Tod am Niederrhein - Michaela Stadelmann - E-Book

Tod am Niederrhein E-Book

Michaela Stadelmann

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Die, die dich am besten kennen, können dir auch am meisten Schaden zufügen Dagmar Ritter wird tot an den niederrheinischen Flussauen gefunden. Die Kommissare Steinhauer und Claaßen nehmen sofort die Ermittlungen auf. Die Freunde von Dagmar Ritter haben scheinbar alle irgendetwas zu verbergen und mit der Freundschaft scheint es allgemein nicht weit her zu sein. Spielschulden, Eifersucht und Rache bieten sich als Motive an. Zudem hatten einige der Verdächtigen in der Vergangenheit psychische Probleme. Und dann gibt es eine weitere Tote, die auf ebenso ungewöhnliche Weise zu Tode kam wie ihre Freundin Dagmar. Waren beides Unfälle, oder geht ein Mörder am Niederrhein um?

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Die AutorinMichaela Stadelmann wuchs in Wesel am Niederrhein auf und schreibt seit 2007 Romane in unterschiedlichen Genres, u.a. als Mikaela Sandberg. Seit 2016 ist die Autorin mit transsilvanischen Wurzeln und Zertifikat als geprüfte psychologische Beraterin zudem als freie Lektorin tätig. Mit ihrer Familie lebt sie in Mittelfranken.

Das Buch

Die, die dich am besten kennen, können dir auch am meisten Schaden zufügen

Dagmar Ritter wird tot an den niederrheinischen Flussauen gefunden. Die Kommissare Steinhauer und Claaßen nehmen sofort die Ermittlungen auf. Die Freunde von Dagmar Ritter haben scheinbar alle irgendetwas zu verbergen und mit der Freundschaft scheint es allgemein nicht weit her zu sein. Spielschulden, Eifersucht und Rache bieten sich als Motive an. Zudem hatten einige der Verdächtigen in der Vergangenheit psychische Probleme. Und dann gibt es eine weitere Tote, die auf ebenso ungewöhnliche Weise zu Tode kam wie ihre Freundin Dagmar. Waren beides Unfälle, oder geht ein Mörder am Niederrhein um?

Michaela Stadelmann

Tod am Niederrhein

Kriminalroman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Januar 2018 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95819-141-9  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

I

Und rum. Und rum. Und rum. Heike tritt kräftig in die Pedale. Ihr Gesicht brennt vor Kälte. Wegen einer rosa Latzhose ist sie spät dran.

„Mama! Ich komm nicht mit!“, ruft Sarah-Felizitas von hinten.

„Wir haben keine Zeit mehr!“, schreit Heike gegen den Wind, und weil sie genug Wut im Bauch hat, dreht sie sich um und brüllt noch lauter: „Wir haben keine Zeit, weil du wieder Theater gemacht hast!“ Das Fahrrad schlingert gefährlich.

Heike weiß, dass Sarah-Felizitas das Gesicht verziehen und losheulen wird. Heike weiß auch, dass jeder Versuch, ihre siebenjährige Tochter zu trösten vergebens ist, weil sie gerade ihren morgendlichen Dickkopf hat. Deshalb schaut Heike sie nicht an, sondern schreit, was ihre Lungen hergeben.

Und rum gehen die Pedalen.

„Aaah!“, schreit Sarah-Felizitas. Es scheppert und kracht.

Automatisch drückt Heike die Pedalen gegen die Kurbelrichtung und zieht beide Handbremsen an. Der Hinterreifen verlässt kurz den Asphalt. Und wieder ist es die Wut, die einen Sturz verhindert: Mit einem nicht uneleganten Hüpfer landet sie neben ihrem Fahrrad und läuft ein paar Schritte aus. Die Brillengläser beschlagen. Umständlich wischt sie den Kondenswasserfilm ab und dreht sich endlich zu ihrer Tochter um. Sarah-Felizitas liegt mitten auf dem asphaltierten Fahrradweg des Auedamms, daneben ihr Puki-Kinderrad in einer seltsamen Verrenkung, als hätte es sich ebenfalls trotzig auf den Boden geworfen. Müde dreht sich das vordere der beiden Räder und bleibt schließlich stehen.

Erschrocken starrt Sarah-Felizitas ihre Mutter an. Ihre hellblonden geflochtenen Zöpfe stehen wie Stöckchen unter dem Helm hervor.

„Keinen Mucks!“, droht Heike, reißt ihr Hollandrad herum und rennt zurück. „Muss das ausgerechnet jetzt sein?“

Natürlich entdeckt Sarah-Felizitas beim Aufstehen als Erstes das Loch in der Hose. Und natürlich fängt es ausgerechnet jetzt an zu nieseln, sodass die angekündigten 8° C Durchschnittstemperatur geradezu arktisch wirken.

„Wollte ich nicht“, stammelt das Mädchen, „wirklich!“ Glücklicherweise ist sie zu erschrocken, um in Tränen auszubrechen.

Heike seufzt und zieht Sarah-Felizitas an sich. „Schon gut.“ Im Nu lässt der kleine Körper Heikes Wut verrauchen. „Deine Fahrradkette ist abgesprungen.“

„Ist das schlimm?“

Unwillkürlich muss Heike lächeln. „Nein. Ich muss nur die Kette wieder auf den Zahnkranz fummeln. Dauert ‘nen Moment.“ Sie lässt Sarah-Felizitas los und stellt das Kinderrad auf Sattel und Lenker. Sarah-Felizitas schluchzt noch einmal trocken und wendet sich ab, geht ein paar Schritte.

„Denk an den Stacheldraht“, mahnt Heike, ohne hinzusehen. Die gesamte Dammkrone ist mit diesen blöden Zäunen gesichert, um die Kühe, die hier weiden, vom Radweg fernzuhalten. Noch einmal durchzuckt der Schreck Heike, als ihr Gehirn ihr plötzlich die leblosen Augen ihrer Tochter vorgaukelt, nachdem sie vom Fahrrad direkt in den Stacheldraht gestürzt ist …

Sarah-Felizitas richtet sich auf und erstarrt. „Mama …“

„Moment!“ Heike schiebt das letzte Kettenglied über den Zahnkranz und dreht probehalber die Pedalen. Die Kette klappert, schleift und hält. Heike seufzt erleichtert. Noch können sie pünktlich am Rheinbad sein.

„Mama!“

„Sarah-Felizitas, ich mach hier gerade deine Kette!“

„Da liegt jemand!“

Ein paar größere Nieseltropfen treffen Heikes Brille, ihre Sicht reicht plötzlich nur noch bis zu ihrer Tochter, dem rosa Fleck in einer grünbraunen, tristen Landschaft. Spielchen, denkt Heike resigniert, immer wieder Spielchen. Und außer mir ist niemand da, der sie mitspielt. „Quatsch, da ist niemand.“

„Aber doch! Da unten!“ Energisch deutet Sarah-Felizitas die Böschung hinunter. Heikes schlechtes Gewissen nutzt die Gelegenheit und schlägt erbarmungslos zu. Sie hat sowieso schon so wenig Zeit für ihr Goldstückchen, und dass der Chef ihr ausgerechnet in den Osterferien keinen Urlaub gibt, ist auch nicht Sarah-Felizitas’ Schuld. Außerdem: Die Kleine wird sich später sicher nicht bei ihr dafür bedanken, dass sie immer pünktlich waren. Was sind also zehn Sekunden, bevor es weitergeht?

Ergeben nimmt Heike die verschmierten Hände von den Pedalen des Kinderrades, stellt sich neben ihre Tochter und schaut auf die Rheinwiese hinunter. Eine Weile überdeckt das beständige Rauschen des Rheins alle anderen Geräusche, sogar das Trommeln des stärker werdenden Regens. Heikes Müdigkeit scheint schwerer zu werden.

„Siehste?“ Sarah-Felizitas klingt alles andere als glücklich. „Da liegt nämlich wohl jemand.“

***

Im Umkreis von zwanzig Metern ist alles abgesperrt. Unten auf der Wiese haben die Typen von der KTU ein Schutzzelt über der weiblichen Leiche aufgestellt, damit der Nieselregen die Spuren nicht gleich wieder vernichtet. „Genickbruch nach Sprung über den geschlossenen, einen Meter fünfzig hohen Stacheldrahtzaun mit anschließendem Sturz über vier bis fünf Meter auf die Rheinwiese“, sagt der KTUler im weißen Overall. Einfache Sätze sind definitiv nicht sein Fall.

Vorsichtig tritt Kommissar Claaßen an den Zaun und schaut hinunter. „Fällt Ihnen was auf, Steinhauer?“

„Ungewöhnlich“, sagt Polizeimeisterin Victoria Steinhauer, genannt Vicky, und unterdrückt ein Zittern. Sie liebt den Niederrhein. Aber Nieselregen kann sie trotz ihrer wetterfesten Jacke auf den Tod nicht ausstehen, schon gar nicht Ende März, wenn noch halber Winter herrscht.

„Finde ich auch“, stimmt Claaßen zu. Seine Haare hängen feucht und schwer in die Stirn. Ihm würde nie in den Sinn kommen, eine Kapuze zu tragen.

Vicky zieht die Dienstmütze tiefer ins Gesicht. „Chef, die Frau Jürgens muss dann mal langsam zur Arbeit.“

„Solang ich die Ermittlungen führe, geht niemand ohne meine Erlaubnis“, antwortet Claaßen schroff. „Wir haben hier eine Leiche. Da kann sich der Arbeitsanfang der einzigen erwachsenen Zeugin schon mal verschieben.“

Vicky findet die Tote am Fuß des Dammes auch interessanter, aber auch Zeugen müssen von etwas leben, und dazu müssen sie nun mal Geld verdienen. „Frau Jürgens arbeitet im Schichtdienst. Ihr Boss hat schon zweimal angerufen.“

„Hat sie ihre Aussage gemacht?“, fragt Claaßen.

„Jo.“

„Steinhauer, das heißt: Ja, Chef.“

„Ja, Chef. Hat sie. Und morgen kommt sie zum Unterschreiben des Protokolls vorbei.“

„Sie sagen das so nett, als hätten Sie die Frau Jürgens zum Kaffeetrinken eingeladen“, witzelt Claaßen. Auch heute mimt er den knallharten Ermittler in Schimanski-Jacke ohne Kapuze, aber ohne Blutflecken am Kragen und ohne Waschbrettbauch. Vicky kennt die Schimanski-Tatorte nur aus dem Internet und findet sie ziemlich daneben, und ausgerechnet Kommissar Claaßen schafft es mit seiner Aufmachung, noch einen draufzusetzen.

„Wenn sie zum Protokoll einen Kaffee will, kriegt sie auch einen“, sagt Vicky ruhig und denkt: Eine Bocholterin lässt sich doch von einem Weselaner nicht aus der Fassung bringen.

Claaßen mustert sie interessiert. „Wo arbeitet die Frau Jürgens denn?“

„Bei einer Fastfood-Kette.“

„Ach Gottchen. Eine Fastfood-Kette. Sagen Sie doch Mecces wie jeder normale Mensch, Steinhauer. Oder beim King.“ Gereizt wedelt Claaßen sowohl Vicky als auch Heike Jürgens und ihre inzwischen bibbernde Tochter Sarah-Felizitas weg und wendet sich wieder den Ereignissen am Fuß des Dammes zu.

„Und was passiert jetzt?“, fragt Sarah-Felizitas. Ihre Kleidung trieft, der beständige Nieselregen hat sie durchgeweicht.

„Jetzt versuchen wir herauszufinden, was passiert ist.“ Vickys Lächeln gerät ein wenig schief, weil sie heute Morgen nicht an den eisigen Frühlingswind gedacht hat, dem auch ihre Polizeikleidung manchmal nichts entgegenzusetzen hat. Mit ihrer Angoraunterwäsche, die noch im Schrank liegt, stellt sie es sich deutlich gemütlicher vor.

„Aber es war doch Mord, oder?“

„Es kann auch ein Unfall gewesen sein“, meint Vicky milde. „Aber weißt du was? Deine Mami kauft morgen eine Zeitung, und dann kann sie dir vielleicht schon vorlesen, dass Kommissar Claaßen den Fall gelöst hat.“

„Ich bin in der zweiten Klasse und da kann man schon lesen. Das weiß man doch!“, mault Sarah-Felizitas und stapft beleidigt davon.

„Feli!“ Grußlos eilt Heike hinter ihrer Tochter her. Trotz ihrer Bemühungen leise zu sprechen, hört Vicky Frau Jürgens schimpfen, dass man als Zweitklässlerin eine Polizistin auch dann nicht beleidigen darf, wenn sie nicht weiß, dass sie schon lesen kann.

Sie wirft einen kritischen Blick zum Himmel und dann hinüber zum Einsatzfahrzeug, mit dem sie hergekommen ist. Claaßen fläzt sich bereits auf dem Beifahrersitz und telefoniert wichtig. Vicky weiß, dass sie gar nicht zu fragen braucht, ob er ihr den Wagen überlässt. Bei dem Wetter wird ihr Chef sich weder freiwillig vom Tatort entfernen noch aussteigen, damit Vicky zügig zu den umliegenden Anwohnern kommt, um sie zu befragen. Einmal mehr wünscht sie sich, dass ihre Versetzung nach Bocholt endlich bewilligt wird, damit sie von der Primadonna Claaßen wegkommt.

Vicky gibt den Kollegen Bescheid und läuft los, den Damm hinunter bis zum Bauernhaus am Rheinwardt, den Kopf wegen des Nieselregens tief zwischen die Schultern gezogen. Der Wind bläst die Tropfen zwischen Kragen und Mütze. Immer wieder schaut sie nach links zum Auesee hinüber, von dem ihr Kumpel Fred immer schwärmt. Im Sommer ist es hier ganz angenehm, vorausgesetzt, die Sonne scheint.

Wie erwartet kann ihr die alte Dame, die sie im Bauernhaus antrifft, nicht weiterhelfen. Sie bietet Vicky aber erst einen Schnaps und dann ein Fahrrad aus dem Schuppen an, weil sie vom Fenster aus gesehen hat, dass Vicky zu Fuß unterwegs ist.

„Schusters Rappen sind einer Polizistin doch nicht würdig, Frau Wachtmeister“, sagt sie tadelnd.

Vicky verzichtet darauf, ihr die richtige Dienstbezeichnung zu nennen und strampelt kurz darauf über einen Feldweg quer durch die Wiese auf die Rhein-Halbinsel. Das Fahrrad hat mindestens einen Weltkrieg überstanden und kündigt Vicky entsprechend laut an, als sie fünf Minuten später vom Hauptweg zwischen die Wohnwagenreihen abbiegt. Hier campen seit 1968 die Unverwüstlichen, die Naturburschen, die unverdrossenen Gemeinschaftsbeschwörer mit ihren gehäkelten Klorollenhauben und Gaskochern, aus denen nach und nach riesige Luxusgrills für ganze Rinder geworden sind.

Und in einem Punkt sind sie alle gleich, denkt Vicky, steigt ab und schiebt weiter. Alle haben Zeit im Überfluss.

„Frühlingscampen ist nur was für die ganz Harten“, hat ihr Kumpel Fred letzten Sonntag beim Frühschoppen gesagt, wie er es jedes Jahr am Palmsonntag macht, und Vicky auch dieses Mal am Ostersonntag in seinen Campingbus eingeladen. Entsprechend verdutzt schaut er, als sie die Tür aufmacht.

„Was machst du denn hier? Ist doch erst Gründonnerstag.“ Freds Fahne ist nicht mehr ganz frisch, wahrscheinlich vom vergangenen Abend, und er könnte auch einen Köpper in den Auesee vertragen, zumindest aber eine Dusche.

„Tach auch“, schnarrt Vicky und schiebt sich an Fred vorbei in den Campingbus der Luxusklasse. O-Ton Fred: Man gönnt sich ja sonst nichts.

„Ich bin dienstlich hier.“

„Wegen der Toten?“, fragt Fred prompt und grinst. „Hat sich schon rumgesprochen. Soll’n ziemliches Schnittchen sein.“

Vicky seufzt genervt. „In erster Linie ist sie ziemlich tot und ich bin hier, um ihre Identität zu klären.“ Sie hält Fred ihr Handy mit der Aufnahme der Leiche hin. „Schon mal gesehen?“

Fred schweigt und schaut. Dann schluckt er. Vicky kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, obwohl sie Mitleid mit ihrem besten Kumpel hat. Tote jagen auch Vicky noch regelmäßig einen Schreck ein. Die älteren Kollegen behaupten, dass sich das bei manchen nie ändert.

„Ne, die kenn ich leider nicht. Kommt mir aber bekannt vor.“ Umständlich wuschelt Fred seine Haare zurecht. „Hast du schon gefrühstückt?“

„Jo.“

„Schade. Darf ich?“

Vicky nickt ergeben. „Wer könnte sie denn kennen?“

„Die Dauercamper sicher.“ Freds Oberkörper ist in dem riesigen Kühlschrank verschwunden, seine Stimme klingt undeutlich. „Frag doch mal nebenan.“

Vickys Mitleid wächst. Wenn Fred etwas unangenehm ist, versteckt er sich hinter allem, was sich anbietet, und wenn es eine Kühlschranktür ist. Trotzdem muss Vicky irgendwie weiterkommen. „Ich dachte, wir können das Gelände gemeinsam abklappern. So wie früher auf Streife.“

Ächzend taucht Fred wieder aus dem Kühlschrank auf. „Ne, du. Die Zeiten sind vorbei. Streife ist nix für Camper wie mich. Und schon gar nicht bei dem Wetter.“ Er deutet aus dem Fenster. Der Nieselregen ist profundem ungemütlichen Frühlingsregen gewichen.

„Ja, ja, schon gut.“ Ein Moment verstreicht, zum Bersten angefüllt mit Verlegenheit und Wehmut. „Dann geh ich mal wieder“, meint Vicky schließlich. „Und falls du was hörst, dann melde dich. Meine Nummer hast du ja.“

Stocksteif steht Fred plötzlich da. „Ich bin am 5. März wieder in Bocholt. Dann können wir auf ein Bierchen gehen.“

Bierchen, denkt Vicky, ist besser als gar keine freundschaftliche Aufmerksamkeit.

In diesem Augenblick wird die Tür des Campingbusses von außen aufgerissen. Unwillkürlich weicht Vicky zurück, als hätte ihr jemand einen Schlag versetzt.

„Die Dagmar ist tot!“ Johanna Kleinherbers stolpert herein. Regenwasser fließt aus ihren Sachen und tropft den dunklen Teppich voll. „Liegt tot am Damm! Die schöne Dagmar. So jung und schon …“

Vicky kennt die alte Johanna von Freds regelmäßigen Urlauben auf der Grav-Insel. „Woher weißt du das und wieso kennst du ihren Namen?“

„Der Terhövel hat das im Café am Sackert erzählt, gleich vorn an der Bislicher Straße. Keine Ahnung, wo der das her hat. Wenn das der Christoph erfährt …“ Johannas Augen werden immer größer. „Gestern war sie noch putzmunter mit ihm in der Disco, und heute ist komplett vorbei. Mensch! Was ein Unglück.“ Erschöpft sinkt sie auf die Bank an dem kleinen Klapptisch. Sie passt gerade so drauf. „Gut, dass ich dich hier hab reingehen sehen, Vicky Steinhauer. Ich hätte keine Sekunde länger mit dem Wissen ausgehalten, sonst-“

„Du meinst diese Frau?“ Sicherheitshalber zeigt Vicky ihr die Fotografie der Leiche, bevor Johanna weiter ausholen kann. Terhövel kann im Café nur mit Claaßen gesprochen haben, überlegt Vicky angesäuert, der die Gelegenheit todsicher für einen Kaffee genutzt hat. Ich kenne doch meinen Chef!

Johanna nickt und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ja. Das ist die Dagmar.“

„Was weißt du denn noch?“, fragt Vicky.

„Sie ist hier auf Urlaub in der Waldschenke in Flüren abgestiegen“, meint Johanna. „Hast du mal 'nen Kaffee, Fred? Oder ein Glas Wasser? Mir ist so was von übel.“

Endlich kommt wieder Leben in Fred. Während er Kaffee aufsetzt, erzählt Johanna von Dagmar Ritter, die lange in Flüren gewohnt hat und dann nach Duisburg-Meiderich umgezogen ist. „Dort hat sie übern paar Ecken den Christoph Breitscheid kennengelernt. Kennste den?“

Vicky schüttelt den Kopf.

„Na ja, ist ja auch egal, den wirste jetzt ja wohl kennenlernen. Der hat die total lieb gehabt und wollte die immer heiraten, aber leider …“ Bedauernd hebt Johanna die Schultern.

Ihre niederrheinischen Kunstpausen machen Vicky nervös. Sie zeigt aus dem Fenster. „Du, wir haben nicht viel Zeit. Wenn der Regen stärker wird, sind bald alle Tatortspuren weg.“ Gleich darauf würde sie sich am liebsten die Zunge abbeißen.

„Tatort? Wurde die Dagmar etwa ermordet?!“, ruft Johanna entsetzt. „Hier bei uns? Das geht doch nicht! Wer macht denn so was?“

„Die Vicky hat sich versprochen“, fällt Fred ihr ins Wort. „Tatort, das sagen Polizisten immer, dass weiß ich noch aus der Ausbildung. Noch ist überhaupt nicht klar, was los ist, oder?“ Auffordernd nickt er Vicky zu und wiederholt: „Oder?“

„Genau.“ Die Hitze rauscht über Vickys Gesicht. „Alles kann erst mal ein Tatort sein, ohne dass tatsächlich was passiert ist.“ Ein kurzer dankbarer Blick fliegt zu Fred hinüber. „Johanna, weißt du, ob Dagmar Ritter Verwandtschaft in der Nähe hat? Und wo finde ich diesen Christoph Breitscheid?“

„Die Dagmar hat nur noch einen Onkel in Frankfurt. Da wohnt die jetzt auch. Beziehungsweise hat gewohnt.“ Johanna wirkt auf einmal sehr müde. „Ich habe ihre Eltern ja noch gekannt. Das waren richtig feine Leute, die aber ihre Wurzeln nie vergessen haben! Die Hilde hat immer davon gesprochen, dass sie mit dem Wolfgang als Dauercamper auf die Insel zieht, wenn er in Rente ist.“ Seufzen. „Aber dann meinte Wolfgang, er würde gern mal in der Eifel Camping-Urlaub machen. Könnt ihr euch das vorstellen? Woanders als auf der Grav-Insel kann man doch gar keinen richtigen Urlaub machen.“ Sie schnieft verärgert. „Und dann gab's eine Spiritusexplosion am Kronenburger See. Tja, das ist Schicksal. Wären sie mal hergekommen wie jedes Jahr.“

Vicky sieht Fred an, dass er das genau wie sie für Humbug hält. „Ja, dann. Und Christoph Breitscheid? Was ist mit dem?“

„Der ist gerade hier, die treue Seele.“ Ein wohlwollendes Lächeln zieht über Johannas Gesicht. Sie nennt ihr eine Parzelle. Vicky bittet sie, ihre Aussage am nächsten Tag bei der Kreispolizei zu Protokoll zu geben, dann muss sie zurück in den Nieselregen.

Der Wunsch nach einem Kollegen wie Fred an ihrer Seite, der die nächste halbe Stunde mit ihr gemeinsam durchsteht, wird immer stärker. Nur wird dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen, denn Freds Entscheidung ist endgültig. Probehalber ruft Vicky ihren Chef Claaßen an. Immerhin hat er die dreifache Qualifikation, schlimme Nachrichten zu überbringen. Aber wie erwartet nimmt er den Anruf nicht an. Einmal mehr hadert Vicky mit sich. Es gibt kaum jemanden in der gleichen Hierarchieebene, der mit Claaßen zusammenarbeiten will. Hätte sie mal auf Fred gehört! Aber sie wollte ihm ja unbedingt beweisen, dass sie besser mit dem Eigenbrötler zurechtkommt, und hat der Paarung Kriminalkommissar plus Polizeimeisterin zugestimmt.

Als Vicky Christoph Breitscheid in einem winzigen Van schließlich allein gegenübersteht und die schlimme Nachricht überbringt, setzt wie auf Knopfdruck die Routine bei ihr ein.

Unbewegt hört Christoph zu. Sinkt langsam auf die schäbige Sitzbank. Seine Gesichtszüge durchwandern Entsetzen, blanken Hass und enden bei resignierter Trauer.

„Tot?“, flüstert er.

„Tut mir leid“, meint Vicky leise und wünscht Claaßen zum x-ten Mal in den siebten Kreis der Hölle.

Hagen, Christophs bester Freund und einer der letzten Vokuhila-Indianer mit Fliegerbrille, schiebt sich dazwischen. „Christoph war die ganze Nacht hier, nachdem er sich gestern von Dagmar verabschiedet hat. Das kann ich bezeugen!“ Brüsk wendet er sich zu Christoph um. „Du hast ein Alibi, hörst du?“

„Schon gut“, winkt Vicky ab. „So weit war ich noch gar nicht, aber danke.“ Sie fragt die beiden nach ihrem Verhältnis zueinander. Hagen antwortet empört: „Wir sind Arbeitskollegen, rein platinmäßig!“ Außerdem erfragt sie Erstwohnsitz und Telefonnummern und kritzelt alles hektisch in ihr Notizbuch.

„Herr Breitscheid, woher kennen Sie Frau Ritter?“

„Von Monika“, sagt Hagen.

„Ich kann selbst reden“, fährt Christoph ihn an. „Monika ist meine Schwester. Sie hat mir Dagmar vorgestellt.“

„War sie Monikas Schulfreundin?“, hakt Vicky nach.

Hagen und Christoph tauschen einen Blick. „Ist das wichtig für die Ermittlungen?“, fragt Hagen streng.

Vicky weicht in dem winzigen Van ein paar Millimeter zurück und mustert Hagen von oben bis unten. „Lassen Sie mich jetzt meine Arbeit machen oder wollen Sie draußen warten?“

Verärgert presst Hagen die eh schon dünnen Lippen aufeinander.

„Sie kennen sich aus Dinslaken“, meint Christoph leise. „Aus dem Krankenhaus.“

„Dann waren Sie also Arbeitskolleginnen“, schließt Vicky.

Christoph läuft knallrot an. „Nein, sie waren zusammen in der Klapse.“ Jetzt ist es heraus. „Sie haben sich auf der Psychotherapiestation kennengelernt. Dagmar und Monika haben – hatten …“

„Beide sind krank, aber nicht gemeingefährlich“, mischt Hagen sich schon wieder ein. „Die sind nicht so ballaballa, wie man das aus dem Fernsehen kennt!“ Er macht eine Scheibenwischerbewegung mit der Hand vor dem Kopf.

Christophs Gesicht verzerrt sich wie unter Schmerzen. „Hagen, jetzt lass doch mal. Dagmar hatte schlimme Depressionen. Aber es hieß, sie sei stabil. Sie hätte sich niemals …“ Der Moment des Begreifens überkommt Christoph mit solcher Wucht, dass er verstummt.

Sekunden verstreichen. Vicky räuspert sich. „Wir müssen Ihre Aussagen protokollieren. Können Sie zur Kreisbehörde an der Reeser Landstraße kommen?“

„Sind wir jetzt verdächtig?“ Schon wieder Hagen!

„Nein, es geht nur um Ihre Zeugenaussagen.“

„Will ich wohl meinen“, murmelt Hagen und richtet sich noch ein bisschen mehr auf. Er ist entscheidende fünf Zentimeter größer als Vicky, und so, wie er die Brust vorreckt, hält er sich auch für den Stärkeren. „Und jetzt setzen Sie Ihre Arbeit bitte mal woanders fort, Frau Wachtmeister, ich muss mich um meinen Freund kümmern.“

Erneut widersteht Vicky der Versuchung, ihn über ihre Dienstbezeichnung aufzuklären, und verabschiedet sich. Die Tür des Vans wird hinter ihr von Hagen demonstrativ zugeknallt.

Im nachlassenden Regen läuft Vicky zurück zu Freds Luxus-Campingbus in der Nachbarparzelle, klopft aber nicht noch mal an. Hat sowieso keinen Sinn, ihm noch mal ins Gewissen zu reden.

Nachdem Vicky weitere Informationen im Café am Sackert abgeglichen hat – der von Johanna erwähnte Terhövel ist natürlich nicht mehr da, aber Claaßen hat mächtig Eindruck hinterlassen – kehrt sie mit dem Fahrrad zum Damm zurück. Eine halbe Stunde hat gereicht, um sie im Regen aufweichen zu lassen. Ihr Chef wartet bequem und trocken im Einsatzfahrzeug auf sie.

Als er Vicky im Rückspiegel zurückkommen sieht, steigt Claaßen mit einem Regenschirm für Großfamilien aus. „Na? Nass geworden?“ Flüchtig deutet er mit dem Kopf zu den Zelten der KTU. „Es bleibt beim Genickbruch. Was haben Sie herausgefunden?“

„Dass Sie im Café am Sackert eine Tasse Kaffee aufs Haus getrunken haben.“ Befriedigt sieht Vicky Claaßen rot anlaufen. „Auf der Grav-Insel wurde die Identität von Dagmar Ritter bestätigt. “ Sie zieht ihr Notizbuch heraus und liest ihre Stichpunkte zu den Aussagen von Johanna, Hagen und Christoph vor.

Claaßen wirft einen Blick auf seine protzige Armbanduhr und beschließt, dass die KTUler gut ohne sie zurechtkommen. Er weist Vicky an, mit ihm zur Waldschenke zu fahren. Dort ist es trockener und man bekommt bestimmt ein zweites Frühstück.

***

„Dreimal Schnitzel mit Pommes, eine Fischsuppe und zwei Schweinegulasch!“

Schwitzend schiebt Monika die Teller mit rechts auf die beheizte Ausgabe und verbrennt sich zum tausendsten Mal die Finger. Mit der linken Hand dreht sie die nächste Reihe Schnitzel auf dem Grill um. Neue Bestellbons rattern aus dem Drucker neben dem riesigen Kochfeld. Manfred, der Chefkoch, reißt den Streifen ab und sortiert die Bons zu den anderen. „Schwein musst du heute sein, dann haste es schön warm“, ruft er.

Trotz der Hektik muss Monika lachen, füllt vorgeschnittene Kartoffelscheiben in eine riesige Pfanne und wirbelt eine Schöpfkelle durch die Bain-Marie mit der Pilzsauce.

„Ich brauch zweimal Salat!“, schreit Tamara.

Marianne ist nicht an ihrem Platz in der kalten Küche. Also lässt Monika Schnitzel, Kartoffeln und Pilze im Stich, streift sich die Lebensmittelhandschuhe über und flitzt zu den Blattsalaten. Ihre Portionen fallen immer etwas größer aus, wenn sie nicht aufpasst, deshalb zählt sie die Blätter.

Tamara schnappt sich die Teller und zischt zurück in den Gastraum. Monika wundert sich jedes Mal aufs Neue, wie jemand so schnell Mahlzeiten herumtragen kann, ohne dass die Hälfte auf dem Teppich landet.

„Koteletts sind aus!“, ruft Manfred. „Ich hab noch Bratwurst und Schnitzel!“

An manchen Tagen macht der Fleischgeruch Monika halb wahnsinnig vor Ekel. Dann wiederum kann sie nicht genug davon bekommen und würde am liebsten stundenlang am Grill stehen. Die Verwandlung von totem Fleisch in einen Leckerbissen fasziniert sie: Der restliche Fleischsaft schimmert blutig in den fleischigen Muskelfasern. Dann verschmelzen die äußeren Hautschichten zu einer soliden Hülle, die einen noch rohen Kern umschließt. Schließlich wird aus der kalten, leblosen Masse ein süßlich-duftender Batzen, der den Magen wohlig warm ausfüllt.

„Dann Bratwurst“, ruft Tamara von der Kasse. „Ist für mich!“ Automatisch schließt sich die Tür zum Gastraum hinter ihr.

In stummer Übereinkunft legt Manfred neue Würstchen auf den Grill, obwohl er dafür ans andere Ende der Kochzeile laufen muss. Monika tritt schweigend zur Seite.

Tamara kommt aus dem Gastraum zurück. „Monika, der Christoph steht drüben im Fernfahrer-Imbiss!“

„Keine Zeit“, antwortet Monika. Die Bratwürstchen stressen sie.

„Er meint, es ist dringend, sonst hätte er gewartet.“

Hilflos schaut Monika zu Manfred hinüber. Der nickt. Leider. Monika verlässt die Küche während der Schicht nur ungern. Die Arbeitsabläufe in der Küche geben ihr Halt. Ärgerlich streift sie die Salathandschuhe ab und wirft sie auf die Anrichte. Automatisch verfällt sie in den schleppenden Gang der erschöpften, aber ehrlichen Köchin, die ihr Leben mit harter Arbeit bestreitet.

Als sie durch den hinteren Vorbereitungsbereich in den Imbiss kommt, schauen drei Lkw-Fahrer von ihren Pommesschranken auf und wenden sich wieder ab. Sie haben schon so viele Köche in Raststätten gesehen, dass das Aufschauen zum Reflex geworden ist. Köche im Gastraum bedeuten außerdem Stress. Entweder ist ein Gericht aus und sie müssen Nachschub in der Annahme bringen, dass ohne sie in der Küche alles zusammenbricht. Oder sie wollen selbst Pause machen und das, was sie gerne essen würden, ist nicht mehr da und muss erst langwierig zubereitet werden. Wenn man nicht gut aufpasst, geht der Missmut auf die Gäste über.

Nickend grüßt Monika ein bekanntes Gesicht – keine weitere Reaktion – und schlurft auf Christoph zu, der sich am Fenster niedergelassen hat. Sie lässt den Blick beiläufig über den Parkplatz draußen gleiten und zählt blitzschnell die abgestellten Lkw. Es sind 23.

„Was gibt’s?“

Seine Augen sind dunkel vor Kummer. „Dagmar ist tot.“

Mit einem Mal bricht die Hektik der letzten Stunden über Monika zusammen. Endlich dürfen ihre Knie weich werden, sie sinkt auf den anderen der beiden Stühle und spürt, wie ihr Gesicht taub wird. „Was? Wieso?“

Christoph zuckt mit den Schultern. „Man hat sie tot am Auedamm bei der Grav-Insel gefunden. Genickbruch.“

„Aber …“ Für ein paar irre Sekunden kann Monika nicht glauben, was ihr Bruder sagt. Ein Missverständnis, denkt sie und stellt sich vor, wie sie Dagmar gleich nach der Schicht in einem weißen Krankenzimmer in Dinslaken besucht, vielleicht auf der Inneren oder der Orthopädie, wo sie, eingeschnürt in ein Korsett, das Bett hütet. Sechs Wochen liegen, dann ist alles wieder gut, sagt die Stimme eines Halbgottes in Weiß ohne Gesicht. Aber Christophs Augenlider sind rot, und die Heuschnupfenzeit hat noch nicht angefangen.

Langsam schüttelt Monika den Kopf. „Dann fällt das Treffen heute Abend aus. Ich muss den Tisch im Rheinstübchen absagen.“

Christoph weiß, dass seine Schwester notgedrungen kompensiert, weil die Nachricht zu groß für sie ist. „Die Polizei war schon bei mir. Ich habe gesagt, dass ich sie über dich kenne.“

Wieder tritt der fremde Ausdruck in Monikas Augen, der von tiefer Verwirrung hervorgerufen wird. Etwas in ihrem Leben hat sich verändert, ohne dass sie sich darauf vorbereiten konnte. „Hast du auch gesagt, dass wir -“

„Der Hagen konnte mal wieder die Klappe nicht halten.“ Christoph seufzt schwer. „Aber es wäre früher oder später sowieso herausgekommen, dass du in Dinslaken warst.“

Da hat er recht, denkt Monika. „Wie haben die Bullen reagiert?“

„Es war nur einer, eine Frau, und die war ganz nett. Kann sein, dass sie dich auch noch kontaktiert.“ Verlegen dreht Christoph das halb leere Wasserglas auf dem Bierdeckel. „Willst du mich dabeihaben?“

„Ne, danke. Es reicht, dass du mal mein Vormund warst“, meint Monika.

Köpfe werden gewendet, Augen suchen die Sprecherin, dann rutscht alles wieder zurück an den alten Platz. Hinter der weißen Uniform des Kochs vermutet man nur selten einen Verrückten. Monika ist wieder in Sicherheit.

„Aber ausgerechnet jetzt die Bullen.“

„Was du wieder hast! Polizisten sind doch Profis für Leute mit, äh, individuellen Lebensläufen“, antwortet Christoph leiser.

„Und wenn sie eine von den Fachidiotinnen ist, die sich nicht beherrschen können?“, fährt Monika etwas schärfer fort. „Ich habe keine Lust, mich von jemandem beleidigen zu lassen, nur, weil …“ Sie hält inne, als sie Christophs Gesichtsausdruck sieht. „Schon gut. Sie wird mich nur befragen, oder?“

„Klar.“ Vorsichtig legt Christoph seine Hand auf ihre spröden Finger. „Und ich bin auf jeden Fall dabei, damit ich dir helfen kann, wenn dich die Befragung zu sehr aufregt. Einverstanden?“

Zögernd nickt Monika. Um sie herum steigert sich der Trubel, als zwei Busladungen Holländer hereinquellen, keine Seltenheit in der Raststätte Hünxe-Ost. Sie sollte so schnell wie möglich in die Küche zurück, denn jetzt kracht es garantiert gleich und sechzig Holländer wollen sechzig Portionen Schnitzel in sechzig Minuten bestellen, essen und bezahlen.

„Was ist mit Bettina und“, nervös befeuchtet Monika ihre Lippen, „Martin?“

Christoph tut so, als würde er wie sie beiläufig durchs Fenster auf den Parkplatz schauen. „Keine Ahnung. Aber die beiden werden sicher auch noch befragt.“

Martin, Martin, Martin, denkt Monika. Im Nu fängt ihr Körper an zu prickeln. Und Bettina. Die beiden anderen Mitglieder der Psycho-Clique, die Dagmar vor ein paar Monaten einfach so verlassen hat. Nein, nicht einfach so, korrigiert Monika sich, sondern weil sie ihre Umschulung zur Europasekretärin abgeschlossen hat. Und weil sie zu ihrem Onkel nach Frankfurt wollte. Weil das mit Martin doch keine so gute Sache gewesen ist. Ein Gefühl zieht in Monikas Magen auf, als hätte sie Säure getrunken. Dagmars und Martins Verhältnis wird Monika wohl nie verwinden. Die Säure breitet sich aus und droht die letzte Mahlzeit wieder nach oben zu drücken. Ein paar Male schluckt Monika heftig, obwohl sie gerade wieder auf Kommando brechen möchte. Noch am Abend nach Irenes Beerdigung hat die stille Dagmar das Ruder in die Hand genommen und Martin in ihr Bett gezerrt. Dabei hatte Monika so lang gehofft, dass Martin erkennt, wie sehr sie ihn liebt! Nein, unterbricht Monika sich, als ihre Hände immer stärker zittern. Das muss jetzt wirklich nicht sein. Heftig atmet sie ein und wieder aus. „Und du? Schaffst du es?“

Christoph schaut sie an. Sagt nichts. Verzieht nicht mal die Mundwinkel wie sonst, wenn er seine Stimmung geheim halten will. „Muss ja. Hagen passt auf mich auf.“

„Ist der etwa auch hier?“

„Toilette“, sagt Christoph mit einem Kopfnicken.

Erst jetzt sieht Monika Hagens Van auf dem Parkplatz vor der Raststätte stehen. „Er hat dich hergebracht?“ Das rührt sie.

„Klar, man ist ja Kumpel“, dröhnt plötzlich Hagens Stimme neben ihr.

Monika schaut zu dem massigen Mann hoch. Sie kann ihn nicht ausstehen, weil er sich überall einmischt und viel zu viel über sie und Christoph weiß. Aber wenn was ist, weicht er keinen Millimeter, bis wieder alles im Lot ist. Leider. Monika seufzt. „Pass mir ja auf meinen Bruder auf, den brauche ich noch“, sagt sie halbherzig.

„Alles schon in Planung. Und zu deiner Vernehmung komme ich auch“, sagt Hagen ganz selbstverständlich.

„Das will ich aber nicht“, murmelt Monika. „Du kannst dich nicht einfach überall einmischen.“

Die automatische Tür des Fernfahrer-Imbisses gleitet auf, eine uniformierte Polizistin und ein Ziviler in schlecht sitzender Schimanski-Jacke schlendern herein.

„Hallo, Herr Breitscheid!“, ruft die Uniformierte und schaut Monika an. „Sind Sie Frau Breitscheid?“

Monika erhebt sich. Dass die Köpfe im Imbiss erneut in Bewegung geraten, nimmt sie nur am Rande wahr. „Können wir nach hinten gehen? Ich muss meinem Chef Bescheid sagen, dass ich ein paar Minuten länger brauche.“ Der wird mir was husten, denkt sie, weil ich ihn mit der holländischen Flottille allein lasse.

Für die anderen Anwesenden wirkt sie in diesem Augenblick wie die gestandene Frau mittleren Alters, die sich hier bewegt, als gehöre ihr die Raststätte. Nur Christoph weiß, wie schwer sich Monika ohne ihre Kluft tun würde, so souverän mit dieser Störung in ihrer Arbeitsroutine umzugehen. Er klopft mit der Hand auf den Tisch. „Hagen, setz dich zu mir, wir warten.“

Hagen lässt sich dort nieder, wo Monika gerade noch gesessen hat und schaut ihr nach, bis sie mit den beiden Polizisten hinter der Verbindungstür zum rückwärtigen Teil der Küche verschwunden ist. „Deine Schwester ist echt eine tolle Frau. Jede andere wäre beim Auftauchen der Bullen ausgerastet. Schade, dass sie mit mir nicht warm werden will.“ Er kratzt sich am Handrücken. „Aber mit dir als Kumpel bin ich auch ganz zufrieden.“

Sie lachen.

***

Claaßen blickt von seinen Unterlagen auf. „Sie sind also der Herr Kötter aus Dinslaken?“

„Genau der bin ich.“ Demonstrativ rückt Hagen seine Fliegerbrille zurecht. „Hagen-Detlef Kötter.“

Claaßen fragt sich irritiert, ob das Brillenmodell nicht schon seit Jahren out ist. „Sie sind ledig und wohnen in der Fuchsstraße?“

Hagen nickt. „An der Grenze zu Walsum.“

„Ziemlich grüne Ecke dort“, stellt Claaßen fest. Und mit einem weiteren Blick auf Hagens blonden Vokuhila: „Muss man sich leisten können.“

Grinsend verschränkt Hagen die muskulösen Arme vor der Brust. „Habe ich mir auch hart erarbeitet.“

„Sie sind Sanitärinstallateurmeister?“

„Und Sie sind Quizmaster?“, erwidert Hagen freundlich. „Wenn Sie nur abfragen wollen, was ich da auf Ihre Liste geschrieben habe, können wir das hier ruhig abkürzen. Ich hab heute nämlich noch ein paar Sachen zu erledigen.“

„Am Karfreitag?“

Ein ganz kleines bisschen ertappt nickt Hagen. „Ich muss Angebote schreiben. Als Selbstständiger hat man nie richtig frei.“

Claaßen gestattet sich ein Schmunzeln. „Daraus schließe ich, dass Ihr Auftragsbuch gut gefüllt ist und Sie deshalb erst heute vorbeigekommen sind.“

„Ihre Kollegin Steinhauer meinte, das geht in Ordnung.“

Claaßen lässt die PC-Tastatur klappern. „Kommt erst heute zur Aufnahme des Protokolls, weil er beruflich verhindert war“, liest er laut mit, was er tippt. „Woher kennen Sie Christoph Breitscheid?“

„Ist bei mir angestellt. Hat bei mir auch seine Ausbildung gemacht. Guter Mensch.“

„Könnte er einen Mord begehen?“

Hagen fängt an zu lachen, als hätte Claaßen einen Witz gerissen. „Wenn, dann nur an seinem Chef, weil der ihn ständig in die weite Welt schickt!“

Aufmerksam mustert Claaßen ihn. „Auch am Karfreitag?“

„Nein, heute haben alle meine Angestellten frei. Aber sonst bin ich ein Diktator“, gibt Hagen unumwunden zu. „Erst die Aufträge, dann das Bierchen. Schmeckt nicht jedem. Christoph anfangs auch nicht. Inzwischen hat er sich dran gewöhnt.“

Claaßen nimmt die Hände von der Tastatur und lehnt sich zurück. „Aha?“