Tod am Zollhaus - Petra Oelker - E-Book

Tod am Zollhaus E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

«Wie nebenbei ist Petra Oelker ein amüsantes stimmungsvolles Sittengemälde aus vergangener Zeit gelungen.» (Der Spiegel) In einer Regennacht des Jahres 1765 wird im Hamburger Hafen der Schreiber des Großkaufmanns Claes Herrmanns ermordet. Der Täter, da sind sich die Hamburger sicher, ist Jean Becker, der Prinzipal des Wandertheaters. Schließlich hat die Wache ihn volltrunken neben der Leiche gefunden. Nur die Schauspieler glauben fest an die Unschuld ihres Prinzipals und machen sich auf die Suche nach dem Mörder. Besonders Rosina, schön, pfiffig und entschlossen, nutzt ihre Talente, um sich in die ehrbare Hamburger Gesellschaft einzuschleichen. Zwischen Salon und Kontor, Börse und Kaffeehaus kommt sie einer heimtückischen Intrige auf die Spur … «Raffiniert der Plot, genau recherchiert das Ambiente: Petra Oelker hat einen rundum gelungenen Historien-Krimi über schöne Künste und böse Intrigen geschrieben.» (Brigitte)

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Seitenzahl: 377

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Petra Oelker

Tod am Zollhaus

Ein historischer Kriminalroman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

WidmungMotto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelGlossarDanksagung
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Für Christiane und Gerd

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Denn Mord, hat er auch keine Zunge, wird doch mit wundersamer Stimme sprechen.

William Shakespeare (Hamlet)

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1. Kapitel

Herbst 1764

Das Mondlicht glänzte geheimnisvoll auf dem unbewegten Wasser der St. Aubin’s Bay. Für die Schmuggler war die Nacht viel zu hell. Die engen Felsbuchten und die versteckten Höhlen der schroffen Nordküste lagen verlassen. Die ganze Insel schien zu schlafen. Die Bauern in ihren geduckten Gehöften aus grauem Stein, die braunen Kühe auf dem Weideland unter den zahllosen Apfelbäumen auf der Hochebene und in den engen Bachtälern, die Fischer und Händler an der sanften Südküste.

Ein einsamer Reiter trabte von St. Aubin über den meilenlangen weißen Strand nach St. Hélier am östlichen Ende der Bucht. Dort ragte Elisabeth Castle grau und trutzig aus den Uferfelsen. Nur in einem Turmfenster brannte ein trübes Licht.

Claes Herrmanns saß am Tisch des Speisezimmers im Herrenhaus der Familie St. Roberts. Er sah hinaus auf die Uferlandschaft mit dem erleuchteten Burgfenster und dem Reiter im fahlen Licht des Mondes und fühlte sich wie auf einem fernen Kontinent. Er sah auf die Südküste einer kleinen Insel im Englischen Kanal, und der weite Blick über das Meer und die sanfte grüne Uferlandschaft mit dem Wehrschloss im Wasser waren so ganz anders als der Blick aus dem Fenster seines eigenen Hauses in Hamburg. Die alte Hafenstadt an der Elbe erschien ihm plötzlich sehr eng und stickig.

«Und du, mein Freund, was sagst du dazu? Glaubst du, dass ein Kessel voll Dampf den Wind in den Segeln ersetzen kann?»

Paul St. Roberts beugte sich ein wenig vor und blickte seinen Freund neugierig an. Die Diskussion um den Dampf war also immer noch nicht zu Ende.

«Nun», Claes hob sein Glas gegen den hellen Schein der Kerzen, die in schweren Silberleuchtern auf dem Tisch standen, und betrachtete nachdenklich den aufglühenden Wein. «Ich weiß nicht so recht.» Bedächtig nahm er einen Schluck. «Sieh den Wein. Ein bisschen Flüssigkeit in einem Glas. Ruhig, ohne die Kraft, das Glas zu zerbrechen. Doch denk an die vielen Wasserräder, die seit Jahrhunderten die Mühlen antreiben. Denk an die Kraft des Wassers, wenn es mit der Ebbe alles ins Meer zieht, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringt, oder mit dem Sturm über unsere Küsten tobt. Wenn die Suppe kocht, hebt der Dampf den Deckel. Wenn man nun einen sehr großen Topf voller Dampf hätte, der ein sehr großes Rad antreibt – vielleicht könnte so ein Rad tatsächlich ein Schiff übers Meer schieben …»

«Ah, mein lieber Claude», rief St. Roberts lachend und prostete dem jungen Mann im nachtblauen Samtrock am anderen Ende des Tisches zu. «Ihr habt einen Verbündeten. Seid nett zu ihm, er bringt seine Waren mit eigenen Schiffen über die Meere. Überzeugt ihn davon, dass Eure verrückten Experimente mit dem Dampf seine Säcke und Fässer schneller in den Hafen bringen, und Ihr bekommt vielleicht von ihm das Geld für Euren Traum von der Schifffahrt frei von den Launen der Winde.»

Claes schüttelte den Kopf. «Da wendet er sich besser an euch Engländer und an seine eigenen Landsleute. Unsere Schiffe segeln nur durch die Nord- und Ostsee nach den nördlichen Eismeeren oder nach Süden durch die Biskaya bis nach Portugal. Ihr lasst uns ja nicht mit euren amerikanischen und indischen Kolonien Handel treiben. Den Reibach behaltet ihr für euch.»

St. Roberts nickte vergnügt. «Da hast du recht, mein armer deutscher Freund. Wir achten hübsch eifersüchtig auf unseren Reichtum. Und seit euch unsere gierigen Nachbarn, die Franzosen, noch das fette Fassgeld aufgedrückt haben, wird euch der Import schön teuer. Trotzdem. Ich bin der falsche Mann für unseren jungen Marquis. Ich halte es mit Monsieur Vernoilli.»

Er nahm mit sichtlichem Behagen eine Prise Tabak.

«Und mit der Akademie der Wissenschaften in Paris.»

Er nieste kräftig in ein Spitzentuch.

«Die hat ihm einen Preis verliehen, weil er bewies, dass es absolut keinen Ersatz für den Wind gibt, wenn es um Schiffe geht. Ihr, mein junger Freund, seid ein Träumer.»

«Aber das ist mehr als zehn Jahre her», versetzte Claude Marquis Jouffroy d’Abbans hitzig. «Die Welt bleibt nicht stehen. Und die Wissenschaft …»

Claes lehnte sich zurück und hörte zu. Die lange Diskussion hatte ihn ermüdet. Er hatte Geschäftsverbindungen nach Frankreich, England, Portugal und Italien, fremde Sprachen gehörten zu seinem Alltag. Das Englische war ihm vertraut, seit er als junger Mann einige Jahre in London in der Lehre gewesen war, und auch das Französische beherrschte er einigermaßen. Aber der ständige Wechsel zwischen den beiden Sprachen, wie er im Hause St. Roberts üblich war, strengte ihn an. Ganz besonders weil der französische Dialekt auf der Insel, das alte normannische Jersiais, für ihn nur schwer zu verstehen war.

Drei Wochen war er nun schon auf Jersey. Und was hatte er bisher erreicht? Gar nichts.

Claes hatte Sorgen. Sein Handelshaus gehörte zu den großen in Hamburg, aber das machte auch seine Sorgen groß. Seit dem Ende der sieben Jahre dauernden Kriege zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft auf dem Kontinent und zwischen England, Spanien und Frankreich auf See um ihre überseeischen Kolonien ging es den Hamburgern schlecht.

So gut wie sie als Händler einer neutralen freien Reichsstadt während der Kriege verdient hatten, so sehr litten sie nun unter den Folgen. Der Zusammenbruch der preußischen Währung hatte in den letzten zwei Jahren viele holländische Banken ruiniert, die viele Hamburger Händler mit in den Bankrott gezogen hatten.

Seit einigen Jahren forderten die Franzosen für jeden Sack, der von einem französischen Schiff im Hamburger Hafen gelöscht wurde, für jedes Fass, das ein deutsches Schiff in Frankreich an Bord nahm, deftige Gebühren. Das ließ den Gewinn gefährlich schrumpfen.

Aber solange alle Waren aus den Kolonien nur von Schiffen der Kolonialmächte transportiert werden durften, waren die deutschen Händler machtlos. Die Hamburger traf es besonders hart. Ein großer Teil der Kolonialwaren und jeder zweite Sack Kaffee aus den französischen Kolonien ging über den Hamburger Hafen. Als Paul St. Roberts seinem alten Freund anbot, ihm zu billigeren Kaffeelieferungen zu verhelfen, hatte Claes deshalb nicht lange gezögert.

Ein Kapitän, der während der Kriegsjahre als Freibeuter manches französische Schiff für die englische Krone gekapert hatte, lieferte nun Kaffee direkt aus den amerikanischen Kolonien. Für die Leute auf Jersey war das kein Verbrechen. Sie waren zwar mehr oder weniger loyale Untertanen des englischen Königs, aber sie lebten zoll- und steuerfrei, und der Schmuggel auf den Kontinent und an die englische Küste blühte hier seit Jahrhunderten.

Es war Claes peinlich, auf Jersey in der Sonne zu sitzen, nichts zu tun und auf einen Schmuggler zu warten. Paul hatte nur gelacht. Das sei doch ganz normal, und im Krieg sei es sogar legal. Schon Elisabeth, die große Königin, habe mit den Beutezügen von Sir Francis Drake, dem verwegensten aller Freibeuter, ihre Juwelen und ihre ruhmreichen Seekriege, vor allem die Vernichtung der spanischen Armada, finanziert. Und selbst die frommen Malteser-Ritter, zu denen auch viele Deutsche gehörten, machten reichen Profit auf Kaperfahrten.

Dass zurzeit kein Krieg herrschte, kümmerte Paul dabei wenig. Es sei ja doch nur eine Pause. Bis zum nächsten – das zeige die Geschichte – dauere es nie lange. Und wer wusste schon, wann die Franzosen das nächste Mal versuchen würden, ganz Jersey und seine Nachbarinseln zu kapern.

Sicher hatte Paul recht, und Claes war nie zimperlich, wenn es um ein gutes Geschäft ging. Aber er fand es doch unwürdig für einen hanseatischen Kaufmann, untätig herumzusitzen und auf einen Abenteurer zu warten.

Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, wenn er Behrmann geschickt hätte. Der war mit allen Geschäften vertraut, zuverlässig wie kein Zweiter und hätte auch auf den Teufel gewartet, um dem Handelshaus Herrmanns zu nutzen. Aber da war noch die Sache mit Emily. Die konnte ihm niemand abnehmen.

Ohne Zweifel war Pauls Tochter eine gute Partie. Die großen dunklen Augen, die milchzarte Haut und der kleine kirschrote Mund gaben ihr den Ausdruck einer Puppe. Doch das täuschte: Wie alle St. Roberts hatte sie einen wachen Geist und eine gute Bildung. Kein Wunder bei den Menschen, die im Haus ihres Vaters ein und aus gingen. Jeder Künstler oder Wissenschaftler, der Jersey besuchte, ob Genie oder Dilettant, wurde eingeladen, fürstlich bewirtet und gründlich befragt.

Morgen, dachte er, morgen muss ich endlich eine Entscheidung treffen.

Claes betrachtete die Gesellschaft, die sein alter Freund und Handelspartner Paul an diesem Abend um seinen Tisch versammelt hatte. Rechts neben ihm saß John Maynor, der Arzt der reichen Händler und Gutsherren auf der Insel. Ein beleibter Herr, der, obwohl er sein graues Haar noch unter einer altmodischen hohen Perücke verbarg, mit Neugier und geübtem Verstand die neuesten Experimente und Entdeckungen der wissenschaftlichen Welt verfolgte.

Ihm gegenüber saß Pierre Chenau und stopfte, beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt, seine Meerschaumpfeife. Er war Kaufmann auf Jersey, wie der Gastgeber, aber von einer kostspieligen Leidenschaft für die Alchimie geplagt. Seine Hoffnung, dass davon niemand wisse, war vergeblich. Auf dem ganzen Archipel flüsterte man über seine sündige Suche nach dem Rezept fürs Goldmachen.

Neben Chenau saß ein eleganter junger Mann, dessen blonde Locken im Nacken zu einem modischen Zopf gebunden waren. William Gatherby, der einzige Neffe des Hausherrn, hatte sich seit einiger Zeit als scharfer Rechner und kühner Planer in dessen Kontor unentbehrlich gemacht. Der Handel mit dem Hause St. Roberts, dachte Claes, wird in Zukunft trotz aller Freundschaft härter werden.

William folgte den aufgeregten Debatten mit trägen Augen und sanftem Lächeln, auch wenn er sich selbst kaum daran beteiligte.

Der junge Marquis Jouffroy d’Abbans, der neben dem stets beherrschten William zappelig wie ein junger Spaniel auf der Stuhlkante saß, war ein entfernter Cousin der St. Roberts. Auch wenn England und Frankreich seit den Zeiten der Normannen ständig Kriege gegeneinander anzettelten, war eine solche Verwandtschaft hier nicht ungewöhnlich. Die Inseln gehörten seit Jahrhunderten zum Reich der britischen Krone, aber ihre Lage nur wenige Meilen vor der Küste der Normandie hatte sie doch eng mit Frankreich verbunden.

Mit leichter Wehmut betrachtete Claes das noch kindlich runde Gesicht Jouffroys. Er hatte die Heftigkeit und Leidenschaft eines Jungen, der das Unmögliche für leicht erreichbar hält, wenn man es nur wirklich will. Für einen Moment spürte Claes eine nagende Sehnsucht nach solcher Leidenschaft und fühlte sich sehr viel älter als seine 44 Jahre. War er jemals so glühend gewesen? Oder tatsächlich schon immer der vernünftige Mann, der kühle Rechner, der nur gerade Wege ging?

«Messieurs. Nun haben Sie uns wirklich lange genug warten lassen!»

Die klare Stimme von Anne St. Roberts unterbrach abrupt die Melancholie seiner Gedanken. Pauls Schwester, seit dem Tod ihrer Schwägerin die erste Dame des Hauses, stand in der weit geöffneten Tür zum Salon. Obwohl sie sich um ein damenhaft gelassenes Lächeln bemühte, verriet ihre Miene Ungeduld.

Claes betrachtete sie amüsiert. Er konnte sich gut vorstellen, dass Anne das Geplauder der Damen über neue Liebschaften, Kleiderschnitte, Romane und die letzten Kinderkrankheiten schon nach kurzer Zeit tödlich langweilte. Anne St. Roberts interessierte sich mehr für Probleme der Schifffahrt und des Handels. Oder für Neuigkeiten wie die Blitzableiter, die Wissenschaftler in den nordamerikanischen Kolonien erfunden hatten. In Europa gab es inzwischen auch schon einen: Er krönte die Spitze eines Leuchtturms, der auf einem Felsbrocken im Meer südlich von Plymouth stand. Auf einem englischen Felsbrocken. Darauf war man auch auf Jersey stolz, selbst wenn über den Nutzen dieser Erfindung noch keine Einigkeit herrschte. Viele warteten darauf, dass Gott die Menschen für diesen Eingriff in seine Pläne strafen werde.

Anne war fasziniert von allem, was mit dieser neuen Elektrizität zu tun hatte. Am vorigen Abend hatte sie versucht, ihren Bruder davon zu überzeugen, dass ein solcher Blitzableiter auf dem Dach des neuen Lagerhauses am Hafen von großem Vorteil sein könnte. Paul hatte schließlich versprochen, zumindest darüber nachzudenken.

Claes hatte schnell gemerkt, dass Anne von den Geschäften der St. Roberts mehr verstand als ihr Bruder und als die heimliche Herrin des Kontors galt. Sie war eine schlanke, hochgewachsene Frau, ihr Teint war nicht so blass, ihre Stimme nicht so zart, wie es sich für eine Dame gehörte. Ihre Nase war ein wenig spitz, ihr Mund ganz sicher zu groß. Aber sie war ohne Zweifel auf ihre besondere Art schön.

Claes hätte gerne gewusst, warum sie nie geheiratet hatte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie erschien ihm sehr viel jünger als ihr Bruder, aber die Dreißig hatte sie sicher längst überschritten. Eine energische Dame, die sich allerdings, auch das hatte Claes festgestellt, beim Tanz mit vollendeter Grazie und Geschmeidigkeit bewegte.

In der Mitte des Salons thronte rund und rosig unter ihrer reich mit Spitzen besetzten Haube auf einer gepolsterten Bank Mathilda Maynor. Die Frau des Arztes und Mutter seiner sechs Kinder verfolgte mit kleinen schwarzen Augen wachsam, wie St. Roberts seinen deutschen Freund nötigte, neben Emily Platz zu nehmen. St. Roberts’ einzige Tochter erinnerte Claes an die Porzellanfigurinen, die er im letzten Jahr von der Leipziger Messe mitgebracht hatte: zart, kühl und glatt. Sie nickte ihm mit einem flüchtigen Lächeln zu und nippte an ihrem Kaffee.

Claes fühlte sich unbehaglich. Wegen Emily und wegen des Kaffees. Beide spielten in seinem Leben in diesen Wochen eine wichtige Rolle, und beide bereiteten ihm Sorgen. Eine der beiden Sorgen würde er am nächsten Tag nicht mehr haben. Aber das wusste er jetzt noch nicht. Und so blieb ihm nur, seinen Kaffee zu trinken und schwer und heimlich zu seufzen.

 

Claes Herrmanns betrat das Frühstückszimmer am nächsten Morgen als Letzter. Die Herrschaften, so teilte ihm Frederik mit, seien alle schon fort. Mademoiselle Anne und Monsieur Paul hofften, ihn später im Kontor am Hafen zu sehen. Monsieur William sei nach St. Hélier geritten, und Mademoiselle Emily sei spazierengegangen, was sich am Vormittag für eine junge Dame nicht schicke, aber Mademoiselle habe immer ihren eigenen Kopf.

Der alte Diener blickte streng.

Zu Hause in Hamburg war Claes am Morgen stets der Erste. Manchmal ging er schon vor der Morgensuppe hinunter an den Hafen. In seinem großen Haus am Neuen Wandrahm mit dem reichverzierten, barock geschwungenen Giebel war es um diese frühe Stunde noch still. Aber an den Vorsetzen, am Baumwall und beim Neuen Kran drängten sich schon die Lastträger und Karren. Es roch nach Wind, Brackwasser, Teer und Gewürzen. Die ersten Ewer vom Südufer der Elbe, von Glückstadt, Stade oder den Vierlanden passierten den Schlagbaum und glitten in den Binnenhafen. Breitschultrige Männer stakten flache Schuten in die Fleete, vollbeladen mit Frachten von den Seglern für die Speicher in der Stadt.

Aber hier hatte er seit drei Wochen nichts zu tun, als zu warten. In den ersten Tagen hatte er stundenlang am Pier gesessen und auf den Horizont gestarrt, als könnte er auf diese Weise die Brigg, die er so dringend erwartete, herbeizaubern. William hatte ihn aufgefordert, am Morgen mit ihm auszureiten. Aber Claes ritt nie zum Vergnügen. Und er hatte gesehen, wie William seine Stute im scharfen Galopp über die taunassen Wiesen jagte und kein Hindernis scheute. Die Vorstellung, es ihm gleichtun zu müssen, hatte ihn frösteln lassen.

Auch wenn William sich seinem Tempo angepasst hätte, wäre ein gemeinsamer Ausritt für Claes keine Entspannung gewesen. Er fühlte sich in Gesellschaft von St. Roberts’ elegantem Neffen stets ein wenig unbehaglich. Warum, wusste er nicht, es gab keinen Grund zur Klage. William zeigte weit über die reine Höflichkeit hinaus echtes Interesse an dem alten Freund seines Onkels, er war ein guter Zuhörer und ein charmanter Plauderer. Dennoch spürte Claes in Williams Gegenwart eine ungreifbare Spannung. In den bernsteinfarbenen Augen des jungen Kaufmanns fand er wenig von der Wärme, Großzügigkeit und Lebenslust, die den Umgang mit Paul so angenehm machten.

Claes stand unschlüssig vor dem Frühstückstisch. Das üppige Dinner vom vorigen Abend lag ihm noch im Magen. Er griff nach einem Pfirsich und machte sich auf den Weg zum Hafen.

Am Abhang über der Stadt blieb er stehen und betrachtete das friedliche Bild zu seinen Füßen. St. Aubin lag in der warmen Septembersonne. Möwen glitten in weiten Bögen über das grün glitzernde Wasser der Bucht, in der nach Sonnenaufgang die Delphine sprangen.

Hier herrschte nie das hektische Treiben, das für den Vormittag in Hamburg so typisch war. Die wichtigste Stadt auf Jersey war ein Dorf, der Hafen nicht viel mehr als eine lange Mole und ein paar Lagerschuppen. Am Ufer der langgestreckten Bucht, die einige Meilen weiter bei St. Hélier in schroffen Felsen endete, lagen kleine Werften. Der Lärm der Hämmer und Sägen der Schiffsbauer vermischte sich mit dem Gegacker der Hühner auf der sandigen Straße und bestimmte die Musik des Ortes. Claes war Hafenstädte wie Hamburg, Lissabon oder Bristol gewöhnt. Er fand es erstaunlich, dass dieses verschlafene Nest ein bedeutender Handelsplatz war.

«Gefällt Euch unsere Insel, Monsieur?» Emily war plötzlich hinter einer Geißblatthecke hervorgetreten und stellte sich ihm in den Weg, als ob sie auf ihn gewartet hätte. «Unser ruhiges Leben langweilt Euch gewiss.»

«Guten Morgen, Mademoiselle Emily.» Claes verneigte sich höflich und sah Pauls Tochter neugierig an. Sie schien nervös, das Spitzentuch in ihren Händen war verdreht und feucht. «Warum sollte ich mich langweilen? Ich habe selten in so kurzer Zeit so viele interessante Menschen kennengelernt wie in Eurem Haus. Und in so charmanter Gesellschaft kann ich mich gar nicht langweilen.» Er sah sich suchend um. «Eure Gesellschafterin scheint verschwunden zu sein. Darf ich Euch nach Hause begleiten? Oder wollt Ihr auch Euren Vater besuchen?»

Sie überlegte, als sei dies eine Frage von großer Bedeutung. «Nein», entschied sie schließlich. «Ich will nicht zu meinem Vater. Ihr dürft mich nach Hause begleiten.»

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher. Plötzlich blieb sie stehen. Sie holte tief Luft und sah ihn fest an.

«Habt Ihr Euch entschieden?», fragte sie. «Wollt Ihr mich heiraten?»

Alle Nervosität schien nun, da die Frage ausgesprochen war, verflogen. Sie lachte leise auf. «Schaut nicht so schockiert. Glaubt Ihr tatsächlich, ich wüsste nicht, dass Euer Problem mit dem Kaffeehandel nicht der einzige Grund für Euren Besuch ist? Glaubt Ihr tatsächlich, ich wüsste nicht, dass mein Vater mich mit Euch verheiraten will? Wollt Ihr mich heiraten, Monsieur Herrmanns?»

Claes schluckte. Bisher hatte sie ihm nicht das kleinste Zeichen gegeben. Kein Blick, kein sanftes Wort hatten verraten, dass er Einlass in ihre Träume gefunden hatte. Er hatte auch noch nie davon gehört, dass englische junge Damen reifen Herren Heiratsanträge machen.

Sie sah ihm gerade in die Augen, und er versuchte darin zu lesen, welche Antwort sie erwartete.

«Nun, Mademoiselle», stotterte er, «Euer Vater hat tatsächlich daran gedacht. Es ist mir eine große Ehre, und wer könnte mein Haus mehr schmücken als Ihr. Aber so eine Entscheidung …»

«Wie recht Ihr habt», sagte sie mit ernstem Nicken, «eine Entscheidung für alle Tage, für das ganze Leben. Eine sehr schwere Entscheidung. Ich will sie Euch abnehmen. Ich schätze Euch sehr, denn Ihr seid liebenswürdig und klug. Jede Frau wird Euch gerne anschauen. Und Euer Haar», fuhr sie fort, als preise sie die Vorzüge eines neuen Pferdes, «ist sehr schön, noch ganz voll und fast ohne Grau. Aber ich werde Euch nicht heiraten.»

Claes starrte die junge Frau verblüfft an.

«Ihr könntet wenigstens ein kleines Bedauern zeigen, Monsieur. Euer Gesicht verrät Erleichterung.»

«Mademoiselle, Ihr schmeichelt mir heftig, aber vor allem erstaunt Ihr mich viel zu sehr, als dass ich überhaupt etwas zeigen könnte. Natürlich bedauere ich …»

«Vergesst für einen Moment die höflichen Floskeln, Monsieur, und vergesst auch, dass ich ein Mädchen bin.»

Sie lächelte breit, und ihr strahlender Blick löste alle Anstrengung des Verhaltens.

«Lasst uns miteinander reden wie zwei Kaufleute, denn eine Ehe mit mir wäre für Euch doch zuallererst ein Handel. Ich liebe meinen Vater sehr, und ich bemühe mich um Gehorsam.» Eine kleine Falte wuchs über ihrer Nasenwurzel. «Das ist nicht immer leicht, wie Ihr bei einigem Nachdenken verstehen werdet. Nehmt zum Beispiel meinen Bruder. Er ist gerade zwölf Jahre alt und wird behandelt wie ein Mann. Ich bin siebzehn Jahre alt und werde behandelt wie ein Kind, das nicht weiß, was gut für sein Leben ist. Auch Ihr behandelt mich wie ein Kind.»

Sie legte vertraulich ihre Hand auf seinen Arm und sah ihn mit schmelzendem Lächeln an. «Natürlich wäre ein Leben an Eurer Seite ein gutes Leben. Aber liebt Ihr mich?»

Claes holte tief Luft. «Nun, die Liebe ist eine Sache des Bemühens und der Gewohnheit.» Er begann, diese ungewöhnliche Unterhaltung amüsant zu finden. «Wenn sie uns überfällt wie ein Gewitterregen, ist sie nichts als ein Rausch, der bald vergeht. Sie kann aber wachsen, wenn zwei Menschen …»

«Ihr redet wie meine Gouvernante, die zu meinem und ihrem Glück schon seit einem Jahr anderen Mädchen weise Vorträge hält», unterbrach sie ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. «Habt Ihr je geliebt, Monsieur? Wirklich geliebt?»

«Ich glaube, Mademoiselle, das tut hier nichts zur Sache», sagte Claes, der langsam begriff. «Sicher scheint mir, dass Ihr liebt. Und ganz bestimmt nicht mich.»

«Ja, ich liebe. Und ich werde den, den ich liebe, heiraten. Niemand sonst. Lieber will ich sterben, als die Frau eines anderen zu werden. Oh, Monsieur, könnt Ihr mich nicht verstehen?»

«Emily», sagte Claes lachend, «erst jetzt begreife ich, dass es ein Fehler war, nicht entschiedener um Euch zu werben. Der, den Ihr liebt, ist zu beneiden. Er bekommt nicht nur eine bezaubernde, sondern auch eine starke Frau.»

«Dann verzeiht Ihr mir? Werdet Ihr mir helfen? Bitte, Ihr müsst mir helfen.»

«Wobei soll ich Euch helfen? Muss er noch überzeugt werden, Euch wiederzulieben?»

«O nein, Monsieur, das tut er längst. Obwohl er sagt, dass es manchmal nicht leicht ist.»

Sie kicherte zufrieden. Das Pathos, mit dem ihre Stimme bei der Androhung des edlen Todes der tragisch Liebenden vibriert hatte, war so schnell verflogen, wie es gekommen war.

«Aber er will mich so, wie ich bin. Nur mein Vater will ihn nicht so, wie er ist. Das, Monsieur, ist unser Problem. David versteht nichts von Schiffen, Zahlen und Fässern, von Zucker, Gerste und Wolle. Er will auch nichts davon verstehen. Nicht einmal aus Liebe zu mir.»

Wieder begann sie ihr malträtiertes Spitzentuch zwischen den Fingern zu drehen. «Er würde sterben, wenn er nicht mehr malen könnte, denn er ist ein wunderbarer Maler. Monsieur, Ihr habt vor ein paar Tagen gezeigt, dass Ihr die Malerei liebt, dass Ihr sie sogar versteht, was selten ist bei einem Kaufmann. Ihr müsst mir helfen! Wenn ich David nicht heiraten darf, brennen wir einfach durch. Es gibt einen Schmied in Schottland, der darf jeden trauen, auch ohne die Erlaubnis des Vaters. Ich würde so gerne durchbrennen, aber», fügte sie ärgerlich hinzu, «David will nicht mitmachen. Er findet Durchbrennen unehrenhaft.»

«Was für ihn spricht!» Claes ertappte sich bei dem Gedanken, der ehrenhafte David rechne sich vielleicht nur aus, dass er kaum auf Emilys Erbschaft hoffen konnte, wenn er sie entführte. «Warum will Paul Euren David nicht? Er liebt doch auch die Malerei. Hat er sich nicht sogar von dem jungen Gainsborough portraitieren lassen, als er im letzten Jahr in Bath zur Trinkkur war?»

«O ja! Er liebt schöne Bilder. Vor allem, wenn darauf Schiffe und das Meer zu sehen sind. Oder Damen. Und er liebt es, mit Malern über Fragen der Perspektive und des Spiels von Licht und Schatten zu streiten. Aber er liebt keinen Maler, der seine Tochter liebt.» Sie sah ihn flehend an. «Mein Vater vertraut Euch seit vielen Jahren, er schätzt Euer Urteil. Wenn Ihr ihn überzeugt, dass David mich wahrhaft liebt und eine große Zukunft hat, wird er uns erlauben zu heiraten. Bitte.»

Da war nichts mehr von der gelangweilten Kühle, die sie ihm in den vergangenen Wochen gezeigt hatte. Der brennenden Leidenschaft in ihren Augen, der Hitze, die Claes schon am Abend zuvor neidvoll im Gesicht des jungen Jouffroy gesehen hatte, konnte er nicht widerstehen. Er dachte flüchtig an Sophie. Ob sie auch solche Augen haben konnte? Er würde sich mehr um seine Tochter kümmern müssen, wenn er wieder in Hamburg war. Auch dort gab es schöne junge Maler, die keinen Sinn für Schifffahrt und Zahlen hatten.

«Ihr verlangt viel von mir, Emily, gerade weil Euer Vater mir vertraut. In einem habt Ihr gewiss recht: Die Verlockung, Euch als meine Braut zu erobern, war immer groß, aber der Gedanke daran war mir nicht leicht. Ich bin zu alt für Euch. Nein, keine Widerrede. Ich weiß, dass Ihr genauso denkt.»

Sie dachte nicht im Geringsten an Widerrede. Auch wenn sie David nicht geliebt hätte, konnte sie sich nicht vorstellen, einen Mann zu heiraten, der kaum jünger war als ihr Vater.

«Wie kann ich Euren Vater davon überzeugen, dass David – wer immer er sein mag – der richtige Mann für Euch ist?» Claes sah lächelnd in das glühende Gesicht. «Am besten, Ihr bringt mich zu Eurem Maler, vielleicht heute Nachmittag, damit ich mir seine Bilder ansehen kann. Und, wenn Ihr gestattet, auch ihn selbst. Ohne ein kleines Examen geht es nicht. Ihr habt es selbst gesagt: Es ist für das ganze Leben.»

Später erzählten sich die Leute von St. Aubin, die Verlobung zwischen Emily und dem deutschen Kaufmann sei nun wohl endlich verabredet. Die Köchin von Madame Boucher habe gesehen, wie die Mademoiselle, Tränen des Glücks auf beiden Wangen, den Freund ihres Vaters auf dem Weg zum Haus der St. Roberts umarmt und geküsst habe. Kurz bevor die Sache mit den Fässern passiert sei.

 

Claes hätte gerne laut gesungen, als er sich wieder auf den Weg zum Hafen machte. Er hatte lange nicht mehr gesungen, vom sonntäglichen Kirchenbesuch einmal abgesehen, und er würde es auch heute nicht tun. Aber das Gefühl der Erleichterung war köstlich. Natürlich würde nun die Suche nach einer Ehefrau wieder von vorne beginnen.

Sicher hat Sophie recht, dachte Claes. Wenn sie im nächsten Sommer heiratet, ist es besser für mich, eine neue Hausfrau zu haben.

Er hatte Marias schreckliches Ende lange nicht begriffen. Im ersten Jahr nach ihrem Tod betrat er oft den Salon oder ihr Schlafzimmer und wunderte sich, dass sie ihn nicht wie immer erwartete.

Doch inzwischen hatte er sich sein Leben bequem eingerichtet. Er war nicht sicher, ob er wirklich noch einmal heiraten wollte. Wenn, dann müsste es eine reifere Frau sein, sanft und nachgiebig. Und sie müsste verstehen, dass ihm der Handel Spaß machte, dass es für ihn ein Abenteuer war, seine Geschäfte zu führen, Risiken einzugehen und zu gewinnen. An Verluste mochte er nun nicht denken.

Eine Woge von Zuversicht erfasste ihn. Alles würde sich regeln. Das Problem Emily hatte sich schon von selbst gelöst. Und die Sache mit den Kaffeelieferungen würde er morgen regeln. Oder nächste Woche, wann immer Captain Braniff mit seiner Brigg in der Bucht vor Anker ging.

Am Ende der Pier sah er Anne vor der weitgeöffneten Tür des St. Roberts’schen Kontors stehen. In ihrem resedagrünen Kleid und mit der weißen Haube wirkte sie wie eine Lilie. Er wollte ihr zuwinken. Aber das gelang ihm nicht mehr. Claes hörte auch ihren entsetzten Aufschrei nicht. Er hörte nur die Explosion in seinem Kopf, ein seltsames Knirschen – dann war Stille. Eine eigentümliche, dunkle Stille, wie ein Versinken. Er spürte nichts, keinen Schmerz, kein Erstaunen und auch nicht mehr die Freude, die ihn so erregt hatte.

Er lag unter einem Haufen zerborstener Fässer, aus denen gelber Zucker und braunes Getreide auf die Pier rieselten. Sein Körper war kaum zu sehen.

«Der is hin», brummte der Alte, der auf einem Hocker in der Sonne saß und Äpfel schälte.

Aber niemand hörte ihm zu, alle waren zusammengelaufen und versuchten, den leblosen Körper unter den Fässern hervorzuziehen.

Keiner sah den Mann, der im Schatten der Lagerhäuser den Hang hinaufging und den Weg nach St. Peter einschlug. Trotz seines steifen Beines bewegte er sich geschmeidig wie ein Fuchs.

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2. Kapitel

Frühling 1765

Dienstag

Sanft flirrten die Töne durch die kühle Aprilluft, stiegen zu einem sehnsuchtsvollen Tremolo auf und erreichten in Trillern, die jedem Pirol Ehre gemacht hätten, ihren Höhepunkt. Dann war es wieder still. Das Mädchen sah sich um. Solche Töne hatte sie noch nie gehört. Das musste ein wunderbarer Vogel sein, mit buntem Gefieder und langem Hals. Auf den kahlen Ästen der Erlen hockten aber nur ein paar aufgeplusterte Spatzen, die Schwalben und all die anderen Sommersänger waren noch nicht aus dem Süden zurückgekehrt.

Wieder ein Triller. Und Stimmen. Das konnte kein Vogel sein. Das waren Menschen.

Vorsichtig kroch sie auf den Erdwall, der das Gehöft schützend umschloss, schlüpfte durch die Lücke des dichten Gestrüpps aus Brombeer- und Geißblattranken auf der Kuppe und sah hinunter auf das Grasland. Es war ihr verboten, die Welt jenseits des Erdwalles allein zu betreten, denn dort war die große Straße. Eine gefährliche Welt, so hatte man ihr erzählt, durch die nicht nur ehrbare Kaufleute in Kutschen und auf Fuhrwerken reisten, sondern auch all das Gesindel, das in den Städten sein Unwesen trieb.

Das Mädchen war schon neun Jahre alt und oft den Erdwall hinaufgekrochen. Sie hatte viele Fuhrwerke gesehen und sicher auch Gesindel. Aber weil sie nicht wusste, wie sie Kaufleute von Gesindel unterscheiden konnte, wusste sie auch nicht, wen sie gesehen hatte.

Auf der Straße bewegten sich Menschen, Wagen, Pferde und Kutschen, und manchmal stellte das Mädchen sich vor, wie es über den Wall kroch, auf die Wiese lief und mit diesen geheimnisvollen Wesen verschwand. Sie hatte noch nie eine Stadt gesehen, nur manchmal, bei klarem Wetter, konnte sie vom Wipfel der Buche am Teich die Spitzen der Kirchtürme hinter den Wäldern erkennen. Die Geschichten, die der Vater erzählte, wenn er von einem seiner seltenen Ausflüge in diese Welt der Wunder zurückkam, hatten ihrer Phantasie prächtige Bilder von Gefahr und sündigem Prunk gemalt.

Der Vater hatte auch von Schiffen erzählt, größer als ein Haus, deren Segel an baumhohe Masten gespannt waren. Darin fing sich der Wind und trieb die Schiffe über die unendlichen Meere in fremde Länder. Er hatte eines mit der Haselgerte in den festen Sand vor der Scheune geritzt, und seit diesem Tag träumte das Mädchen davon, auf so einem schwimmenden Haus mit dem Wind davonzureisen. Mädchen seien auf Schiffen nicht erlaubt, hatte der Vater gesagt und das Bild schnell in den Sand getreten.

Dann war er fortgegangen, um die beiden Kühe auf die Weide hinter dem Teich zu bringen. Er hatte nicht vom Meer erzählen wollen, das irgendwo hinter der Stadt begann. Aber seitdem träumte sie von der Stadt und vom Meer.

Da. Wieder die Triller. Eine mutwillig hüpfende Melodie flog den Wall hinauf. Vorsichtig kroch das Mädchen unter der letzten Brombeerranke hindurch, und endlich sah es, woher die Töne kamen. Auf der Wiese neben der Straße standen drei Wagen, die Pferde waren ausgeschirrt und suchten am Rande des Walls nach frischem Gras.

Zwischen all den Leuten, die bei ihren Wagen Rast machten, entdeckte sie die Frau sofort. Sie saß mit gekreuzten Füßen auf einer Holzkiste an ein Wagenrad gelehnt und spielte auf einem Ding, das wie eine Flöte aussah und doch ganz anders als die, die Tobias mitbrachte, wenn er am Sonntag zu Besuch kam. Diese hier war nicht aus Holz, sondern glänzte wie die polierten Kerzenleuchter in der Wandsbeker Kirche, wenn Sonnenstrahlen durch die Glasfenster auf den Altar fielen. Und niemals gelangen Tobias solche Töne! Das Mädchen hockte auf dem Wall und lauschte und sah. Sie würde diese Töne und den Glanz nie mehr vergessen, und die Sehnsucht, die sie in ihr weckten, würde sie einige Jahre später aus der Welt der Gehöfte und schützenden Erdwälle fliehen lassen.

«Holla, Rosina», rief ein dicker Mann mit gelben, struppigen Haaren, «du hast Publikum.»

Pu-bli-kum. Das Mädchen nahm den schönen Klang des fremden Wortes in seine Gedanken auf und verband es mit den hellen Tönen der Flöte. Dann erst erschrak sie und sprang auf. Sie war entdeckt von diesen Fremden, die so anders aussahen.

«Lauf nicht weg», rief der Mann, «wir tun dir nichts. Möchtest du ein Stück Brot?»

Das Mädchen wusste, dass es vor Fremden weglaufen sollte. Aber, so dachte sie, wer so himmlische Musik machen kann, muss zu den ehrbaren Kaufleuten gehören. Sie hätte gerne von dem Brot probiert, aber sie traute sich nicht, den Wall hinunterzulaufen und den Fremden nahe zu kommen.

«Komm doch her!» Der Mann winkte mit beiden Händen.

«Lass das Kind in Ruhe, Titus», sagte eine andere Frau, die auf der Deichsel des Wagens saß und ihr lockiges, rotbraunes Haar mit zwei Kämmen feststeckte, «die Bauern mögen es nicht, wenn wir mit ihren Kindern sprechen.»

«Ach was, Helena. Kein Bauer weit und breit, nur ein neugieriges kleines Fräulein.»

Er griff in seinen Korb, der neben Kisten und Beuteln im Gras stand, und das Mädchen sah aus seinen Händen fünf bunte Kugeln in die Luft auffliegen und im großen Bogen zurückkehren. Sie stiegen hoch über seinen Kopf, wieder und wieder, bis er eine nach der anderen in das Gras fallen ließ.

«Willst du es auch mal versuchen?»

Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. Sie hatte sich auf einen Baumstamm gesetzt, der am Rande des Gestrüpps lag, den grauen Rock fest über die mageren Beine gezogen und starrte auf die Fremden.

Da waren der Dicke mit den Bällen, die Frau auf der Deichsel des ersten Wagens, Helena hatte er sie genannt, und die andere, die mit der Flöte, Rosina. Niemals hatte sie so schöne Frauen gesehen, und selbst die Narbe, die der Blonden über die linke Wange zum Kinn lief, ließ sie nicht weniger schön erscheinen.

Auf dem zweiten Wagen hockte ein Mann in einer ordentlichen grünen Joppe und versuchte das Durcheinander von Gepäckstücken zu ordnen. Der lange Regen hatte die Straße in ein endloses Schlammloch verwandelt. Der zweite Wagen steckte mit dem linken Vorderrad tief im Morast. Die hoch aufgetürmte Ladung war verrutscht, das Rad aber zum Glück nicht gebrochen. Kisten und Körbe lagen im Dreck.

«Gib mir mal den Korb mit den Kerzen, Gesine», rief er der Frau zu, die neben dem Wagen stand und ihm zusah. «Hier ist noch eine Lücke, wenn wir die nicht stopfen, gerät die Ladung wieder ins Rutschen.»

«Fritz», rief die Frau, «hilf mir. Die Kiste ist zu schwer.»

Ein Junge, pausbäckig, den Kopf voller kräuseliger, fast weißer Locken und kaum älter als das Kind auf dem Baumstamm, kam hinter dem Wagen hervor und half, die Kiste hinaufzustemmen.

«Immer ich», maulte er, «warum muss Manon nicht helfen?»

«Wenn du nicht immer nur vor dich hin träumen würdest, hättest du gesehen, dass deine Schwester Lies hilft, ihre Kräuter in trockene Tücher zu packen. Während du im Baum …»

«Lass doch, Gesine», sagte der Mann vom Wagen herunter. «Er wollte nur nachsehen, ob man die Türme von Hamburg schon sieht. Wann haben die Kinder schon mal Zeit, auf Bäumen herumzuklettern?»

«Du bist zu nachlässig mit ihm, Rudolf. Er muss lernen zuzupacken. Die Bücher machen ihn nicht satt.»

Ärgerlich wandte sie sich ab, und der Mann auf dem Wagen, Rudolf, beugte sich wortlos wieder über seine Arbeit.

Das Mädchen auf dem Baumstamm hörte zu und war zufrieden. Die Fremden sprachen im gleichen Ton miteinander wie ihre Eltern. Der dicke Mann, der die Kugeln so schön kreisen lassen konnte, sah noch einmal zu dem Mädchen hinauf, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder den anderen zu. Die Frau, die er Helena genannt hatte, war von der Deichsel heruntergesprungen. Sie schüttelte Brotkrumen von ihrem Rock aus schwerem grauem Stoff und sah sich prüfend um.

«Bist du alleine?», fragte sie.

Das Mädchen antwortete nicht. Sie saß nur bewegungslos auf dem Baumstamm und starrte mit einer Mischung von Sehnsucht und Furcht auf die Fremden. Helenas Haar glänzte wie die Kastanien, die das Bauernkind im Herbst als Wintervorrat für das Vieh sammelte. Das Tuch, das sie um ihre Schultern gebunden hatte, erinnerte an nichts, was das Mädchen je gesehen hatte. Seine Farben leuchteten wie Veilchen, frisches Buchengrün, Sumpfdotterblumen und Margeriten. Glänzende Fransen von der Farbe reifer Hagebutten wippten bei jeder Bewegung an den Rändern. Das Tuch hätte sie fast noch lieber berührt als die Flöte.

Die war verschwunden. Rosina hatte sie in ein weißes Tuch gewickelt und in einen Holzkasten gelegt.

«Schade», sagte ein junger Mann, der eine sandfarbene Stute mit schwarzer Mähne auf der Wiese herumgeführt hatte und sie nun an den Wagen band. «Unser kleiner Gast möchte sicher gerne noch mehr hören. Wie ich.»

Sein Haar war von der gleichen Farbe wie die Stute und mit einer glänzenden schwarzen Schleife im Nacken gebunden. Er zog seine braune Jacke aus, und das Mädchen sah, dass sein weißes Hemd weite Ärmel und feine Biesen hatte.

Er blickte zu ihr hinauf und lächelte.

«Komm, Muto», rief er dann, «wir geben der Prinzessin zum Abschied noch eine kleine, ganz private Vorstellung.»

Ein rothaariger Junge von etwa zwölf Jahren hüpfte grinsend von einem der Wagen. Er lief ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf, sprang, wirbelte wie ein lebendiger Ball in einem schnellen Salto durch die Luft – und landete mit beiden Füßen genau auf den Schultern des Mannes. Die Hände der beiden fanden sich, und schon schwebte der Junge kopfüber in der Luft, um in einem neuen Salto zurück ins Gras zu springen.

Das Mädchen hatte das blitzschnelle Kunststück atemlos verfolgt. So wäre sie auch gerne durch die Luft geflogen, aber nun rief niemand mehr nach ihr. Die Menschen auf dem Grasland hatten den kleinen und den großen Akrobaten umringt. Sie klatschten in die Hände und riefen durcheinander: «Sebastian, wann hast du ihm das beigebracht?», und «Muto, du bist ja ein echter Artist» und «Ihr Geheimniskrämer! Was könnt ihr noch?»

«Ist das nicht genug für den Anfang?», wehrte Sebastian lachend und außer Atem ab und strubbelte Muto durchs zerzauste Haar. «Es ist nur sein Verdienst. Der kleine Teufelsbraten ist gelenkig wie eine Katze und mutig wie ein Adler. Na, jedenfalls wie ein Bussard.»

Die anderen waren begeistert, sie schlugen Sebastian auf die Schultern, knufften Muto in die Oberarme und lachten. Nur Muto sagte nichts, obwohl ihn doch alle etwas fragten. Er lachte tonlos mit offenem Mund und strahlenden Augen. Dann lief er über die Wiese, in mutwilligen Sprüngen wie ein Osterlamm, warf die Arme in die Luft und sang ein lautloses Lied.

Helena sah ihm nach, und das Mädchen verstand nicht, warum sie für einen Moment traurig erschien.

Bald waren Kisten, Säcke und Körbe, die überall im Gras verstreut gewesen waren, auf den Wagen verstaut. Sebastian und Rosina begannen die Pferde anzuspannen, die schläfrig unter den Bäumen im Gras gestanden hatten.

Sie gehen fort, dachte das Bauernkind und wünschte sich heiß, Rosina möge noch einmal die Flöte auspacken und das Lied mit den Trillern spielen, nur einmal noch, als es sich plötzlich grob am Kragen gepackt und zurückgerissen fühlte.

«Gesindel», schrie der Vater und schwang wütend die Forke gegen die Menschen auf der Wiese, «Komödiantenpack, verschwindet von unserem Grund. Hier ist nichts zu stehlen. Und wenn ihr das Kind angefasst habt, dann gnade euch Gott …»

«Plustere dich nicht so auf, Bauer», schrie der Dicke zurück. «Dein Grund mag hinter dem Wall anfangen, aber diese Wiese gehört allen, die auf dieser Straße reisen …»

«Still, Titus», Helena zog den wütenden Komödianten heftig am Ärmel, «es hat doch keinen Zweck. Komm!»

Die Pferde zogen an und die hoch bepackten Wagen rollten von der Wiese auf die Straße. Niemand sah zurück, nur Titus brüllte so laut, dass der Vater des Mädchens ihn deutlich hören konnte.

«So ein Hungerleider von Bauerntölpel! Betrügt bei jedem Scheffel Buchweizen, den er auf den Markt schleppt, lebt mit seinen Schweinen in einem Koben und will uns zeigen, was Verachtung ist …»

Das Mädchen hätte den Wagen gerne noch eine Weile hinterhergesehen. Aber der Vater zog es unerbittlich mit sich durch die Hecke, den Wall hinunter über den Acker und über den Hof bis vor das Feuer in der Diele des Gehöfts. Dort schlug er es voller Zorn zweimal heftig ins Gesicht. Das Kind wusste nicht, dass er das aus Angst tat, weil er gefürchtet hatte, die Fahrenden wollten ihm sein Kind stehlen.

Das Mädchen hatte nun Gesindel kennengelernt, und von diesem Tag an glaubte es nicht mehr alles, was seine Eltern erzählten.

 

Die Komödiantengesellschaft, die sich nach ihrem Prinzipal Jean Becker die Becker’sche nannte, beeilte sich. Noch zwei Stunden bis Hamburg, und die dunklen Wolken, die jetzt von Süden heraufzogen, drohten mit Regen. Jean reiste diesmal nicht mit auf den vollbepackten Wagen. Er war schon in der vergangenen Woche mit der Kutsche von Lübeck aus vorausgefahren, um ihre Ankunft vorzubereiten. Die Spielgenehmigung des Rats musste eingeholt, das Quartier bei der Krögerin in der Fuhlentwiete vorbereitet werden. Und die Komödienbude, die die Hamburger reisenden Komödiantengesellschaften zur Verfügung stellten, war nach dem langen, besonders regenreichen Winter sicher voller Löcher. Da musste rechtzeitig bei den Handwerkern geschmeichelt und mit einem Goldstück geklimpert werden, damit der Meister sie nicht zu lange warten ließ.