten in ihrem Leben. Was Frau Gropius zum Schluss gesagt hatte, hatte sie kaum gehört. Ihre Gefühle beherrschten ihr Denken. Nachhilfestunden bei Frau Gropius bedeuteten Frau Gropius’ Nähe, Frau Gropius’ Zuwendung, Frau Gropius’ ausschließliche Konzentration auf sie, Tanita. Konnte sie sich das entgehen lassen?

»Was denken Sie? Machen wir’s so?«

»Wie? Oh – ja. Wie Sie wollen«, sagte Tanita überrumpelt. Da sie nicht richtig zugehört hatte, wusste sie kaum, wovon die Rede war.

»Schön.« Frau Gropius lächelte zufrieden. »Ich glaube, Sie werden es nicht bereuen.«

Tanita rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Vielleicht werden Sie’s«, entgegnete sie. »Ihr Einsatz ist größer – und der Erfolg unbestimmt.«

»Das wird sich noch herausstellen, wessen Einsatz größer ist«, sagte Frau Gropius rätselhaft lächelnd.

Sie trafen sich noch in dieser Woche zu einer ersten Stunde nach dem Unterricht. Noch nie hatte Tanita sich so aufgeregt gefühlt. Den ganzen Tag über fieberte sie der Begegnung in der achten Stunde entgegen, ihre Knie zitterten, und ihr Magen knurrte, weil sie nichts aß und es nicht bemerkte. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren und träumte selbst im Deutschunterricht nur vor sich hin. Die merkwürdig irritierten Blicke, die ihre Deutschlehrerin ihr zuwarf, weil sie an Tanitas rege Beteiligung im Unterricht gewöhnt war, nahm sie gar nicht wahr.

Es ist kein Rendezvous, versuchte Tanita sich einzureden, es ist alles andere als ein Rendezvous. Sie ist meine Lehrerin und sie gibt mir Nachhilfestunden, das ist alles. Sie denkt nur an Mathe – und das sollte ich auch tun.

Aber sie konnte es nicht. Sie wartete und wartete, ohne zu wissen, was da kommen sollte. Wieder und wieder sah sie Frau Gropius’ Mund vor sich, der sich ihr näherte, der ihr etwas zu sagen schien, was sie nicht hören konnte – oder wollte, wenn es sich um Mathematik handelte. Sie sah nur ihre Lippen, die sich bewegten und die sie gern berührt hätte, geküsst . . .

Es klingelte und Tanita schreckte hoch, während sie sich noch einen letzten, etwas beleidigten Blick ihrer Deutschlehrerin einfing. Obwohl ihr sonst sehr viel an deren Wertschätzung lag, war sie ihr heute vollkommen egal. Sie dachte nur an eines.

»Haben Sie schön geübt?« Frau Gropius trat durch die Tür in den Klassenraum, in dem Tanita bereits allein saß.

»Ich . . .« Tanita stammelte vor sich hin. »Ich . . . nein . . . eigentlich nicht . . . ich wusste nicht . . .«

»Es war nur ein Scherz.« Frau Gropius lächelte freundlich wie immer. »Ich hatte das nicht von Ihnen erwartet. Wir werden es zusammen tun.«

Es – zusammen – tun? Was: es? Tanita starrte zu Frau Gropius hoch. Sie dachte nicht an Rechnen, an Übungsaufgaben – oder wenn, dann sicherlich keine in Mathematik.

Frau Gropius setzte sich neben Tanita auf den zweiten Stuhl an ihrem Tisch. »Was macht Ihnen denn so viele Schwierigkeiten?« fragte sie.

»Ich . . . ich habe die Hausaufgaben noch nicht gemacht«, stotterte Tanita. Noch nie war ihr Frau Gropius so nah gewesen. Sie spürte sie, sie roch sie, sie empfand die Wärme ihres Körpers, als ob sie neben einem Heizgerät säße, das auf höchste Stufe gestellt war. Sie fühlte Röte in ihr Gesicht steigen.

»Das meinte ich eigentlich nicht«, sagte Frau Gropius, »aber wenn Sie wollen, können wir uns gern damit beschäftigen.« Sie stand auf und ging zur Tafel.

Tanita atmete auf. Der Abstand gab ihr die Möglichkeit, sich wieder zu beruhigen. Sie hörte das Blut in ihren Adern rauschen. Rote Wirbel tanzten vor ihren Augen. Aber langsam wurde es besser, während sie nach vorn starrte, wo Frau Gropius etwas an die Tafel schrieb.

Tanita schüttelte sich leicht. Das war ja noch schlimmer als in ihren Träumen! Frau Gropius’ körperliche Gegenwart bedeutete einen ganz entscheidenden Unterschied.

»Können Sie mir die Lösung sagen?« Frau Gropius hatte ihre Aufgabenstellung an der Tafel beendet und sich wieder zu Tanita umgedreht.

Tanita blickte weiterhin nach vorn, aber sie sah so gut wie nichts – außer Frau Gropius. Ihre Haare tanzten noch ein wenig auf ihren Schultern und führten die Bewegung fort, ihre Augen leuchteten warm und verständnisvoll, und das Lächeln auf ihren Lippen öffnete sie leicht, wie zum Kuss. Tanita spürte, wie ihr ganzer Körper erneut in Aufruhr geriet, noch schlimmer als zuvor. Der Abstand allein genügte nicht. Die Situation – sie allein hier mit Frau Gropius im Klassenzimmer – reichte völlig aus, um ihr jegliche Kontrolle zu rauben.

»Das haben wir in der letzten Stunde besprochen«, sagte Frau Gropius ruhig, vielleicht auch ein wenig enttäuscht. »Erinnern Sie sich nicht mehr daran?«

Was sollte Tanita darauf antworten? Ihrer Lehrerin sagen, dass sie ihrem Unterricht nicht gefolgt war, dass sie sie lieber angestarrt und von ihr geträumt hatte, als auf ihre Ausführungen zu achten? Das nahm sie sicherlich nicht für ihre Schülerin ein.

»Ich . . . doch . . .«, erwiderte Tanita. Sie rang unter der Bank die Hände. »Ich habe es nur nicht verstanden. Ich sagte ja, ich kann mit Zahlen nichts anfangen.«

»Ja, ich erinnere mich«, entgegnete Frau Gropius leicht schmunzelnd. »Wir machen das jetzt einfach zusammen, dann wird schon etwas dabei herauskommen.« Sie ging zum zweiten Mal auf Tanita zu und blieb neben ihrem Tisch stehen. »Verstehen Sie denn die Aufgabenstellung?« fragte sie.

»Eigentlich . . . ja . . . nein, nicht so richtig«, gab Tanita zu.

»Na dann . . .« Frau Gropius setzte sich erneut neben sie.

Tanita zuckte zusammen. Am liebsten wäre sie abgerückt, aber das konnte sie ja wohl schlecht tun. Frau Gropius beugte sich zu ihr. Tanita stockte der Atem. Dieser Duft – keine Rose konnte süßer duften. Tanita schloss kurz die Augen, während Frau Gropius vor ihr auf dem Tisch das Ringbuch aufschlug, das immer noch geschlossen vor ihr gelegen hatte.

»Am besten, Sie schreiben es erst einmal ab, dann wird Ihnen vielleicht einiges klarer«, forderte Frau Gropius sie auf. Sie sah Tanita kurz an und blickte dann nach vorn auf die Tafel.

Tanita nahm gehorsam ihren Stift. Sie hatte diese Aufgabe schon einmal abgeschrieben und nichts dabei verstanden; was sollte sich da beim zweiten Mal ändern? Dennoch wusste sie eine Stunde später, dass sich etwas geändert hatte, denn sie hatte die Aufgabe mit Frau Gropius’ Hilfe gelöst und endlich einmal wenigstens ansatzweise begriffen, um was es dabei ging.

»Allein hätte ich das aber nie geschafft«, schränkte Tanita stirnrunzelnd ein, »und würde es auch kein zweites Mal.«

»Das ist mir klar«, sagte Frau Gropius gutmütig, »deshalb sitzen wir ja hier. Aber beim dritten, vierten oder zehnten Mal wird es bestimmt klappen. Dessen bin ich mir sicher.«

»Ich nicht«, sagte Tanita unglücklich.

Frau Gropius legte einen Arm um ihre Schultern. »Ich schon«, sagte sie zuversichtlich. »Glauben Sie mir. Glauben Sie einfach an sich selbst.«

Tanita versuchte das Zittern zu unterdrücken, das von ihr Besitz ergriff. Frau Gropius’ Berührung gab ihr den letzten Rest. Sie hatte nun eine geschlagene Stunde neben ihr gesessen, und das war schwierig genug gewesen, obwohl die mühsame Aufgabe sie abgelenkt hatte, doch nun, diese direkte Berührung –

Frau Gropius schien ihren Zustand zu bemerken und stand auf.

»Ich . . . ich kann nicht«, sagte Tanita leise.

»Wir sehen uns morgen«, entgegnete Frau Gropius plötzlich kurzangebunden und ging zu ihrem Pult. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir schaffen das schon.« Sie nahm ihre Tasche und war gleich darauf verschwunden.

Tanita blickte auf den leeren Türrahmen, in dem sie immer noch die roten Haare wehen sah wie ein nur langsam verblassendes Bild auf einem Monitor. Sie atmete tief durch. Die erste Stunde war überstanden, und sie hatte die Hausaufgaben für die nächste Mathestunde erledigt.

Wie sie allerdings die nächste Nachhilfestunde überstehen sollte, war ihr ein Rätsel.

Glücklicherweise schien auch Frau Gropius in den nächsten Stunden auf mehr Distanz zu achten. Sie kam Tanita nie mehr so nahe wie beim ersten Mal. Langsam verbesserten sich Tanitas Mathematikkenntnisse, auch wenn Frau Gropius einsehen musste, dass Mathe nie Tanitas Lieblingsfach werden würde. Eines Tages, ein halbes Jahr später, kündigte Frau Gropius an, dass die Nachhilfestunden nun wohl nicht mehr nötig seien.

»Sie haben eine stabile Drei erreicht, mehr zu erwarten wäre wohl vermessen«, lachte sie.

»Vor einiger Zeit wäre auch eine Drei zu erwarten vermessen gewesen«, erwiderte Tanita lächelnd. Dann erstarb ihr Lächeln. »Allein werde ich das nicht halten können«, sagte sie traurig.

»Bei Herrn Murnau?« Frau Gropius lachte wieder.

Schon seit einiger Zeit hatte Herr Murnau den Unterricht wieder aufgenommen, aber die Nachhilfestunden bei Frau Gropius waren davon unberührt geblieben.

Auf einmal wurde Tanita bewusst, dass damit der Kontakt zu Frau Gropius endgültig abbrach. Es würde wieder so sein wie vorher, einsame Nachmittage und ab und zu ein erhaschter Blick auf dem Flur.

Sie wurde noch trauriger.

~*~*~*~

Es verging ein weiteres halbes Jahr, und tatsächlich schloss Tanita ihr Abitur mit einer Drei in Mathe ab, was sie nie für möglich gehalten hatte. Der letzte Tag auf der Schule, die Ausgabe der Abiturzeugnisse, bedeutete Tanita kaum mehr etwas, da sie ihre Noten ja alle schon kannten. Das einzige, was sie noch interessierte, war Frau Gropius. Von ihr wollte sie sich verabschieden, doch sie war nirgends zu finden. Im Sekretariat erfuhr sie, dass Frau Gropius auf einem Lehrgang und deshalb diese Woche nicht im Hause war. Sie war enttäuscht. Nicht einmal mehr sehen konnte sie sie. Wenn sie die Schule endgültig verlassen hatte, gab es keine weitere Chance mehr dazu.

Tanita trampte nach dem Abitur drei Monate durch Südamerika und kam braungebrannt zurück. Sie hatte noch einen Monat, bevor das Studium begann. In der Zeit wollte sie sich eine eigene Wohnung suchen. Mit der Zeitung bewaffnet saß sie in einem Café und studierte die Anzeigen.

»Tanita?«

Sie blickte auf und sah in Frau Gropius’ erstauntes Gesicht.

Tanita lächelte überrascht. Ihr Herz schlug plötzlich eine Etage höher. »Frau Gropius«, sagte sie. »Guten Tag.« Bumm, bumm, bumm. Nur mit Mühe konnte sie eine distanzierte Miene bewahren.

»Wie schade, dass wir uns nicht mehr gesehen haben«, sagte Frau Gropius. Sie schien ganz entspannt. »Aber bei den Lehrerkonferenzen habe ich erfahren, dass sie die Drei bis zum Abitur gehalten haben. Glückwunsch.« Sie musterte Tanita kurz. »Sie sehen gut aus. So braungebrannt.« Sie lächelte.

»Ich war drei Monate in Südamerika, zwischen Abi und Studium«, erklärte Tanita. Sie wies auf die Zeitung vor sich. »Und jetzt suche ich eine Wohnung.«

Frau Gropius’ Lächeln wurde breiter. »Vermute ich richtig, dass Sie nicht Mathematik studieren werden?«

Tanita musste lachen. »Ja, da vermuten Sie richtig. Ich werde Germanistik studieren.«

»Ich gebe zu, dass das auch besser zu Ihnen passt«, sagte Frau Gropius. »Leider ist es mir selten gelungen, in Mädchen die Begeisterung für Mathematik zu wecken, wie ich sie empfinde.« Sie wies mit einer Hand auf den Stuhl neben Tanita. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Natürlich.« Tanita rückte ein wenig zur Seite und faltete ihre Zeitung zusammen. Kurz erinnerte sie sich an die Situation in den Nachhilfestunden, wenn Frau Gropius neben ihr gesessen hatte. Nun war es wieder so, und Tanitas Gefühle waren dieselben. Sie wollte am liebsten weglaufen, weil sie Frau Gropius’ Nähe kaum ertrug. Warum tust du mir das an? dachte sie. Warum kommst du mir so nahe? Merkst du denn nicht, was mit mir los ist? In Gedanken siezte sie Frau Gropius natürlich nicht. »In Jungs haben Sie die Begeisterung für Mathematik wecken können?« nahm sie das Thema, das Frau Gropius angeschnitten hatte, wieder auf.

»Manchmal«, sagte Frau Gropius. Sie winkte und bestellte bei der Bedienung einen Cappuccino.

»Ist Ihr Mann auch Mathematiker?« Nie hatte Tanita sich getraut, diese Frage zu stellen, doch jetzt drängte es sie –, aber die Antwort lag wohl auf der Hand.

»Nein, ich bin nicht verheiratet«, erwiderte Frau Gropius mit einem merkwürdigen Blick.

»Verzeihung«, sagte Tanita. »Ich wollte nicht indiskret sein. Ich dachte, Sie wären es. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Lebensgefährte so gar nichts mit Mathematik zu tun haben sollte.«

»Ich habe auch keinen . . . Lebensgefährten«, entgegnete Frau Gropius. Ihre Mundwinkel zuckten verdächtig. »Warum fragst du nicht direkt?« sagte sie plötzlich.

»Ich . . . was . . .?« Tanita war verwirrt. Der so unvermittelte Wechsel ins Du brachte sie aus der Fassung. »Was meinen Sie mit ›direkt‹?«

»Ich glaube, du weißt ganz genau, was ich meine.« Frau Gropius Stimme klang leise, und sie beugte sich zu Tanita vor. In diesem Augenblick kam der Cappuccino. Damit die Bedienung ihn vor sie hinstellen konnte, musste Frau Gropius sich zurücklehnen.

»Ich . . . Sie –« Tanita stotterte herum und kam sich wieder vor wie ein kleines Schulmädchen. Ein sehr kleines.

»Ich habe dich vermisst, nachdem unsere Nachhilfestunden vorbei waren«, sagte Frau Gropius.

»Oh, ich . . . ich habe Sie auch . . . vermisst«, entgegnete Tanita nervös. Was sollte das alles? Wieso duzte Frau Gropius sie plötzlich, und warum stellte sie solch merkwürdige Fragen? »Ich muss gleich zu einer Wohnungsbesichtigung«, fuhr sie noch nervöser fort.

Frau Gropius nippte an ihrem Cappuccino und stellte ihn wieder hin. »Hm-hm«, machte sie vieldeutig. »Habe ich mich getäuscht?«

Tanita wusste nicht mehr, wo sie hinschauen sollte. Frau Gropius’ Augen bohrten sich in ihre und ließen sie nicht mehr los. »Getäuscht?« Sie versuchte ihrer Stimme einen harmlosen Klang zu geben.

Frau Gropius musterte sie erneut, diesmal länger. »Vielleicht habe ich das wirklich«, sagte sie dann ruhig. Sie stand auf. »Bezahlen Sie für mich mit?« Sie legte einen Schein auf den Tisch.

Auf einmal wieder ›Sie‹? Was war denn los? Tanita wunderte sich. Getäuscht? Was meinte sie mit ›getäuscht‹? Hatte sie erwartet, dass Tanita Mathematik studieren würde? Nein, das konnte sie nicht erwartet haben, das war zu abwegig.

Frau Gropius war schon ein paar Schritte gegangen, bevor Tanita aufsprang. »Frau Gropius!«

Frau Gropius drehte sich um. Sie blickte fragend in Tanitas Richtung. Tanita legte schnell einen zweiten Schein auf den Tisch für ihre eigene Rechnung – die Bedienung würde sich über das unangemessen hohe Trinkgeld freuen – und lief Frau Gropius hinterher.

»Es tut mir leid, wenn ich da etwas nicht verstanden habe – oder falsch. Das ist sowieso meine Spezialität«, sagte Tanita entschuldigend lächelnd. »Das wissen Sie ja.«

»Nein, ich glaube, ich habe da etwas falsch verstanden«, sagte Frau Gropius. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«

Tanita lachte. »Sicherlich nicht! Das kann ich mir nicht vorstellen! Erklären Sie mir doch einfach, worum es geht, dann ist das Missverständnis bestimmt schnell aus der Welt geschafft. Sie können so wahnsinnig gut erklären. Selbst mir haben Sie etwas über Mathematik beigebracht, und das will was heißen!«

»Es geht nicht um Mathematik«, sagte Frau Gropius zurückhaltend. Dann lächelte sie bezaubernd. »Vielleicht trinken wir ja wieder einmal einen Kaffee zusammen, wenn wir uns zufällig treffen. Würde mich freuen.« Sie wollte gehen.

Von Frau Gropius’ hinreißendem Lächeln für einen Moment wie erschlagen, stand Tanita da und sah ihren Rücken entschwinden. Erneut musste sie ihr hinterherlaufen. »Frau Gropius, bitte . . .« In ihrem Gehirn überschlugen sich die Möglichkeiten. Wie konnte sie Frau Gropius aufhalten? »Gehen Sie doch mit mir zu der Wohnungsbesichtigung. Hätten Sie nicht Lust? Ich bin so unerfahren in diesen Dingen. Sie können das sicherlich besser beurteilen, ob eine Wohnung geeignet ist oder nicht.« Tanitas Stimme klang beinahe flehend, obwohl sie das gar nicht beabsichtigt hatte.

Frau Gropius schaute auf ihre Armbanduhr. »Ich habe eigentlich –« Dann ließ sie den Arm wieder sinken. »Ach, warum nicht? So wichtig ist die andere Sache nicht.« Ihr Lächeln kehrte zurück.

»Prima. Es ist nur ein paar Straßen von hier. Wir können zu Fuß hingehen.« Tanita war erleichtert. Eine kleine Galgenfrist. Noch ein paar Minuten mit Frau Gropius, eine Viertel- oder halbe Stunde vielleicht, aber alles war besser, als sie jetzt gleich wieder zu verlieren. Tanita spürte, dass ihr Herz ihr nun ständig bis zum Hals klopfte; es beruhigte sich gar nicht mehr. Sie war einfach nur glücklich, dass sie Frau Gropius getroffen hatte, solch ein unverhofftes Wiedersehen.

Sie besichtigten die Wohnung gemeinsam mit mehreren anderen Interessenten, und Frau Gropius sprach sich dafür aus.

Tanita seufzte. »Leider ist sie viel zu teuer für mich. Wir können gleich wieder gehen.«

»Ach, warum denn?« Frau Gropius hakte sich bei ihr ein, als wären sie Schwestern oder Freundinnen. »Wir können doch wenigstens so tun, als ob. Das macht Spaß.« Ein schelmisches Grinsen überzog ihr Gesicht, fast wie bei einem Kobold.

Tanita sah sie erstaunt an. So hatte sie sie noch nie erlebt, so verspielt. Im Unterricht war sie wenn auch freundlich, so doch immer ernsthaft gewesen – wie es sich für eine Lehrerin gehört.

»So tun, als ob ich genügend Geld hätte, diese Wohnung zu mieten?« flüsterte Tanita entgeistert. Für einen Augenblick vergaß sie, dass der enge Körperkontakt sie eigentlich einer Ohnmacht nahebringen sollte.

»Ja, warum nicht?« Frau Gropius’ schelmisches Grinsen verschwand und machte einem ernsthaften Ausdruck Platz, als der Makler zu ihnen trat.

»Meine Damen«, sagte er etwas schleimig, »Sie interessieren sich für das Objekt?«

Frau Gropius verwandelte sich in eine Diva. Ihre flammendroten Haare mit dem Löwenmähnenschnitt erweckten diesen Eindruck ohnehin schon, aber nun unterstützte sie das noch durch eine gezierte Sprechweise und manierierte Mimik. »Unter Umständen«, sagte sie.

Offenbar war der Makler beeindruckt. Als die anderen Interessenten einer nach dem anderen gingen – es schien, auch ihnen war die Wohnung zu teuer –, versuchte er immer wieder, seine beiden Favoritinnen zu überzeugen.

»Ich muss länger in einer Wohnung sein, die Atmosphäre atmen, Sie verstehen?« sagte Frau Gropius. Sie klang wie ein Star, der sich herablässt, mit dem einfachen Volk zu verkehren.

»Bleiben Sie doch noch eine Weile hier«, bot der Makler beflissen an. In dieser Preisklasse war das wohl üblich. »Ziehen Sie einfach die Tür hinter sich zu, wenn Sie gehen.« Er machte sich davon und überließ die beiden Frauen sich selbst.

»Die Atmosphäre atmen?« Tanita prustete los.

»Na ja, ich habe während meines Studiums mal in einer Theatergruppe mitgespielt«, erklärte Frau Gropius ebenfalls lachend.

»Ich werde das in Erwägung ziehen, wenn ich demnächst studiere«, sagte Tanita grinsend. »Das ist ein Gewinn fürs Leben.«

»Durchaus.« Frau Gropius wurde schlagartig still.

Auch Tanita merkte, dass ihnen plötzlich der Gesprächsstoff ausgegangen war. Es war vielleicht keine so gute Idee gewesen, allein hierzubleiben. Sie schlug resignierend die Hände zusammen. »Nun ja, es war ein schöner Traum, eine solche Wohnung zu besitzen, aber nichts anderes als das: ein Traum. Wachen wir auf.« Sie ging zur Tür.

In ihrem Rücken spürte sie weiterhin Frau Gropius’ Gegenwart, und sie wollte ihr möglichst bald entkommen. Hier mit ihr allein zu sein – das war noch anders als in der Schule. Hier waren sie wirklich allein, und in ihrem Kopf entwickelten sich die wildesten Phantasien. Einige, die sie sich bereits mehrmals allein zu Hause in ihrem Bett vorgestellt hatte, und auch einige neue.

Obwohl sie sie nicht sah, erschien plötzlich Frau Gropius’ Bild vor ihrem inneren Auge; aber nicht so, wie sie hinter ihr stand, sondern ganz, ganz anders. Sie war nackt, und zwischen ihren Beinen glitzerte es rötlich. Tanita hatte das mal in einem Film gesehen und dieses Bild auf Frau Gropius übertragen. Jetzt schämte sie sich dafür, denn es war das erste Mal, dass es in Frau Gropius’ Gegenwart in ihrem Kopf auftauchte. Bisher war sie noch nie so weit gegangen.