Tod auf dem Jakobsweg - Petra Oelker - E-Book

Tod auf dem Jakobsweg E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Ein uralter Pilgerpfad. Eine Gruppe von Wanderern. Ein tödliches Geheimnis. Einmal nur Urlaub vom norddeutschen Regen! Wandern auf dem legendären spanischen Jakobsweg verheißt weite Landschaften, südliche Sonne, alte Kunst, Besinnung der Seele und eine nette Reisegesellschaft. Erholung pur! Doch nach einem schweren Unfall in der Gruppe und einem plötzlichen Todesfall wittert die pilgernde Journalistin Leo Peheim einen kriminellen Hintergrund. Spätestens am Ziel, in Santiago de Compostela, weiß sie, dass auch Neugier mörderisch gefährlich sein kann ...

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Petra Oelker

Tod auf dem Jakobsweg

Kriminalroman

Für Marie-Theres, die die guten Wege findet

Burgos, Castrojeriz, Frómista, Carrión de los Condes, Valencia de Don Juan, León, das Panteón de los Reyes, jeder Name ein Lockruf und eine Erinnerung, wie Sirenen liegen sie zu beiden Seiten des Weges und zerren an mir.

Cees Nooteboom, Der Umweg nach Santiago

Das Beste, was man vom Reisen nach Hause bringt, ist die heile Haut.

Persisches Sprichwort

Prolog

Die Nächte waren kalt hier oben. Es störte ihn nicht. Hatte es nie. Er schlug den Kragen seiner alten Felljacke hoch, der immer noch daraus aufsteigende Geruch von Schafen ließ ihn lächeln. Er mochte diesen Geruch, selbst jetzt noch empfand er ihn als ein Symbol seines Sieges. Er wusste, dass das ein bisschen albern war, es gab deutlichere Zeichen und konkretere Anlässe. Erst recht bessere Gerüche, wie den in der nächtlichen Feuchte aufsteigenden Duft der Erde und der Wiesen, den letzten Hauch des Holzfeuers, den der leichte Wind vom Haus herübertrug. Doch dieser Geruch des alten wolligen Fells stand für das, was er gesucht und schließlich gefunden hatte. In jener Zeit war ihm die Suche lang erschienen, wenn er nun zurückblickte, war sie kurz gewesen, eine flüchtige Episode.

Er hatte damals alles, was sein Leben bis dahin bestimmte, zurückgelassen, mit so viel Entschlossenheit wie Furcht. Auch mit Trotz, das hatte er erst später begriffen, als er längst sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Seltsam, dachte er, während sein Blick von den in der Dunkelheit spukhaft schimmernden schneebedeckten Bergspitzen weiter hinauf zu den Myriaden von Sternen wanderte. Bei aller Sehnsucht nach dem bequemen Leben, die ihn in der harten Anfangszeit, besonders in Nächten wie dieser, manchmal eingeholt hatte, war die Versuchung zurückzukehren nie stark genug geworden.

Einer der Sterne, ein großer, bewegte sich über den Himmel – kein Stern, es war ein Flugzeug. Seit es Direktverbindungen von Santiago nach Nordeuropa gab, sah er die Maschinen in den tiefdunklen Nächten häufiger. Wie lange mochte es dauern, bis so ein großer Vogel in Frankfurt oder Berlin landete? Zwei Stunden? Drei? So nah war sein altes Leben. Es bedeutete keine Versuchung, auch wenn er sicher glaubte, dass er dort nach all den Jahren unbehelligt bleiben könnte. Die Möglichkeit, mit einem Sprung zurückzukehren, so schnell, so einfach, machte es noch leichter, es nicht zu tun.

«Blödsinn», murmelte er. «Was sollte ich da?»

Und womöglich würden sie ihn wieder einfangen. Womöglich würde er nicht stark genug sein, noch einmal zu entkommen oder sich auch nur ihren Plänen zu verweigern.

Sie hatten ihn bisher nicht gefunden, also würden sie ihn auch in Zukunft nicht finden. Vielleicht hatten sie es gar nicht versucht? Zu Anfang hatte er sich das oft gefragt, heimlich und mit dieser alten Mischung aus Wut, Furcht und Hoffnung.

In diesen Bergen war er in Sicherheit. Hier fühlte er einen Frieden, den er zuvor nicht gekannt hatte. Hier würde er bleiben, hier würde er sterben. Obwohl er hoffte, bis dahin noch viel Zeit zu haben, hatte er sich seinen letzten Platz schon ausgesucht. Vielleicht fiel ihm eines Tages einer dieser Sterne, seiner vertrauten Freunde auf den Kopf. Er lachte lautlos und blinzelte hinauf in das kalte Glitzern. Wenn man es genau betrachtete, waren die Sterne seine Retter gewesen. Denn wegen der Sterne gab es ja den Jakobsweg. Diese Pilgerstraße, für die er sich entschied, nachdem er endlich begriffen hatte, dass er sich retten musste. Seine Flucht in den Süden hatte dazu nicht gereicht. Er hatte sich nur durchgeschlagen, mehr schlecht als recht. Ein paar Sommermonate mit zwei Straßenmusikern, hier und da ein paar Wochen als Kellner in einer Strandbar, ein Vierteljahr in der Villa einer sehr reichen und sehr besitzergreifenden Frau, im goldenen Käfig. Da war er noch einmal geflohen.

Er hatte sich damals gewiss nicht auf den Weg nach Santiago de Compostela gemacht, weil er das Heil, den verlorenen Glauben oder inneren Frieden suchte. Er hatte nur gehört, unterwegs treffe man lauter Gutmenschen, die sich bemühten, ihren Nächsten zu lieben und mit einem armen Pilger bereitwillig ihr Brot oder eine Flasche Wein teilten. Und wer sich darauf verstehe, ein frommes Gesicht zu machen, finde in den zahllosen Kirchen, Klöstern und Herbergen entlang des Weges immer Unterkunft. Für einen Sommer sei das eine halbwegs angenehme Zeit.

Also hatte er ein billiges Silberkreuz gut sichtbar um seinen Hals gehängt und sich auf den Weg gemacht. Ganz so vielen ‹Gutmenschen› war er dann doch nicht begegnet, die Idee hatten vor ihm schon zu viele andere gehabt. Oft hatte er für Unterkunft und Abendessen einen Stall ausmisten, Holz hacken, Fußböden schrubben oder Heu wenden müssen. Er war verblüfft gewesen, als er eines Tages bemerkte, dass ihm das Befriedigung gab. Und dann hatte er den Alten getroffen, einen echten Pilger. Der hatte ihn angesehen, prüfend, mit skeptischen Augen. ‹Mach dich endlich auf den Weg, Junge›, hatte er schließlich gesagt. ‹Folge den Sternen, folge ihnen wirklich. Bis nach Compostela.› Wenn man bereit sei, sei der Weg zu diesem Ort ein heilsamer Weg. Immer.

Er hatte gelacht, damals, hatte sich unbehaglich gefühlt unter dem Blick des fremden Mannes. Aber der hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt, ganz leicht nur, und doch hatte die Berührung etwas in ihm ausgelöst, das er nicht verstanden hatte. Er hatte Tränen aufsteigen gespürt, zum ersten Mal in all der Zeit auch seine schwarze Einsamkeit und zugleich etwas Tröstliches. Etwas Demütiges.

Was für eine kitschige Szene, dachte er jetzt, doch genau so war es gewesen. Er hatte es in den vielen Jahren, die seither vergangen waren, nie jemandem erzählt. Vielleicht weil er fürchtete, der Zauber verlöre dann seine Wirkung. Denn ein Zauber war es gewesen. Inzwischen hatte er gelernt, dass es etwas zutiefst Menschliches war, die Not eines anderen zu erspüren, eines Fremden gar, bevor der selbst sie erkannte oder sich eingestand, und über einen guten Rat hinaus von der eigenen Kraft zu geben. Und von der Zuversicht.

Es war nicht gleich alles anders geworden, nicht einfach so. Aber das war der Anfang gewesen. Er war den Sternen gefolgt, und er war angekommen. Zuerst in Santiago de Compostela, dann, später in diesen Bergen, bei sich selbst.

Diese hellen Sterne dort, hoch über ihm, konnten ihm nichts anhaben. Sie bedeuteten sein Glück, die dunklen hatte er aus seinem Leben verbannt. Eine kindliche Vorstellung, sie gefiel ihm trotzdem. Oder gerade deshalb.

Er lehnte sich zurück gegen den rauen Stein und lauschte träge in die Nacht. Für einen Moment glaubte er den Jungen weinen zu hören, das musste eine Täuschung sein, er war ja nicht mehr hier. Und das andere Kind, das in seiner Erinnerung lebte, hörte er schon lange nicht mehr.

Es war Zeit, umzukehren, Zeit, sich von diesem Blick auf die Bergkette und in den Himmel zu trennen. Es knackte hinter ihm im Gebüsch, er hielt den Atem an und lauschte, nur um gleich heftig auszuatmen. Er fürchtete sich nie, wenn er allein durch Berge ging, nachts umso weniger, als dann die Menschen schliefen, die einzige wirklich gefährliche Spezies.

Er reckte die Schultern, sie waren trotz der warmen Jacke in der Nachtkälte steif geworden, er begann alt zu werden. Noch einmal lauschte er, nur um unwillig den Kopf zu schütteln. Auch die stillsten Nächte waren voller Geräusche, wenn man erst einmal begonnen hatte, genau zu hören. Er war nicht bereit, sich beunruhigen zu lassen.

So folgte er wie gewöhnlich dem vertrauten Pfad durch das Dickicht, den er immer ging, überquerte die Brücke über den Bach und ertappte sich doch dabei, wie er beständig zurücklauschte. Obwohl es ihn ärgerte, fühlte er etwas, das er nicht zuordnen konnte. Er achtete auf solche Zeichen und nahm sie für gewöhnlich ernst. Wer in dieser rauen Landschaft lebte, fern der Ablenkungen und Abstumpfungen des modernen Lebens, lernte schnell, diese Dinge zu respektieren. Im Laufe der Jahre waren seine verkümmerten Instinkte wieder wach geworden. Doch dieses Gefühl vager Bedrohung hatte seinen Ursprung nicht in der gegenwärtigen Realität. Es kam aus der Vergangenheit, wucherte aus den Gedanken, die ihn in den letzten Tagen bedrängten. Für einen Moment überlegte er, die Abkürzung quer durch die Narzissen auf der weiten Wiesenfläche zu nehmen, doch seine Füße folgten wie von selbst dem üblichen Pfad, der weiter hinauf und am Rand der Schlucht entlang zurück zum Hof führte.

Wenn jetzt ein Wolf heulte, wenn der schmale Mond hinter der dunklen Wolkenwand verschwände, die von Norden aufzog, würde er doch schneller gehen, vielleicht.

Als die Wolken den Mond erreicht hatten, als die Nacht noch schwärzer wurde, brach hinter ihm knackend ein trockner Ast, und als gleich darauf ein paar Steine in die Schlucht hinabrutschten, blieb er stehen und sah sich um. Er erkannte nicht, was oder wer hinter ihm war, er wusste nur, es war kein Wolf, ganz gewiss auch kein Bär. Dazu war dieses Schattenwesen zu schlank und zu geschmeidig. Er erkannte seinen Feind nicht, er spürte den Schlag, in hilflosem Staunen den tiefen Fall. Also hatten sie ihn schließlich doch gesucht. Und gefunden.

Kapitel 1

Sonntag/​1.Tag

Letzter Aufruf für Frau Eleonore Peheim, gebucht fürFlugLH 4388 nach Bilbao. Kommen Sie bitte umgehend zu Gate 42, die Maschine steht zum Abflug bereit. Frau Peheim, kommen Sie umgehend…»

Verdammt. Leo schubste den kleinen Rucksack auf ihre Schulter zurück und hastete weiter. Der Gang nahm kein Ende, und die halbe Welt schien sich auf dem Frankfurter Flughafen versammelt zu haben, einzig um sich ihr in den Weg zu stellen.

Gate 32, 33…

Sie sprang auf das Laufband in der Mitte des Ganges, doch der Mann vor ihr, breit wie ein Fass und mit zwei dicken Taschen bewaffnet, stand wie ein Fels in der Mitte und versuchte nicht einmal, Platz zu machen. Es war eine Schnapsidee gewesen, die Zeit zwischen den Flügen mit einem ausführlichen Frühstück zu verbringen und sich dabei in ‹Das Mysterium der 1000-jährigen Pilgerroute nach Santiago de Compostela› zu vertiefen. Tausend Jahre waren zweifellos viel, zwei Stunden hingegen nichts, besonders wenn man dazu neigte, über der Lektüre die Zeit zu vergessen.

Vielleicht war die ganze Reise eine Schnapsidee. ‹Achte auf die Zeichen am Weg›, hatte Annelotte zum Abschied gesagt. Der Weg sei ungemein spirituell, alles könne Bedeutung haben. Annelotte war seit ihrer ersten Prügelei um einen verbeulten Brummkreisel Leos beste Freundin. Früher waren sie einander in ihrem Denken und auch ihrem Tun sehr ähnlich gewesen, seit Annelotte sich ganz auf ihr Leben als Ehefrau und Mutter konzentrierte, entwickelte sie jedoch eine seltsame Neigung zu dem, was Leo Ausflug ins Übersinnliche nannte, was aber womöglich keine schlechte Idee war, wenn man mit drei außerordentlich temperamentvollen Kleinkindern und einem überwiegend abwesenden Gatten in einer noblen Vorstadt lebte.

Falls dieser Dauerlauf durch den Flughafen das erste Zeichen war, wollte sie sich die folgenden nicht vorstellen. Das Laufband endete, Leo drängte sich an dem beleibten Mann vorbei und hastete weiter. Die Wanderstiefel hingen wie Bremsklötze an ihren Füßen, in den schweren Dingern einen Urlaub zu verbringen war absurd.

Endlich, ganz am Ende des Ganges, erreichte sie Gate 42.Schweiß rann ihren Rücken hinab, und sie starrte grimmig die Stewardess an, die frisch wie der kühle Morgen die letzten Fluggäste abfertigte und mit einem Automatenlächeln für alle vernehmbar verkündete: «Frau Peheim? Wie schön, dass Sie es doch noch geschafft haben.»

Die Maschine nach Bilbao war nur spärlich besetzt. Leo stolperte zu Reihe 16, fest entschlossen, jeden von ihrem Fensterplatz zu scheuchen, selbst ein Kind mit großen Augen. Eine fabelhafte Gelegenheit, Dampf abzulassen. Stressabbau klang allerdings besser. Leider war ihr Platz frei.

«Hallo», sagte der Mann, der für zwei Stunden über den Wolken ihr Nachbar sein würde, mit breitem Lächeln, stand auf und nahm ihr den Rucksack ab. Während er ihn im Gepäckfach verstaute, ließ sie sich auf ihren Platz fallen und schloss erschöpft die Augen. Sie hasste Hektik. Sie musste unbedingt darüber nachdenken, warum sie sich immer wieder in solche Situationen brachte, warum sie es nicht schaffte, ruhig und gelassen durchs Leben zu gehen. Oder auch nur durch die endlosen Gänge eines Flughafens. Die nächsten beiden Wochen würden dazu genug Gelegenheit bieten. Wer zweihundertzwanzig Kilometer zu Fuß absolvierte, immer geradeaus durch einsame Landschaften, durch Flusstäler und Dörfer, über Berge und Hochebenen, ohne den Lärm und die Ablenkungen des Alltags, ging zwangsläufig mit sich und seinen Marotten ins Gericht. Oder erkannte – vielleicht–, wie reich die Welt und das Leben waren, insbesondere das eigene.

Leo entschied sich für die zweite Variante, auch wenn sie ihr allzu fromm klang. Der Mai war zu schön für strenge Gedanken, die konnten bis zum November warten, wenn düstere Nebeltage…

«Entschuldigen Sie, aber Sie sollten sich jetzt besser anschnallen.»

Die Stimme klang angenehm, fast wie ein vertrauliches Raunen, und es dauerte einen Moment, bis Leo, schon unterwegs in den Schlaf, begriff, dass sie zu ihrem Platznachbarn gehörte.

«Es geht gleich los», fuhr er fort, «die Stewardess läuft schon mit Argusaugen durch den Gang.»

Sein Lächeln war so angenehm wie seine Stimme, der ganze Mann war angenehm, das weiche braune Haar, die graugrünen Augen. Er war um einige Jahre jünger, dennoch erinnerte er sie an den Mann, für den sie immer noch einen besonders liebevollen Gedanken in ihrer Erinnerung bewahrte.

«Sie wollen wandern», sagte er, «auf dem Jakobsweg.»

«Woher wissen Sie das? Sehe ich wie eine typische Pilgerin aus?»

«Sie meinen verhärmt und schuldbeladen? Nein», er lachte leise, «ich habe den Gepäckanhänger an Ihrem Rucksack gesehen. Meiner hat den gleichen. Benedikt Siemsen», stellte er sich vor, «es sieht aus, als gehörten wir zur gleichen Reisegruppe.»

Nachdem er erfahren hatte, sie heiße Leo Peheim, lebe in Hamburg und sei sehr früh aufgestanden, um den Zubringerflug nach Frankfurt zu erwischen, sagte er: «Dann auf gutes gemeinsames Wandern», schlug seine Zeitung auf und überließ sie ihren eigenen Gedanken.

Der erste war erfreulich: Benedikt Siemsen konnte eindeutig den guten Zeichen zugerechnet werden. Wenn nur die Hälfte der übrigen Reiseteilnehmer so aufmerksame und – das vor allem – unaufdringliche Menschen waren, konnte die erste Gruppenreise ihres Lebens nicht völlig danebengehen.

Der zweite Gedanke war unerfreulich. Er führte zu allen Flugzeugabstürzen, von denen sie je erfahren hatte.

Die Maschine war inzwischen zur Startbahn gerollt, als sie grollend beschleunigte, starrte Leo auf die immer schneller vorbeiflitzende Grasnarbe, presste die gefalteten Hände aneinander, bis die Knöchel weiß hervortraten, und fand wieder einmal, dass Flugangst etwas sehr Dummes war. Die Maschine hob ab, legte sich in die Kurve, überflog die Stadt mit ihren Wolkenkratzern und schwebte endlich friedlich hoch am Himmel Richtung Süden.

Tief ausatmend löste Leo den Gurt, beugte sich, so weit es die enge Sitzreihe zuließ, vor und öffnete die Schnürsenkel ihrer Stiefel. Genüsslich bewegte sie die Füße in der plötzlichen Freiheit und sah verstohlen nach den Schuhen ihres Nachbarn. Ordentliche Wanderstiefel, zweifellos, dennoch sahen sie leicht und flexibel aus. Mit ihren könnte sie die Höhen des Himalaja erklimmen, für eine Wanderung auf dem Pilgerweg hätte es weniger stabiles Leder auch getan. Nun war es zu spät, und wer wusste schon, wie viel spitze Steine und rutschige Abhänge sie erwarteten.

Höchste Zeit, alles lästige Wenn und Aber zu vergessen. Die hektischen Tage vor der Abreise waren vorbei, der Sprint im Flughafen schien jetzt nur noch komisch, das endlose Blau über den Wolken, das sie an schlechten Tagen unweigerlich an einen Irrflug in die Unendlichkeit erinnerte, als Inbegriff der Freiheit.

Freiheit. Zwei Wochen ohne Pflichten, ohne die kleinen alltäglichen Katastrophen, dafür lange Stunden an der frischen Luft, Tag für Tag in einer anderen Landschaft, prachtvolle Kathedralen, verwunschene Dörfer unter strahlend blauem Himmel… an Sturm und Regen wollte sie keinesfalls denken. Das Ziel war Spanien, und in Spanien schien die Sonne. Punktum. Auch wenn der Reiseführer erklärte, der Norden sei ein regenreicher Landstrich.

Leo hatte nie zuvor eine so lange Wanderung gemacht, tatsächlich hatte sie überhaupt nichts gemacht, was die Bezeichnung Wanderung verdiente. ‹Moderate Tagestouren zu Fuß› traf es akkurater. So hatte sich die stets bei neuen Ideen nörgelnde Stimme in ihrem Kopf mächtig angestrengt, ihr diese Reise auszureden, hatte etwas von blutigen Füßen, von Hitzschlag und Überanstrengung geflüstert, von Scheitern auf halbem Weg, überhaupt von Schnapsidee: Leo Peheim und Gruppenreise – wenn das kein Witz war!

Ja, es stimmte, wenn es um mehr als ein paar Stunden ging, war sie wenig gruppenkompatibel. Es musste am Alter liegen. Wenn man die dreißig überschritten hatte (schon vor einigen Jahren), wurde man leicht eigenbrötlerisch. Besonders als Einzelkind, da fehlten gewisse Erfahrungen zum Einüben der nötigen Toleranz. Das dicke Fell, dachte sie, das ist der passendere Ausdruck. Doch je mehr Einwände durch Leos Kopf geschwirrt waren, umso mehr hatte ihr die Vorstellung der langen, gleichwohl ziemlich bequemen Wanderung gefallen: einfach Fuß vor Fuß setzend eine unbekannte Landschaft erobern, den Gedanken ihren Lauf lassen und die Freiheit von aller Verantwortung genießen, während das Gepäck, Geißel der echten Pilger, im Bus vorausreiste und das Bett für die Nacht und ein Drei-Gänge-Menü schon im Hotel warteten. Nicht zu vergessen eine gefüllte Badewanne für die strapazierten Muskeln und wunden Füße. Und die paar Berge – kein Problem.

«Hast du das spanische Wörterbuch, Benedikt? Ich hab nur das hier, das Wörterbuch musst du eingesteckt haben.»

Eine junge Frau mit schmalem Gesicht unter glattem aschblondem Haar stand im Gang. Ein Jadearmreif klirrte leise gegen ihre Uhr, die so schlicht wie teuer aussah, als sie den gleichen Reiseführer hochhielt, der auch in Leos Rucksack steckte und so schmählich Regen androhte.

«Tut mir leid, Nina, das Wörterbuch ist in meinem Koffer. Wenn wir ankommen, suche ich es dir gleich raus. Das ist übrigens Frau Peheim, sie gehört auch zu unserer Gruppe, habt ihr euch schon kennengelernt? Ach nein», er grinste Leo vergnügt an, «als Sie kamen, saßen wir ja alle schon im Flugzeug. Darf ich bekannt machen? Das ist Nina Instein.»

«Janina», korrigierte sie, ohne Leo mehr als einen knappen Blick zu gönnen.

«Okay. Janina. Aber alle nennen sie Nina. Sie kommt wie ich aus Hamburg. Frau Peheim auch», wandte er sich wieder an seine Freundin. Doch das Mädchen, das nicht Nina genannt werden wollte, war schon verschwunden. Leo widerstand dem Impuls, sich aufzurichten und ihr nachzusehen. Warum saßen die beiden nicht nebeneinander?

«Eine Freundin von Ihnen?», fragte sie.

«Ja.» Es klang zögerlich, doch er fügte schnell hinzu: «Eine sehr gute Freundin, wir machen diese Reise zusammen. Eigentlich war es ihre Idee. Sie hat im vergangenen Winter im Guggenheim-Museum in Bilbao hospitiert und sich in Spaniens Norden verliebt. Ich wollte eigentlich – na, ist ja egal. Jedenfalls freue ich mich jetzt. So eine tausendjährige Pilgerroute hat was.»

«Ich habe sie gar nicht im Zubringer aus Hamburg gesehen», sagte Leo. «War ich blind?»

«Sicher nicht. Wir waren zwei Tage in Frankfurt, ich hatte dort einen beruflichen Termin, und Nina hat mich begleitet.»

Leo spürte Erleichterung. Die Sorge, zwei Wochen ausschließlich unter Menschen zu sein, die vor jedem Altar, jedem Kreuz am Weg auf die Knie fielen oder in jeder romanischen Bauplastik Hinweise auf die Geheimnisse der Templer und des Heiligen Grals sahen, esoterische Energiefelder entdeckten und auf Erleuchtung hofften, war ihr genommen. Zumindest Benedikt und Nina schienen nicht dazuzugehören.

«Die anderen», hörte sie Benedikt, «haben wir auch schon kennengelernt, vorhin am Gate. Fast alle. Zwei oder drei Teilnehmer treffen wir in Bilbao, die sind schon dort. Der Reiseleiter natürlich auch. Sollten Sie über mein profundes Wissen staunen: Ich hatte noch ein paar Fragen und habe vorgestern mit dem Reiseleiter telefoniert. Da hat er’s mir erzählt. Scheint eine nette Gruppe zu sein, obwohl», er rieb sich ausführlich die Nase, «na ja, in Wanderstiefeln und Anorak wirken Leute leicht ein bisschen spießig.»

Er grinste sie freundlich an und beugte sich wieder über seine Lektüre.

Leo hätte ihn gerne nach dem Rest der ‹netten Gruppe› gefragt, zum Beispiel, ob alle in dem unverbrauchten Alter von Nina und Benedikt seien und sie sich für die nächsten Wochen als Alterspräsidentin fühlen müsse, wie meistens, wenn sie sich in den letzten Jahren in einem Anfall von Übermut in eine Disco oder Szene-Bar verirrte. Dabei fühlte sie sich mit ihren siebenunddreißig Jahren oft noch wie kurz nach der Pubertät, worauf sie allerdings nicht stolz war. Also stand es ihr nicht zu, über die nach Sinn und Erkenntnis Suchenden zu spotten – es musste einen Grund haben, warum sie sich ausgerechnet für die Wanderung auf einem Pilgerweg entschieden hatte.

Da machte es ‹Pling› über ihrem Kopf. Das Zeichen für das Schließen des Sicherheitsgurtes leuchtete auf, und die Stimme der Stewardess verhieß Turbulenzen, der Imbiss müsse leider noch ein wenig warten. Leo zog grimmig ihren Gurt fester, zerrte ihr Buch aus der Tasche und vertiefte sich entschlossen in das Kapitel über die Suche nach dem Heiligen Gral am Jakobsweg. Wer nach Santiago de Compostela wanderte, stand unter himmlischem Schutz, den konnten ein paar Turbulenzen nicht schrecken. Sie schlug das falsche Kapitel auf. Das, in dem berichtet wurde, wie mittelalterliche Pilger Opfer von Straßenräubern oder in Stürmen umstürzenden Bäumen geworden waren.

«Sieh dir das an, Edith.» Die zünftig gebräunte Dame mit den graumelierten Löckchen stand vor dem Frühstücksbuffet und hielt mit spitzen Fingern eine Toastscheibe hoch. «Ich denke, dies ist ein Drei-Sterne-Hotel. Haben die hier kein Vollkornbrot?»

«Spanische Sterne, meine Liebe», sagte ihre Begleiterin, ein ganz und gar rosiges Geschöpf, von den Haaren über die Wangen und die Bluse bis zu den Socken in den dunkelroten Wanderstiefeln. «Und in Spanien isst man nun mal Weißbrot. Wie überall rund ums Mittelmeer, das weißt du doch.»

«Wir sind aber nicht am Mittelmeer, wir sind in den Pyrenäen. Und wo ist die Teekanne? Ich sehe nur Kaffee. Schau dir diesen Käse an, das reinste Gummi.»

Leo nickte den beiden Frauen einen Gruß zu, lud Brot, eine Scheibe Schinken, Marmelade und Butter auf ihren Teller und setzte sich an den langen, der deutschen Reisegruppe vorbehaltenen Tisch. Es war viel zu früh für Smalltalk, besonders über die Unterschiede deutscher und spanischer Vorlieben. Sie hatte wunderbar geschlafen und war vor dem Frühstück zu dem Flüsschen hinuntergegangen, das sich nur wenige Schritte hinter dem Hotel durch die Wiesen des Hochtals schlängelte. Der Morgen war frisch, der Himmel klar, Vögel zwitscherten, selbst die Berge sahen einladend und gar nicht anstrengend aus.

Burguete, inmitten der westlichen Pyrenäen kurz hinter der spanisch-französischen Grenze und ihr Standort für die ersten beiden Nächte, war ein kleines blitzsauberes Dorf von kaum dreihundert Einwohnern. Es bestand aus einer Reihe städtisch wirkender Häuser links und rechts der Straße, von denen drei Hotels waren. Burguete war fast so alt wie der Jakobsweg, und der wiederum war seit jeher ein gutes Geschäft und sorgte für Ordnung. Selbst die Kühe, die sie neugierig von der anderen Seite des Wasserlaufs gemustert hatten, erschienen frisch geduscht.

Leo hatte sich auf die Brücke gesetzt, kaum mehr als ein Steg mit schmalem Geländer, die Beine baumeln lassen und den akrobatischen Flugkapriolen der Mauersegler zugesehen. Hamburg war weit weg. Sehr weit.

Sie war nicht die Einzige, die so früh auf Entdeckungstour gegangen war. Als sie über den hinteren Hof des Hotels zurückkehrte, entdeckte sie Nina, die mit Hedda Meyfuhrt, der Frau mit dem punkig schwarzen Haar, von einem Spaziergang durch das Dorf zurückkam. Die beiden schwiegen und sahen nicht aus, als hätten sie einander gut unterhalten. Ninas Schweigen wunderte Leo nicht, sie hatte auch am vergangenen Abend beim ersten gemeinsamen Essen bis auf einige leise Worte zu ihrem Freund Benedikt geschwiegen. Hedda hingegen, sie hatte Leo gegenübergesessen, hatte diese muntere Redefreudigkeit gezeigt, hinter der sich oft das Unbehagen des Fremdseins verbirgt.

Obwohl bereits ein gemeinsamer Tag hinter ihnen lag, hatte Leo die meisten der anderen Namen vergessen. Eines der beiden Paare hieß Müller, das war leicht zu merken. Und die beiden am Buffet? Die mit den grauen Löckchen und der Abneigung gegen weißes Brot? Selma Wendel. Oder Enkenbach? Wer konnte sich schon so schnell ein gutes Dutzend neue Namen und die dazu passenden Gesichter merken?

Den Frühstücksraum hatte sie als Erste betreten, Nina und Hedda waren offenbar in ihre Zimmer zurückgekehrt. Nach und nach trafen auch die anderen ein, und der Geräuschpegel stieg. Geschirr klapperte, es wurde nach mehr Kaffee gerufen, nach Honig, jemand lachte, Stühle scharrten über die alten blitzblanken Dielen, schließlich sagte eine angenehme Stimme: «Darf ich wieder Ihr Nachbar sein?», und Benedikt setzte sich neben sie. Der Tag hatte endgültig begonnen.

«Guten Morgen», sagte Leo. «Wo ist Ihre Freundin?»

«Keine Ahnung.» Benedikt türmte Schinken, Käse und Tomatenviertel auf eine bleiche Toastscheibe und betrachtete zufrieden sein Werk. «Nina ist schon ganz früh aufgestanden, mit dem ersten Hahnenschrei sozusagen. Spazieren gehen, hat sie gesagt, ich hab lieber noch ’ne Runde geschlafen. Unsere erste Etappe wird gleich die anstrengendste. Vierundzwanzig Kilometer lang und tausend Meter Steigung. Da kann man vorher gar nicht lange genug schlafen.»

«Tausendsiebenundfünfzig», korrigierte Enno Lohwald aus Aurich (doch noch ein Name, der Leo einfiel, sogar samt Heimatort), der sich neben Benedikt gesetzt hatte, mit erhobener Gabel. «Siebenundfünfzig Meter mehr oder weniger, Sie können’s mir glauben, sind in dieser Region eine Menge. Da oben ist die Luft schon dünn. Sie essen besser nicht zu viel. Müssen Sie alles mitschleppen.»

Er lachte scheppernd und strich mit Behagen über seinen Bauch unter einer mit zahlreichen Taschen bestückten Khaki-Weste. Bei dem folgenden Austausch über Wanderungen in den Bergen punktete Enno mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung, die sich allerdings auf die Alpen und die deutschen Mittelgebirge in West und neuerdings auch Ost beschränkte. Benedikt machte Eindruck mit einer Rucksacktour durch die Allegheny Mountains und einem Abstieg in den Grand Canyon. Während das eine gegen das andere abgewogen wurde, trank Leo ihren Kaffee und musterte verstohlen die Übrigen.

Bis auf zwei waren nun alle Stühle besetzt. Die beiden Müllers, ein Paar, an dem einzig der Altersunterschied von wohl anderthalb Jahrzehnten auffällig war, saßen nebeneinander und widmeten sich in stiller Harmonie ihrem Frühstück. Sie sahen aus wie ein Manager der mittleren Ebene und seine Assistentin, was sich aber von vielen Ehepaaren sagen lässt, jedenfalls nach dem ersten Blick.

Die Damen Graumeliert und Rosa plauderten mit dem Reiseleiter. Jakob Seifert war ein Mann von kräftiger Statur, und man sah ihm an, dass er sich viel in frischer Luft bewegte. Er hatte seine Gruppe am Flughafen in Bilbao im Empfang genommen, und seither bewunderte Leo seinen unerschütterlichen Frohsinn, jetzt noch mehr die Eleganz, mit der er die Vollkornbrot-Klage überging und versicherte, zum Frühstück werde ab sofort immer auch Tee bereitstehen, selbstverständlich verfügten alle künftigen Hotels über Nichtraucherzimmer und – doch – er rechne mit tadellosem Wetter. Er habe es extra bestellt, der Apostel Jakobus, immerhin sein Namenspatron, habe von jeher einen guten Draht zu Petrus. Im Übrigen kenne er den Weg wie seine Westentasche, er sei ihn schon oft gegangen und habe Santiago jedes Mal unversehrt erreicht. Die Damen waren entzückt, und Graumeliert schickte einen Blick zu Rosa, der dem Stolz über den ersten Preis in ‹Der prächtigste Vorgarten in unserem Dorf› angemessen war.

Auch ihnen gegenüber saßen zwei Frauen. Carla und…? Sie beugten sich über den Streckenplan des ersten Tages und berechneten, wie lange es dauern könne, bis sie den höchsten Punkt, den Cisa-Pass bewältigt haben würden. Sie waren Kolleginnen, beide etwa Mitte dreißig und semmelblond, beide trugen eine Brille ohne Rand und reisten, wenn Leo sich richtig erinnerte, zum ersten Mal gemeinsam. Ein mutiges Unternehmen. So eine Reise, besonders im Doppelzimmer, war ideal, um sich abgrundtief zu zerstreiten – gar keine gute Basis für eine künftige konstruktive Zusammenarbeit.

Blieb noch das jüngere Paar am Ende des Tisches, Helene Vitus und Sven Bowald. Sie hatten sich in ihrer heimischen Wandergruppe kennengelernt, in irgendeiner hessischen Kleinstadt, und waren offensichtlich schwer verliebt.

Helene musste sehr früh aufgestanden sein, ihr Haar, gut schulterlang und von natürlichem Burgunderrot, war frisch geföhnt und hätte auf jedem Sektempfang Ehre eingelegt. Svens Bürstenhaarschnitt sah vor allem praktisch aus. Bei der Vorstellungsrunde hatte er sich gestern Abend als erster Verkäufer im Autohaus ihrer Heimatstadt vorgestellt, was erklären mochte, warum die Brusttasche seines Hemdes ein Jaguar-Emblem zierte, das zu einer vor allem von den Männern bestrittenen Diskussion um die Vorzüge des Allradantriebs geführt hatte.

Mit Svens Wanderlust war es trotz der Mitgliedschaft in seinem Wanderverein nicht allzu weit her. Eigentlich wäre er lieber im Herbst verreist, hatte er Leo später anvertraut, aber Helene habe auf diesem Termin bestanden. Aus beruflichen Gründen, das gehe natürlich vor. Überhaupt sei sie von ihnen die Wanderbegeisterte. Ihm reichten kurze Touren, ein Sonntag im Odenwald – das sei nett und erholsam. Diese Tour hatte er lieber im Auto absolviert. ‹Warum auch nicht?›, hatte er sich sofort verteidigt, obwohl sich nicht ein Härchen ihrer Augenbrauen gehoben hatte. ‹Im Mittelalter sind viele auf dem Pferderücken gepilgert, da kann man’s heut auch mit zweihundertzehn PS unter der Haube tun.› Dann gehe es zwar nicht über die einsamsten Pfade, aber entlang der Straßen sei auch Interessantes zu sehen, und sein neuer Landrover schaffe es spielend durch Schlammlöcher und über holperige Bergwege. Bei der anschließenden Lobpreisung diverser, für Leo absolut kryptischer technischer Details strahlte er wie ein Kind, dem das größte Päckchen unterm Weihnachtsbaum zugesprochen worden war. Seine Liebe zu Helene musste tief sein. Leo hoffte, sie werde diesen Härtetest überstehen.

Nina war immer noch nicht da. Dafür ließ sich ein junger Mann auf den Stuhl gegenüber Leo fallen. Er brummte Benedikt ein verschlafenes «Guten Morgen» zu und sah Leo stirnrunzelnd an.

«Hannelore?», überlegte er. «Nein, nicht sagen. Ich hab’s gleich. Ich bin Felix, nur zur Erinnerung. Ach ja: Eleonore. Richtig? Hübscher Name. Aber ziemlich altmodisch, das passt gar nicht zu Ihnen. Nennen Ihre Freunde Sie Ella?»

«Wer das tut», sagte Leo und lächelte süß, «gehört nicht mehr zu meinen Freunden. Die nennen mich Leo.»

«Wie bei mir!», rief Carola in fröhlicher Verschwesterung. «Mich darf auch keiner Carola nennen, der mein Freund bleiben will. Ich bin Caro.»

«Klare Ansage.» Felix grinste und musterte Leos strubbeliges Haar. «Ab jetzt nur noch Caro. Und Leo. Der Name passt zu Ihrer Frisur. Bisschen dunkel für einen Löwen, aber sonst – perfekt.» Er prostete ihr mit seiner Kaffeetasse zu und sah sich um. «Schrecklich munter, die Leute. Es ist doch erst acht.»

«Zwanzig nach», rief Enno, diesmal unterstützt von seinem erhobenen Messer, «Frühstück um acht. Das ist die Regel. Abfahrt Punkt neun. Zum Wandern viel zu spät, aber in Gruppen muss man sich anpassen.»

Felix murmelte etwas von unchristlicher Zeit und perfidem Gruppenzwang und köpfte ein Ei.

Endlich kam auch Nina. Sie gab Benedikt einen raschen Kuss auf die Wange und setzte sich auf den letzten freien Stuhl am anderen Ende der langen Tafel.

«Wo warst du?», rief er über den Tisch. «Hast du keinen Hunger?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich möchte nur Milchkaffee. Ich war spazieren, das weißt du doch. Es ist so schön still draußen. Der Himmel über den Bergen war ganz rot. Sicher bleibt das Wetter schön.»

«Morgenrot, Schlechtwetterbot’!», murmelte Hedda neben Leo in ihre Serviette. «Aber vielleicht ist hier alles ein bisschen anders. Hoffentlich.»

Sie schien eine höfliche Person zu sein. Leo hatte die gleiche Bauernweisheit auf den Lippen gehabt, allerdings hätte sie sie sehr viel deutlicher verkündet. Es gelang ihr nicht immer, ihren Hang zur Besserwisserei zu unterdrücken. Sie füllte ihre Tasse zum vierten Mal mit dem köstlich schwarz gebrannten spanischen Kaffee und nahm sich vor, für die nächsten zwei Wochen still, höflich und geduldig zu sein, sich überhaupt aus allem herauszuhalten. Sie hatte Urlaub und nichts zu tun, als die Landschaft zu genießen, Kirchen und Klöster zu besichtigen und mit der Herde dem Reiseleiter nachzulaufen.

Von irgendwo klang es, als lache jemand.

Punkt fünf Minuten vor neun war die Reisegruppe vollzählig vor dem Bus im Hof des Hotels versammelt. Nachdem Ennos Vorschlag, einander zu duzen, wie es bei Wanderern üblich sei, mehr oder weniger zögerlich, doch letztlich einstimmig angenommen war, wurde auch der Busfahrer vertraulich als Ignacio begrüßt, und es konnte losgehen.

Wanderer sind eine besondere Spezies, die sich in echte und reine Lustwanderer aufteilt. Das Wichtigste für beide Arten sind gute und gründlich erprobte Schuhe, wobei der kluge Lustwanderer um seine zarteren Füße weiß und niemals ohne einen Vorrat von Pflastern verschiedener Größe auf Wanderschaft geht. Der echte Wanderer hat das nicht nötig. Dessen Schuhwerk ist so gut eingelaufen, dass nichts drücken oder reiben kann. Er hat trotzdem eine ordentliche Auswahl an Pflastern im Rucksack, für alle Fälle und weil er weiß, dass es unter den Mitwanderern stets mangelhaft ausgerüstete Anfänger gibt. Wanderer sind enorm sozial.

Gleich danach kommt das Wetter. Hier erkennt man den passionierten, also echten Wanderer besonders leicht: Er wird dessen Bedeutung niemals zugeben oder gar über ausgedehnte Tiefausläufer klagen, sondern einzig auf die Allgegenwart von regenfester Überkleidung in seinem Rücksack verweisen.

Lautes Singen, das Nichtwanderer zu den Leidenschaften aller Fußreisenden rechnen, ist bei beiden Unterarten aus der Mode, was alle übrigen die freie Natur bevölkernden Lebewesen enorm entlastet.

Trotz fließender Grenzen unterscheiden sich die beiden Fraktionen am deutlichsten durch die Ernsthaftigkeit ihres Tuns. Darum kann auch die Frage der Kopfbedeckung bei der Unterscheidung helfen. Der echte Wanderer kennt die Tücken der Sonne, er zollt ihr Respekt und geht selbst bei verhangenem Himmel niemals ohne Hut.

Leo verabscheute Kopfbedeckungen jeder Art. Bis der Verkäufer in ihrem Sportgeschäft von Sonnenstichen, Brandblasen auf der Kopfhaut und hitzebedingten Migräneattacken gesprochen hatte. Ihr Hut zeigte die Farbe schmutzigen Sandes, seine Krempe beschattete die Augen und den Nacken, ein winziges Täschchen an der linken Seite zierte ein ebenso winziger giftgrüner Druckknopf – kurz gesagt: Dieser Hut war vor allem praktisch. Zu dumm, dass sie ihn im Hotel vergessen hatte und erst an ihn denken würde, wenn zuerst der Schweiß, dann eiskalter Regen ihren Nacken hinabrann.

Ignacio brachte die Gruppe über die Grenze in das französische St.-Jean-Pied-de-Port, den Startpunkt für die meisten modernen Jakobspilger. Von dort würde die erste Wanderung fern der Landstraße wieder ins Spanische führen, über den Cisa- und schon tiefer liegenden Ibañeta-Pass zurück nach Roncesvalles mit dem berühmten Kloster, nur knapp zwei Kilometer von ihrem Hotel in Burguete entfernt. Der Bus rollte durch üppig grünendes Land, immer bergab, durch Wälder, Felder, Wiesen und Dörfer. Erste Vergleiche mit dem Schwarzwald wurden laut, die sich später als leichtfertige Vermutung herausstellen sollten. Vor dem östlichen Stadttor von St.-Jean stauten sich die Reisebusse und Pkws, in der Hauptsaison musste es hier aussehen wie in Kehl am Rhein beim größten Winzerfest des Jahres.

«Von wegen einsame Pilgerei», sagte Benedikt feixend. «Wenn der Weg so schmal ist, wie ich annehme, wird’s ein tüchtiges Gedrängel geben.»

«Das verläuft sich», versprach Enno. «Im letzten Jahr in den Dolomiten hat es auch so ausgesehen. Aber nur im Tal. Am Berg war keiner, die Leute sind einfach zu faul. Guck sie dir doch an.»

Bei der eiligen Besichtigung des uralten Städtchens, vom Reiseführer zu Recht als ‹bezaubernd› gepriesen, zeigte schon das Outfit der in festen Trauben die Gassen blockierenden Touristen, dass Enno eben doch die größere Erfahrung hatte.

Inzwischen hatte brütende Hitze die Frische des Morgens verdrängt. Über den Gipfeln hängende schwarze Wolken verhießen, dass Morgenrot auch in den Pyrenäen als Schlechtwetterbote gelten musste.

Als endlich alle ihren Tagesrucksack schulterten, die Schuhe fester schnürten und eine doppelte Portion Sonnencreme auf Schultern und Nasen rieben, blickten die beiden Müllers ein letztes Mal zum Himmel und gaben sich als Vertreter der Kategorie Lustwanderer zu erkennen. An der Porte d’Espagne, dem südlichen Stadttor in der nur noch rudimentär vorhandenen Festungsmauer und Ausgangspunkt für die erste Etappe, winkten sie ihrer davonmarschierenden Gruppe fröhlich nach. Dann stiegen sie zu Ignacio in den Bus, um sich für einen faulen Tag nach Burguete zurückbringen zu lassen. Sie sahen sehr zufrieden aus. Leo blickte zum dräuenden Himmel auf und sah dem davonrollenden Bus seufzend nach.

An der ersten Kreuzung, zugleich der letzten der kleinen Stadt, wartete der erste Wegweiser. Er zeigte in zwei Richtungen, bei schlechtem Wetter, also bei Schnee, Sturm oder schweren Gewittern, empfahl er in sechs Sprachen den nach rechts führenden Weg einzuschlagen, den sicheren immer an der Landstraße entlang. Die Empfehlung wurde in völliger Einigkeit ignoriert.

Schon nach der ersten Stunde überlegte Leo, ob die Müllers nicht bequeme, sondern nur kluge Menschen waren. Der Weg führte durch blühende Wiesen, vorbei an alten Gehöften, ab und zu warf ein Kirschbaum kargen Schatten – und immer ging es zunehmend bergauf. Während der zweiten Stunde verstummte das allgemeine muntere Geplauder, an ihrem Ende erfüllte sich endlich die Hoffnung auf Schatten – die Region der schwarzen Wolken war erreicht. Die Temperatur fiel schlagartig von subtropischen auf schottische Verhältnisse, bald darauf begann es zu nieseln. Vorerst sanft.

«Jetzt wird’s zünftig», rief Enno und schwenkte seinen alten Wanderstock. Einem siegreichen Feldherrn gleich stand er auf dem winzigen Aussichtsplatz, der einen weiten Blick auf das tief unten im Tal liegende St.-Jean-Pied-de-Port im letzten Sonnenschein bot. Als er begann, seine Regenkluft aus dem Rucksack zu zerren, hätte Leo gerne etwas Gemeines gesagt. Ihr fiel nichts ein, sie hatte genug damit zu tun, ihren Atemrhythmus zu normalisieren.

Caro und Eva, die einander so ähnlichen Kolleginnen, schienen keinerlei Probleme mit ihrer Kondition zu haben, sie lehnten einträchtig an der hölzernen Brüstung, putzten die Feuchtigkeit von ihren Brillen und diskutierten, wie weit es bis zur nächsten Wasserstelle sei. Was mit einem versöhnlichen «Ist ja egal, wir werden’s schon merken» von Eva endete und als erster Hinweis auf ihre Konfliktlösungsstrategien gelten konnte.

Gleichmäßiges klack-klack-klack kündete auch Heddas Ankunft an. Neben ihr marschierte weit ausschreitend und unermüdlich schwatzend, die Dame mit den graumelierten Löckchen. Selma war im Rentenalter, doch der Anstieg schien sie so wenig zu beeinträchtigen wie Heddas klappernde Begleitung. Die war nicht die Einzige, die mit Wanderstöcken ging, doch die Einzige, deren Stöcken die Gummipuffer fehlten und deshalb Wanderer, die sich der Stille der Berge ergeben wollten, in die Flucht schlug. Etwa hundert Meter hinter ihr bogen drei weitere Gestalten um die letzte, von einer Hecke halb verborgenen Kurve, sie trugen schon ihre Regenjacken, unter den Kapuzen waren die Gesichter nicht zu erkennen. Einer musste Jakob sein. Als Reiseleiter gehe er grundsätzlich mit den Nachzüglern, hatte er gestern versichert, niemand müsse Sorge haben, allein zurückzubleiben. Benedikt und Nina, Felix und die rosenfarbene Edith mussten demnach schon vor ihnen auf dem Weg zur Passhöhe sein.

Leo hatte gedacht, sie werde stets das Schlusslicht bilden, dass sie immerhin zum Mittelfeld gehörte, bereitete ihr Genugtuung. Alle hatten Hunger, doch sie begnügten sich mit ein paar Keksen oder einer Banane. Für das Picknick, erklärte Jakob, der inzwischen mit Helene und Sven das kleine Plateau erreicht hatte, gebe es später einen geschützten Platz mit einer Wasserstelle bei einem Edelkastanien-Wäldchen. Das sei der nächste Treffpunkt und nicht zu verfehlen.

Leo streifte ihr Regencape über den Anorak, ließ trotzig die Handschuhe im Rucksack – schließlich war es Mai!– und machte sich wieder auf den Weg.

«Nur immer den gelben Pfeilen und Muschelzeichen folgen», rief Jakob ihr nach, «dann kannst du nicht falsch gehen. Und später beim großen Kreuz rechts ab durch die Wiese. Achte nur immer auf die Pfeile…»

Der Jakobsweg maß von St.-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela gut siebenhundertfünfzig Kilometer, trotzdem, so hieß es, könne man ihn gänzlich ohne Karten und Kompass finden. An jeder Kreuzung, an jedem abzweigenden Trampelpfad weise ein gelber Pfeil oder das Muschelzeichen, oft beides, die Richtung. Leo beschloss, dieser Auskunft zu trauen.

Der Weg, jetzt eine schmale asphaltierte Straße, verlief nur scheinbar eben. Tatsächlich ging es beständig bergauf. Wann es wieder eindeutig steiler wurde, erinnerte sie später nicht, da hatte sie längst aufgehört, auf die Uhr zu sehen. Ihre Füße sehnten sich nach weicherer Erde und liefen von allein, Schritt vor Schritt vor Schritt, ihre Hände blieben in den Ärmeln warm, nur ab und zu wischte sie sich die Nässe vom Gesicht. Von beglückender Freiheit der Gedanken konnte keine Rede sein. Sosehr sie sich bemühte, an blühende Wiesen und warme Sommertage zu denken – der immer eisiger werdende Regen, der Wind und die stetige Steigung fesselten ihre Gedanken und jagten sie im Kreis um die Unbilden dieser unfreundlichen Natur und den schwachsinnigen Entschluss zu dieser Reise.

Dafür bereitete ihr das gefürchtete Gruppenleben nun keinerlei Probleme. Es gab keines. Ihre Wanderung war einsam, außer den weit auseinandergehenden dreizehn Deutschen war kaum jemand unterwegs. Kurz bevor der Weg den mit dichtem Gebüsch und alten Bäumen bewachsenen, zur Rechten aufragenden Hang hinter sich ließ, überholte sie zwei junge Männer, die unter einem mächtigen Nussbaum wasserdichte Kunststoffhosen über ihre durchnässten Shorts zogen. Sie waren ekelhaft gut gelaunt, Leo hatte sie schon seit einiger Zeit durch den Dunst gehört. Sie sprachen Spanisch, und als sie an ihnen vorbeiging, die Kapuze weit über den Kopf gezogen, riefen sie ihr ein spottlustiges «Buen camino!» nach, den traditionellen Pilgerruf für den guten Weg.

Am Ende des Hanges empfing Leo eine kahle Kuppe, scharfer Wind peitschte ihr bitterkalten Regen ins Gesicht. Die Straße wand sich in weitem Bogen weiter aufwärts. Aufwärts. Immer aufwärts. Der vermaledeite Pass – tausendvierhundertdreißig Meter über dem Meeresspiegel – konnte nicht mehr weit sein. Hinter jeder der langgezogenen Kurven vermutete sie den höchsten Punkt, von dem es endlich nur noch bergab ging, immer weiter auf das Ziel zu, dem Kloster Roncesvalles.

Der Weg hatte viele lange Kurven.

Sie schwitzte unter ihrer Regenkleidung, doch sobald sie stehen blieb, kroch die Kälte durch ihren Körper, versteiften sich ihre Muskeln, und sie stapfte weiter. Bevor sie die Kuppe erreichte, hatte sie noch ab und zu Stimmen gehört, von Wanderern, die vor ihr oder hinter ihr gingen, schwatzten und manchmal sogar lachten. Nun war es ganz still. Sie hörte nicht einmal das Klacken von Heddas Stöcken. Einmal überholte sie jemand, mit kraftvollen Schritten gegen den Wind gebeugt und stumm wie sie, wenig später überholte sie selbst eine unter ihrem Regenschutz verborgene dunkle Gestalt. Niemand rief mehr «Buen camino».

Leo bog um die nächste Kurve, sah den beharrlich aufwärts führenden Weg, und plötzlich stieg ein glucksendes Lachen in ihr auf. Da stapfte sie durch Regen und Wind tausend Meter bergauf, schien allein in dieser lautlosen Welt, sah nichts als nasse Hochwiesen, die schon nach wenigen Metern im Wolkendunst verschwanden – und doch: Es gefiel ihr. Irgendwie. Es war ein kindliches, ein Ausreißergefühl. Oder die vor der völligen Erschöpfung beginnende Hysterie.

Die spanisch-französische Grenze musste schon hinter ihr liegen, sie hatte den Übergang nicht bemerkt. Angeblich gab es nur den einen, den Pilgerweg über diese Höhen, tatsächlich führten auch ab und zu schmale Pfade in die Wiesen, nicht mehr als zwei Fuß breite sandige Streifen. Vielleicht waren das die alten Schmugglerpfade, die diese Höhen durchzogen. Pfade, die auch im grenzenlosen Europa noch ihre Funktion hatten.

Schließlich erreichte Leo das Kreuz. Sie strich mit steifen Fingern über das rissige Holz und verstand zum ersten Mal wirklich, warum dieses christliche Symbol der Auferstehung und des ewigen Lebens an so vielen einsamen Pfaden durch menschenfeindliche Gebirgslandschaften aufgestellt war. Es gab den Mühseligen Hoffnung.

Weiter ging es auf einem zerfurchten Wiesenweg, sie fühlte mit Behagen den weichen Grund unter ihren Füßen, und über die nächste Kuppe. Die verabredete Picknickstelle hatte sie sicher längst passiert, doch wer mochte bei diesem Wetter schon Rast machen? Endlich ging es leicht bergab. Der Wind wurde schlagartig sanft, der Regen wieder zum Nieseln. Sie hörte entfernte Stimmen, aus welcher Richtung war nicht auszumachen. Für einen Moment nur, dann war es wieder still. Sie begann leise vor sich hin zu pfeifen. Sie pfiff schlecht, wie gewöhnlich, gleichwohl nahmen die unmelodischen, eher einem Wispern gleichenden Töne dieser eisgrauen Welt die Kälte und gaben das Gefühl der Geborgenheit. Nun konnte es nicht mehr weit sein. Nicht mehr schrecklich weit.

Leo zog im Gehen ein Stück Brot und einen Apfel aus dem Rucksack, verschlang in plötzlichem Heißhunger beides und spürte tatsächlich neue Kraft. Das Nieseln ließ nach und gab schließlich ganz auf, dafür lag die Welt nun in noch dichterem Wolkennebel, und auch ohne den scharfen Wind blieb es kalt. Rechts des Weges, er war nun voller tiefer Pfützen und schlammiger Stellen, fiel ein karg mit Gestrüpp und krüppeligen Bäumen bewachsener Hang steil ab, auf der anderen Seite, hier stieg der Berg sanft an, wuchs lichter, doch veritabler Wald. Trotz der wattigen nassen Luft gab ihr das Erreichen einer vertrauteren, menschenfreundlicheren Region ein wärmendes Gefühl.

Sie war nun sieben Stunden gewandert, das größere Stück des Weges allein, sie war erschöpft und fror, ihre Beine schmerzten, dennoch fühlte sie sich frei und im Schutz des Waldes tatsächlich geborgen. Plötzlich, so stellte sie erstaunt fest, war sie von einer heiteren Ruhe. Womöglich hatte dieser besondere, aus dem tiefsten Mittelalter tradierte Weg tatsächlich seine eigene Magie.

Sie ließ den Rucksack vom Rücken gleiten, unter dem Cape war er völlig trocken geblieben, zog ihre Wasserflasche heraus und nahm einen tiefen Schluck. Die Flasche war fast leer, aber es konnte nun nicht mehr weit sein. Und verdursten würde sie bei diesem Wetter kaum. Wieder glaubte sie Stimmen zu hören, diesmal von weiter zurück. Oder aus dem Wald? Nebel spielt nicht nur den Augen, sondern auch den Ohren Streiche. Leo beschloss, ein wenig zu warten, es wäre schön, wieder Gesellschaft zu haben. Nicht zuletzt, um sicher zu sein, dass sie keine Abzweigung versäumt hatte und auf dem richtigen Weg war.

Der Wind hatte sich endgültig ein anderes Spielfeld gesucht. Sie schob die Kapuze zurück und setzte sich auf den Stamm einer umgestürzten Buche. Das mächtige Wurzelwerk sah frisch aus, der alte Baumriese hatte sich erst vor sehr kurzer Zeit dem Sturm ergeben. Der Weg war steinig, die Kante des steil abfallenden Hanges brach knapp zwei Schritte neben ihm scharf ab. Bei klarem Wetter würde der Blick weit in die Täler reichen. Auf solche Ausblicke hatte sie sich gefreut. Warum sonst machte man sich die Mühe, in den Bergen herumzukraxeln, wenn nicht wegen der prächtigen Aussicht auf schroffe Gipfel und sanfte Täler? Und hier? Die reinste Waschküche. Der Blick reichte einen Steinwurf weit, anstatt eines atemberaubenden Pyrenäen-Panoramas bot er nur Schemen von Buschwerk und Baumkronen, die aus der Tiefe heraufwuchsen.

Sie lehnte sich gegen einen aufragenden Ast, blickte in das dunstige Traumbild und lauschte träge. Wenigstens eine Krähe musste doch zu hören sein. Leo streifte die Kapuze ganz ab und tatsächlich – da war etwas. Nur ein kurzer Laut. Es klang nicht wie ein Vogel. Wie ein klagendes Tier? Fast wie eine dünne menschliche Stimme. Und es kam nicht vom Weg oder aus den Baumkronen, sondern aus der Tiefe des Abhangs, aus der Schlucht, die unter dem Nebel lag.

Nasse Klumpen von lehmigen Sand und kleinen Steinen lösten sich von der Kante, als sie sich an den Rand kniete und vorsichtig hinüberbeugte.

«Hallo», rief Leo. «Ist da jemand? Hallo?»

Sie brauchte keine Antwort. Was dort unten im Gebüsch auf den ersten Blick wie ein weggeworfener roter Müllsack oder eine Plastikplane aussah, war kein Abfall. Das war ein Mensch, und sie erkannte auch, wer dort lag. Direkt unterhalb der Kante war der Hang steil und voller Geröll und Felsbrocken, unmöglich, hinunterzuklettern ohne abzurutschen. Nur wenige Meter weiter wuchs knorriges Gesträuch zwischen den Felsen, das musste reichen. Wieder hörte sie die Stimme, nur ein unverständliches Wort. Hastig streifte sie das Regencape ab und machte sich an den Abstieg.

Später wusste sie nicht mehr, wie sie hinuntergekommen war, von welchem Stein die blutige Schramme an ihrer linken Hand, der Riss in ihrem Anorak stammte. Benedikt hatte Glück gehabt. Er lag auf einem der schmalen, von rauem Fels gebildeten Absätze, ein stacheliger Strauch und sein Rucksack hatten seinen Fall abgefedert.

Seine Augen suchten Halt in ihren. «Nina?», flüsterte er und wollte sich aufrichten, doch er fiel aufstöhnend zurück, und seine Augen schlossen sich.

Kapitel 2

Montagabend/​2.Tag

Das Abendessen war vorüber, das Geschirr abgeräumt, die meisten Hotelgäste hatten sich in ihre Zimmer oder die Bar zurückgezogen. Einzig die deutsche Wandergruppe saß noch um ihren Tisch im Speisesaal des Hotels in Burguete. Es war eine bedrückte Mahlzeit gewesen, trotzdem hatte es niemand eilig, die Runde zu verlassen.

«Möchtet ihr noch Wein?» Jakob hielt die Flasche hoch; als niemand reagierte, leerte er den Rest in sein eigenes Glas.

«Er macht so was öfter», erklärte Eva plötzlich. «Nicht abstürzen, das natürlich nicht, ich meine, ständig an der Kante entlangbalancieren.»

Alle Blicke richteten sich auf Eva. «Woher weißt du das?», beendete Felix den Moment erstaunten Schweigens. «Kennst du Benedikt schon länger?»

«Länger? Nein, natürlich nicht. Das hat Nina gesagt. Wir haben uns gestern unterhalten», fuhr sie nach einem raschen Seitenblick auf ihre Freundin Caro fort, «nur kurz, ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen. Sie hat gesagt, auf ihrer letzten Wanderung – ich hab vergessen, wo das war – habe er das ständig gemacht.»

«Purer Leichtsinn.» Enno nahm einen blassgelben Apfel aus der Obstschale, zog ein Taschenmesser aus einer der zahlreichen Taschen seiner Weste und begann ihn zu zerteilen. «Die meisten Unfälle sind die Folge von Leichtsinn. Die allermeisten. Ich sage immer…»

«Das ist doch Quatsch.» Helene schob unwirsch ihr rotes Haar hinter die Ohren. «Der Weg ist an der Stelle schmal, hast du das nicht gesehen? Vielleicht ist ihm übel und schwindelig geworden. Wir haben alle kein ordentliches Picknick gemacht, dazu war es einfach zu kalt und zu nass. Wir waren alle hungrig und erschöpft. Mir war manchmal richtig schwindelig, das passiert, wenn man lange nichts isst. Ohne Sven wäre ich auch ab und zu gestolpert.»

«Sooo schmal war der Weg nun doch nicht», widersprach Eva. «Den konnte man mit verbundenen Augen gehen. Ich habe mich jede Minute völlig sicher gefühlt, und dass dieser Tag anstrengend würde, wussten wir. Hier ist nicht die Lüneburger Heide. Einem kräftigen jungen Mann wie Benedikt wird nicht so leicht schwindelig. Wahrscheinlich hat er auch irgendetwas von unten gehört, er wollte nachsehen und ist abgerutscht.»

«Vielleicht», sagte Edith zögernd, «waren es die Rinder. Die müsst ihr doch auch gesehen haben», erklärte sie, als sie nur fragende Gesichter sah. «Riesige weiße Tiere. Die standen plötzlich vor mir, aus dem Nebel aufgetaucht wie Wesen aus einer anderen Zeit. Standen einfach da und starrten mich an. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, mir machen Rinder keine Angst. Wenn man aus der Stadt kommt wie Benedikt, ich meine, wenn man solche Tiere nur aus dem Fernsehen oder aus der Ferne kennt, und dann stehen sie plötzlich da und starren einen an – da kann man schon erschrecken. Vielleicht wollte er sich einen Spaß machen, hat seinerseits die Tiere erschreckt, und sie sind auf ihn losgegangen. Hat sie denn keiner von euch gesehen?»

Als niemand antwortete, nicht einmal Jakob, der stets beruhigende Erklärungen parat hielt, sagte Leo: «Kurz hinter der letzten Kuppe schien mir, als bewege sich etwas im Nebel. Ich habe das für eine optische Täuschung oder wabernde Schwaden gehalten, womöglich waren das die Rinder.»

«Kann schon sein», sagte Jakob endlich, «kann schon sein. Auf den Hochwiesen gibt es im Sommer grasendes Vieh. Aber das ist absolut friedlich.» Er räusperte sich und tupfte mit der Serviette seine Lippen ab. «Aggressive Tiere wären hier überhaupt nicht erlaubt.»

«Vielleicht waren es tatsächlich gar keine Rinder, sondern Widergänger der alten Templer, Ritter unter weißen Umhängen.» Eva kicherte nervös. «Die haben doch früher diesen Weg bewacht und die Pilger betreut. Wer weiß, vielleicht sorgen sie heute noch für Ordnung und mögen keine Touristen, denen bei der Pilgerei die wahre Frömmigkeit fehlt. Ich habe da in einem Buch…»

«Hör auf mit deinen Gruselgeschichten.» Caro sah ihre Freundin voller Missbilligung an. «Ich habe dir doch gesagt, du sollst diese Schauermärchen nicht lesen. Die haben mit den wahren Mysterien des Weges so viel zu tun wie der Weihnachtsrummel mit dem Wunder der Geburt Christi. Erspare uns den Unsinn. Sollen wir uns an jeder unübersichtlichen Ecke fürchten? Und erspar uns auch deine Unglückszählerei: dreizehn Tage unterwegs, dreizehn Wanderer. Fehlt bloß noch eine schwarze Katze, die uns über den Weg läuft.» Eva machte verdutzt schmale Lippen, und Caro fuhr ruhiger fort: «Warum ist Benedikt überhaupt alleine gegangen? Wo war Nina?»

«Weiter vorne», erklärte Felix. «Er wollte ständig Nebelfotos machen und ist immer wieder stehen geblieben. Ihr war’s zu kalt, deshalb ist sie vorausgegangen. Die beiden sind schließlich keine siamesischen Zwillinge.»

«Es kann aber nicht weit gewesen sein.» Jakob blickte immer noch dankbar zu Eva. Seit Stunden wartete er auf den Vorwurf, seine Auswahl der Strecke sei schuld an dem Unglück. Dabei gab es hier nichts auszuwählen – an vielen Abschnitten bot der alte Pilgerweg alternative Routen, hier gab es nur den einen, im Übrigen breiten Weg über die Passhöhe, falls man nicht an der starkbefahrenen Landstraße entlangmarschieren wollte. Aber Reiseleiter trugen immer an allem die Schuld, selbst am Wetter. Evas resolutes Beharren auf der Sicherheit der Strecke war das Beste, was er heute Abend gehört hatte.

Jakob war mit Helene, Sven und Edith als Letzter aufgestiegen. Sie hatten Hilferufe gehört, jedenfalls hatte es danach geklungen, und waren gleich losgerannt. Als sie die Absturzstelle erreichten, traf Nina auch von der anderen Seite ein, kurz vor Felix.

Felix war mit Enno und Selma noch weiter voraus gewesen. Auch sie hatten Leos Hilferufe gehört, entschieden, dass sie sich überhaupt nicht nach einem schlechten Scherz anhörten, und waren sofort umgekehrt. Nina hatten sie ein Stück vor der Unglücksstelle getroffen. Sie hatte die Kapuze fest um den Kopf gezurrt und nichts gehört.

«Sie ist ziemlich fit und war uns gleich ein paar Schritte voraus», schloss Felix. «Ich denke, sie hat sich Sorgen gemacht, sie wusste ja, dass die Rufe aus Benedikts Richtung kamen. Und wenn er gerne an Klippen rumbalanciert…»

«Schrecklich», murmelte Selma. Sie schob ein traurig herabhängendes Löckchen aus der Stirn, gab dem Kellner ein Zeichen für eine weitere Flasche Wein und lehnte sich matt zurück. «Wenn du nicht so gute Ohren hättest, Leo – wer weiß?, dann läge der arme Junge immer noch in der Schlucht. So ein Unglück! Und gleich am ersten Tag. Ich glaube nicht, dass er betrunken war oder drogensüchtig ist, da kann so etwas ja leicht passieren. Nein, das glaube ich wirklich nicht», beteuerte sie eilig, als Helene empört nach Luft schnappte. «Wie gut, dass wir nicht in einem Funkloch waren, sonst hätte es sicher ewig gedauert, bis der Rettungswagen da gewesen wäre. Wie die Männer den armen Jungen dann hochgeholt haben, flink und doch ganz behutsam – wirklich tadellos! Man kann gegen die Spanier mit ihrer ewigen Siesta und ihrem weißen Pappbrot sagen, was man will – ihre Bergwacht funktioniert ausgezeichnet.»

Sie gab sich große Mühe, bekümmert auszusehen, gewiss lag es nur am Wein, dass es in ihren Augen glitzerte.

«Und wie gut, dass dein Rucksack und Regencape auf dem Weg lagen, Leo.» Jakob stützte müde das Kinn in die Hände. «Ich wäre sonst glatt vorbeigerannt.»

«Ja», murmelte Leo. «Ich wollte nur, ich hätte mehr tun können.»

«Das ist Quatsch», rief Helene wieder. «Was hättest du denn mehr tun können? Ich hätte mich nicht da runtergetraut, schon gar nicht ganz allein.»

Leo fühlte sich tief erschöpft, an Körper und Seele, und obwohl sie längst einen warmen Pullover trug, fror sie immer noch. Seit sie zurückgekommen waren, sah sie, wann immer sie ihre Augen schloss, das graue Gesicht mit den blutigen Schrammen und den Platzwunden auf Wangenknochen und Braue, glaubte sie, wieder das rutschende Geröll unter ihren Füßen zu spüren.

Sie hatte versucht, die harten Spitzen ihrer Stiefel in den steinigen Grund zu pressen, versucht, sich festzuhalten und zugleich Benedikt zu umklammern, der schwerer und schwerer wurde und abzurutschen drohte. Das Bild löste auch jetzt noch kurze Wellen der Panik aus, wie am Hang. Das war reine Kraftvergeudung gewesen, die sie sich nicht hatte leisten dürfen. Es hatte nur Minuten gedauert, bis sie Jakobs Stimme über ihrem Kopf hörte, doch die kurze Zeitspanne war ihr wie Stunden erschienen.

Leo hatte keine Zeit mit der Überlegung vertan, ob es klug war, dort hinunterzusteigen. Sie hatte nicht gewusst, wie weit die anderen vor und hinter ihr gingen. Es mochten Kilometer sein, ihr blieb nichts, als zu hoffen, dass irgendjemand in der Nähe war, ihr Rufen hörte und sie in der Tiefe entdeckte. Benedikt atmete, doch wenn sie ihn ansprach, reagierte er nicht. Sie sprach trotzdem mit ihm, sagte alles, was man in einem solchen Moment sagte, vom Durchhalten, von Hilfe, die schon unterwegs und dass alles gar nicht so schlimm sei. Vielleicht hatte sie es zu sich selbst gesagt.

Dann war plötzlich Jakob da, er kroch und rutschte den Hang herab und sagte auch alles, was man in solchen Momenten sagt. Diesmal bedeutete es mehr als Trost und Hoffnung.

Der Krankenwagen, ein schlammbespritztes, jeepartiges Gefährt, brauchte nicht lange, es waren nur wenige Kilometer bis Roncesvalles und Burguete. Als er mit Benedikt und Nina davonrumpelte, langsam und jedes Schlammloch vorsichtig durchtastend, krochen endlich auch Leo und Jakob auf den Weg zurück, ein Nylonseil unter den Achseln verknotet und von Sven und Felix behutsam aufwärtsgezogen.

Während des letzten Stücks des Weges bis Roncesvalles eilte niemand voraus, blieb niemand zurück. Die wolkenverhangenen Höhen lagen endgültig hinter ihnen. Der Weg war nur noch ein kaum zu erkennender Pfad; von moderndem Laub und Nässe rutschig, führte er strikt bergab durch lichten, noch blattlosen Buchenwald. Im Herbst, wenn wieder Tausende Pilgerfüße darübergewandert waren, würde er breit und ausgetreten sein. Hatte Leo vorhin das endlose Steigen verflucht, sehnte sie sich nun danach. Wenigstens nach einer kurzen Strecke. Der Abstieg sah harmlos aus und war doch eine Tortur für die strapazierten Beinmuskeln und Knie. Sie begriff, warum erfahrene Wanderer in bergigem Terrain stets mit Stöcken gingen und wie dämlich es gewesen war, darin ein Zeichen von Schwäche oder Bequemlichkeit zu sehen.

Endlich schimmerten die Dächer des Augustinerklosters, der Stiftskirche und der Herberge von Roncesvalles durch die Bäume, und die erste Wanderung ging zu Ende.

Eine Hand auf ihrem Arm holte Leo in die Gegenwart des Speisesaals zurück.

«Trink noch ein Glas», sagte Felix und füllte ihr Glas, «dann schläfst du besser.»