Todesmarsch durch Russland - Klaus Willmann - E-Book

Todesmarsch durch Russland E-Book

Klaus Willmann

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Beschreibung

Trotz Krankheit wird Lothar Herrmann einer Gebirgsjägerdivision zugeteilt und 1944 an die Ostfront geschickt. Als die Stellungen gegen die Russen nicht mehr gehalten werden können, erfolgt ein chaotischer Rückzug. Mit einigen Kameraden verliert Lothar den Anschluss an die Truppe. Gemeinsam kämpfen sie sich durch die unwirtliche Landschaft. Völlig entkräftet werden sie schließlich aufgegriffen und geraten in russische Kriegsgefangenschaft. Auf einem langen Todesmarsch sieht Lothar viele Gefangene sterben und verliert doch selbst nie die Hoffnung auf Heimkehr. Aber erst nach fast sechsjähriger Gefangenschaft wird er endlich wieder nach Hause kommen.

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Dieses Buch ist allen Kriegsgefangenen gewidmet, die Krankheiten, Hunger, Erschöpfung oder eisige Wintertemperaturen in Stalins ehemaligem Machtbereich dahinrafften.

LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2017

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelbild: © Bundesarchiv, Bild 183-J28759

Worum geht es im Buch?

Klaus Willmann

Todesmarsch durch Russland

Mein Weg in die Kriegsgefangenschaft

Trotz Krankheit wird Lothar Herrmann einer Gebirgsjägerdivision zugeteilt und 1944 an die Ostfront geschickt. Als die Stellungen gegen die Russen nicht mehr gehalten werden können, erfolgt ein chaotischer Rückzug. Mit einigen Kameraden verliert Lothar den Anschluss an die Truppe. Gemeinsam kämpfen sie sich durch die unwirtliche Landschaft. Völlig entkräftet werden sie schließlich aufgegriffen und geraten in russische Kriegsgefangenschaft. Auf einem langen Todesmarsch sieht Lothar viele Gefangene sterben und verliert doch selbst nie die Hoffnung auf Heimkehr. Aber erst nach fast sechsjähriger Gefangenschaft wird er endlich wieder nach Hause kommen.

Inhalt

Vorwort

Lehr- und Wanderjahre

Beim RAD

So wurden wir Soldaten

In die Heimat zum Genesungsbataillon

Mit der 4. Gebirgsdivision an die Ostfront

Böses Erwachen

Zwangsarbeit am Asowschen Meer

Fahrt zu unbekanntem Ziel

Die Flucht

In endlose Weiten

Enttäuschte Hoffnung

Kontakt in die Heimat

Rückkehr nach Hause

Schwerer Start in die Zukunft

Vorwort

Der Bericht im Münchner Merkur Nr. 142 vom 22. Juni 2016 »Plötzlich brach die Welt zusammen« führte mich zu Lothar Herrmann nach Garmisch-Partenkirchen.

Schon bei unserem ersten Zusammentreffen erklärte er mir, er freue sich darüber, dass die jungen Menschen heutzutage in Frieden leben können. »Die Universität des Lebens, so wie viele in meinem Alter und ich sie erleben mussten, soll ihnen weiterhin erspart bleiben. Wer aber die Vergangenheit nicht kennt, wird die Gegenwart kaum verstehen. Hoffentlich gelingt es unseren Politikern und der jungen Generation, die den Krieg nicht am eigenen Leib erleben musste, weiterhin, uns den nach dem Krieg mühsam aufgebauten Wohlstand in Frieden zu erhalten. Auch dies ist mit ein Grund dafür, dass ich als vielleicht einer der letzten Zeitzeugen nun versuchen möchte, das damals Erlebte für die Nachwelt zu erhalten.«

So wie in dem Buch »Das Boot U 188« schon einmal geschehen, habe ich mich auch bei »Todesmarsch durch Russland« dazu entschlossen, die Erlebnisse von Lothar Herrmann in der Ich-Form wiederzugeben, so wie er sie mir schilderte. Nach wie vor bin ich der Ansicht, dass man auf diese Art Leserinnen und Lesern besser nahebringen kann, wie skrupellos die damaligen Machthaber aller beteiligten Staaten junge Menschen in den Tod oder ins Elend geschickt haben, ohne Recht und Unrecht zu definieren.

Grafing, im März 2017

Klaus Willmann

Lehr- und Wanderjahre

Am 24. September des Jahres 1920 erblickte ich in Breslau das Licht der Welt. In der Stadt, die damals auch gerne als das Venedig des deutschen Ostens bezeichnet wurde, durfte ich eine zwar bescheidene, aber auch unbeschwerte Kindheit erleben. Mein Vater war Malermeister, wirkte daneben als dekorativer Kirchenmaler und betrieb zusätzlich zusammen mit meiner Mutter eine Gastwirtschaft in der Altstadt. Als Einzelkind war ich zwar zu Hause allein, spielte aber an so manchen Tagen zusammen mit anderen Kindern lärmend und fröhlich in den Gassen und auf den damals noch nicht allzu stark befahrenen Straßen rund um den Dominikanerplatz Wildwest oder Räuber und Gendarm.

In der Taschenstraße, im sogenannten Kanonenhof, ging ich am 1. April 1926 zum ersten Mal zur Volksschule. Ein knappes Jahr danach verdüsterte ein schwerer Schock meine bis dahin recht unbeschwerte Kindheit: Meine Eltern ließen sich scheiden. Deshalb wurde ich zu meiner Großmutter gebracht. Zu meinem Leidwesen war damit auch ein Schulwechsel verbunden, und Großmutter achtete als strenge Katholikin sehr darauf, dass ich regelmäßig zur Kirche ging. Als das Sorgerecht für mich meinem Vater zugesprochen wurde, war ich froh, wieder in meine alte Schule zurückkehren zu können. Leider fand Vater keine geeignete Frau mehr, die mir eine Ersatzmutter hätte werden können.

Die Schulferien verbrachte ich in den folgenden Jahren gern auf dem Land bei Bauern, die mein Vater kannte. Dabei lernte ich die Natur mit ihren großen und kleinen Tieren kennen und lieben. Auch heute noch kann ich es nur als gütiges Schicksal betrachten, dass ich nach erfolgreichem Abschluss meiner Schulzeit am 7. Mai 1934 in dem kleinen Dorf Waldtal/Malkwitz, 25 Kilometer von der Stadt entfernt, eine neue Bleibe fand. Hier kannte Vater einen Malermeister, der mich gern als Lehrling bei sich im Hause aufnahm.

Im zweiten Lehrjahr sprach mich eines Tages auf der Straße der Fähnleinführer der HJ (Hitlerjugend) an: »Du Lothar! Auch wenn du tagsüber immer arbeiten musst, am Abend könntest du doch auch zu uns kommen! Sicher hast du schon von uns gehört. Wir gestalten spannende Geländespiele oder unterhaltsame Heimabende. Du lernst doch Dekorationsmalerei und könntest uns auch helfen, wenn wir Flugzeug-, Panzer- oder Schiffsmodelle basteln! Das muss doch auch dich interessieren. Was willst du denn bei den Kolpingbrüdern oder ähnlichem Kram. Dieser Unfug ist für den Führer unnütz. Derartige Vereine soll es sowieso bald nicht mehr geben!«

»Klar doch, Fritz! Aber ich muss oftmals länger arbeiten. Sollte ich aber einmal früher nach Hause kommen, dann kannst du mit mir rechnen«, antwortete ich.

»Prima Lothar! Und schon sind wir mit dir wieder um einen mehr geworden.«

Als ich das Haus meines Meisters Reinhold Schindler betrat, lief mir dessen Frau über den Weg:

»Frau Meisterin, wenn ich Zeit dazu habe, möchte ich die freien Abende gern bei der HJ verbringen. Die möchten mich als neues Mitglied haben!«

Die Frau war bisher immer freundlich zu mir gewesen und hatte sich stets um mein leibliches Wohlergehen bemüht. Als sie aber jetzt von meinem Vorhaben hörte, wurde sie noch resoluter als sonst:

»Was möchtest du? Das wirst du schön bleiben lassen! Den ganzen Abend lang herumbrüllen, herumbalgen oder mit gleichgesinnten Flittchen irgendwo in der Gegend herumlungern! Das könnte dir so passen! Nein, Lothar! Du gehst am Abend früh genug ins Bett, damit du am nächsten Tag wieder frisch und munter bist! Haben wir uns verstanden?«

Mir blieb nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Denn die Reichsverordnung, die alle deutschen Jugendlichen zur Mitgliedschaft in der HJ und im BdM (Bund deutscher Mädchen) verpflichtete, trat erst im Jahr 1939 in Kraft. Deshalb musste ich meine etwas voreilige Zusage bei Fritz mit leisem Bedauern zurücknehmen und widmete mich in der Folge mit noch größerem Eifer meiner beruflichen Weiterbildung.

In diesem Jahr traf mich ein weiterer Schicksalsschlag: Mein Vater starb, und da meine Mutter keinen Kontakt mit mir haben wollte oder konnte, war ich von nun an auf mich allein gestellt. Meister Schindler wurde während dieser Wochen für mich so etwas wie ein Ersatzvater und der kleine Ort Waldtal/Malkwitz meine neue Heimat.

Mein Lehrherr verhielt sich mir gegenüber zwar immer freundlich, fast väterlich, war aber gleichzeitig konsequent und streng. Sehr schnell lernte ich bei ihm alte Bauernküchen auszumalen, Zimmer in den Schlössern und Herrenhäusern im Umland zu renovieren oder mit Ornamenten zu verzieren und vor allem in der vorweihnachtlichen Zeit Schaukelpferde oder anderes Spielzeug für Kinder zu bemalen oder zu lackieren. Zudem sollte es mir im späteren Leben des Öfteren von Nutzen sein, dass ich Schilder kunstgerecht beschriften und auch farblich gestalten konnte. Doch jetzt, während meiner Lehrzeit, war in der weiteren Umgebung kein Tanzsaal vor unserer Dekorationsmalerei sicher. Der Betrieb meines Lehrherrn konnte schon damals die zahlreichen Aufträge nur mithilfe zweier Motorfahrzeuge bewältigen, weil unsere Arbeitsstellen oft weit von Waldtal/Malkwitz entfernt waren. Weil mein Meister und ich am gleichen Tag Geburtstag hatten, zog er nicht nur an diesem Tag nach Feierabend mit mir und zwei Gesellen von Gasthaus zu Gasthaus. Zum Leidwesen seiner resoluten Gemahlin wiederholte sich dies noch mehrmals, und bei den Fahrten zurück nach Hause vertraute er mir manchmal mehr als sich selbst und setzte seinen Lehrling auch ohne Führerschein ans Steuer seines Opel P 4.

Obwohl ich von früh bis abends beschäftigt und auch zufrieden war und diese Zeit mit zahlreichen unvergesslich-schönen Erinnerungen verbunden ist, reifte in mir der Entschluss, nach meiner Lehrzeit auf Wanderschaft zu gehen. Der Drang, Neues kennenzulernen und Unbekanntes zu sehen, wuchs von Tag zu Tag, und deshalb verließ ich am 4. Januar 1939 das mir lieb gewordene Dorf. Doch schon wenige Tage danach spielte mir das Winterwetter einen überraschenden, üblen Streich. Ein Arzt stellte bei mir allergisches Bronchialasthma fest und schickte mich zu einem Kuraufenthalt nach Oberschreiberau im Riesengebirge. Hier lernte ich erstmals eine gebirgige Landschaft kennen. Ich hörte und las während meiner Genesung viel über die geplante Winterolympiade 1940 in Garmisch-Partenkirchen und begann zu träumen: Lothar, sagte ich mir, sobald es dir wieder besser geht, musst du ins Hochgebirge gehen. Bei den Vorbereitungen zur Winterolympiade findest du in Garmisch-Partenkirchen sicherlich Arbeit in deinem Fach.

Noch während meines Kuraufenthaltes in Oberschreiberau versuchte ich vergeblich, wenigstens für einige Zeit im Ort Arbeit zu finden und Geld zu verdienen, um meine Pläne verwirklichen zu können. Zunächst aber gelang mir dies lediglich in der Festung Dömitz an der Elbe. Hier wurden unterirdische Rüstungs- und Munitionshallen sowie Arbeitersiedlungen gebaut. Diese einfachen Anstreicherarbeiten vermochten mich nicht zu begeistern. Aus diesem Grunde wechselte ich als lernbegieriger Wanderbursche ins sächsische Arnsdorf. Hier half ich mehrere Wochen lang, die Nervenheilanstalt zu renovieren. Bei einem sonntäglichen Ausflug nach Dresden bot mir dort der noch junge, tatkräftige Malermeister Willi Lutter Arbeit und Unterkunft bei sich an. Ohne lange zu zögern, willigte ich ein. Mit ihm verband mich vom ersten Tag an eine ehrliche Freundschaft, war er doch selbst noch wenige Jahre zuvor als Wanderbursche unterwegs gewesen.

Zusammen mit meinem neuen Arbeitgeber lernte ich die »Vogelwiese« in Dresden kennen. Bei gemeinsamen Fahrradausflügen erkundeten wir das Elbtal bis hinüber ins Sudetenland. Er bestärkte mich in meiner Wanderlust mit den mir unvergesslich gewordenen Worten:

»Lothar, wer beruflich nicht möglichst viele Orte und Handwerksbetriebe kennengelernt hat, der wird selbst nie ein umsichtiger Meister werden können. Wenn du glaubst, bei mir genug gelernt und gesehen zu haben, musst du dich andernorts weiterbilden. Wenn du willst, kann ich dich gerne bei einem meiner ehemaligen Lehrmeister am Timmendorfer Strand, also oben an der Ostsee, anmelden. In diesem Meisterbetrieb habe ich selbst viel dazugelernt und erfahren. Nach Garmisch kannst du ja später auch noch wechseln – dann aber mit mehr beruflichem Können und Wissen, als du jetzt schon hast.«

Willi Lutter hatte ja recht. Nach anfänglichem Zögern stimmte ich seinem Vorschlag zu, obwohl es mich nach wie vor sehr zum Schauplatz der nächsten Winterolympiade zog.

Am letzten Sonntag im Juli 1939 packte ich also meinen Rucksack. Mein bisheriger Arbeitgeber wanderte zusammen mit mir bis zum Stadtrand. Er schien mit meiner Arbeit sehr zufrieden gewesen zu sein, denn er hatte meine Papiere um ein sehr gutes Zeugnis ergänzt. An der letzten Bushaltestelle an der Stadtgrenze von Dresden verabschiedete er sich mit einem kräftigen Händedruck und wünschte mir alles Gute für meinen weiteren Weg. Seine vagen und fast zögernd angedeuteten Befürchtungen, der Friede in Europa könne in Gefahr sein, vergaß ich in meiner jugendlichen Unbekümmertheit sogleich wieder.

Während Willi Lutter mit dem Bus wieder zurück in die Stadt fuhr, fand ich schon nach wenigen zu Fuß zurückgelegten Kilometern einen allein reisenden, freundlichen Herrn aus Berlin, der bereit war, mich in seinem Auto als Anhalter mitzunehmen. Deshalb erreichte ich schon am frühen Abend Potsdam und fand Unterkunft in der dortigen Jugendherberge. Kurz bevor ich in das Reich der Träume hinüber schwebte, dachte ich zufrieden: »Wenn das so flott weitergeht, dann werde ich schneller am Ziel ankommen, als Willi Lutter und ich dies angenommen haben.«

Am nächsten Morgen betrachtete ich es keineswegs als Zeitverschwendung, Sanssouci zu besichtigen. Während der Führung in den Räumen des Schlosses kam ich ins Gespräch mit einem jungen Motorradfahrer, der nach Flensburg wollte und mir von sich aus einen Platz auf seinem Sozius anbot. Travemünde, die Holsteinische Schweiz, Kiel und Eckernförde zogen auf diese Weise mühelos an mir vorüber. Etwas steif stieg ich in Flensburg schließlich vom Kraftrad des mir kaum bekannten Fahrers und bedankte mich für seine Hilfsbereitschaft.

Nun, da ich schon einmal hier war, wollte ich natürlich durch die Stadt und ihren malerischen Hafen streifen. Aber ich war doch bei meinem neuen Meister am Timmendorfer Strand angemeldet. Deshalb nutzte ich jede sich mir bietende Fahrgelegenheit und fand noch am späten Abend desselben Tages die Jugendherberge in Schleswig.

Jeder, der schon einmal in einer dieser nützlichen Bleiben übernachtet hat, kennt die nun folgende Prozedur: Schuhe ausziehen und verstauen, das Lager beziehen, Nachtruhe wahren und zuletzt das Nachtlager wieder so sauber verlassen, wie man es selbst gerne vorfinden würde. Das alles war mir nicht neu, doch beeindruckte mich bei Sonnenaufgang der Blick aus dem geöffneten Fenster über die Ufer der Schlei hinweg. Das war neu für mich.

»Herr Lutter, Sie haben mich wirklich gut beraten«, dachte ich im Stillen.

Gleich nach dem Frühstück wanderte ich an den Ufern der Schlei entlang und nutzte wieder einige der sich mir bietenden Mitfahrgelegenheiten. Wanderburschen meines Schlages schienen auch hier vertrauenswürdig zu sein. Als ich nur noch wenige Kilometer von meinem Ziel entfernt war, hielt neben mir ein Tempo-Dreirad an, um mich mitzunehmen. Schon nach wenigen Minuten wusste ich, dass es sich bei dem gemütlichen Fahrer um den Ofensetzmeister des Timmendorfer Strandes handelte. Auch hier oben kannte jeder Handwerksmeister den anderen, und der freundliche Alte fuhr mich bis vor die Haustür meines künftigen Chefs.

Als ich ins Büro von Meister Steger trat, empfing mich dieser mit den freundlichen Worten:

»Na, da kommt ja der warm empfohlene Schlesier.«

Dabei betrachtete er mich mit abschätzenden Blicken. Als er bemerkte, dass ich ihm meine Zeugnisse überreichen wollte, winkte er ab.

»Nein, nein, lassen Sie nur, Herr Hermann. Mit Gesellen aus Schlesien habe ich bisher nur beste Erfahrungen gemacht, und warum sollte das bei Ihnen anders sein?«,

Er bemerkte natürlich mein verdutztes Gesicht. Wegen seiner Bemerkung stieg in mir ein Gefühl der Freude, ja des Stolzes, auf. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl vor dem Schreibtisch, und ich hörte sein gluckerndes Lachen, das aus den Tiefen seines ansehnlichen Brustkorbes aufstieg. Danach wurde er plötzlich ernst:

»Herr Herrmann, Sie wohnen hier über der Werkstatt und haben in der Fremdenpension meiner Frau wie vereinbart freie Kost und Logis. Sie arbeiten und wohnen zusammen mit zwei Lehrlingen, einem Gesellen aus dem Vogtland, einem Dänen und zwei Oberschlesiern. Natürlich hoffe ich, dass Sie sich mit allen gut vertragen werden. Nun gehen Sie zuerst einmal hinüber in die Rezeption zu meiner Frau. Sie wird Ihnen Ihre Unterkunft zeigen. Natürlich wohnen Sie nicht so komfortabel wie unsere zahlenden Gäste. Aber bisher habe ich noch keinerlei Klagen vernommen.«

Die Türklinke bereits in der Hand, hörte ich ihn noch rufen:

»Ach ja. Lassen Sie sich von Ihren Landsleuten und den anderen nicht zu oft zum Ausgehen verführen. Sie sind zwar alle immer pünktlich, wenn sie auf den hier zur Genüge gebotenen Tanzabenden mit Wein und hübschen Mädchen die Nächte durchgemacht haben, aber bedenken Sie, Sie haben nicht mehr als den vereinbarten Stundenlohn von 91 Pfennigen. Die billigste Unterhaltung hier ist das Kurkonzert. Denken Sie hin und wieder an meine Worte.«

Dieser Hinweis schien mir überflüssig zu sein, und ich schüttelte lachend den Kopf. Alles sah nach einem längeren Aufenthalt aus, Garmisch konnte noch ein wenig warten.

Denn schon nach wenigen Tagen an meinem neuen Wohnort hatte ich mich an die Arbeit, die Arbeitsweisen und Methoden, an das außergewöhnlich gute Arbeitsklima und auch an die hier wirklich reichlich gebotenen abendlichen Unterhaltungsmöglichkeiten gewöhnt. Landläufig ausgedrückt, begann ich mich hier im hohen Norden pudelwohl zu fühlen.

Mein Meister schickte mich vier Wochen später zusammen mit den beiden Schlesiern Bernhard Bauer und Martin Schendel in die Schleswig-Holsteinische Schweiz, nach Malente/Gremsmühle. Dieser Umstand war keineswegs nachteilig für unsere inzwischen stark strapazierten Geldbeutel. Wir drei waren gleichaltrig – Jahrgang 1920 –, und sollten in Malente ein Müttergenesungsheim der NSDAP restaurieren, in dem wir für die Dauer unserer Tätigkeit auch untergebracht waren.

Doch das Grollen am politischen Himmel der Zeit war keinem von uns verborgen geblieben. Die NS-Propaganda beschwor fast täglich im Rundfunk oder in anderen Medien die Schmach des Versailler Vertrags, der endlich revidiert werden müsse. Keiner von uns dreien war deshalb überrascht, als wir von Malente nach Bad Schwartau zur Musterung befohlen wurden. Es überraschte mich lediglich, dass ich ein bisher fremdes Gefühl verspürte: eine Mischung aus Bangen und Hoffen. Holte mich hier der Ernst des Lebens ein?

Den Musterungsärzten blieb meine Anfälligkeit für Asthma verborgen, und weil ich mich dem Ruf des Vaterlandes nicht entziehen wollte, verschwieg ich diese Vorerkrankung. Außerdem fühlte ich mich gesund und kam gar nicht erst auf den Gedanken, mich vor der Wehrpflicht durch Krankheit zu drücken. Somit verließ auch ich die Turnhalle, in der ich mit zahlreichen jungen Männern gemustert wurde, mit dem Ergebnis »KV« (kriegsverwendungsfähig).

Wir drei feierten unsere Kriegsdiensttauglichkeit zusammen mit einigen der anderen Gemusterten am Abend in einer Wirtschaft in der Nähe der Turnhalle. Der damals übliche Dienst beim RAD (Reichsarbeitsdienst) schien auch für mich näher gerückt zu sein, und ich stellte mich darauf ein, in naher Zukunft Soldat zu werden. Nur vor der Kriegsmarine empfand ich eine undefinierbare Scheu. Ich wollte keineswegs hinaus aufs Meer.

»Lothar«, dachte ich im Stillen, »jetzt wird’s für dich höchste Zeit, in die Berge umzuziehen. Bei den Gebirgsjägern zu dienen, ist viel besser für dich, als in irgendeinem Kriegsschiff eingesperrt zu sein. In dieser Enge würdest du ausrasten.«

Im Oktober arbeitete ich noch zwei Wochen lang am Timmendorfer Strand. Der Himmel über der Ostsee und ihren Küsten war meist wolkenverhangen, und der Regen prasselte hart auf menschenleere Strände. Unsere Meisterin und Wirtin war mittlerweile alleinstehend, denn man hatte ihren Mann zu den Waffen gerufen. Der Polenfeldzug war siegreich beendet, und allenthalben redeten die Menschen mit einem gewissem Stolz über diesen »Blitzkrieg« und unsere erfolgreiche Wehrmacht. Auch ich wurde von dieser Euphorie angesteckt, packte aber meine sieben Sachen, um baldmöglichst, wenn auch mit einer gewissen Wehmut im Herzen, den mir inzwischen so vertraut gewordenen Ostseestrand zu verlassen und endlich in die Alpen, nach Garmisch, zu fahren.

Heinrich Holder, mein Kollege aus dem sächsischen Teil des Vogtlandes, war früher einige Zeit in Oberbayern gewesen. Von ihm hatte ich die Anschrift des Malermeisters Konrad Wolf bekommen, Kontakt mit diesem aufgenommen und umgehend eine positive Antwort erhalten. Weil die angekündigte Winterolympiade durch den Krieg obsolet geworden war, wollte ich mich keinesfalls verändern, ohne sicher zu sein, am neuen Wohnort sofort arbeiten zu können. Außerdem konnte ich nach meinem Ortswechsel ziemlich sicher sein, nicht zur Kriegsmarine eingezogen zu werden. Wieder einmal dachte ich:

»Lothar, wenn schon zum Militär, dann bitte zu deiner Wunschwaffengattung, den Gebirgsjägern.«

So fuhr ich in der Nacht zum 15. Oktober mit der Bahn los. Bei einem Zwischenaufenthalt in Hamburg empfand ich es als befremdlich, dass die Stadt wegen eventueller Fliegergefahr in völlige Dunkelheit gehüllt war. Einige Straßen, durch die ich mit meinem Wandersack lief, waren fast menschenleer und kaum befahren. Trotzdem fühlte ich mich sicher. Denn ich erinnerte mich an die starken Worte unseres Herrn Reichsluftmarschalls Göring, der lautstark verkündet hatte: »Wenn auch nur ein einziges Flugzeug des Feindes unser Reichsgebiet überfliegen sollte, dann will ich künftig Meier heißen.« Was aus dieser Verheißung wurde, haben dann später viele Hamburger und andere Großstädter, teilweise sogar unsere Landbevölkerung, schmerzlich erfahren, und »Herr Meier« wurde in Nürnberg zum Tod durch den Strang verurteilt.

Dies alles konnte ich während meiner gespensterhaft anmutenden Nachtwanderung natürlich noch nicht ahnen, und so bestieg ich mit frohen und hoffnungsvollen Erwartungen den Zug nach München.

Das verhaltene und leise Stimmengemurmel der Mitreisenden in meinem Abteil schläferte mich ein, und ich erwachte erfrischt, als wir uns schon München, der sogenannten »Hauptstadt der Bewegung«, näherten. Drei Stunden später bestaunte ich durch das Fenster des nach Garmisch fahrenden Zuges das draußen vorbeiziehende Loisachtal. Die umliegenden Berge, die bereits weiße Schneemützen trugen, übertrafen meine ohnehin hochgespannten Erwartungen. Das also waren die Alpen. Die Sonne beschien die Landschaft mit mildem Herbstlicht, doch ich glaubte zu fühlen, wie ihre Strahlen mich bis ins Innerste erwärmten. Es fühlte sich an, als hieße mich die Schönheit des Landes willkommen.

Während ich gebannt durch das Fenster hinausstarrte und darauf wartete, dass der Zug endlich in Garmisch hielt, fragte ich mich, warum ich nicht schon früher in diese herrliche Landschaft gekommen war. In der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen war Kirchweihsonntag, und ich bestaunte das rege Leben am und um den Marktplatz von Garmisch. Hier schien tiefster Friede zu herrschen. Die Mädchen und Frauen trugen ihre besten Sonntagsdirndln und redeten in einer Mundart, von der ich zunächst kaum ein Wort verstand. Der bayerische Dialekt wurde mir erst später vertraut.

Nur der Umstand, dass die Mehrzahl der jungen Männer nicht in den bestickten Lederhosen und weißen Hemden der lokalen Tracht, sondern in den Uniformen der Gebirgsjäger von Marktstand zu Marktstand wandelten oder mit den »Dirndln« plauderten, erinnerte mich daran, dass Krieg herrschte. Mit meinem Wanderrucksack fühlte ich mich plötzlich fremd und manchmal auch bestaunt oder begafft. Doch alle waren freundlich zu mir, und einige fragten mich auch nach meinem Woher und Wohin.

Mein neuer Arbeitgeber, Malermeister aller Art Konrad Wolf, hatte mir in der Danielstraße 20 in einem kleinen, aber sehr einladenden, schmucken Einfamilienhaus bei der Familie Maier eine Unterkunft besorgt. Die herzliche Art, mit der mich Mutter Maier und ihre Tochter Kathi begrüßten und mir unbefangen, wie selbstverständlich das Du anboten, überraschte mich angenehm. Kathi war ein Jahr älter als ich und verhielt sich anfangs zurückhaltend. Mutter Maier aber schien mich besonders sympathisch zu finden, denn sie meinte:

»Lothar, zwischen uns scheint alles zu passen, und wenn’s so bleibt, dann kannst du so lange bei uns wohnen, wie du willst.« Leises Bedauern schien in ihrer Stimme mitzuschwingen, als sie hinzufügte:

»Wahrscheinlich musst du ja bald einrücken. Pass auf, dass du unsere Siege überlebst. Mein Mann ist auch schon zur Wehrmacht eingezogen worden.«

Familiäres Zusammenleben und Zusammenhalten waren für mich bisher Fremdwörter gewesen. Auch deshalb fühlte ich mich hier vom ersten Augenblick an auf eine eigenartige, wohltuende Weise geborgen. Damals ahnte ich schon, dass Frau Maier und ihre Tochter für mich wie Mutter und Schwester werden würden.

Es folgten arbeitsreiche Tage und Wochen. Aber die Sonntage gehörten mir. Mit meinen neu erworbenen Skiern lernte ich zunächst auf Hängen in Talnähe das Skifahren und war selbst überrascht, wie schnell ich von Sonntag zu Sonntag besser wurde. Schon im März 1940 schnallte ich erstmals Schneefelle unter die »Brettln« und stieg damit höher bergan, der Alpspitze entgegen. Im Tal war der Frühling schon eingezogen und das frische Grün bildete einen eigenartig anmutenden Kontrast zur höher gelegenen, in der Sonne weiß glitzernden Schneeregion. Erwartungsvoll stieg ich vom Tal aus dem Schnee entgegen. Sobald die Schneedecke dick genug war, schnallte ich meine Skier mit den Fellen an und stieg auf einer schon vorhandenen Aufstiegsspur mühsam Schritt für Schritt bergan. Es mag manchem unverständlich erscheinen, aber mir machte das zwar anstrengende, aber fast lautlose Ansteigen auf dem glitzernden Schnee unter strahlend blauem Himmel Spaß. Dabei genoss ich den mit jedem gewonnenen Höhenmeter besser werdenden Fernblick in die umliegende Gipfelregion. Weil ich mir damals die komplette Abfahrt von der Alpspitze noch nicht zutrauen konnte, machte ich an der »Schulter« halt. Hier löste ich die mit einigen Lederbändern festgeschnallten Schneefelle unter den Gleitflächen der »Brettln« (Klebefelle gab es damals noch nicht), legte meine Skier als Sitzbank in den Schnee und verzehrte die im Rucksack heraufgetragene Brotzeit. Genussvoll aß ich einige mit Kunsthonig bestrichene Brote, als sich ein junger Mann mit seiner Freundin zu mir gesellte. Die beiden waren mir gefolgt, wollten ebenfalls nicht weiter aufsteigen und begannen sich mit dem in den Bergen üblichen Du wie selbstverständlich mit mir zu unterhalten. Jeder von uns war von der Schönheit unserer Umgebung zutiefst beeindruckt, fast andächtig berührt. Im Jahr 1940 gab es noch keinen lärmenden Skizirkus, wie man ihn heute in vielen Bergregionen findet, und wir waren hier oben an diesem Tag allein.

Wir wären gern noch länger hier unter der wärmenden Sonne sitzen geblieben, doch die Abfahrt lockte. Der Schnee im Bernadeintal war pulvrig, wurde nach dem Hochalmsattel etwas schwerer und kurz vor dem Kreuzeck zwang mich plötzlich beginnender nasser, klumpiger Schnee dazu, die Textilbremse zu ziehen. Kopfabwärts lag ich prustend im Schnee und lachte mit den anderen über mein Missgeschick, während ich mich wieder mühsam auf meine Brettln stellte.

»Im Pulverschnee kann jeder Anfänger fahren«, rief Konrad von seinem etwas tiefer gelegenen Standplatz zu mir herauf. »Das wird dir sicher noch öfter passieren!«

»Macht doch nichts! Ist ja trotzdem schön! Auf geht’s! Fahren wir weiter! Auch wenn’s jetzt schwerer geworden ist.«

Weiter unten trugen wir unsere Skier wieder geschultert vorbei an einigen mit blühenden Krokussen übersäten Wiesen ins Tal. Kurz bevor wir die Danielstraße erreichten, stellte ich fest:

»Wenn ich jodeln könnte, dann würde ich jetzt einen Freudenjodler hinausposaunen! Diesen Tag und meine erste Skitour werde ich nie vergessen.«

Konrads Freundin Claudia entgegnete schmunzelnd: »Ja da schau her. Das Jodeln möchte unser Nordgermane auch noch lernen? Lothar, mach nur so weiter. Dann wirst du tatsächlich noch ein richtiger Garmischer.«

Obwohl ich an diesem Abend müde war, zog es mich wieder einmal zum Tanz. Ich hatte meiner einige Jahre jüngeren Freundin Kathi versprochen, mit ihr in den Gasthof Ettaler Mandl zu gehen. Obwohl ich als Wanderbursche im Loisachtal angekommen war, fühlte ich, dass ich hier Wurzeln zu schlagen begann, dass das Loisachtal meine Heimat wurde.

Doch dann geschah das Unvermeidliche, lange Erwartete. Am Dienstag nach meiner ersten Skitour brachte der Postbote meine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Am 15. Mai 1940 musste ich mich im RAD-Lager Hochbrück bei Schleißheim vor den Toren Münchens einfinden. Wir wollten an diesem Tag eigentlich in der Kaserne in Mittenwald einen größeren Auftrag beginnen, den mein Meister an Land gezogen hatte, und so musste ich dem Chef die bevorstehende Veränderung schonend beibringen.

Der reagierte aufgebracht, fast etwas ungehalten: »Lothar! So kann das doch nicht weitergehen. Sobald sich bei mir ein junger Mann eingearbeitet hat, holen sie ihn auch schon gleich wieder weg. Diese Arbeit in der Kaserne ist doch auch kriegswichtig. Mit meinen Altgesellen kann ich das bald nicht mehr schaffen! In meinem Betrieb kannst du doch mehr für unser Volk leisten. Der RAD und der Barras können noch einige Zeit auf dich verzichten! Einen so fleißigen Arbeiter, wie du es bist, kann ich sicher uk (unabkömmlich) stellen lassen! Ich habe einflussreiche Bekannte, die meinen Antrag ganz sicher unterstützen werden! Das ist durchaus machbar!«

Doch ich war jung und abenteuerlustig, und so lehnte ich sein Angebot ab. Außerdem fühlte ich mich dazu verpflichtet, dem Ruf des Vaterlandes zu folgen. Ich wollte alles sein, nur kein Drückeberger. Wir siegten doch ununterbrochen. Eine Erfolgsmeldung reihte sich an die andere, und ich wollte teilhaben am Ruhm unserer Wehrmacht. Wie schnell dieser vergehen und was an Grauen auf mich zukommen würde, konnte ich damals nicht einmal ahnen.

Beim RAD

Am 15. Mai 1940 fuhr ich mit dem Zug zusammen mit Anton Sieß und Ernst Wölpl von Garmisch nach München. Beide kannte ich bisher nur vom Sehen, aber schon nach kurzer Unterhaltung wussten wir, dass wir das gleiche Ziel hatten. Beim Umsteigen in den Zug, der uns nach Oberschleißheim bringen sollte, gesellte sich noch ein junger Bursche aus Oberammergau zu uns, und wir unterhielten uns während der kurzen Fahrt nach Oberschleißheim ungeniert laut darüber, was uns in nächster Zeit erwarten könnte. Wir waren angespannt und neugierig, aber alle begeistert von den Siegen, die unsere Wehrmacht bisher errungen hatte.

»Hat etwa einer von euch an unseren Erfolgen gezweifelt?«, rief Anton Sieß laut.

»Nein, nein!«, riefen wir fast zugleich, und einer fügte hinzu: »Wir können uns doch von denen nicht alles gefallen lassen! Das bisschen RAD bringen wir schneller hinter uns, als ihr glaubt.«

»Natürlich«, meinte auch ich, »und dann werden auch wir feldgrau und werden kräftig mitmischen.«

»Aber wenn die in Frankreich so weitermachen, wird für uns nicht mehr viel übrig bleiben«, meinte Franz Wölpl leise zweifelnd.

Dies veranlasste Ernst Sieß dazu, sofort zu widersprechen:

»Franz! Wir sind doch noch nicht in England! Diese harte Nuss müssen wir doch auch noch knacken! Für uns gibt’s noch genug zu tun, wirst’s schon sehen!«

Am Bahnhof Oberschleißheim wuchs unsere Schar auf 16 Mann an. Wir erkannten uns gegenseitig an den kleinen Koffern, die jeder bei sich trug. Neugierig und mit kaum verborgener innerer Anspannung, gingen wir bis zum RAD-Lager am Ortsrand von Hochbrück, das zuvor noch ein Ausbildungslager der Waffen-SS gewesen war.

In der Schreibstube, einer Baracke, in der sich auch die Zimmer unserer Offiziere befanden, wurde uns mitgeteilt:

»Sie sind alle 14 Tage zu spät dran. Sie können froh sein, dass man das nicht Ihnen, sondern einer elenden Schlamperei andernorts anlasten muss. Sie werden heute noch eingekleidet. Die Vormänner Himmelstoß und Roidl werden Ihnen gern dabei behilflich sein, ihren Ausbildungsrückstand nachzuholen. Das hat unser Chef, Herr Oberstfeldmeister Brutscher, angeordnet.«

Diese Ankündigung bekräftigte der »Schreibstubenhengst« mit hämischem Grinsen.

Im Lager war es so sauber, dass ich unwillkürlich glaubte, man könne von den Fußböden der Baracken essen. Unsere künftigen Behausungen waren im Viereck angeordnet und umschlossen den Exerzierplatz in ihrer Mitte. Hinter den Freiräumen zwischen den Baracken konnte ich Wiesen und Felder, dazu einige kleine Feldgehölze und allein stehende Bauernhöfe erkennen.

Innerhalb einer Stunde waren wir alle eingekleidet, wobei die üblichen Sprüche des »Kammerbullen« durch die Baracke schwirrten:

»Die Jacke Ihrer Uniform ist nicht zu eng, sondern Ihr Bauch zu groß!« – »Tauschen Sie doch Ihre Knobelbecher (Stiefel) mit Ihrem Nachbarn! Dem sind Sie angeblich zu klein.« – »Dieser Drillich scheint wie für Sie geschaffen zu sein. Damit können auch Sie ganz sicher hervorragend arbeiten!«

Als uns die beiden für uns abgeordneten Hilfsausbilder Himmelstoß und Roidl zu unserer Baracke führten, flüsterte mir Ernst Wölpl ins Ohr:

»Der Himmelstoß soll ganz in Ordnung sein. Aber Roidl soll sich gern größer machen als er ist.«

In unserer Bude standen an beiden Längswänden jeweils drei »Doppeldecker«, roh gezimmerte Stockbetten aus Fichtenholz. Matratzen, Bettdecken und Kopfkissen waren mit weißblau gewürfeltem Leinen bezogen, und natürlich war es Roidl, der jetzt lauthals verkündete:

»Wehe demjenigen, der sein Bett jeden Morgen nicht so verlässt, wie er es heute hier vorfindet. So, und nun zeige ich euch, wie man seinen Spind vorschriftsmäßig einräumt!«

Mit diesen Worten deutete er auf die Spinde, die, einer für jeden, zwischen den »Doppeldeckern« an den Längswänden rechts und links der Tür standen.

Es wurde rasch Abend, während Roidl uns zeigte, wie wir unsere Kleidung zusammenzulegen und in der Reihenfolge, in der wir sie anderntags benötigten, zu stapeln hatten. Ganz unten lagen die weißen Fußlappen. So wie Roidl es uns vorführte, wickelte man diese anstelle von Socken um die Füße und konnte danach in die Stiefel schlüpfen, die Knobelbecher genannt wurden. Noch heute glaube ich seine raue Stimme zu vernehmen:

»Wer das schlampig macht, ist selbst schuld, wenn er sich Blasen an den Füßen holt. Für so einen Schlamper wird ein jeder Überlandmarsch zur Qual! Schlappmachen gilt nämlich bei uns nicht! Natürlich wird auch am Samstag gearbeitet. Aber am Abend und am Sonntag habt ihr genug Zeit, um euer Zeug zu waschen. Eure Mama ist für euch nicht mehr zuständig! Nun etwas völlig anderes: Sie haben alle brandneue Knobelbecher erhalten, in die sich einige soeben hineinzwängen mussten. Das kann man ändern. Hier ist Lederfett. Das knetet man per Hand in die harten Knobelbecher und macht sie damit geschmeidig wie Hausschuhe!«

Wir kneteten alle eifrig und waren kaum damit fertig, als der Ruf erklang:

»Alle raustreten! Essen fassen!«

An der Tür stand Truppführer Kießl und rief:

»Hände vorzeigen! Was? Mit solchen Dreckpfoten wollen Sie essen. So etwas kommt bei uns nicht infrage! Zunächst einmal – Hände waschen!«

Der Eindruck, den die ersten Tage beim RAD hinterließen, war nicht überraschend für mich. Am vierten Abend im Lager, kurz bevor wir müde in unsere Betten steigen durften, raunte mir Anton Sieß, der Sohn eines Garmischer Bäckers, ins Ohr:

»Bei aller Begeisterung für unser Vaterland – dieses dämliche Griffeklopfen mit unseren Spaten, die Augen links, rechts! Still gestanden! Das hängt mir langsam schon zum Hals raus. Können die sich nichts anderes einfallen lassen? Ich dachte, beim RAD wird gearbeitet!«

Schon am folgenden Morgen marschierten wir laut singend – wir hatten an einigen Abenden Marschlieder gelernt – in schnurgerade ausgerichteten Reihen mit unseren vorschriftsmäßig gepackten Tornistern auf dem Rücken und blank polierten Spaten auf den Schultern zum Flugplatz Oberwiesenfeld. Dort waren kleinere Schäden auf dem Flugfeld zu beheben und geringfügige Erdarbeiten zu verrichten. Wir konnten nur zwei Maschinen der Luftwaffe vor einem Hangar stehen sehen. Ich glaube, es handelte sich um Transportmaschinen, sogenannte »Tante Jus« mit ihren drei Sternmotoren.

Nur zwei Tage waren wir auf dem Flugplatz beschäftigt. Bei den jeweiligen Hin- und Rückmärschen war ich froh darüber, meine Fußlappen immer gewissenhaft um die Füße gewickelt zu haben. Einige meiner Kameraden waren weniger glücklich, und Franz Bauzer, ein Kamerad in meiner Bude, war am zweiten Abend dazu gezwungen, sich Blasen an den Fersen mit einer Nadel aufzustechen und seine Füße mit Wundpflastern zu bekleben. Dabei beobachtete ihn Ferdinand Weber eine Minute lang mit belustigtem Gesichtsausdruck, bevor er rief:

»Du Schlamper! Das kann nur dir passieren. Wir haben unsere Lappen so gewickelt, wie dieser Gernegroß es uns eingetrichtert hat. Hast du etwa geschlafen? Unsere Trittlinge sind unversehrt! Sei froh, dass der Schorsch genügend Pflaster hat, sonst würdest du jetzt dumm aus der Wäsche schauen!«

Einige Kameraden lachten schallend. Nein, viel Mitgefühl konnte der Ärmste kaum erwarten.

Dass der sogenannte Arbeitsdienst in Wahrheit der Vorbereitung auf den Kriegseinsatz diente, zeigte sich bei der Ausbildung an der Waffe. Unterfeldmeister Gaul übte mit uns unnachsichtig bis zum Erbrechen. Dabei herrschte ein rauer Umgangston. Schon nach wenigen Tagen konnte jeder von uns fast blind den Karabiner 98k zerlegen, entölen und wieder einfetten.

Nicht nur mir wurde dieses Einerlei langweilig. Wir fieberten doch alle dem Tag entgegen, an dem wir endlich scharf schießen sollten. Stattdessen beschäftigte man uns damit, einige Moorwiesen in der Umgebung mit Drainagen trocken zu legen.

Natürlich verfolgten wir in diesen Tagen gespannt den Fortgang des Krieges. Wir hörten die Nachrichtensendungen des Reichsrundfunks und lasen im Völkischen Beobachter. Dieses täglich erscheinende Parteiorgan der NSDAP besorgte jeden Tag ein anderer aus unserer Bude, was unsere Vorgesetzten sehr wohlwollend beobachteten.

Schon zuvor wussten wir, dass uns nach dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 Frankreich und England den Krieg erklärt hatten, ohne allerdings Polen mit einem Gegenangriff zu helfen. Bisher war im Westen nichts Neues geschehen. Dort herrschte der sogenannte Sitzkrieg, den Hitler am 10. Mai dieses Jahres beendete, indem er die angeblich unüberwindliche Maginotlinie für unsere Gegner überraschend umging. Am Tag meines Dienstantritts in Hochbrück, am 15. Mai 1940, kapitulierte Holland, einige Tage danach Belgien, und am 20. Mai erreichten deutsche Panzer die Kanalküste. Wir jubelten laut, als am 22. Juni im Wald von Compiègne unser General Wilhelm Keitel und der Franzose Charles Huntziger den Waffenstillstandsvertrag unterzeichneten. Damit war die »Schande von Versailles getilgt«, wie es im Propagandasprachgebrauch hieß, und damit dies auch mit möglichst großer Symbolwirkung geschah, hatte man dazu den Salonwagen aus dem Museum geholt, in dem 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet worden war.

Zwei Tage später bewunderten wir in den Zeitungen das Foto Hitlers vor dem Eiffelturm in Paris. Einige von uns machten keinen Hehl daraus, dass sie gern früher als später Soldat werden wollten. Ich selbst hüllte mich zu dieser Frage zwar in Schweigen, musste mir aber eingestehen, dass auch ich bereits von der allgemeinen Begeisterung und dem Siegestaumel erfasst war.

Es war an einem glühend heißen Tag Ende Juni, als wir mit vorschriftsmäßig gepackten Tornistern und geschulterten Spaten zu einem sogenannten Gewaltmarsch mit unbekanntem Ziel aufbrachen.

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