Tod macht erfinderisch - Gina Greifenstein - E-Book
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Tod macht erfinderisch E-Book

Gina Greifenstein

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Beschreibung

Florentine schwebt auf Wolke sieben: Kurt macht ihr nach zwanzig Jahren endlich einen Heiratsantrag, denn sie soll nach seinem Tod gut versorgt bleiben. Alles läuft auf Hochtouren, als eine Woche vor der Hochzeit Kurt plötzlich tot in seinem Lieblingssessel sitzt – Herzinfarkt! Seine Pension ist futsch, sein Haus ist futsch, sein Sohn aus erster Ehe wird alles erben. Florentine muss erkennen, dass sie auf Sozialhilfe angewiesen ist. Völlig verstört läuft sie durch die Stadt, bis sie plötzlich einen rettenden Einfall hat – Tod macht schließlich erfinderisch: Gott sei Dank kann sie sich auf ihre beste Freundin Vera verlassen … Eine liebevolle Komödie mit einer großen Prise schwarzen Humors.

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PIPER DIGITAL

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Für Leserinnen und Leser, die wissen, was sie wollen.

Mehr unter www.piper.de/piper-digital

ISBN 978-3-492-98263-4

Juni 2016

© für diese Ausgabe: Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2005

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: © Leon Rafael / www.shutterstock.com

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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»Du siehst gar nicht gut aus, Kurt!«

»Findest du?«, sagte er und bemühte sich, munter zu klingen. Sie hatte Recht, er fühlte sich nicht gut, er fühlte sich sogar miserabel. Er griff nach der Tageszeitung, schlug sie auf und verschanzte sich dahinter, um ihrem prüfenden Blick zu entkommen. Er wollte auf keinen Fall zugeben, dass es ihm nicht gut ging, denn das hätte sie wahrscheinlich nur unnötig beunruhigt. Bestimmt würde er sich bald besser fühlen.

»Du bist so blass – hast du schlecht geschlafen?«, hakte Florentine nach und goss ihm Kaffee in die Tasse.

»Nicht, dass ich wüsste.« Natürlich wusste er es: Er hatte so gut wie kein Auge zugemacht. Der Druck in seiner Brust hatte ihn Stunde um Stunde wach gehalten.

»Am besten, du gehst gleich heute Morgen zum Arzt.« Sie tätschelte seine Hand, die schlapp neben seinem Teller lag, und sah ihn aus ernsten Augen an. »Ich werde gleich nach dem Frühstück in der Praxis anrufen und einen Termin für dich vereinbaren.«

Sie griff nach einem Brötchen, schnitt es gekonnt in der Mitte entzwei und bestrich die beiden Hälften mit Butter.

»Magst du lieber Honig oder Marmelade?« Sie saß ihm gegenüber, das Messer erwartungsvoll über den erwähnten Gläsern gezückt, und lächelte ihn an.

Er liebte dieses Lächeln. Es war das Erste gewesen, was ihm damals an ihr aufgefallen war, dieses Lächeln, sanft, zärtlich, verheißungsvoll. Ihr Gesicht war damals so glatt gewesen, so jung! Ihr Gesicht war damals so glatt gewesen, so jung! Er betrachtete sie eingehend, sah ihren fragenden Blick aus den immer noch strahlend blauen Augen. Fältchen umsäumten diesen Blick, unzählige, wie Sonnenstrahlen umkränzten sie ihre Augen. Er mochte diese Fältchen, jedes einzelne, hatte jedes von ihnen miterlebt.

»Kurt?«

»Marmelade, mein Liebes«, antwortete er geistesabwesend. Er hatte keinen Appetit. Der Druck auf seinem Herzen war zwar schwächer geworden, aber er war noch da und ängstigte ihn.

Nun lagen die beiden fertig geschmierten Brötchenhälften auf seinem Teller. Florentine sah ihn über die Zeitung hinweg an. Das blaue, fröhliche Strahlen war aus ihren Augen verschwunden, sie musterte ihn jetzt prüfend unter skeptisch hochgezogenen Augenbrauen hervor. Er glaubte, kurz Angst aufflackern zu sehen.

Dann stand sie so abrupt auf, dass der Küchenstuhl fast hintenüberkippte. »Ich rufe lieber gleich bei Erich an!«

Als sie zurück in die Küche kam, saß er noch immer tatenlos vor seinem Frühstück.

»Du sollst gleich kommen, sie schieben dich zwischenrein. Soll ich dich hinfahren?«

»Nein, ich nehme ein Taxi.« Er stand langsam auf und fühlte sich zum ersten Mal seit seiner Pensionierung wie ein alter Mann. »Mach du mal deine Arbeit, dann können wir heute Nachmittag was unternehmen.« Er versuchte ein Lächeln, das ihm sogar halbwegs gelang. Im Stehen war der Druck fast verschwunden.

Während er in der Diele telefonierte, kaute Florentine freudlos auf ihrem Brötchen herum. Sie machte sich Sorgen, schon seit einiger Zeit beobachtete sie ihn. Auch wenn er es gut überspielte und bestimmt dachte, sie würde es nicht merken. Doch sie hatte es gemerkt, sie hatte ihn in letzter Zeit öfter schmerzvoll sein Gesicht verziehen und an seine Brust greifen sehen. Es war ja wirklich nett, dass er sie nicht beunruhigen wollte, aber eigentlich beunruhigte sie sein Theaterspielen erst recht!

»Das Taxi kommt gleich.« Er hatte schon seine Jacke an und küsste sie auf die Wange.

»Aber du hast ja noch gar nichts gegessen!«

»Ach, meine Flori-Glucke«, lachte er und strich sich fast zärtlich über den Bauch, der sich in sanfter Rundung über dem Hosenbund wölbte. »Ich falle schon nicht vom Fleisch! Ich werde dann beim Mittagessen kraftvoll zuschlagen«, versprach er und verließ das Haus.

Sie schob den Teller mit dem angebissenen Brötchen weit von sich. Von wegen »kraftvoll zuschlagen«! Er aß seit Tagen wie ein Spatz, auch das hatte sie beobachtet, aber dieser Beobachtung bis jetzt noch keine größere Bedeutung beigemessen. Er war immer auf sein Äußeres bedacht gewesen, zuerst hatte sie deshalb geglaubt, er würde nur auf seine schlanke Linie achten. Aber in Wirklichkeit pickte er nur lustlos in seinem Essen herum.

»Mach dich nicht verrückt«, schalt sie sich laut und stand endgültig auf. Schließlich war er auf dem Weg zum Arzt und der würde ihm schon helfen.

»Wie lange sind wir jetzt zusammen?«, fragte er unvermittelt, als sie am Nachmittag Arm in Arm durch den Park schlenderten.

Sie knuffte ihn in die Seite und sagte entrüstet: »Ziemlich genau zwanzig Jahre! Dass ihr Männer euch das nicht merken könnt!«

»Zwanzig Jahre!«, murmelte Kurt und es hörte sich fast so an, als würde er sich die Zahl auf der Zunge zergehen lassen. »Das schafft heutzutage kaum ein Ehepaar!«

Florentine zog ihren Arm enger um seinen und war fast ein bisschen stolz, dass sie schon so lange mit demselben Mann glücklich war.

Er blieb stehen und sah einer Entenmutter nach, die über den kleinen See paddelte und von fünf Entenkindern verfolgt wurde.

»Wir sollten endlich heiraten!« Er drehte sich zu ihr um, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf die Stirn.

Florentine war verdattert und einige Zeit sprachlos. »War das etwa ein Heiratsantrag?«, stammelte sie endlich.

»Muss ich noch deutlicher werden?« Ihre Unsicherheit amüsierte ihn. »Also gut«, sagte er und hatte auf einmal wieder das Gesicht eines Lausbuben, der gerade einen Streich ausheckt. Dann wurde er wieder ernst, nahm Florentines rechte Hand und fragte feierlich: «Willst du, Florentine Johanna Jakobi, meine Frau werden?«

Sie konnte nicht antworten. Sie sah ihm nur in die Augen, wartete vergeblich auf das spöttische Grinsen, das immer dann kam, wenn er sie wieder einmal aufs Glatteis geführt hatte. Aber er grinste nicht, er sah sie nur abwartend an.

Himmel, sie war neunundfünfzig Jahre alt! Seit sie zwanzig war, hatte sie sich nach diesem Moment gesehnt, wollte sie diese Frage gefragt werden, hatte sie sich die kitschigsten Heiratsanträge für sich erträumt. Und jetzt, jetzt, wo sie überhaupt nicht mehr an so was dachte, jetzt, wo das Heiraten überhaupt nicht mehr wichtig für sie war, jetzt hielt Kurt um ihre Hand an!

›Alter Esel‹, wollte sie sagen, auslachen wollte sie ihn – aber alles, was über ihre Lippen kam, war ein gehauchtes »Ja«.

Kurt nahm sie in die Arme und der Kuss, den er ihr gab, schmeckt wie der erste vor fast zwanzig Jahren.

»Warum willst du auf einmal heiraten?« Florentine hatte sich fest vorgenommen, diese Frage nicht zu stellen, denn wenn man einen Heiratsantrag bekam, fragte man einfach nicht nach dem Warum, man sagte ja oder nein, aber niemals warum. Aber nun hatte sie die Frage doch gestellt.

»Weil wir uns lieben, so eine blöde Frage!«, brummte Kurt neben ihr auf der Couch und versuchte sich weiter auf den Film zu konzentrieren.

»Wir haben uns doch schon vor fünf Jahren geliebt und vor zehn Jahren und vor fünfzehn Jahren«, sie ließ nicht locker. »Warum ausgerechnet jetzt?«

Er zog genervt die Luft ein. »Weil ich der Meinung bin, dass es langsam Zeit wird!«

»Aber warum auf einmal, warum gerade jetzt?«

»Ich wusste nicht, dass es dafür bestimmte vorgeschriebene Zeiten gibt!«, antwortete er und rollte die Augen. »Wenn es dir nicht passt, kann ich ja eine Andere heiraten!« Ein schiefer Blick von der Seite brachte Florentine zum Lachen.

»Soll das heißen, dass ich die Erstbeste bin, die du gefragt hast und dass noch einige andere in der Schlange stehen?«

»Ha, es gäbe schon ein paar, die mich alten Zausel noch nehmen würden!« Er tätschelte ihre Hand, die sie auf seinen Oberschenkel gelegt hatte und fühlte ihre Wärme durch den Stoff der Hose.

»Das sind die, die nicht wissen, wie grässlich du schnarchst!«, lachte sie. »Warum? Sag mir einfach warum!«

»Weil wir einfach nicht mehr die Jüngsten sind. Weil wir es schon längst hätten tun sollen. Weil ich wissen will, dass du versorgt bist, wenn ich mal nicht mehr bin! Sind das nicht Gründe genug?«

Florentine schwieg eine Zeit lang, wobei ihr Daumen auf seinem Oberschenkel unentwegt über die Bügelfalte der Hose strich.

»Was hat Erich wirklich gesagt?«, fragte sie endlich und sah ihm in die Augen. Sie hielt den Atem an.

Natürlich wollte sie die Wahrheit wissen, aber sie fürchtete sich auch vor seiner Antwort.

»Was ich dir vorhin schon gesagt habe: Es ist nichts Ernstes, ich soll ein bisschen langsamer machen und keine Bäume mehr ausreißen! Und ein paar Kilo Gewichtsverlust würden mir auch nicht schaden! Mehr gibt es nicht zu erzählen!«

Florentine kannte diesen Ton. Für Kurt war hiermit die leidige Sache erledigt, er würde sich nicht mehr auf das Thema einlassen.

Aber sie glaubte ihm kein Wort, diesmal nicht! Dieser plötzliche Heiratsantrag hatte mehr zu bedeuten – warum machte er sich plötzlich Sorgen um ihre Versorgung nach seinem Ableben? Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken bei diesem Gedanken und auf einmal wusste sie Bescheid: Kurt würde sterben, in naher Zukunft, wahrscheinlich sogar bald! Das hatte ihm Erich, sein bester Freund und Hausarzt, heute mitgeteilt. Darum die plötzlichen Heiratspläne. Gleich morgen würde sie Erich anrufen oder noch besser, gleich bei ihm vorbeischauen und ihm auf den Zahn fühlen. Schließlich wollte sie nicht heiraten, um kurz darauf Witwe zu werden!

Tags darauf saß sie im Wartezimmer und sah alle paar Minuten auf ihre Uhr. Irgendwie hatte sie das ungute Gefühl, dass Erich sie absichtlich so lange warten ließ. Sonst musste sie keine fünf Minuten im Wartezimmer sitzen oder wurde gleich ins Sprechzimmer geführt. Wollte er sich vor einem Gespräch mit ihr drücken? Schließlich war Erich ja Kurts Freund, er würde bedingungslos zu ihm halten – sie war nur der Anhang. Vielleicht war aber auch mehr zu tun als sonst, und Erich musste erst die wirklich ernsten Fälle behandeln. Florentine schalt sich selbst wegen ihres zunehmenden Argwohns. Endlich rief die Sprechstundenhilfe sie auf.

In Sprechzimmer Nummer 2 saß Erich Sanders schon hinter seinem Schreibtisch. Höflich, wie er war, stand er sofort auf, kam leichtfüßig um den bestimmt sündhaft teuren Mahagonitisch herumgelaufen und reichte ihr die Hand. Er sah verdammt gut aus, stellte Florentine fest, durchtrainiert und braun gebrannt vom Tennisspielen, Joggen, Segeln und wer weiß, wovon noch. Er war zwar genauso alt wie Erich, sah aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Sein offener schneeweißer Kittel unterstrich seine Sonnenbräune und flatterte lässig um ihn herum. Die beiden obersten Knöpfe seines ausgesucht geschmackvollen (und exklusiven) Hemdes waren nicht geschlossen und gewährten freien Blick auf eine goldene Kette, die auf seiner grau behaarten Junggesellenbrust baumelte. Wie grau und langweilig war ihr Kurt neben diesem Mann, überlegte Florentine insgeheim. Zum Einen war verwunderlich, wie diese beiden Männer, die nicht unterschiedlicher hätten sein können, über so viele Jahre hinweg dicke Freunde geblieben waren, zum Anderen schämte sie sich, dass sie Kurt überhaupt mit diesem geschniegelten Beau verglich.

... Obwohl der schöne Erich schon eine Sünde wert gewesen wäre ... aber sie war wohl genauso grau wie ihr Kurt, genau der Typ Frau, für den sich Erich Sanders auf der Straße nie umgedreht hätte!

»Nanu, ist bei euch eine Epidemie ausgebrochen? Gestern Kurt, heute du?«, scherzte der jetzt, bedeutete ihr, auf dem Besuchersessel Platz zu nehmen und ließ sich salopp auf einer Ecke seines Schreibtisches nieder.

»Grüß dich, Erich!« Florentine setzte sich sehr gerade in den angebotenen Sessel und wusste nicht so recht, wo sie beginnen sollte. Schließlich sollte es nicht so aussehen, als ob sie hinter Kurt herspionierte.

»Gratulation, übrigens!«, lachte Erich sie an und dieses Lächeln konnte unmöglich gespielt sein. »Kurt hat mir von euren Heiratsplänen erzählt – ich hoffe doch, dass ich Trauzeuge sein darf!«

Hatten die beiden das mit der Heirat vielleicht zusammen ausgeheckt?!

»Danke, Erich, wir werden das Angebot gerne annehmen.«

Verlegen drehte sie den Griff ihrer Handtasche hin und her.

»Was fehlt dir denn, meine Liebe?« Der Arzt stand auf, ließ sich in seinem beeindruckenden Lederstuhl nieder und lehnte sich lässig zurück.

»Nichts, gar nichts, mir geht es gut«, stammelte sie und fand die Idee, nach Kurts Befinden zu fragen, auf einmal gar nicht mehr so gut. Erich würde es ihm bestimmt erzählen. Aber nun hatte sie »A« gesagt, jetzt musste sie auch »B« sagen!

»Ich mache mir Sorgen um Kurt. Er sieht in letzter Zeit so schlecht aus, er isst sehr wenig und ist immerzu müde. Er sagt zwar, dass es ihm gut gehe und dass ich mir das nur einbilde, aber ich glaube, er hat Herzschmerzen – er greift sich immer wieder an die Brust!«

»Nun ... er ist etwas erschöpft, aber das wird sich geben«, antwortete er zögernd.

Florentine fand, dass Erich zu lang nach den passenden Worten suchte. »Erschöpft? Wovon denn erschöpft? Er ist seit fünf Jahren im Ruhestand. Und ich bin es ja sicherlich nicht, die ihn so erschöpft.«

»Reg dich nicht auf, meine Liebe«, beschwichtigte er sie. »Wir sind eben nicht mehr die Jüngsten, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen. Wir – und da nehme ich mich nicht aus – brauchen einfach mehr und mehr Ruhe und Erholungsphasen. Glaub mir, regelmäßig ein paar Vitamine und viel Bewegung an der frischen Luft werden Wunder wirken. Wenn er dann noch fünf bis acht Kilo abgenommen hat, wird er wieder hüpfen wie ein Junger!«

»Er hat also wirklich nichts Ernstes? Das würdest du mir doch sagen, nicht wahr?«

»Natürlich würde ich das sagen, schließlich ist Kurt mein Freund.«

Florentine wollte ihm natürlich nur zu gerne glauben, aber irgendwie schlichen sich Zweifel ein. Sie war sich sicher, dass Kurt sie belog und Erich auch.

Ab sofort ließ sie Kurt nicht mehr aus den Augen. Aber anscheinend ging es ihm wirklich besser. Er war munter und stürzte sich in die Hochzeitsvorbereitungen. Zugegeben, Florentine fühlte sich auch regelrecht beschwingt, ja, richtig jung kam sie sich vor! Wie ein Backfisch, so aufgeregt. Täglich telefonierte sie mit Vera, ihrer Freundin seit der Grundschule. Wie früher gackerten sie aufgeregt drauf los, als wären seit ihrer Schulzeit keine fünfzig Jahre vergangen. Vera nahm rege an Florentines bevorstehender Hochzeit Anteil, schließlich hatte sie Erfahrung mit solchen Dingen. Fünfmal war sie verheiratet gewesen, wobei sie ihre Männer sowohl auf die eine (Scheidung), als auch die andere Art und Weise (Tod) immer wieder losgeworden war. Sie würde Florentines Trauzeugin sein, das stand von Anfang an fest.

Einmal trafen sie sich in der Stadt, um nach einem passenden Kleid oder Kostüm für die Trauung zu suchen. Nach drei Stunden permanenter und bis dahin erfolgloser Jagd machten sie in einem kleinen Straßencafé Pause.

»Ach, Flori, ich beneide dich ein wenig«, seufzte Vera und schlürfte geräuschvoll ihren Eiskaffee durch den Strohhalm.

»Jetzt mach aber mal halblang«, kicherte Florentine und leckte sich den Milchschaum ihres Cappuccinos von der Oberlippe. »Jetzt bin ich endlich mal dran – du hattest schon fünfmal das Vergnügen. Sei nicht so gierig.«

»Ich kann mich einfach nicht an das Alleinsein gewöhnen. Immerhin bin ich seit Henris Tod unbemannt!«

»Dann schaff dir doch einen Hund an. Aber, wie ich dich kenne, wirst du schon wieder einen Dummen finden, der auf dich hereinfällt, da bin ich zuversichtlich. Vielleicht solltest du in ein nettes Appartement in einem dieser Nobel-Seniorenheime ziehen«, schlug Florentine spitz vor.

»Na, hör mal, ich will doch keinen alten Tattergreis! So ein hübscher, knackiger Knabe von, na, sagen wir mal fünfundfünfzig, gerne auch jünger, das wär was für mich. Oder dein Kurtchen, den würde ich auch nehmen.«

»Kurt hat ja wohl nichts Knackiges mehr an sich. Außerdem wäre er entschieden zu langweilig für dich«, gab Florentine zu bedenken. »Außerdem schnarcht er wie ein ganzes Holzfällerlager.«

»Ich würde ihn schon ein bisschen aufmuntern und auf Touren bringen«, kicherte Vera. »Aber mal ganz im Ernst: Kurt ist gebildet, er hat Kultur und Niveau, und er ist ein verlässlicher Partner – da kann man auf das Knackige großzügig verzichten. Und was das Schnarchen angeht: Ich schlafe eh mit Ohrstöpseln.«

»Und ich glaube, dass er nicht mehr lange zu leben hat.«

Vera verschluckte sich. Nach etwa fünf Minuten hatte sie die Sahne, die fälschlicherweise in ihrer Luft- statt in der Speiseröhre gelandet war, herausgehustet.

»Was redest du da für einen Quatsch?« Sie kramte ein Taschentuch hervor und wischte sich vorsichtig über die Augen, darauf bedacht, ihre Schminke nicht zu verwischen. »Wie kommst du denn darauf?«

»Kurt geht es schon seit einiger Zeit nicht so gut. Ich denke, er hat was mit dem Herzen.«

»War er denn schon beim Arzt?« Vera schob den letzten Rest ihres Eiskaffees beiseite, sie wollte mit der heimtückischen Sahne nichts mehr zu tun haben.

»Doch, natürlich, bei Erich Sanders war er und hat sich angeblich durchchecken lassen.«

»Ach, bei Erich!« Schwärmerisch verdrehte die Freundin die Augen. »Sieht der immer noch so schrecklich gut aus?«

»Verdammt gut, man sieht ihm sein Alter wirklich nicht an.« Florentine wusste genau, dass Vera schon immer ein Auge auf Erich Sanders geworfen hatte. So sehr sie Vera mochte und auch brauchte, ein klein wenig empfand sie es als Genugtuung, dass all ihre Annäherungsversuche fehlgeschlagen waren. Erich bevorzugte von jeher sportliche, vor allem sehr schlanke Frauen, und in dieses Bild hatte Vera noch nie gepasst. Wenigstens ein Mann, den sie nichtrumgekriegt hatte, von Kurt mal ganz abgesehen.

»Er wird zwar älter und grauer, aber auch immer interessanter – ganz im Gegensatz zu Kurt, der wird nur immer behäbiger und dicker.«

»Und?«

»Was, ›und‹?«

»Was kam denn nun bei dem Arztbesuch heraus?«

»Er ist gesund – sagt er zumindest und Erich sagt das auch, ich war extra deswegen bei ihm.«

»Na, also, dann ist doch alles in Butter.«

»Die beiden stecken unter einer Decke, da wette ich mit dir. Ich glaube, Kurt heiratet mich nur, damit ich versorgt bin, wenn er stirbt.«

»Für so romantisch und heldenhaft hätte ich deinen Herrn Oberstudienrat a.D. gar nicht gehalten. Ich dagegen wurde immer nur aus niederen Beweggründen geheiratet.«

»Aus was für niederen Beweggründen denn?«

»Sex!« Vera verschränkte die Arme vor der Brust und setzte ihren Vampblick auf.

Florentine musste kichern. »Wegen Sex ist es bestimmt nicht, er hat da seit einigen Jahren seine Problemchen mit diesem Thema!« Sie errötete leicht.

»Mit achtundsechzig ist das ja auch keine Schande!« Vera beugte sich über den Tisch und sah die Freundin ernst an. »Nehmen wir mal an, du hast recht und er heiratet dich, weil er dich versorgt wissen will. Das wäre natürlich eine sehr noble Geste. Wenn er allerdings davon ausgehen würde, dass er bald ins Gras beißen muss, wäre diese Aktion völlig unsinnig und vergebene Liebesmüh.«

»Wie meinst du das?«, fragte Florentine verwirrt.

»Na, weil die Witwe eines Beamten erst nach drei Ehejahren was von der Pension ihres verblichenen Gatten abbekommt. Glaub mir«, sie tätschelte aufmunternd Florentines Hand, »Kurt denkt gar nicht daran, den Löffel abzugeben. Nimm einfach hin, dass er es nur aus Liebe tut.«

Florentine fand dieses Argument einleuchtend. Sie lächelte ihre Freundin dankbar an und fühlte sich auf einmal viel besser.

»Andererseits«, Vera blitzte sie aus schmalen Augen an, »wirst du irgendwann mal eine nette Erbschaft machen – das ist ja bei all der Liebe auch nicht zu verachten, oder?«

Eine Woche vor der standesamtlichen Trauung war alles geregelt. Das Lokal war vorbestellt – nicht gut bürgerlich aber auch nicht allzu nobel. Die Einladungen waren verschickt – achtzehn an der Zahl. Die Trauzeugen standen fest – Erich und Vera, niemand anderes kam schließlich dafür in Frage. Auch Florentines Kleid, ein Traum aus weich fließender, cremefarbener Seide, war tags zuvor entdeckt und gekauft worden und hing nun im Schrank. Die passenden Pumps musste sich Florentine noch besorgen, aber das konnte sie an einem der kommenden Vormittage erledigen. Sogar den Brautstrauß hatte sie schon in Auftrag gegeben, denn seit ihrer Jugend stand für sie fest, dass es Margeriten und gelbe Rosen sein mussten.

Kurts Ausstattung dagegen hing seit Jahren im Schrank, schließlich hatte er im Schuldienst immer Wert auf gute Anzüge gelegt.

»Heute Nachmittag werde ich in die Gärtnerei gehen und den Blumenschmuck für die Tische aussuchen«, erzählte Florentine, während sie die Reste des Mittagessens wegräumte. »Ich dachte, dass wir die gleichen Blumen nehmen sollten wie für den Brautstrauß, was denkst du? Willst du nicht mitkommen?«

»Gern«, erwiderte Kurt und stand vom Tisch auf. »Ich will aber erst die Zeitung fertig lesen.«

»Es wird eh noch dauern, bis ich mit der Küche fertig bin!« Summend machte sich Florentine an den Abwasch, während sich Kurt ins Wohnzimmer in seinen Ohrensessel zurückzog.

Ihr ging es richtig gut, stellte sie fest. Ich werde heiraten!, dachte sie und musste übermütig kichern. In ihrem Alter, ganz schön verrückt! Sie würde ihren altgewohnten Nachnamen, der sie ein Leben lang begleitet hatte, ablegen wie ein abgetragenes Kleidungsstück. Möller würde sie bald heißen, Florentine Möller. Ein bisschen wehmütig wurde ihr da schon ums Herz, zumal sich Jacobi eigentlich viel besser anhörte als der Allerweltsname Möller. Vielleicht sollte sie ja ihren Nachnamen behalten? Das konnte man heutzutage ja ohne weiteres machen. Nein, entschied sie, sie wollte Möller heißen, schließlich sollte jeder sehen, dass sie zusammengehörten, dass sie verheiratet waren!

Nur schade, dass ihre Mutter das nicht mehr erleben konnte, sie war schon fünfundzwanzig Jahre unter der Erde. Wie hätte die sich gefreut, dass ihre einzige Tochter doch noch unter die Haube kam! Ach, sie hätte so gerne Enkelkinder gehabt, das war immer ihr größter Wunsch gewesen, wenigstens eins! Zum Schluss hätte sie sogar ein uneheliches genommen – Schande hin, Schande her. Florentine trauerte dem versäumten Kinderglück jedenfalls nicht nach. Sie hatte bei Kurts Sohn genug miterleben müssen: Bis der endlich sein Studium abgeschlossen hatte! Frederik war wirklich der Inbegriff des ewigen Studenten gewesen und hatte in dieser Zeit stets die Hand aufgehalten. Kurt musste die Studentenbude bezahlen, die Bücher, oft auch die Urlaube. Einmal sogar die Abtreibung für eine von Frederiks zahlreichen Freundinnen. Florentine hatte das gar nicht gut geheißen, fast wäre es deswegen zwischen ihr und Kurt zu einem handfesten Streit gekommen! Wie viele schlaflose Nächte hatten sie beide gehabt und das jahrelang, immer die Angst im Nacken, was Frederik wohl als Nächstes anstellen würde – was er dann auch prompt in irgendeiner Form tat.

Dann lernte der Junge Anne kennen und plötzlich war er wie ausgetauscht: Ruck-zuck beendete er sein Studium und war auf einmal Anwalt. Er heiratete, bekam zwei süße Mädchen und lebte jetzt schon seit drei Jahren in Amerika. Seitdem herrschte Ruhe in der Familie und Florentine war heilfroh, dass es nicht noch mehr Nachkommenschaft von Frederiks Schlag gab. Sie war nicht so blauäugig, zu denken, dass ihre Kinder irgendwie anders gewesen wären.

Der einzige Schatten, der über ihrer Hochzeit hing, war die Tatsache, dass Frederik und Anne nicht kommen würden. Die Kinder hatten keine Ferien und Anne keinen Urlaub mehr. Dafür wollten sie alle vier nächstes Jahr im Sommer für drei Wochen kommen.

Florentine sah auf die Uhr und erschrak: schon gleich drei! Sie hatte ganz schön rumgetrödelt und ihren Gedanken nachgehangen! Schnell band sie die Schürze ab und besah sich prüfend im Spiegel in der Diele. Sie steckte eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, wieder an ihren Platz zurück.

»Wir können!«, rief sie durch die offene Tür ins Wohnzimmer hinein. Es kam keine Reaktion – wahrscheinlich war Kurtchen eingenickt.

Florentine nahm den leichten Sommermantel von der Garderobe, schlüpfte hinein und ging ins Wohnzimmer.

»Komm, mein Lieber, ich bin fertig! Vielleicht können wir ja noch nach ein Paar Schuhen für mich schauen?«

Einige Zeitungsseiten waren auf den Boden gerutscht und lagen um den Sessel verteilt auf dem Teppich.

Florentine bückte sich und hob die Blätter auf.

»Kurt, aufwachen, wir müssen los!«, rief sie, nahm ihm die restliche Zeitung vom Schoß und legte sie sorgfältig zusammen.

»He!«, rief sie energischer und schüttelte ihn an der Schulter.

Sein rechter Arm rutschte von der Lehne und baumelte ein paar Zentimeter über dem Boden.

»Dann gehe ich eben allein!«, brummte Florentine und war schon fast zum Wohnzimmer hinaus, als sie stutzte. Schlief Kurt wirklich so fest, dass er sie nicht hörte? So kannte sie ihn gar nicht.

Sie ging zurück, stellte sich vor den Sessel und betrachtete ihren zukünftigen Mann. Friedlich sah er aus, stellte sie fest – viel zu friedlich.

»Kurt?« Sie schrie seinen Namen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, das wurde ihr schlagartig klar. Noch einmal fasste sie ihn an der Schulter und schüttelte ihn. Mit dem Ergebnis, dass sein Kopf mitsamt dem friedlichen Gesichtsausdruck zur Seite sank und der andere Arm auch noch von der Lehne rutschte.

Kurt war tot.

Vor Schreck ließ sie die Zeitung, die sie gerade erst so ordentlich zusammengefaltet hatte, fallen. Die Seiten glitten auseinander und lagen nun wieder auf dem Teppich verteilt zu ihren Füßen. Fröstelnd schlang sie sich den dünnen Mantel um den Körper und setzte sich, Kurts Sessel gegenüber, auf die Couch. Dort saß sie, wer weiß wie lange, und starrte ihn an. Kurt, der sich nicht mehr bewegte, der nicht mehr atmete und ganz einfach tot war.

Nach einer halben Ewigkeit stand sie endlich auf. Sie musste etwas unternehmen, schließlich konnte sie nicht für den Rest ihres Lebens vor dem toten Kurt sitzen bleiben, nur weil sie nicht wusste, was jetzt zu tun war. Sie musste telefonieren, schoss es ihr durch den Kopf. Sollte sie Erich anrufen? Der saß jetzt in seiner Sprechstunde, würde nicht einfach alles stehen und liegen lassen können und letztendlich würde er auch nichts mehr für Kurt tun können.

Sie nahm den Hörer ab und wählte automatisch Veras Nummer. Ja, Vera würde sicherlich wissen, was jetzt zu unternehmen war! Es klingelte am anderen Ende der Leitung, dreimal, viermal, dann ertönte endlich Veras Stimme.

»Hallo, lieber Anrufer, ich bin leider im Moment nicht zu Hause – falls sie etwas Wichtiges auf dem Herzen haben sollten, können Sie es gerne meinem Anrufbeantworter anvertrauen! Ich rufe Sie so bald wie möglich zurück!« Dann der Piepton.

Florentine zögerte. Sie mochte diese Apparate nicht, sie fühlte sich von diesen Geräten einfach überrumpelt. Nie wusste sie, was sie sagen sollte. Außerdem war noch nie irgendetwas so wichtig gewesen, dass sie es dem Anrufbeantworter hätte erzählen müssen, und sie legte deshalb immer gleich auf. Doch jetzt hielt sie den Hörer unschlüssig ans Ohr. Heute gab es etwas Wichtiges zu erzählen – aber ist ein Anrufbeantworter wirklich der richtige Ansprechpartner, wenn gerade der zukünftige Ehemann verstorben war?

Noch bevor sich Florentine für irgendetwas entscheiden konnte, ertönte wieder dieser Piepton – jetzt war es zu spät, etwas zu sagen und sie legte deprimiert auf.

Wo war Vera nur? Ein Mal, wenn sie sie wirklich dringend gebraucht hätte, war sie nicht erreichbar! Wozu hatte man denn überhaupt eine Freundin, wenn sie nicht da war, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und die Welt in Trümmern lag?

Vera war in Wien, stimmte ja, jetzt konnte sich Florentine erinnern. Sie hatten vor kurzem in diesem Straßencafé darüber gesprochen. Verdammt, Vera würde erst übermorgen wiederkommen, das fiel ihr jetzt auch wieder ein.

Was in aller Welt sollte sie, Florentine Jacobi, die auch in Zukunft Jacobi und niemals Möller heißen würde, jetzt nur tun?

Sie dachte an die wunderschönen Einladungen, die seit zwei Wochen verschickt waren, an das vorbestellte Lokal, an den Brautstrauß, auf den sie sich so gefreut hatte. Sie musste alles abbestellen, den Gästen absagen! Und das wunderbare, sündhaft teure Kleid, was sollte sie damit jetzt anfangen? Nur gut, dass sie noch keine Schuhe gekauft hatte.

Sie würde sich hinsetzen müssen und eine Erledigungsliste schreiben, ja, das war wohl das Beste.

Gut, dass Mutter das nicht mehr erleben musste, das hätte sie bestimmt nicht verkraftet.

Unschlüssig stand sie in der Diele. Sie starrte auf die Wohnzimmertür, hinter der Kurt in seinem Lieblingssessel saß und sich für das alles hier nicht mehr interessierte.

Langsam ging sie zur Haustür, nahm automatisch ihre Handtasche und den Schlüssel vom Schuhschränkchen, wie sie es immer tat, und verließ das Haus. Sie musste raus hier, weg von diesem Wohnzimmer mit dem toten Kurt im Sessel.

Ziellos hastete sie durch die Straßen, an Häuserzeilen vorbei, ohne darauf zu achten, wo sie war und wohin sie ging. Die Bewegung tat ihr gut, je schneller sie lief, desto besser fühlte sie sich. Weg, nur weg, ja nicht anhalten, nicht verschnaufen, nicht nachdenken.

Schweiß rann zwischen Florentines Brüsten und an ihrem Rücken hinab. Es war ein heißer Tag, ein typischer Augusttag. Die Luft flirrte über dem erhitzten Boden und ließ Straßen und Plätze in naher Ferne nass erscheinen. Eine Mini-Fata Morgana mitten in Deutschland.

Florentine geriet außer Atem. Die heiße Luft, die sie in tiefen Zügen durch den Mund einatmete, schmerzte im Hals und in der Lunge. Seitenstechen stellte sich ein und nun lief sie langsamer, versuchte gleichmäßiger und durch die Nase zu atmen. Erschöpfung ließ ihre Glieder schwer und schwerer werden. Sie musste eine kleine Ewigkeit so gelaufen sein!

Jetzt erst nahm sie war, wo sie sich befand: Mitten in der Stadt, da vorne war schon der Marktplatz mit den bunten Schirmen der Straßencafés und den vier kleinen Springbrunnen. Sie war wirklich weit gelaufen. Von ihrem Haus in dem kleinen Vorort waren es fast acht Kilometer bis hierher!

Florentine spürte mit einem Mal quälenden Durst und fand einen freien Stuhl genau vor dem Café, in dem sie erst kürzlich mit Vera gesessen hatte. Erschöpft ließ sie sich nieder. Sie spürte ihr Kleid an ihrem Körper kleben und die Blicke der anderen Gäste, die sich aber bald wieder von ihr ab- und ihren eigenen Sorgen zuwandten. Ungelenk und fahrig schälte sie sich aus ihrem Mantel – zu blöd, an einem solch heißen Tag einen Mantel zu tragen, auch wenn er sehr dünn war!

Das bestellte Radler kam schnell und schmeckte besser als alles, was sie jemals getrunken hatte. Als das zweite Glas kam, war sie etwas ruhiger geworden und auch ihr Atem ging nicht mehr ganz so schwer.

Und jetzt, Florentine?, fragte sie sich und musste sich schwer zusammenreißen, damit sie nicht vor all diesen Menschen losheulte. Was, um Himmels willen, sollte sie jetzt nur tun?

Ihre Gedanken schossen wild durch ihren Kopf. Kurt musste beerdigt werden, das stand fest. Ja, das musste sie als Erstes in die Wege leiten. Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Zettel, fand aber nur eine alte Friseurrechnung, deren Rückseite sich allerdings hervorragend zum Beschreiben eignete. Der Kugelschreiber, der seit Jahr und Tag in einem Seitenfach der Tasche vor sich hingedämmert hatte, schrieb erst nach mehrmaligem Anhauchen. »Bestattungsinstitut« schrieb sie ganz oben auf den Beleg. Kurz darauf schüttelte sie den Kopf, nein, zuerst musste ein Arzt kommen und den Totenschein ausstellen. Der Totenschein war wichtig, das wusste sie noch von damals, als ihre Mutter gestorben war. Sehr klein, kaum noch zu erkennen, kritzelte sie über »Bestattungsinstitut« »Arzt – Totenschein«. Genau, der Totenschein, den brauchte man für die Versicherungen und die Erbschaftsangelegenheiten.

Würde sie überhaupt etwas erben? War sie erbberechtigt, wie das so schön hieß? Ihr wurde übel, als ihr klar wurde, dass sie nichts bekommen würde, nichts, höchstens Frederik würde es ihr großzügig überlassen. Kurt hatte niemals ein Testament gemacht, das wusste sie, und somit war Kurts Sohn, als einziger leiblicher Verwandter, Alleinerbe. Das Haus, fiel es ihr siedend heiß ein, das wird auch Frederik gehören. Er wird es bestimmt verkaufen wollen, was sollte er schließlich mit einem altmodischen Haus in Deutschland, wo er doch in Amerika sein Zuhause gefunden hatte und zudem immer Geld brauchte! Und sie, Florentine, wird ausziehen müssen, aus dem Haus, in dem sie seit fast zwanzig Jahren lebte, für das sie die Badezimmerfliesen und die Vorhänge ausgesucht hatte, das sie Woche für Woche vom Dach bis in den Keller geputzt hatte. Es war ihr Haus geworden, sie kannte jede Ecke, hier war sie glücklich gewesen mit Kurt, und er hätte bestimmt nicht gewollt, dass sie es verlassen muss! Die Sparbriefe, die Aktien, Staatsanleihen – nichts von alldem, was sie für den gemeinsamen Lebensabend zurückgelegt hatten, stand ihr zu! Und Lebensversicherungen gab es in seinem Alter nicht mehr, die letzte war vor drei Jahren ausgezahlt worden. Sie hatten davon das Bad renovieren lassen, fiel ihr ein und bereute es fast ein wenig. Gut, es war wirklich nötig gewesen, nach etwa dreißig Jahren war das Bad wirklich hässlich und unmodern gewesen, aber jetzt wäre es ihr entschieden lieber gewesen, sie hätten das Geld damals angelegt ... auf ihren Namen am besten.

Sie hörte Kurts Worte, als säße er neben ihr und würde sie ihr noch einmal sagen: »Weil ich wissen will, dass du versorgt bist, wenn ich mal nicht mehr bin!«

Verzweiflung erfasste sie, als sie an ihre Zukunft dachte. Sie war nicht versorgt, überhaupt nicht, wie konnte er sich nur so still und heimlich aus ihrem Leben davonschleichen! Ihre Rente, die sie in ein paar Jahren bekommen würde, wäre als zusätzliche Einnahme recht nett, aber von den knapp fünfhundert Euro würde sie nicht leben können! Bis dahin würde sie von Sozialhilfe leben müssen, denn Kurts Pension war dahin. Keinen würde es interessieren, dass sie seit fast zwanzig Jahren um Kurts Wohl besorgt gewesen war, dass sie sich um ihn gekümmert und ihn liebevoll umsorgt hatte. Das zählte auf einmal nicht mehr. Sie war nicht mit ihm verheiratet gewesen, das alleine zählte.

Hätte sie nur nie aufgehört zu arbeiten, ihre Rente sähe dann mal ganz anders aus! Doch als sie sich damals kennen lernten, war Kurt gerade mal seit zwei Jahren Witwer. Sie waren noch jung, das Leben lag vor ihnen, und Kurts Einkünfte als Studienrat waren vollkommen ausreichend gewesen. Sie konnten damals locker auf ihr Sekretärinnengehalt verzichten.

Jetzt dachte sie ganz anders darüber und stellte sich unweigerlich die Frage, wie sie beide nur zwanzig Jahre so vor sich hinleben konnten, ohne sich Gedanken über die Zukunft, über Florentines Zukunft zu machen. Ja, hatten sie denn gedacht, sie würden ewig leben? Jetzt kam die Quittung oder, besser gesagt, die Strafe für diese Sorglosigkeit!