Tod unter der Mönchsweide - Sylvia Seyboth - E-Book

Tod unter der Mönchsweide E-Book

Sylvia Seyboth

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Beschreibung

Ein Mord erschüttert den Ort Monks Willow. Die Sage um den rätselhaften Mönch, auf dessen Existenz und tragisches Ende sich die Entstehung des Ortes gründet, scheint nicht unerheblich an den heutigen Geschehnissen beteiligt zu sein. Denn lange nach seinem mysteriösen Tod, wandelt der Mönch des Nachts erneut durch den Ort, bringt Tod und Unheil über Monks Willow und seine Einwohner. Nathaniel, der Earl of Montague entschließt sich dazu, die Ermittlungen in die eigenen Hände zu nehmen. Gemeinsam mit seinen Freunden und der absonderlichen Angestellten Selina Imrie gerät er in einen Strudel gefährlicher Geschehnisse.

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Die 1971 in München geborene Autorin widmete sich von Jugend an dem Schreiben.

Nach einer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau wechselte sie als Angestellte in den öffentlichen Dienst über. Der Drang zu schreiben hielt jedoch in jeder Lebensphase an.

Weitere Informationen zur Autorin und ihren Projekten unter

www.sylviaseyboth.cms4people.de

Außerdem bei Books on Demand als Print und E-Book-Ausgabe erschienen:

2014 – Vampir in UntermieteRoman2014 – Rebellion der VampireRoman2014 – Absaloms HeimsuchungRoman2014 – Maskerade des TodesRoman2014 – Eine Liebe, die stotternd beginntRoman2015 – Seele im GlashausRoman2015 – Katzenaugen können Herzen raubenTiergeschichten2015 –Tod unter der MönchsweideRoman

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Walter-Jörg Langbein

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Vorwort von Walter-Jörg Langbein

»Tod unter der Mönchsweide«

Sylvia Seyboth ist eine Autorin mit vielen Talenten. In einer Welt von immer erfolgreicher beworbener literarischer Langeweile überzeugt sie mit einem erstaunlich breiten Spektrum schriftstellerischen Schaffens.

Sylvia Seyboth überzeugt als Verfasserin von pointierten Kurzgeschichten ebenso wie als Schöpferin breit angelegter epischer Romane. Die engagierte Tierschützerin rührt mit »Katzenaugen können Herzen rauben« Leserinnen wie Leser gleichermaßen. Sie setzt lustige wie traurige Begebenheiten aus dem Zusammenleben von Mensch und Tier stets charmant in Szene. Nicht minder gekonnt entwirft Sylvia Seyboth in epischer Breite eine Welt, die irgendwo zwischen Realität und Albtraum angesiedelt ist. Zwei Bände der »Aengus O'Donaghue Chroniken« liegen bereits vor.

»Rebellion der Vampire« setzt gekonnt den spektakulären Roman »Vampir in Untermiete« fort: gewohnt originell und um Klassen besser als so mancher Bestseller des Blutsaugergenres. Während die Gestalten aus so manchem Weltbestseller um die Kreaturen der Nacht letztlich nur wie zweidimensionale Skizzen wirkliche Konturen vermissen lassen, schafft Sylvia Seyboth glaubwürdige Charaktere. Sie entführt uns in eine Welt, die jenseits der Grenzen der Realität angesiedelt zu sein scheint ... und die uns doch viel näher ist, als wir das gerne hätten. Bleibt zu hoffen, dass es noch weitere Fortsetzungen dieser vorzüglichen Reihe geben wird.

Ob Kurzgeschichte ... ob Roman: Sylvia Seyboth überzeugt stets als vorzügliche Autorin: auch als Verfasserin von »Seele im Glashaus«. In meiner Rezension schrieb ich: »Krimis gibt es wie Sand am Meer ... »Seele im Glashaus« ist ein ganz besonderes Buch: spannend, spritzig, witzig, Liebe und Humor kommen nicht zu kurz, köstliche Dialoge lassen schmunzeln. Ein Dankeschön an die Autorin!«

Und nun darf ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, einladen, Sylvia Seyboth wiederum in eine ganz andere Welt zu folgen. Ihr neuer Roman widersetzt sich dem Schubladendenken von Literaturkritikern. »Tod unter der Mönchsweide« entführt uns in den fiktiven Ort Monks Willow in Devon, England. Kein Detektiv, kein Polizeibeamter, sondern Nathaniel Montague, ein verschrobener Adeliger, recherchiert die Hintergründe eines wahrhaftig mysteriösen Mordfalls. Lesend werden wir in eine fremde Welt entführt, in der ein toter Mönch höchst tatkräftig in das Geschehen einzugreifen scheint. Vor »ewigen Zeiten« hat sich der Kirchenmann aus Scham erhängt. Doch war er wirklich ein Dieb? Oder waren die inkriminierenden »Beweise« falsch?

Die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit scheint zu verschwimmen. Die fiktive Realität des gelungenen Romans zieht uns in seinen Bann. Die liebevoll beschriebenen Charaktere beleben eine geheimnisvolle Welt. Freunde von schwarzem Humor werden ebenso begeistert sein wie Freunde hintergründiger Kriminalgeschichten.

»Tod unter der Mönchsweide« wird nicht nur der Fangemeinde Sylvia Seyboths gefallen. Das neue Opus wird die Anhängerschaft der vorzüglichen Autorin noch weiter anwachsen lassen! Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre von »Tod unter der Mönchsweide«!

Walter-Jörg Langbein

1. Kapitel

„Verfluchter Mönch!“, murmelte, die gemütlich an den Stamm einer alten Trauerweide gelehnt sitzende Gestalt, und warf erneut die Angel aus. Sein Blick folgte der im Licht des frühen Morgens glänzenden Angelschnur, bis der Köder die Wasseroberfläche des träge dahinziehenden Stromes durchbrach und in den Fluten versank.

Zufrieden aufatmend bewegte er seinen Rücken an dem rauen Stamm der Weide solange hin und her, bis er die optimale Sitzposition gefunden hatte, dann lehnte er den Kopf zurück und blickte hinauf in den Himmel. Wolken, die einen ruhigen Spätsommertag verhießen, zogen gemächlich über ihm dahin. Der für den heutigen Tag vorhergesagte Sturm schien die Prognosen der Meteorologen Lügen strafen zu wollen. Vielleicht hatte er sich kurzerhand umentschieden und suchte lieber einen anderen Flecken Englands heim?

Nathaniels Gedanken drifteten, gleich den glänzenden Wellen vor ihm, durch ein Flussbett aus wirren Ideen und Erinnerungen. Wie jeder anständige Junge aus Monks Willow, musste auch er während seiner Schulzeit, die Sage des verfluchten Mönches auswendig lernen und unzählige Male aufsagen. Trotzdem fiel es ihm in diesem Moment schwer, die Worte erneut zusammenzufügen und ihnen einen Sinn zu verleihen. Seine Schulzeit lag eben doch schon einige Jahre zurück. Mit seinen knapp vierzig Jahren hatte er sich emotional weit von der ehemals unheimlichen Sage entfernt.

Ja, als Kinder fürchteten sie die Sage und konnten doch nie genug davon bekommen. Wie oft bat er seine Mutter abends, halb unter der Bettdecke versteckt, sie ihm noch einmal zu erzählen.

Ein wehmütiger Seufzer entkam ihm. Seine Mutter! Sie war eine unvergleichliche Persönlichkeit gewesen. Hoch aufgeschossen, von edler Statur, das weizenblonde Haar immer elegant zu einem Knoten geschlungen, was ihr seltsamerweise nie einen strengen Ausdruck verlieh. Von einer unbeschreiblichen Sanftmut und doch beseelt von sprühendem Humor. Er konnte sich sogar an die Lachfältchen erinnern, die ihre grünen Augen immer zu umgeben schienen. Sie waren wohl auch das Einzige, was er von seiner Mutter geerbt hatte: die grünen Augen.

Er selbst war zwar ebenfalls sehr groß gewachsen, ganze 1,89 m, jedoch nicht unbedingt von edler Statur. Sein insgesamt eher als schmal zu bezeichnender Körperbau, wies ihn auf den ersten Blick als nicht unbedingt sportlich aus. Außer Reiten und Fahrrad fahren, ging er keiner weiteren sportlichen Betätigung nach. Sein von Kindesbeinen an, durch angeborene Tollpatschigkeit geprägter Bewegungsablauf, hinderte ihn daran, an den abwechslungsreichen Aktivitäten seiner Klassenkameraden teilzunehmen, ohne mit Hohn und Spott überschüttet zu werden. Einzig sein ebenfalls sportlich äußerst unmotivierter Freund Arthur Adlington leistete ihm damals wie heute auf seinen stundenlangen Ausflügen Gesellschaft.

Mit dem Zeigefinger schob er die Brille auf der Nase zurecht und warf einen zweifelnden Blick auf seine kostbare, wenn auch bereits reichlich mitgenommene Armbanduhr. Wo blieb Arthur nur? Er hätte bereits vor einer halben Stunde hier unter der Weide auftauchen sollen. Normalerweise war er die Pünktlichkeit in Person.

Die alte Trauerweide, nahe dem breiten Fluss, war von jeher ihr geheimer Treffpunkt gewesen. Hier kam man zusammen, wenn die Last des kindlichen Alltags wieder einmal zu groß wurde. Was sich meistens nur auf einen Tadel seitens Nathaniels Vater bezog, der allzu gerne einen Sohn besessen hätte, den er ohne Scham vorzeigen hätte können. Doch dieses Geschenk verweigerten ihm Mutter Natur und der Schoß seiner Ehefrau. Nathaniel blieb das einzige Kind und so musste sich sein ehrgeiziger, überaus prachtvoller und in jeder Beziehung vollkommener Vater mit dem missratenen Sprössling abfinden und das Beste daraus machen. Immerhin blieb dem krampfhaft um Zurückhaltung gegenüber seinem Nachkommen und Erben bemühten Mann, der immer gleiche Satz: „Wieder einmal der Beste seines Jahrgangs!“, was sich selbstverständlich nur auf Fächer bezog, die Wissen und keine körperliche Anstrengung voraussetzten.

Ein Knacken riss Nathaniel aus seinen Gedanken. Hastig wandte er den Kopf und stieß prompt mit der Schläfe an die raue Rinde der Weide, was dazu führte, dass er sich die Haut an dieser Stelle aufschürfte. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken an diesen minimalen Makel, es kamen jeden Tag neue dazu und andere verblassten und verheilten in derselben Zeit. Man hätte ihn schon in ein künstliches Koma versetzen und auf einem aufblasbaren Bett festschnallen müssen, um zu verhindern, dass er sich auf irgendeine hanebüchene Weise eine Verletzung zuzog.

Dem Knacken folgten wohlbekannte schlurfende Laute und Nathaniel musste sich nicht mehr die Mühe machen, um den Stamm des Baumes herum, nach dem Verursacher der Geräusche Ausschau zu halten. In gewohnt schleifender Art schlurfte Arthur um den Baumstamm herum und ließ sich neben ihm ins Gras plumpsen. Diese Bewegung wurde wie immer begleitet vom Knacken seiner Knochen, die bereits in diesem Lebensalter mächtige Verschleißerscheinungen aufwiesen.

„Old Monky war wieder unterwegs“, nuschelte er nahezu unverständlich in seinen braunen Spitzbart.

Einen Augenblick wanderte Nathaniels Blick über das knochige Gesicht seines Kameraden aus Jugendtagen. Er kannte jede Unebenheit in diesem absonderlichen Gesicht und doch schien er immer wieder eine neue Besonderheit zu entdecken. Heute blinkte ihm ein unübersehbarer Pickel auf Arthurs Nasenspitze entgegen und schien förmlich danach zu rufen, dass man ihn ausdrücken sollte.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fluss zu und sagte: „Ich versuche bereits den ganzen Morgen mich an die Sage zu erinnern, aber irgendwie bekomme ich nicht einmal den Vers zusammen, den wir in der Schule lernen mussten.“

Nun war es an Arthur, seinen alten Freund genauer in Augenschein zu nehmen. „Du blutest an der Schläfe.“

„Selbstverständlich, ich bin gegen den Baumstamm geknallt.“

„Ach so.“ Derartige Aussagen konnten ihn nicht mehr erschüttern. Er hatte bereits des Öfteren versucht, sich seinen Freund mit makellosem Äußeren vorzustellen, aber irgendwie tauchte sofort ein blauer Fleck in seiner Fantasie auf, oder es zogen sich blutige Striemen über die Haut, wenn er diesen Versuch startete. Sogar heftigste Konzentration führte zu keinem Erfolg versprechenden Ergebnis.

„Die Mär, die Mär, hütet Euch sehr!“, hauchte Arthur in die klare Morgenluft.

„Wie bitte?“, fuhr Nathaniel erstaunt herum und sah seinen Freund fassungslos an.

„Du wolltest es doch wissen? So beginnt der Vers.“

Nathaniel kramte in seiner Erinnerung und tatsächlich, kaum dass er die ersten Worte durch Arthur in sein Gedächtnis zurückgerufen bekam, fanden sich auch die restlichen Worte, wie durch ein Wunder wieder an. Er kräuselte in angestrengter Konzentration die Stirn und begann den Vers aus seiner Erinnerung abzurufen:

„Die Mär, die Mär, hütet Euch sehr!

Dereinst ein Mönch vom rechten Weg abkam.

Schuld auf sich lud, die Sünden begrub, unter Lug und Trug.

Doch kam die Wahrheit ans Licht und der Mönch trat vor ein höheres Gericht.

Er floh vor der weltlichen Strafe, auf dass der Hass ihn nicht traf.

Wählte den Strang als Buße,

erhängte sich an einer Weide und machte ein Ende dem Leid.

Erbaut auf sündigem Grund,

tut bis heute Monks Willow kund:

Wer dem Mönch auf seinen unseligen Wegen,

tut des Nächtens begegnen,

wird nimmermehr Frieden finden,

bis dass er sich vereint unter den Weiden, mit den Gebeinen des Einen,

der all dies verschuldet.

Drum hütet Euch vor Monks Willow,

wenn wandert der Mönch durch die Gassen,

solltet Ihr Heim und Hof nicht verlassen.“

Wie gebannt hatte Arthur der melodischen Stimme seines Freundes gelauscht. Sie war wohl das Ansprechendste an Nathaniel. Mit dieser Stimme konnte man jede Person in seinen Bann ziehen, da wurde reines Aussehen zur Nebensache. Wobei er Nathaniel keineswegs als durchschnittlich oder gar schlecht aussehend bezeichnet hätte. Ganz im Gegenteil. Das rotbraune Haar floss in natürlichen Locken bis in seinen Nacken und kringelte sich dort vorwitzig. Die strahlend grünen Augen wurden umschattet von langen dunkelbraunen Wimpern. Der Bogen seiner Augenbrauen verhieß einen durchsetzungsfähigen Charakter, ebenso wie das energische, spitze Kinn. Insgesamt schlug Nate eindeutig seinem Vater nach. Von seiner Mutter schien er nur die feingliedrigen Hände und die angeborene Kurzsichtigkeit geerbt zu haben, die er durch eine modisch randlose Brille in Zaum hielt. Einer Laserbehandlung widersetzte er sich vehement, da er eine geradezu phobische Angst vor Krankenhäusern besaß. Unter anderem!

Kein Wunder nach all dem, was er bis zum Tod seines Vaters mitgemacht hatte. Zuerst starb seine Mutter nach einem Autounfall und Monaten im künstlichen Koma, die nichts daran ändern konnten, dass sie bereits bei Einlieferung in das Krankenhaus hirntot gewesen war. Dann stürzte sein gramgebeugter Vater im Kummersuff die breite Steintreppe zum Garten hinunter und brach sich das Genick. Innerhalb weniger Wochen verlor er beide Elternteile und blieb in einem Alter von 15 Jahren unter der Vormundschaft seiner äußerst skurrilen Tante Dorothea einsam und verlassen zurück. Nun gut, den letzten Teil der Geschichte hatte er leichterdings übertrieben dargestellt, denn letztendlich liebte ihn Nathaniels Tante auf eine merkwürdig absurde Weise. Und wenn er ganz ehrlich war, dann stand Nathaniel zu keiner Sekunde unter Dottys Vormundschaft, er übernahm vom Todestag seines Vaters an die Geschäfte, erledigte neben Schule und später Ausbildung alles, was den Erhalt des Besitzes sicherstellte. Natürlich nicht gänzlich ohne Unterstützung durch Dritte, er beschäftigte Angestellte, die nach seinen Wünschen und Befehlen handelten.

Dotty überließ ihm diese Bürde allzu gerne, da sie selbst über keinerlei Geschick verfügte. Und das meinte er wörtlich! Denn es waren nicht nur die geschäftlichen Dinge des Lebens, denen sie sich nicht gewachsen fühlte, es waren alle Dinge des Lebens. Unter der Führung des 15-jährigen Nathaniel und als Dauergast in seinem Heim verweilte die mittlerweile grau gewordene Dorothea in ihrer unnachahmlich verdrehten Weise unter seinem Dach.

„Ja, so lautete der Vers“, kam Arthur auf das eigentliche Thema zurück.

Nathaniel starrte weiterhin nachdenklich auf den Fluss. Seine Angelschnur trieb sinnlos auf den Wellen, lockte jedoch keinen noch so kleinen Fisch an. Was Arthur nicht wunderte. Ein Grinsen schlich sich auf seine für einen Mann zu vollen Lippen. Fast liebevoll glitt sein Blick über den neben ihm sitzenden Freund.

„Wo hat man ihn denn diesmal gesehen?“, hakte Nathaniel nach, da ihn das Thema wirklich interessierte. Es war nun mittlerweile die siebte Sichtung des geheimnisvollen Mönchs und niemand vermochte zu sagen, wer oder was sich unter der Kutte verbarg. Denn eines stand für ihn fest: Keinesfalls handelte es sich um einen Geist!

Arthur legte den Kopf nach hinten gegen den Stamm der Weide und blickte durch die fast bis zum Boden hängenden Äste, mit ihrem herbstlich gelben Laub. Immer wenn ein Windstoß den Vorhang aus zarten Zweigen erfasste, wurde ihm ein Blick in den blauen Himmel gewährt. Vom angedrohten Sturm war keine Spur auszumachen. Zufrieden schloss er die Augen und atmete tief ein. „Es riecht schon nach Herbst, findest du nicht?“

Ein wenig unwirsch fuhr Nate den Freund an: „Wo?“ Er hasste es, wenn von einem angeschnittenen Thema plötzlich abgelenkt wurde, ohne eine Antwort auf seine Frage erhalten zu haben.

„Vor der Metzgerei.“

„Seltsamer Ort für einen Mönch“, hing Nathaniel seinen Gedanken nach.

„Ich weiß nicht, er wurde inzwischen an den unterschiedlichsten Stellen im Ort gesichtet, immer weit nach Mitternacht. Die Metzgerei ist kein schlechterer Ort als jeder andere“, hielt Arthur dagegen.

Die grünen Augen wanderten zu seinem Freund ab, der weiterhin mit geschlossenen Augen neben ihm gegen den Stamm lehnte und einfach den Tag genoss. Seltsam, dass sich ausgerechnet zwei Menschen derart gut verstanden, die von ihren Charakteren her doch so grundverschieden waren. Er, der manchmal aufbrausende, tollpatschige Adelige, der immer bemüht war, sich möglichst selbstsicher zu präsentieren, obwohl Selbstsicherheit nun wahrlich nicht zu seinen Stärken zählte. Und dort, Arthur Adlington, die Selbstsicherheit in Person, der alles in stoischer Ruhe auf sich zukommen ließ, nur um dann mit absoluter Präzision den richtigen Weg zu wählen, ohne dabei in irgendeiner Form anzuecken. Ganz im Gegensatz zu ihm, der es immer irgendwie bewerkstelligte im falschen Moment das Falsche zu sagen und es dann durch eine linkische Bewegung und ein darauf folgendes Missgeschick zu untermalen.

Freunde eben, vereint in ihrer Unvereinbarkeit, ging es ihm durch den Kopf. Lächelnd widmete er sich wieder seinem Studium der Wolken, die er nun immer öfter durch den Weidenvorhang sehen konnte. Der Wind nahm an Intensität stetig zu und auch die Wolken verdichteten sich mittlerweile.

Vorsorglich zog er sich die karierte Tweedmütze etwas tiefer in die Stirn. Auch so eine Eigenart, die ihn von seinem Freund unterschied. Er hatte eine Vorliebe für Kopfbedeckungen jeglicher Form, während Arthur nur im äußersten Notfall etwas auf seinem Kopf duldete. Auch kleidungstechnisch trennten sie Welten voneinander. Er trug nur vorzügliche maßgeschneiderte Kleidung aus besten Stoffen am Leib, die jedoch niemals dem derzeitigen Modetrend Folge leistete, während Arthur sich stets locker nach der Mode des Jahres kleidete, dabei allerdings nie allzu viel Wert auf die Qualität der Stoffe legte. Ohne es selbst zu merken, zog ein breites Lächeln über sein Gesicht. Verrückt, wie unterschiedlich man sein konnte, und gab trotzdem das perfekte Gegenstück für den anderen ab.

„Kannst du dich noch an die Sage erinnern?“ Arthur kehrte unvermittelt zum eigentlichen Thema ihrer Unterhaltung zurück.

Nachdenklich schüttelte Nathaniel den Kopf. „Nein, das ist zu lange her. Aber es befinden sich mit Sicherheit Unterlagen dazu in meiner Bibliothek. Und wenn wir dort nicht fündig werden, kann uns Cameron bestimmt die passende Lektüre besorgen.“

„Wäre nett den alten Wymark mal wieder zu besuchen. Sein Laden platzt bestimmt schon aus allen Nähten“, hing Arthur einer Erinnerung nach, die eigentlich erst vier Tage alt war. Denn vor vier Tagen betrat er zum letzten Mal den Laden von Cameron Wymark, dem Buchhändler von Monks Willow.

Wie unter Schmerz verzog sich das Gesicht Nathaniels. „Heute auf gar keinen Fall. Tante Dotty hielt es für angebracht, die halbe Ortschaft zu uns einzuladen, um über die Vorfälle zu beratschlagen. Ihrer Meinung nach muss unbedingt etwas gegen den wandelnden Mönch unternommen werden. Heute Nachmittag zum Tee wirst du keinen aus dem Ort mehr im Ort selbst antreffen, die tummeln sich dann alle in meinem Haus.“

In seinem Haus, welch verniedlichende Umschreibung für das größte Anwesen weit und breit. Arthur konnte sich nicht erinnern jemals in einem Gebäude gewesen zu sein, das weitläufiger, hölzerner oder gar beeindruckender gewesen wäre. Hölzern nur in Bezug auf die Einrichtung zu sehen, denn es gab wohl keinen einzigen Raum, der nicht bis unter die Decke mit Regalen, herrlichen Wandtäfelungen oder sonstigen Einrichtungsgegenständen aus Holz bestückt war. Waren die Rahmen der kostbaren Gemälde nicht auch aus Holz?

„Das lasse ich mir nicht entgehen! Tante Dotty wird zur Höchstform auflaufen und wie gewohnt am Ende auch noch den letzten Krümmel von der Kuchenplatte futtern“, lud sich Arthur selbst zu diesem Vergnügen ein. Seit er denken konnte, ging er in Nathaniels Haus ein und aus, wie es ihm gerade beliebte. Er verfügte sogar über ein eigenes Zimmer, das er jederzeit nutzen konnte. Es bedurfte keiner extra ausgesprochenen Einladung, um ihn an dem Teestündchen teilhaben zu lassen.

„Fünf Uhr“, bestätigte Nathaniel.

Gab es einen anderen Tee, als den Fünfuhrtee? Arthur musste ein Schmunzeln unterdrücken. Bei der Erziehung blieb seinem Freund wohl gar nichts anderes übrig, als den urenglischen Sitten und Gebräuchen Folge zu leisten.

Der Vorhang aus Weidenästen teilte sich und ein runder Kopf schob sich in das Blickfeld der Freunde. Der rotgesichtige Mann grunzte freundlich: „Dachte ich mir’s doch, dass ich Eure Lordschaft hier antreffen würde. Hab die Stimmen gehört. Und wer, außer Eurer Lordschaft, könnte es sich leisten, schon um diese Zeit angelnd am Fluss zu sitzen?“

Man hätte die Worte als despektierlich auffassen können, zumal die Bezeichnung „Lordschaft“ absolut unzutreffend war, aber Nathaniel hatte es aufgegeben, auf seinen korrekten Titel hinzuweisen. Die gesamte Einwohnerschaft von Monks Willow betitelte ihn mit „Eure Lordschaft“. Und es hätte auch ein wenig zu viel Zeit in Anspruch genommen, ihn jedes Mal mit: Duke of Devinshire Earl of Montague, anzusprechen.

„Und was treibt Sie um diese Zeit am Fluss um, Mr. Spencer?“, ging Nathaniel der Höflichkeit halber auf den Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht, ein. Obwohl er sich bereits in diesem Moment dessen bewusst war, dass der Spott nicht lange auf sich warten lassen würde. Es schien zu Lewis Spencers Lieblingsbeschäftigungen zu gehören, über alles und jeden, einen dummen Witz zu reißen.

Augenblicklich verzog sich das runde Mondgesicht zu einer grienenden Maske und prustete die nächste Unverschämtheit aus seinem, mit einer geschwollenen Zunge ausgestatteten Mund. „Dachte der Mönch, hat sich vielleicht ein zweites Mal an einer Weide erhängt und diese fiel mir als Erste ein. Wollt Euer Hochwohlgeboren davor bewahren, so kurzsichtig, wie Sie ja nun einmal sind, stundenlange unter einer baumelnden Leiche zu sitzen. Reicht ja schon, wenn Eure Lordschaft, wie immer erfolglos angelt.“

Die Worte entlockten Arthur ein wissendes Lächeln. Sein Blick wanderte automatisch die Angelschnur entlang, zu dem im Wasser abgetauchten Ende.

Wie immer in Gegenwart Lewis Spencers musste Nathaniel zuerst all seine Würde aufbieten, um dann die passende Erwiderung von sich zu geben. Er erhob sich, wischte seine Kleidung sorgfältig mit den Händen ab und wandte sich dann mit einem leicht überheblichen Lächeln an den Bauern: „Keine Sorge, Mr. Spencer, es gehörte jahrhundertelang zu den Aufgaben eines Duke of Devinshire Earl of Montague, seine Leibeigenen und Bediensteten zu befehligen. Dazu benötigt man auch ein scharfes Auge, um Diebstahl und Wilderei vorzubeugen. Ich hätte also im Zuge meiner Ausbildung zum Lehnsherrn niemals eine über mir baumelnde Leiche übersehen, selbst wenn sie nicht einen derart feisten Körperbau wie den Ihren aufgewiesen hätte.“

Der keineswegs versteckte Hinweis auf Wilderei, die Spencer in reinster Passion betrieb, versetzte dem dreisten Landjunker gerade eben den Stoß, dessen er bedurfte, um sich auf seine dezente Weise zurückzuziehen. „Hab noch ne Menge zu tun. Wollt nur gesagt haben, dass sich so eine Angelrute als wesentlich wirksamer erweist, wenn man auch am anderen Ende mit Hirn zu Werke geht.“ Sprachs und warf dem nunmehr stehenden und ihn weit überragenden Duke eine Handvoll Regenwürmer vor die Füße, ehe er sich schleunigst aus dem Staub machte.

So sehr sich Arthur auch anstrengte, er konnte das Lachen nicht allzu lange zurückhalten, dann brach es sich Bahn und erfüllte das Weidenzelt. Als er sich soweit beruhigt hatte, dass er Worte formen und auch aussprechen konnte, meinte er an seinen indigniert dreinblickenden Freund gewandt: „Du musst dich nicht wundern, wenn dir mit deiner Art zu angeln Spott zu Teil wird.“

Von Spencers Gegenwart befreit sackte Nathaniel wieder in eine bequemere Haltung zurück und begann die Angelschnur aufzurollen. Als sich das letzte Stück Schnur aus den Fluten erhob, wurde ersichtlich, worauf sowohl Lewis Spencer, wie auch Arthur Adlington angespielt hatten. Er pflegte, ohne Köder zu angeln. Natürlich war er sich des sicheren Misserfolges bewusst, aber er brachte es eh nicht übers Herz einen gefangenen Fisch kaltblütig umzubringen, oder ihm auch nur den Haken aus dem Maul zu ziehen. Wozu also einen Haken ans Ende der Schnur hängen und womöglich auch noch mit einem hilflos zappelnden Wurm versehen, der entweder ersäuft wurde, oder aber von einem Fisch gefressen, der dann wenig später ebenfalls ermordet wurde?

2. Kapitel

Interessiert beobachtete der Duke of Devinshire Earl of Montague von seinem Platz am Kamin aus, die tröpfchenweise eintreffenden Gäste der Teegesellschaft, die seine Tante für diesen Abend geladen hatte. So langsam fand sich in seiner Halle halb Monks Willow ein. Darunter ein paar höchst kuriose Gestalten, die jedoch meist seiner eigenen Familie angehörten, neben denen die Dorfbewohner sich geradezu normal ausmachten.

Als da wären, sein Onkel Ethan, der blau wie eine Standhaubitze neben der Bar in einem großen Sessel lümmelte, den verschwommenen Blick weiterhin begehrlich auf die Whiskeykaraffe gerichtet. In jener Hand, die nicht fest mit dem Whiskeyglas verwachsen war, hielt er gefährlich unsicher eine dicke Zigarre, die bei der kleinsten Ablenkung mit Sicherheit ihren Weg auf den sündhaft teuren Teppich finden würde. Eines musste man Onkel Ethan jedoch lassen, sein Geschmack, was Kleider und Whiskey anging, war von erlesener Güte. Ein seidenes Halstuch, welches Nathaniel erstaunlich bekannt vorkam, schmückte seinen fleischigen Hals. Er hätte sich schon sehr irren müssen, wenn dieses Halstuch nicht noch vor wenigen Tagen seinen eigenen Hals aufgewertet hatte. Ein dezent kariertes Wolljackett mit aufgesetzten Taschen, Flanellhose und Lederschuhe komplimentierten das Ensemble. Der typische Landedelmann der vierziger Jahre hätte man denken können, wäre dem zur Fülle neigenden Mann nicht hin und wieder ein leiser, dennoch genussvoller Rülpser entkommen. Sein angegrautes, ehemals sandfarbenes Haar hing ihm aufgrund der täglichen Anstrengung seinem gediegenen Lebensstil nachzugehen, den er einzig der Großzügigkeit seines Neffen zu verdanken hatte, inzwischen wirr ins Gesicht. Auch, was seine Frisur anging, ließ sich Onkel Ethan nicht lumpen, er leistete sich jede Woche einen Haarschnitt, den er großzügigerweise über das Kundenkonto Nathaniels abrechnen ließ.

Dann war da natürlich die Grande Dame des Hauses, seine Großmutter Lucinda. Irgendwie war die Erkenntnis, dass Queen Victoria bereits seit einigen Jahren tot war, spurlos an ihr vorübergegangen. Sie trug ein Besuchskostüm im Stile der Kleidung um 1877, ein Zeitalter, das sie niemals erlebt hatte. Sie scheute nicht davor zurück ein Kleid mit langem Fischbeinmieder, das eng über den Hüften lag, zu tragen. Von dem Plisseekragen ganz zu schweigen. Der Rock verjüngte sich nach hinten und lief in einer Schleppe aus, die mit einer Garnierung aus Biesen, Quasten, Fransen und Borten versehen war. Und als hätte all dies noch nicht gereicht, trug sie dazu einen Hut mit großen abstehenden Federn. Im Haus!

Kopfschüttelnd wandte Nathaniel seine Aufmerksamkeit der Gastgeberin der heutigen Teestunde zu. Seiner altjüngferlichen Tante Dorothea. Ihr Geschmack beschränkte sich auf Teegebäck jedweder Sorte. Was Kleidung, Schmuck oder andere Stilfragen anging, wandelte sie in einer ganz eigenen Welt. Für ihre Verhältnisse zeigte sie sich heute geradezu aufgedonnert. Das silbergraue Haar zu einem lockeren Knoten geschlungen, stand sie in ihrem lavendelfarbenen Tweedkostüm, rank und schlank, man konnte auch weniger schmeichelhaft sagen, knochendürr, in der Mitte der Halle und überwachte das Eintreffen der geladenen Gäste. Allesamt Bewohner von Monks Willow.

Bei den seltenen Gelegenheiten, die zu einer Einladung nach Montague Hall führten, ließ es sich kaum einer der Dörfler nehmen, dieser Einladung auch nachzukommen. Wie es schien, bevölkerten sie inzwischen in rauen Mengen die große Halle, trampelten mit ihren nassen Schuhen auf dem teuren Teppich und was noch viel schlimmer war, auf dem Nussbaumparkettfußboden herum.

Dieser Anblick ließ in Nathaniel den Beschluss reifen, den morgigen Tag auf alle Fälle außer Haus zu verbringen. Er verspürte keine Sehnsucht danach, den gesamten Vormittag die laute Stimme von Mrs. Ellie Granger durch die Räume donnern zu hören, wenn sie ihre mannigfaltigen Anweisungen an das Dienstpersonal weiterleitete. Die Köchin übernahm irgendwann ganz automatisch zusätzlich die Funktion einer Haushälterin und hielt fortan das Heft so fest in der Hand, das man es ihr schon mit der gesamten Hand hätte abhacken müssen, um es zurückzuerobern.

Unter den Gästen befand sich an diesem frühen Abend auch die Putzfrau von halb Monks Willow, Montague Hall eingeschlossen. Die Vorzüge eines Gastes, die Mrs. Olivia Stewart heute genoss, würde sie morgen unter Mrs. Grangers Fuchtel schwer schuftend abarbeiten müssen. Und wahrlich, sie genoss in vollen Zügen, derzeit eine seiner dicksten Zigarren. Der Prügel hing aus ihrem schnoddrigen Mund und stieß ähnlich einem Dampfzug in unregelmäßigen Abständen Rauch aus. Anscheinend entging ihr während ihres Rauchexzesses vollkommen, die zu Boden fallende Asche. Aber was kümmerte es ihn. Morgen würde sie mit ihren eigenen Gichtkrallen das ganze Malheur wieder beseitigen müssen. Darauf freute er sich jetzt schon. Vielleicht war es doch kein so guter Gedanke, den morgigen Tag außer Haus zu verbringen?

Unbewusst schlich sich ein feines Lächeln auf sein Gesicht. Das sofort verschwand, als sein Blick eine sich ihm nähernde Person erfasste, die im schwankenden Gang einer Verführerin auf ihn zurollte. Mia York! Der Schrecken all der unverheirateten Männer im Umkreis mehrerer Meilen. Bevorzugt sein Schrecken, denn bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und er bot ihr so wenige wie möglich, streckte sie ihre feuerrot lackierten Nägel nach ihm und vor allem seinem Titel aus. Dabei beschränkten sich ihre Verführungskünste ausschließlich auf ihre Konditoreiwaren, denn diese waren wahrlich ein Hochgenuss. Ganz im Gegensatz zu ihrem Erscheinungsbild, das dem der sprichwörtlichen Walküre glich. Beinahe glaubte er, im Hintergrund Wagners Ritt vernehmen zu können. Nicht unpassend diese Untermalung, wie er fand.

Gerade noch rechtzeitig schob sich Arthurs Gesicht in sein Blickfeld und verdrängte die raumfüllende Erscheinung Mia Yorks aus seinem Dunstkreis. Er nahm aus dem Augenwinkel noch den Schmollmund wahr, den sie zog, als sie sich umwandte und notgedrungen nach einem neuen Opfer Ausschau hielt.

Mia Yorks Bedürfnis nach einer baldigen Eheschließung nahm von Jahr zu Jahr heftig zu. Sollte sich nicht alsbald ein halb blinder, geistig minderbemittelter Selbstmordkandidat finden, würde Mia York mit Sicherheit Vikar Finlay Weeks dazu nötigen einer Zwangsehe seinen Segen zu erteilen.

Dumm und halb blind, wie er war, würde Weeks durch seine Brille mit den fingerdicken Gläsern nicht einmal erkennen, dass der zukünftige Ehemann unter Einfluss von Schlafmitteln, auf eine Sackkarre gespannt, dem Ende seiner Junggesellenzeit entgegenschlummerte. Amen!

„Ach, ist es nicht immer wieder ein Vergnügen unsere liebe Dorfgemeinschaft so hautnah erleben zu dürfen?“ Man musste nicht in Arthurs Gesicht blicken, um zu erkennen, dass nicht nur sein Tonfall Hohn und Spott über dem Schauspiel ausschüttete.

„Getrennt durch eine zwanzig Zentimeter dicke Plexiglaswand könnte sogar ich etwas Ähnliches wie Vergnügen dabei empfinden“, murrte Nathaniel angespannt. Seine Augen wanderten um den Freund herum, auf der Suche nach Mia York, die jedoch offensichtlich ihren Heiratsbeschuss auf eine andere Person abgelenkt hatte.

Vorsichtshalber wagte er allerdings noch einen Blick um die andere Seite Arthurs herum und wäre mit seiner Nase beinahe mit dem Stift von Emma Argyll zusammengestoßen. Selbst zu klein, um auch nur annähernd an ihn heranzureichen, streckte sie ihren Arm in seine Richtung und tippte herausfordernd mit der eingefahrenen Spitze ihres Kugelschreibers gegen seine Schulter.

Ihre schrille Stimme fuhr ihn derart laut an, dass keinem der Anwesenden entgehen konnte, was sie von sich gab: „Was sagen Sie zu den Vorkommnissen in Monks Willow, Eure Lordschaft?“

Genervt wich seine Lordschaft zurück, bis er das Kaminsims in seinem Rücken spürte und einer weiteren Rückzugsmöglichkeit somit beraubt wurde. An die ständige unzutreffende Anrede hatte er sich längst gewöhnt, er ließ sich nicht mehr dazu herab, diese richtigzustellen. An was er sich jedoch niemals gewöhnen würde, war die penetrante Art und Weise in der Emma Argyll ihren Job als Schmierblattjournalistin versah. Sie betrieb die einzige Zeitung in Monks Willow, den Monks Divulger, und übernahm sämtliche Aufgaben, außer dem Druck der Zeitung, höchstpersönlich. Sie war Reporterin, Kolumnistin, Lektorin, Kummerkastentante (dafür benutzte sie sogar ein Pseudonym, obwohl nun wirklich jeder im Ort wusste, dass es sich dabei um sie drehte). Es gab nichts, was Emma Argyll nicht eigenhändig erledigte. Wie gesagt außer dem Druck!

„Emma! Könnten Sie sich endlich einmal angewöhnen, mit Ihrem Stift außerhalb meines Einflussbereiches zu bleiben?“, fuhr Nathaniel sie harscher an, als er beabsichtigt hatte.

Sofort wandten sich ihnen einige der Köpfe zu, die nicht gerade mit Futterfassen beschäftigt waren. Neugierige Blicke und erwartungsvolle Gesichter harrten der Dinge, die da kommen würden.

Sie wurden enttäuscht. Ausnahmsweise wollte sich Emma nicht dazu herablassen, zur Unterhaltung von Monks Willow beizutragen. Sie war gewohnt, für die Unterhaltung, die sie bot Geld zu erhalten, und diese mehrmals die Woche auf Papier gedruckt zu servieren. Daher sprach sie sehr leise und nur für Arthur und Nathaniel verständlich weiter: „So ein geisterhafter Mönch wird doch auch Sie nicht kalt lassen?“

„Er erhitzt mich auch nicht gerade. Aber falls Sie damit fragen wollten, ob ich daran interessiert bin, was hinter dieser Mönchsgeschichte steckt, kann ich nur sagen: so sehr wie jeder andere in diesem Raum.“

Mit einer fahrigen Bewegung strich sich Emma ihr aschblondes Haar nach hinten aus dem Gesicht und rückte die Hornbrille zurecht. Dann kam sie sofort zurück zum Kern der Sache: „Haben Sie einen Verdacht, wer sich hinter der Maskerade verbergen könnte?“

Nathaniels Augen weiteten sich vor Erstaunen. Wie kam die verrückte Person nur auf den Gedanken, dass er auch nur einen Funken von Verdacht haben könnte? Ganz und gar unschuldig äußerte er: „Wenn ich ehrlich sein soll, ging mein Verdacht in die Richtung, dass hier aus dem Ort nur eine Person dringend Schlagzeilen benötigt und sie sich vielleicht auf diesem Wege selbst schafft.“

Ehe sich Arthur kontrollieren konnte, prustete er seinen Whiskey in die Flammen. Er musste heftig husten, um das Brennen in seiner Kehle zu beruhigen. Mit gerötetem Gesicht wandte er sich Nathaniel und Emma Argyll zu, die mit offenem Mund, dafür ungewohnt tonlos vor ihnen stand und voll Entsetzen den Earl of Montague ansah. Sie japste ein paar Mal nach Luft, ließ ihren einsatzfreudigen Kugelschreiber sinken und zog sich dann kopfschüttelnd in eine andere Ecke der Halle zurück.

Da die leise gesprochenen Worte für die Umstehenden kaum wahrnehmbar gewesen waren, verfolgten sie verständnislos die Kapitulation vor dem Feind und richteten danach ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Kuchenbüfett, welches doch wesentlich verlockender erschien, als ein paar undeutliche Gesprächsfetzen.

Obwohl Tante Dorothea dieses ganze Spektakel nur inszeniert hatte, um an Informationen zu gelangen und gleichzeitig einen Schlachtplan erstellen wollte, mit dem man dem unheimlichen Mönch beikommen konnte, schien auch für sie derzeit das zuckersüße Angebot auf dem eigens hierfür errichteten Tisch, verlockender. Ihr Blick ruhte auf dem übervollen Teller in ihrer Hand, ein zufriedenes Lächeln auf den bleistiftstrichdünnen Lippen.

Erst als ihr über ein erstaunliches Fassungsvermögen verfügender Magen restlos mit klebrigem Süßkram angefüllt zufrieden grummelte, stellte sie ihren Teller auf dem Tisch ab, nahm ihre Teetasse auf und klopfte klirrend mit dem Teelöffel gegen das kostbare Porzellan.

„Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf. Ich möchte jetzt, unseren allseits geschätzten Sergeant Derek Langford bitten, das Wort zu ergreifen, um uns über die Geschehnisse in Monks Willow aufzuklären.“ Mit einer einladenden Geste übergab Dorothea Montague das Wort an den stocksteif neben ihr verharrenden Dorfpolizisten.

Langford fühlte sich offensichtlich unwohl in seiner Haut. Mit zwei Fingern fuhr er sich unter den Uniformkragen und versuchte das einengende Gefühl zu vertreiben, das plötzlich von ihm Besitz ergriffen hatte. Nur mühsam würgte er die ersten Worte hervor: „Nun, im Grunde handelt es sich hierbei mit Sicherheit um einen Dummejungenstreich. Aber erst einmal zu den Fakten. Es gibt vertrauenswürdige Zeugen, die eine Person, bekleidet mit einer Mönchskutte, an verschiedenen Plätzen, zu unterschiedlichen Zeiten, aber jeweils des Nachts, weit nach Mitternacht, gesichtet haben. Die Aussagen stimmen insofern überein, da alle Zeugen einhellig die besagte Person als groß, schlank und sehr agil beschreiben. Mehrmals entzog er sich einem Zugriff, da er mühelos über Mauern, Weidezäune oder Dächer entkam.“

„Nicht gerade typisch für einen Geist“, murmelte Nathaniel nur für Arthur hörbar.

Dieser nickte, folgte jedoch weiterhin aufmerksam den flüssiger werdenden Ausführungen des Sergeants.

„Daher auch die Vermutung, dass es sich schlicht um einen dummen Streich handeln muss. Ein Geist wäre schließlich nicht darauf angewiesen, äußerst weltlich zu fliehen. Außerdem entstand weder Sachschaden, noch erfolgte ein in irgendeiner Form gearteter Angriff auf eine Zivilperson.“ Sergeant Langford kratzte sich nervös am Kopf. Er war es nicht gewöhnt, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. In all seinen vergangenen Dienstjahren ereignete sich niemals etwas Spektakuläreres als Nachbarschaftsstreitigkeiten, der eine oder andere kleine Diebstahl und Beleidigungen über den Gartenzaun hinweg. Alles kein Grund zur Aufregung. Ganz im Gegenteil, inzwischen fragte er sich ernsthaft, wie er jemals auf die wahnwitzige Idee verfallen konnte, dem Polizeidienst beizutreten. In seinen jungen Jahren träumte er von gefährlichen Verfolgungsjagden, spannenden Mordfällen, Konfrontationen mit echten Verbrechern, all das, was der Polizeidienst zu versprechen schien. Doch dann wurde er hierher versetzt, kaum dass er die Polizeischule hinter sich gebracht hatte. Und seit diesem Tag lebte er in diesem abgelegenen Flecken Erde, konnte von einer Beförderung nur träumen und langweilte sich von Tag zu Tag mehr.

Erst mit Einsetzen der merkwürdigen Auftritte des sagenumwitterten Mönchs kam ein wenig Leben in die Bude und er fühlte sich zum ersten Mal, wie ein richtiger Ermittler. Er war tatsächlich von Haus zu Haus gegangen und hatte die Bewohner verhört. Endlich nutzte er seinen Notizblock mal nicht nur, um kleine Verwarnungen darauf zu notieren. Ganz automatisch straffte er die Schultern und drückte das Rückgrat ein wenig mehr durch.

„Sieh einer an, unser allseits geschätzter Sergeant Derek Langford nimmt Haltung an“, scherzte Arthur hinter vorgehaltener Hand.

„Laut den Schilderungen der Zeugen scheinen sich die Auftritte des Mönchs grundlegend voneinander zu unterscheiden. Manchmal flieht er beim kleinsten Anzeichen eines Beobachters, ein andermal geht er seelenruhig seinen Weg weiter und verschwindet urplötzlich, ohne irgendwelche Zeichen seiner Existenz zu hinterlassen.“ Diesen Einwurf musste Nathaniel einfach platzieren, da ihm diese merkwürdige Diskrepanz aufgefallen war und nicht zur Ruhe kommen ließ.

Sergeant Langfords Mimik verfinsterte sich merklich. Er schätzte es ganz und gar nicht, wenn sich Zivilisten in seinen Job einmischten, schon gar nicht in diesen Fall, den eigentlich ersten relevanten seiner gesamten Dienstzeit. Daher antwortete er auch ein wenig mürrisch: „Wir gehen den Hinweisen aus der Bevölkerung noch nach, aber, wie Sie ganz richtig feststellten, unterscheiden sich die Begegnungen auf frappante Weise. Diesem Rätsel werden wir noch auf den Grund gehen.“

Ein satter Rülpser, der aus dem Sessel neben der Bar drang, zog die gesammelte Aufmerksamkeit auf sich. Doch nur solange, bis alle erkannten, dass es sich bei dem peinlichen Störenfried nur um den Onkel ihres Gastgebers handelte, der in gewohnter Manier spätestens ab der Teestunde sternhagelvoll, einer weiteren alkoholumflorten Nacht entgegenhickste.

Nathaniel empfand dieses Verhalten schon lange nicht mehr als störend oder unangenehm, er nahm es hin, wie er auch den Sturm hinnahm, der derzeit den Aussagen der Meteorologen doch noch alle Ehre machte und in wütenden Böen um das Anwesen wehte. Ein Blitz erhellte für einen kurzen Moment die Fensterfront, die sich in Richtung des weitläufigen Gartens wandte.

Ein hysterischer Schrei ertönte und Mia York sank sehr treffsicher in die Arme des einzigen Junggesellen in ihrer Nähe. Kyle Hastings, seines Standes Pferdepfleger seiner Lordschaft, griff beherzt zu, blickte dann jedoch ein wenig ratlos in die Runde. Was sollte er mit der drallen Frau in seinen Armen nun um Himmelswillen anfangen?

Ehe er einen Entschluss fassen konnte, kehrte Leben in die bewusstlose Frau zurück und er half ihr auf die Beine. Gespielt schwächelnd lehnte sich die Konditorin, mit den schwarz gefärbten Haaren, gegen ihn und sandte einen herzzerreißenden Augenaufschlag gen Nathaniel. Offensichtlich streckte sie ihre Fangarme nach allen Seiten aus und war nicht gewillt sich auf ein potenzielles Opfer zu versteifen.

Dann schien sie sich an das zu erinnern, was zu ihrem Zusammenbruch geführt hatte und sie streckte den Arm in Richtung der Fensterfront aus und zeigte mit bebendem Finger auf den abendlichen Garten, der nur hin und wieder von einem Blitz erhellt wurde. „Der Mönch! Es war der Mönch!“

3. Kapitel

Mia Yorks Worte waren soeben verklungen, als jemand begann, heftig mit den Fäusten gegen die Glasscheibe der Terrassentür zu hämmern. Es zeichnete sich nur ein unförmiger Schatten, vor dem Fenster, ab, der ohne Weiteres, die Umrisse eines Mönchs darstellen hätte können.

Für kurze Zeit schienen alle Anwesenden wie festgefroren auf ihren Plätzen zu verharren, dann fiel Mia York der Einfachheit halber und aus ganz praktischen Erwägungen heraus, einfach noch einmal in Ohnmacht. Zielsicher sackte sie erneut in Kyle Hastings Arme, um dort Schutz und womöglich lebenslangen Halt zu finden.

Schlurfenden Schrittes setzte sich Arthur als Erster in Bewegung, gefolgt von seinem Freund Nathaniel, der allerdings sicherheitshalber zuvor nach dem Schürhaken gegriffen hatte.

Je näher sie der Terrassentür kamen, desto deutlicher zeichnete sich der unförmige Schatten gegen den Hintergrund aus zu Boden zuckenden Blitzen ab. Es handelte sich um einen mittelgroßen, nicht unbedingt schlank zu nennenden Schatten, der lauthals schimpfend weiterhin gegen die empfindliche Glastür hämmerte. Der Stimme konnte man in diesem Moment unmöglich ein Geschlecht zuordnen, da der unentwegt erklingende Donner alles übertönte, was diese Person von sich gab.

An der Tür angekommen, drehte Arthur den Schlüssel im Schloss herum und zog die Tür nach innen auf. Augenblicklich wehte eine nasse Brise in Menschengestalt, in ein unförmiges Regencape gehüllt, an ihnen vorbei in die Halle. Die Gummistiefel des ungebetenen Gastes gaben quietschende Geräusche auf dem edlen Parkett von sich und nicht nur das, sie verteilten Schlamm und Kies in Mengen in der Halle.

Bisher restlos unauffällig in der Nähe des Tisches agierend, machte sich nun Jacob Williamson, der Butler, eilends davon, um Putzlumpen zu holen und das Schlimmste zu verhindern. Sein ordentlich nach hinten gekämmtes Haar geriet bei dieser ungewohnten Anstrengung in Aufruhr.

Wie ein nasser Hund schüttelte sich die merkwürdige Person vor ihren Augen, zog dann die Haube des Regencapes herunter und offenbarte somit wenigstens ihr Geschlecht. Es handelte sich eindeutig um ein weibliches Wesen, wenn auch um ein reichlich derangiertes. Das nasse schwarze Haar klebte an ihrem Kopf, floss über ihre Schulter bis unter das Cape. Ihr blasses herzförmiges Gesicht wurde von herrlichen veilchenfarbenen Augen dominiert, die von langen Wimpern umflort einen Augenaufschlag ermöglichten, um den sie bestimmt jede Frau beneidete. Doch damit hörten die positiven äußerlichen Aspekte der jungen Frau auch schon auf. Ihre zu groß geratene Hakennase, der etwas zu breite Mund und die merkwürdige Brille auf ihrer Nase, beraubten sie jeglicher Anziehungskraft.

Vorsichtig stellte sie einen großen Koffer neben sich ab, der nun zusätzlich zur Zerstörung des kostbaren Parketts beitrug. Ihre fantastischen Augen tasteten einen Moment die Umstehenden ab, dann fällte sie eine Entscheidung und trat auf Nathaniel zu, streckte ihm die nasse Hand entgegen und meinte, mit einer samtweichen, einschmeichelnden Stimme: „Guten Abend, ich habe mich leider ein wenig verspätet. Aber im Ort war kein Taxi zu bekommen und den Weg konnte ich auch nicht erfragen, da ganz Monks Willow, wie ausgestorben ist. Also bin ich den Schildern folgend mitten durch den Sturm marschiert, um wenigstens halbwegs pünktlich hier anzukommen.“

Nathaniel versank, ebenso wie Arthur, während ihres Wortsturms in ihren Augen, konnte dem Gesagten jedoch keine tiefer gehende Bedeutung entnehmen. Wer um Himmelswillen war diese kleine pummelige Person? Warum nahm sie an, hier erwartet zu werden? Unwillkürlich neigte Nathaniel seinen Kopf zur Seite und sah sie fragend an.

Sie räusperte sich verlegen, wischte sich das tropfende Haar aus dem Gesicht und hauchte dann zurückhaltend: „Selina Imrie! Sie haben mich eingestellt, um Ihre Bibliothek zu katalogisieren. Ich sollte heute hier meinen Dienst antreten. Eigentlich schon mittags, aber wie gesagt, ich hatte so meine Probleme mit der Anreise.“

Die ganze Angelegenheit war ihr offensichtlich unangenehm. Von dem forschen Auftreten auf der Terrasse war nichts mehr übrig geblieben. Nathaniel hatte nicht vor sie noch tiefer in das Gefühl von Unzulänglichkeit zu drängen, konnte eine Erwiderung jedoch nicht unterdrücken: „Sie sollten in einem Bewerbungsschreiben deutlicher schreiben. Ich las Selim und nicht Selina. Mit einer Frau habe ich nicht gerechnet.“

Plötzlich änderte sich ihre gesamte Körperhaltung. Ganz auf Kampf eingestellt reckte sie ihr kleines spitzes Kinn nach vorne und bemühte sich krampfhaft um einen neutralen Ton: „Wäre Selim eine bildhübsche, schlanke, blonde Selina, hätten Sie dann auch etwas gegen eine Frau einzuwenden?“

Erstaunt über den ungerechtfertigten Vorwurf trat er einen Schritt zurück und damit seiner Tante mitten auf den Fuß. Nach einer kurzen Schmerzensäußerung, übernahm sie gekonnt die Führung und trat auf Selina zu. „Beruhigen Sie sich, mein Kind. Erst einmal müssen Sie aus der nassen Kleidung, Sie holen sich sonst ja noch den Tod. Selbstverständlich beurteilen wir Sie nur nach Ihrer fachlichen Kompetenz und nicht nach Aussehen oder Geschlecht.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und wandte sich dann an Lucinda: „Könntest du dich um sie kümmern und ihr das Zimmer zeigen, das wir ihr zugedacht haben?“

Lucindas kluge Augen musterten die junge Frau von oben bis unten, dann gab sie sich einen Ruck und marschierte hocherhobenen Hauptes vor ihr her auf die Treppe zu.

Hastig griff Selina nach ihrem Koffer und eilte der alten Dame hinterher. Diese war noch erstaunlich gut zu Fuß und erklomm die breite Treppe mit einer Anmut, die Selina einer Frau ihres Alters nicht zugetraut hätte. Dafür trat sie selbst auf halber Treppe angekommen auf ihr Regencape und wäre beinahe vornüber auf die Nase gefallen. Sie überspielte den peinlichen Moment, während dem alle Augen der anwesenden Gäste einhellig auf sie gerichtet waren, mit einem fröhlichen: „Ganz schön schwer, der Koffer“, und stolperte hastig die letzten Stufen hinauf.

Kaum um die Ecke, aus dem Blickfeld der fremden Menschen gerückt, atmete sie erst einmal tief durch. Vor ihr erstreckte sich ein elend langer Gang, von dem unzählige Türen abgingen. Wie viele Personen wohl in diesem Haus lebten? Sie hatte bereits einen Eindruck von der Größe des Anwesens erhalten, als sie die unendlich erscheinende Auffahrt heraufgelaufen war und schließlich, nachdem keiner auf ihr Läuten reagiert hatte, um einen Teil des Gebäudes herumlief, um einen Blick durch die erleuchteten Fenster zu werfen.

Was von außen bereits groß wirkte, entpuppte sich von innen betrachtet als riesig. In diesem Gebäudekomplex konnte man sich spielend verlaufen und würde Wochen benötigen, um den Weg zurück zur Halle zu finden. Bei diesem Gedanken schlich sich ein Lächeln auf ihr blasses Gesicht.

„Nun kommen Sie schon, Kindchen. Oder wollen Sie sich hier den Tod holen. In diesem verdammten Gemäuer zieht es wie Hechtsuppe. Ein Makel, den weder mein Mann, noch mein Sohn, noch mein Enkel beseitigen konnte.“ Die alte Dame winkte auffordernd mit der Hand und führte Selina bis vor eine Tür im hinteren Bereich des Ganges. Sie zögerte einen Moment, schien über etwas nachzudenken, dann schüttelte sie den Kopf und ging bis ans Ende des Ganges weiter, wo sie eine Tür zu ihrer Rechten öffnete und vor Selina eintrat.

Schüchtern folgte Selina der alten Dame, wartete, bis diese den Lichtschalter betätigt hatte und zur Seite trat, um ihr einen Blick auf ihr neues Zuhause zu gewähren. Ihren ersten Eindruck sprach Selina prompt laut aus: „Dieses Zimmer war doch niemals für Selim reserviert.“

Ein zurückhaltendes, dennoch warmes Lächeln verzog die Lippen Lucindas. Merkwürdigerweise hatte dieses absonderliche Wesen nur wenige Minuten benötigt, um ein warmes Gefühl in Lucinda zu erzeugen. Und Lucinda gab sehr viel auf ihre Gefühle und Intuitionen. Nein, auch auf den zweiten Blick war Selina Imrie keine Schönheit, eigentlich nicht einmal Durchschnitt. Auch wenn Lucinda bisher nur ihr Gesicht beurteilen konnte, denn das voluminöse Regencape verbarg sämtliche körperlichen Aspekte nahezu vollkommen. Trotzdem hätte Lucinda darauf wetten mögen, dass sich unter dem olivfarbenen Cape eine nicht unbedingt feengleiche Gestalt verbarg.

Sie selbst neigte, wie alle Frauen ihrer Ahnengalerie, zu einem sehr hageren Körper, der sich jedoch mit einer Anmut zu bewegen verstand, dass die wenig weiblichen Konturen in Vergessenheit gerieten. In ihrer Jugend war sie eine umschwärmte junge Dame gewesen, doch ihr Herz gehörte einzig ihrem späteren Ehemann, mit dem sie eine lange und glückliche Ehe führte. Nun im Alter genoss sie die Vorzüge weiterhin in dem Haus leben zu dürfen, das sie seit ihrem 18. Lebensjahr als ihr Zuhause schätzen gelernt hatte. Die Gesellschaft Dorotheas gestaltete sich zwar manchmal als reichlich anstrengend, aber auch Dotty erzeugte dieses merkwürdige Gefühl von Zuneigung, das Lucinda nur sehr wenigen entgegenbrachte. Unter anderem ihrem Enkelsohn Nathaniel, der trotz seiner manchmal nervenaufreibenden Tollpatschigkeit, ein Mann von Welt war. Auch wenn man es meistens erst auf den fünften oder sechsten Blick bemerkte.

Da stand sie nun, die kleine Person, ein wenig hilflos um sich blickend, den schweren Koffer in der Hand, tropfte sie weiterhin den Boden voll, auf dem sie stand. Einerseits um das kostbare Interieur zu retten, andererseits ehrlich um die Gesundheit der jungen Frau besorgt, meinte Lucinda in einem Anfall mütterlicher Güte: „Kümmern Sie sich erst einmal um sich selbst, richten Sie sich häuslich ein und nehmen Sie ein schönes warmes Bad. Gegessen wird um 20 Uhr. Am Besten lasse ich Sie von einem der Zimmermädchen abholen, sonst verlaufen Sie sich nur.“ Dann verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Absolut ratlos blickte sich Selina in dem großen Raum um. Kein Zweifel, das Zimmer war wie für sie gemacht. Das Gänseblümchen wurde kurzerhand in einen Rosengarten verpflanzt. Rosentapeten an der Wand, zierliche weiße Möbel, unter anderem ein hinreißender Schminktisch, den sie mit Sicherheit höchsten zum Frisieren ihres absolut glatten Haares nutzen würde, da sie mit Schminke einfach nicht umgehen konnte. Jeglicher Versuch sich die Fertigkeit anzueignen mit Rouge, Kajal und Wimperntusche umzugehen, schlug in der Vergangenheit hoffnungslos fehl. Zumeist sah sie danach einfach nur aus wie ein trauriger Clown. Daher gab sie jeglichen weiteren Verschönerungsversuch irgendwann auf und fand sich mit dem ab, was ihr jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickte.

Ein Wassertropfen fiel von ihrem Pony mitten auf ihre Nasenspitze und brachte sie wieder zur Besinnung. Ungelenk setzte sie sich in Bewegung und legte ihren Koffer vorsichtig auf dem Bett ab. Es mutete wie ein Frevel an, die wunderschöne Tagesdecke, die ebenfalls ein zartes fliederfarbenes Rosenmuster aufwies, mit ihrem alten Koffer zu konfrontieren. Überhaupt war das gesamte Zimmer in Flieder- und Cremetönen gehalten. Viel zu feminin für ihren Geschmack. Zu ihr passten robuste Farben und Möbel. Sie war nun einmal kein zartes, schutzbedürftiges Wesen.

Was sich spätestens dann offenbarte, als sie ihr Cape abstreifte. Mit ihren gerade einmal 1,65 m überragte sie bestenfalls die Gartenzwerge im Garten ihrer Mutter. Sogar ihre jüngste Cousine übertraf sie um 4 Zentimeter und die war erst 14 Jahre alt. Nun hätte man sagen können, ätsch, dafür habe ich weit mehr als 4 Zentimeter mehr in der Breite aufzuweisen! Aber welche Frau legte darauf schon Wert?

Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu dem zwei Meter hohen Spiegel ab, der neben dem Schminktisch anklagend ihr Spiegelbild zeigte. Zum Glück war er sehr großzügig bemessen, sie konnte sich sogar frontal davor stellen und wurde trotzdem nicht seitlich gekappt. Mechanisch strich sie über ihre Taille und die Hüften. Die Bewegung erinnerte an eine Achterbahnfahrt und liebend gerne hätte sie in diesem Moment auch laut aufgeschrien. Es war eben nicht jedem vergönnt rank und schlank, und womöglich sogar noch sportlich durchs Leben zu schweben.

Also wandte sie sich von ihrem Spiegelfeind ab und trampelte im übertragenen Sinne in das sich an den Raum anschließende Bad. Sie hatte während ihrer sturmumwölkten Ankunft nicht allzu viel von dem Gebäude sehen können, aber der Anblick eines hochmodernen Badezimmers in einem mittelalterlichen Gemäuer, war doch eine erstaunliche Erfahrung. Die Farbgestaltung war weiterhin in zarten Pastelltönen gehalten, diesmal jedoch in einem sanften apricot.

Erst beim Anblick der verlockenden, großen Badewanne, bemerkte Selina das Zittern, welches von ihrem Körper ausging. Sie sollte den Rat der alten Dame tatsächlich beherzigen und erst einmal ein warmes Bad nehmen, ehe sie sich den Kopf über ihre Zukunft zerbrach. Denn dass der Hausherr nicht besonders begeistert auf ihren Anblick reagiert hatte, war ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen.

Sie seufzte herzhaft auf. Vielleicht wäre es besser für sie gewesen, als Selim auf die Welt zu kommen. Ein durchschnittlich aussehender Mann hatte im Leben eben doch noch mehr Chancen, als eine mittelmäßige Frau. Ihr warf man Höchsten einen mitleidigen Blick zu und übersah sie von da an geflissentlich, die fachliche Kompetenz war dann eh nur noch Nebensache. Wahrscheinlich war sie heute Abend bereits den Job los, ehe sie ihn überhaupt angetreten hatte. Dann war die ganze verdammte Anreise, mit all ihren Missgeschicken umsonst gewesen und sie würde reumütig zu ihrer Mutter zurückkehren und musste wieder einmal um Unterschlupf bitten, bis sie den nächsten Job aufgetan hatte. Ein grauenhafter Gedanke!

4. Kapitel

Die Gäste der Teegesellschaft hatten sich inzwischen, trotz des stürmischen Wetters, auf den Heimweg gemacht. Sie fuhren in kleinen Gruppen nach Monks Willow zurück, empfanden jedoch, je näher sie dem Ort kamen, ein gesteigertes Unwohlsein, denn dort schien der sagenhafte Mönch bereits in ihrer aller Köpfe auf sie zu lauern.

Ethan Montague ließ man der Einfachheit halber einfach in seinem Sessel sitzen, nachdem er alkoholtrunken eingeschlafen war und nur noch hin und wieder ein seliges Seufzen ausstieß. Auf diese Weise war er am umgänglichsten und besten zu ertragen. Insgeheim hatten Arthur und Nathaniel schon vor einer ganzen Weile beschlossen, dass man den alten Knaben am besten einmal in diesem Sessel sitzend begraben sollte. Mit einer Kiste Zigarren und einem Vorrat an altem Whiskey. Damit wurde eine Wiederkehr als Geist von vorneherein ausgeschlossen.

Zu Nathaniels Unbehagen hatte Dorothea großzügig ein paar Gästen Nachtquartier angeboten. Es handelte sich dabei um ihre geliebten Freundinnen Chloe Doherty, eine Autorin und die allseits unterschätzte Marge Rosewood. Beide passten perfekt in das Freundesschema seiner Tante. Ein wenig eigentümlich, ein wenig übersinnlich veranlagt, ein wenig durchgeknallt.

Während Chloe Doherty ganz und gar nicht nach der Erfolgsautorin aussah, die sie auch nicht war, sondern eher an ein biederes Hausmütterchen erinnerte, mit ihrer aufgedrehten Lockenfrisur, den ewig gleich geschnittenen Tweedkostümen und dem robusten Schuhwerk, erinnerte Marge Rosewood an …, ja an was eigentlich? Korpulent, wie sie war, walzte sie nicht nur jeden Widerspruch nieder, sondern manchmal auch gleich den Widersprechenden. Sie besaß eine Form von Durchsetzungsvermögen, um das sie Nathaniel des Öfteren beneidete. Sie hatte für alles und jeden die richtige Antwort parat und sollte diese sich später einmal als nicht richtig erweisen, gab es dafür sicher einen triftigen Grund, den sie auch sofort nennen würde. Ihr grau meliertes Haar trug sie in einer kurz geschnittenen Männerfrisur, die ihrem farblosen Gesicht nicht besonders schmeichelte. Die allzeit fröhlich blitzenden graubraunen Augen wiesen deutlich auf den Schalk hin, der ihr allzu sehr im Nacken saß. Doch dann war da auch noch ihre manchmal nervtötende Hypochondrie, die sie natürlich weit von sich wies. All die Krankheiten, kleinen Zipperlein und plötzlichen Anfälle, hatten ihrer Ansicht nach einen ernsthaften Hintergrund, den die Ärzte bisher nur nicht hatten ausfindig machen können.

Sie hatte es längst aufgegeben zu Dr. Granson, den absolut fähigen Dorfarzt zu gehen, da dieser reichlich robust darauf verwiesen hatte, dass sie, von ihrem Übergewicht einmal abgesehen, die Natur eines Ackergaules besaß und ebenso wie dieser, eher vor einer Apotheke kotzen würde, als einmal in eine schnellere Gangart zu verfallen.

Seit diesem Tag nahm sie die anstrengende Fahrt in die nächstgelegene Stadt auf sich, um einen echten Arzt aufzusuchen und dem Löcher in den Bauch zu reden, mit all ihren Leiden. Was auch von ihm nicht immer gedankt wurde.

Nathaniel war froh, dass er Arthur nicht lange hatte überreden müssen, ebenfalls die Nacht in seinem Haus zu verbringen. All diesen Weibern als einziger Mann ausgeliefert zu sein, erzeugte ein komisches Gefühl in seiner Magengegend.

Die Zeiger der großen Standuhr, die in dem überdimensionalen Speiseraum stand, wanderten unaufhörlich weiter und näherten sich unaufhaltsam der römischen Acht auf dem goldverzierten Ziffernblatt. Das dumpfe Ticken der Uhr, das sonst ein beruhigendes Geräusch für ihn darstellte, mutierte an diesem Abend zu einer klaustrophobischen Zeitbombe. Eine ungewohnte Nervosität ergriff von dem Hausherrn Besitz. Die Vorstellung mit diesem absonderlichen Wesen Selina Imrie demnächst in einem Haus zu leben, die Mahlzeiten gemeinsam mit ihr einzunehmen und sogar hin und wieder die geliebte Bibliothek mit ihr zu teilen, war erschreckend. Die familieneigenen weiblichen Schreckgespenster ertrug er mit Geduld und einem ausgeprägten Fluchtverhalten, doch wie sollte er mit der veilchenäugigen Fremden umgehen?

Genau in diesem Moment öffnete sich, wie auf ein unhörbar ausgesprochenes Stichwort hin, die breite Flügeltür und hereintrat, … die weibliche Phobie, in einem dezenten grauen Hosenanzug, der ihre Hüften sehr unvorteilhaft zur Geltung brachte. Sie hatte nicht nur ihre Kleidung gewechselt, nein auch ihre Brille, wie Nathaniel erstaunt feststellte. Das sturmgebeutelte Bündel Frau trug vorhin in der Halle eine mehr als unpassende Hushpuppybrille, die sie nun gegen ein sehr charmant anmutendes, violett eingefasstes Gestell eingetauscht hatte. Es betonte ihre wahrlich bezaubernden Augen und lenkte somit jegliche Aufmerksamkeit vom Rest ihrer Erscheinung ab.

Eine sehr empfehlenswerte Maßnahme, wie Lucinda fand. Sie hatte den Auftritt aufmerksam verfolgt und kam zu dem gleichen Ergebnis, wie ihr Enkelsohn. Die Brille stand der Frau hervorragend, doch der Anzug mutete verboten an. Offensichtlich verstand diese Person nicht das Geringste von Mode und deren Einsatzfähigkeit, um diverse körperliche Mängel auszugleichen. Ein Manko, das sich vielleicht mit der Zeit beheben ließ.

Freundlich lächelnd trat Lucinda auf die unsicher dreinblickende Frau zu und streckte ihr eine Hand entgegen. „Herzlich willkommen im Hause Montague! Bisher hatten wir ja noch keine Gelegenheit Sie gebührend zu empfangen. Dieses Unwetter hat uns heute in vielerlei Beziehung einen Strich durch die Rechnung gemacht.“ Dabei wanderte ihr missbilligender Blick in Richtung Marge Rosewood ab, die bereits in ein angeregtes Gespräch mit Dotty vertieft war und nichts um sich herum mehr wahrzunehmen schien. Was auf diese Person meistens zutraf, denn sie empfand sich, als den Mittelpunkt ihres eigenen kleinen Universums und kreiste auch im Geiste, mit all ihren Gedanken- und Problemplaneten, immer nur um sich selbst.

Ein Essen mit Marge zog die erstaunlichsten Begebenheiten nach sich. Mal wies sie auf diverse Zutaten hin, die sie nicht essen konnte aufgrund von allergischen Reaktionen, mal empfand sie Teile einer Mahlzeit als unpassend portioniert, mal bekam sie Nasejucken, Schluckbeschwerden oder einfach einen Schluckauf, was natürlich an den Zutaten lag, nicht etwa an ihrem hypochondrischen Wesen. Mal war etwas zu scharf gewürzt oder es wurde ohne Scheu ein halbes Pfefferfass über der Mahlzeit ausgeschüttet, da die Köchin wohl an Gewürzen spare.

Seltsamerweise ertrug Dotty diese Frau, ohne mit der Wimper zu zucken, sie fand ihre Eigenarten amüsant und unterhaltsam. Eine Meinung die Nathaniel und Lucinda nicht teilen konnten.

Selina tat die verspätete Begrüßung mit einem kräftigen Händedruck ab und wurde durch Lucinda der Reihe nach den Anwesenden vorgestellt. Auch wenn das hieß, in ein besonders spannendes Gespräch über Neurodermitis zu platzen.

Sowohl Marge als auch Dorothea musterte den Neuankömmling in geradezu unverschämter Weise von Kopf bis Fuß, dabei spiegelte sich in ihren Augen das Ergebnis der Musterung wenig schmeichelhaft wider.

Nervös fuhr Selina sich mit den feuchten Händen über die Hüften und strich einen Stoff glatt, der glatter kaum sein konnte. Das hatte Synthetik so an sich. Dummerweise erhöhte es auch den Schwitzfaktor, der in diesem Moment bereits seinen Höhepunkt erreicht hatte und keiner Steigerung mehr bedurfte. Zu allem Übel sah sie sich nun auch noch gezwungen, sowohl dem Hausherrn, als auch seinem Freund die klebrige Hand zu reichen. Sie ergab sich in ihr Schicksal und streckte die Hand höflich aus.

Nathaniel hatte die Begrüßungszeremonie bis zu diesem Punkt aufmerksam verfolgt, er empfand Mitleid mit der kleinen Person. Sie wurde unvermutet einem Rudel Wölfe vorgeworfen und dann fand sich nicht einmal ein hungriger Abnehmer, der seine Zähne bereitwillig in die Beute versenken wollte. Das Rudel betrachtete sie mit Ausnahme von Lucinda, als wäre sie vergiftet worden, ehe man sie für das Rudel in den Futternapf gelegt hatte. Er wollte ihr über diese ersten unangenehmen Augenblicke hinweghelfen und streckte ihr seine Hand bereitwillig mit Schwung entgegen.

Dummerweise hatte er in all der Aufregung vergessen, dass eben diese Hand derzeit noch ein Glas mit Wein hielt, und schüttete den gesamten blutroten Inhalt über Selina aus. Doch damit nicht genug, der angerichtete Schaden brachte ihn derart durcheinander, dass er kurzerhand begann, mit der freien Hand die Flüssigkeit von ihrem Anzug zu streichen, dabei nicht darauf achtend, die verfänglichen Körperzonen von seinen Bemühungen zu verschonen.

Erst nach zweimaliger Bekanntmachung mit ihren Brüsten, die sich nicht unbedingt unangenehm anfühlten, zog Arthur geistesgegenwärtig Selina aus der Gefahrenzone und wendete sie in Richtung Ausgang, womit ihr der feuerrote Anblick ihres Chefs vorenthalten blieb.

Kaum den Raum betreten, verließ sie ihn auch schon wieder, die Augen verräterisch glänzend. Sie hielt dem Ansturm der Tränen gerade noch lange genug Stand, bis sich die Tür hinter ihr schloss und sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, wieder nach oben in ihr Zimmer stürmte. Was für ein verfluchter Tag! Hätte sie in diesem Moment gesehen, was sich derweil im Speisezimmer abspielte, sie hätte herzlich zu Lachen begonnen.

Seine Lordschaft, der Duke of Devinshire Earl of Montague, blickte wie versteinert auf die inzwischen geschlossene Tür, seine Gesichtsfarbe erinnerte derzeit eher an ein Tomatenfeld, als an menschliche Haut. Das nunmehr leere Weinglas umschloss er derart fest mit seinen bebenden Fingern, dass er es zu zerbrechen drohte.

An derartige Szenen gewöhnt, nahm Arthur vorsorglich das Glas aus der Hand seines Freundes und reichte es an Jacob weiter. Der Butler beseitigte es stillschweigend, jedoch mit einem verräterischen Zucken um die Mundwinkel.

Arthur wusste, dass es derzeit besser war, kein unnötiges Wort über diesen peinlichen Zwischenfall zu verlieren, da Nathaniels mühsam in Zaum gehaltenes Temperament sonst beginnen würde, wilde Kapriolen der Selbststeinigung zu vollführen. Doch Lucinda beging den Fehler einen Kommentar von sich zu geben, der eigentlich als Trost dienen sollte: „Ich finde, dass der Anzug ihr sowieso nicht stand!“

„Darum geht es doch gar nicht! Ich habe es schon wieder getan!“ Nathaniels Stimme hatte einen schuldbewussten Unterton angenommen.

„Was hast du schon groß getan? Du hast einer Frau an die Brust gefasst. Ist dir das noch nie zuvor passiert?“ Wenn Marge schon einmal Trost zu spenden versuchte, dann doch sicher mit dem Vorschlaghammer.

Alle sahen sie gleichermaßen pikiert an, dann mischte sich leises Kichern in die allgemeine Überraschung und Dotty hielt sich die Hand vor den Mund, um zu verhindern das aus dem Kichern ein Lachen wurde. Vergebens!

Ohne es wirklich zu wollen, setzten die anderen Anwesenden nach und nach in das Lachen ein, was am Ende dazu führte, dass der Speiseraum von dem lauten Lachen widerhallte und die Gläser auf dem Tisch leise zu Klirren begannen.