Todtnauberg - Hans-Peter Kunisch - E-Book

Todtnauberg E-Book

Hans-Peter Kunisch

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Beschreibung

Dichter und Denker. Todesfuge und Schwarze Hefte – das Treffen in Todtnauberg Ein langjähriger Antisemit und der einzige Holocaust-Überlebende seiner Familie: Drei Mal begegneten sich Paul Celan und Martin Heidegger, zu Spaziergängen, zum Kaffee, zu Gesprächen. Was verband einen der wirkungsmächtigsten deutschen Philosophen und den bedeutendsten jüdischen Lyriker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert, der dem ersten Treffen eines seiner bekanntesten Gedichte widmete: »Todtnauberg«? Diese drei Begegnungen sind in der deutschen Geistesgeschichte einzigartig. Hans-Peter Kunisch erzählt sie so dicht, so lebendig und anschaulich, wie dies erst neue Recherchen und Quellen möglich machen. So nah sind wir Paul Celan und Martin Heidegger bislang nicht gekommen. - Erstmals in einem Buch nacherzählt: die Lebensgeschichten, verbunden mit der besonderen Beziehung zwischen Celan und Heidegger – recherchiert in bislang unbekannten Quellen und bei den letzten Zeitzeugen - Aufwendig gestaltet, mit bedrucktem Vorsatzpapier - Mit Lesebändchen

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Seitenzahl: 458

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Über das Buch

Am 25. Juli 1967 kam es zu einer der wohl seltsamsten Landpartien der deutschen Geistesgeschichte: Paul Celan und Martin Heidegger fuhren, chauffi ert von einem jungen Germanisten, zusammen zur legendären Hütte des Philosophen im Schwarzwald. Der Lyriker hat dieses erste Treffen der beiden in einem seiner bekanntesten Gedichte verewigt: ›Todtnauberg‹. 

Ein Antisemit, der sich dem NS-Regime mit seiner berüchtigten Rektoratsrede einst angedient hatte, und der einzige Holocaust-Überlebende seiner Familie, der vor allem mit seiner ›Todesfuge‹ weltberühmt wurde – wie kam es, dass ausgerechnet diese beiden für kurze Zeit die Nähe des jeweils anderen suchten? 

Was verband einen der wirkungsmächtigsten deutschen Philosophen und den bedeutendsten jüdischen Lyriker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert? Und warum konnte aus den insgesamt drei Treffen nie eine wirkliche Begegnung werden? 

Hans-Peter Kunisch erzählt die Geschichte dieses versuchten »Gesprächs« zwischen dem Denker und dem Dichter so lebendig und anschaulich, wie dies erst neue Recherchen und Quellen möglich machen. So nah sind wir Paul Celan und Martin Heidegger bislang noch nicht gekommen.

PROLOG

Mitten durchs Moor, hat einer gesagt. Aber es sei nicht gefährlich. Wie auf Parkett gehe man auf diesem Steg. Der hat gut reden. Obwohl immer wieder ein paar Strahlen milder Nachmittagssonne durch die dichten grünen Blätter finden, ist der leicht abschüssige Holzsteg, auf dem sich die drei Männer bewegen, feucht und es gibt kein Geländer.

Drei Männer im Moor. Ein Dichter, ein Philosoph und einer, der glaubt, dass er mit beiden befreundet ist. Saumwege und kleine Inseln sieht man neben dem Steg, Wacholdergebüsch, Sumpfklumpen und Farnhügel. Manchmal steigen Blasen auf und ein Vogelruf fährt durch die Stille. Die drei tasten sich langsam voran. Aber keiner will, dass es so aussieht, als ob es ihm Mühe bereite. Also gehen sie möglichst gerade und unbeschwert. Und sprechen müssen sie auch noch. Alle drei wollen, dass die anderen erzählen, sie verstünden etwas von der Natur.

Gerhart Baumann ist der Einheimische hier. Er hat seine berühmten Gäste aus Freiburg hergefahren, weil er die Gegend um Tiefenhäusern, aus der seine Mutter kommt, schon als Kind kennengelernt hat. Paul Celan, der jüdische Dichter aus Czernowitz und Paris, wollte schon vergangenes Jahr mit Martin Heidegger in ein Hochmoor im Schwarzwald.

Ausgerechnet. Heidegger, der hier in der Nähe, in Todtnauberg, seine berühmte Hütte hat und sich gerne den Anschein eines Bauern im Sonntagsstaat gibt, aber mit Sein und Zeit auch einen der philosophischen Welterfolge des 20. Jahrhunderts geschrieben hat, versteht noch immer nicht genau, warum. Letztes Jahr begann es in Strömen zu regnen, und Celan hatte nicht das richtige Schuhwerk. Diesmal gibt es keine Ausrede mehr, auch wenn die drei in den waldigeren Teilen des Moors wieder zu schlittern beginnen.

Schon vor über einem Jahr hat Paul Celan in Paris in der Zeitung von der Aufführung eines Theaterstücks von Bert Brecht gelesen. Brecht erzählt darin, wie ein paar widerständige Politiker zu Beginn der Nazizeit aus politischen Gründen in einem KZ gelandet sind, das mitten im Moor liegt. Statt sich zu verbünden, schlagen sie, die aus verschiedenen Parteien kommen, sich mit den Schaufeln, mit denen sie Beton mischen müssen, beinahe die Köpfe ein. Noch immer können die »Moorsoldaten« sich nicht einigen, wie die Republik am besten zu verteidigen gewesen wäre, wer von ihnen die Zeichen der Zeit nicht richtig gelesen hat.

Paul Celan hat beide Elternteile in einem deutschen Lager in der Ukraine verloren. Sein ganzes Leben und Schreiben sind davon bestimmt. Celan kann nicht verstehen, warum Martin Heidegger sich 1933 als Rektor der Universität Freiburg für Hitler begeistert hat. Aber er kennt auch seine philosophischen Bücher und fühlt sich ihrer besonderen Sprache verwandt. Er möchte, dass Heidegger, der sich nie öffentlich zu seinen Verstrickungen in den NS-Staat geäußert hat, ihm erklärt, wie es dazu gekommen ist.

Celan mag das Halbdunkel des Moors, seine sanfte Unheimlichkeit. Durch sein anderes Licht, die brackige Luft und die leisen Geräusche holt es die Menschen aus ihrer Gegenwart. Es konserviert die Vergangenheit. Aber sie ist nicht erstarrt. Unter der beweglichen Moordecke, die wie ein Uhrglas gewölbt ist, schwingt das erdige, schwarze Wasser noch immer. Hier hält die Vergangenheit die Gegenwart in Bewegung. Doch auch die Zukunft ist unsicher. Ein falscher Schritt, und man ist verschwunden. Das Moor, denkt Celan, hebt die Zeit auf. Darum sind Menschen hier unsicherer als sonst. Überrascht müssen sie sich neu orientieren. Alles ist Gegenwart. Auch Heidegger wird sich dem stellen müssen.

1

KEIN PERSILSCHEIN, ACHT ROSEN UND DIE GANZE EXISTENZ

Das Hotel Victoria in der Eisenbahnstraße, direkt am Colombipark, ist an diesem 24. Juli 1967 eine der besseren Adressen in der Freiburger Innenstadt. Die guten Zimmer haben noch immer kein eigenes Bad, die Holzböden des vor hundert Jahren erbauten Hauses knarzen an allen möglichen Stellen. Doch die getäfelten Wände, der dunkelrote Läufer auf der Treppe und die gediegenen Lüster lassen erahnen, warum Gerhart Baumann, ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literatur und einer der Bildungshonoratioren der Stadt, seine Universitätsgäste hier unterbringt. Auch die Umgebung passt. Aus den Fenstern kann man, auf einem kleinen Hügel, das »Schlössle« der Gräfin von Zea Bermudez y Colombi sehen, ihren stattlichen Witwensitz, um den herum im 19. Jahrhundert ein eindrucksvoller Park angelegt wurde.

Paul Celan kann sich durchaus geehrt fühlen. Der 46 Jahre alte Dichter der berühmten »Todesfuge«, die seit Celans erster Gedichtsammlung Mohn und Gedächtnis als Beweis dafür gilt, dass auch nach dem Holocaust Gedichte in deutscher Sprache möglich sind, soll an diesem Abend im 1100 Hörer fassenden Auditorium Maximum der Albert-Ludwigs-Universität lesen. Wahrscheinlich nur aus Übersetzungen »von Shakespeare bis Ungaretti. Celan begründete diese Entscheidung, Übersetzungen zu lesen, mit der vorläufigen Unmöglichkeit, seine Gedichte vorzulesen in einem Land, das die Kriegsschuld und die Schuld gegenüber dem Jüdischen Volk nicht abgetragen habe.« So berichtet es der Germanist Gerhard Neumann, damals Baumanns Assistent. Neumann hatte Celan über Elmar Tophoven, Samuel Becketts deutschen Übersetzer, in Paris kennengelernt und die Lesung vermittelt.

Die Gründe für Celans Absicht, »nur« Übersetzungen zu lesen, sind verständlich, muten aber auf den ersten Blick etwas eigenartig an. Er hat schon mehrfach in Deutschland eigene Gedichte vorgetragen. Nicht nur 1952 in Niendorf an der Ostsee, bei jener berüchtigten Tagung der Gruppe 47, auf der Celan im internen Wettbewerb um den Preis der Gruppe, deutlich abgeschlagen, immerhin die drittmeisten Stimmen erhielt. Aber Hans Werner Richter, der Tagungsleiter, verwies Celans melodisches Vortragspathos in einer Mischung aus Irritation und Perfidie bei Tisch in die Synagoge und verglich es mit dem rheinischen Singsang von Joseph Goebbels. Auch in Tübingen, Stuttgart, Frankfurt, Kiel, Hannover ist es in der Zwischenzeit zu Lesungen aus eigenen Werken gekommen. Celan hat 1958 den Bremer Literaturpreis und 1960 den Büchner-Preis, den angesehensten Preis für deutschsprachige Gegenwartsliteratur in Deutschland in Empfang genommen. Doch die Jahre 1959/60 markieren einen Wendepunkt.

Es ist eine verwinkelte, aber am Ende ganz einfache Geschichte. Sie hat mit einer Frau zu tun, die mit vielen berühmten Männern bekannt war und in ihren Erinnerungen Ich verzeihe keinem geschliffen davon zu berichten weiß. Ob Rainer Maria Rilke, mit dem sie liiert war, obwohl sie »seinen Schnauzbart über den Negerlippen nicht ausstehen konnte«, oder James Joyce – »dieser pedantische Egoist (…), ein arktischer Fisch, eine Kreuzung zwischen Hummer und Auster« – alle werden sie von Claire Goll, die 1891 als Clara Aischmann in Nürnberg geboren wurde, mit so knappen wie scharfen Charakterbildern bedacht. Und seit 1952 macht Claire, die ihn einmal »mein Päulchen« nannte, Celan das Leben zur Hölle.

Oder lässt er es sich von ihr zur Hölle machen? Manchmal weiß er das selbst nicht mehr genau. Aber seit Claire Goll ihre Pressekampagne, ursprünglich per geheimem Rundbrief, 1960 mit Zeitschriftenartikeln öffentlich gemacht hat – Celan soll die Werke ihres verstorbenen Mannes, des elsässisch-jüdischen Dichters Yvan Goll, plagiiert haben –, fühlt sich Celan zu Recht verfolgt. Und er liegt auch mit seinen sonstigen Mutmaßungen nicht falsch. Rezensionen konservativer Starkritiker zeugen von bundesrepublikanisch-plüschigem Antisemitismus nach dem Holocaust: Hans Egon Holthusen, der Celan in einer Kritik einen »Fremdling und Außenseiter dichterischer Rede« nennt, ist nicht nur der Autor von Der unbehauste Mensch, einem Nachkriegsbestseller zur geistigen Situation der Zeit. Er war auch Angehöriger der SS. Holthusen schreibt, Celan verfüge über eine »durch sich selbst inspirierte, aus rein vokabulären Relationen und Konfigurationen entwickelte Dichtersprache« – und reinigt sie damit von Wirklichkeit und Geschichte. Für die Holthusen, einst ein überschwänglicher Propagandist des NS-Systems, mitverantwortlich ist.

Auch Günther Blöcker, ein historisch weniger kompromittierter wichtiger Kritiker, versucht, Celans Gedichten die Relevanz zu nehmen, indem er sie zu »vorwiegend graphischen Gebilden« erklärt. Andererseits erledigt er die ihm unliebsame sprachliche Freiheit Celans mit dem Kurzkommentar »das mag an seiner Herkunft liegen«. Jeder Satz dieser Art ist für Celan ein Stich ins Herz. Gerade auch angesichts der kommenden Tage, vor denen er sich manchmal fürchtet.

Noch stehen die Fenster seines Zimmers im Victoria offen, aber vor einer Stunde hat er die schweren Vorhänge zugezogen. Sie lassen nur einzelne Flecken Licht herein, bewegen sich kaum. Celan hat Baumann gesagt, er wolle noch die Lesung vorbereiten. Jetzt liegt er auf seinem schmalen Bett und horcht, mitten am Nachmittag, auf alles, was von draußen kommt und durch seinen Körper geht.

Aber keine Straßenbahn »rast« hier durch seine »Stube«, kein Wagen geht über ihn hinweg, wie einst über Malte Laurids Brigge in Rilkes gleichnamigem Epochenroman der Moderne, der Celan damals nach Paris gelockt hat. Gerade hört er nur die hellen Stimmen einiger deutscher Kinder, die von irgendwoher nach irgendwohin laufen. Sie sind fröhlich und ausgelassen, auch wenn sie die Sommerferien in der Stadt verbringen müssen.

Celan lächelt. Er erinnert sich, wie die kleine, feine Edith Horowitz im Herbst Kastanien sammelte, um sie im Winter von ihrem Balkon zu werfen, wenn Paul mit dem Cousin und Friseursohn Gusti Chomed zusammen bei Schnee und Eis den Czernowitzer Töpferberg herunterrodelte. Worauf die ängstliche Edith neidisch war und sich freute, wenn Gusti und Paul sich über Treffer am Kopf und Kastanien im Schnee wunderten.

Celan liegt ganz ruhig und aufmerksam. Es ist, als spüre er mit allen Sinnen, wie das müdeste der lärmenden Kinder auf dem Mäuerchen an der oval geschwungenen Auffahrt des Colombi-Schlösschens sitzen bleibt und den Kopf etwas auf die Seite legt.

Nichts war so schlimm, wie wenn Paul von seinem kleinen Vater – die Mutter war einen ganzen Kopf größer – nach Schlägen in die leere Kammer gesperrt wurde. Sie hatte nur ein winziges Fenster, das zum Hinterhof ging. Jedes Mal musste Paul warten, bis der Vater, der den Schlüssel mitnahm, aus dem Haus ging und die Mutter ihrem kleinen Jungen aus dem Fenster helfen konnte. Etwas später begann der Junge, Rilke zu lesen:

Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. (…)

Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat.

Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen.

Pauls Vater Leo Antschel, dessen Namen Celan in ein anagrammatisches Pseudonym verwandelt hat, als er in rumänischen Zeitschriften zu veröffentlichen begann, war nach dem Ersten Weltkrieg als arbeitsloser Bautechniker in den Brennholzhandel geraten: ein einfacher, unsicherer, meist erfolgloser Mann, der große zionistische Überzeugungen hatte und gerne seiner Schwester nach Palästina gefolgt wäre.

Für Celans Mutter Fritzi, geborene Schrager, waren deutsche Bücher und die sanfte Natur der Bukowina das größte Glück. Sie, die kein Gymnasium hatte besuchen dürfen, wollte im Bildungswettstreit der Bürger von Czernowitz, die ihre Kinder alle für Genies hielten, vorne mitmischen. Als Einzelkind war Paul gefordert. Grenzen gab es zuerst beim Geld: Klavier war teuer, Celan sollte Geige spielen. Mit der Zeit gelang es ihm, sich von der Pflicht zu befreien. Er war in anderen Dingen begabt, lernte die Sprachen viel schneller als andere.

Als Celan vor zwei Jahren, 1965, von einer Reise nach Frankfurt zurückkam, stand auf einmal Ilana Shmueli in Paris vor der Tür. Drei Tage blieben sie zusammen und erzählten davon, wie die stolze Stadt Czernowitz sich noch habsburgisch gab, obwohl sie seit den Verträgen von Versailles zu Groß-Rumänien gehörte. Wie das Deutsche die Sprache blieb, in der die Juden lasen und schrieben und noch lange nicht ahnten, dass es auch die Sprache ihrer Mörder sein würde. Aber Französisch, meinte Ilana, die damals Liane Schindler hieß, noch jetzt, hielten sie in Czernowitz für eleganter und Verlaine für den raffiniertesten ihrer Götter. Auch Ilanas Mutter, die aus Wien kam, liebte die Literatur. Ihr Vater arbeitete in Czernowitz ebenfalls im Holzhandel, allerdings erfolgreich. Als Kind wurde sie mit der Kutsche zur Schule gebracht.

Celan wird von Rilke nach Paris geholt, aber auch die Zeit schickt ihn dorthin: Er soll Medizin studieren, doch in Wien und »im Reich« ist das, 1938, für Juden nicht mehr möglich. In Frankreich wird das rumänische »Baccalaureat« noch anerkannt.

So macht sich Celan zum Studienbeginn auf den Weg nach Tours, wo er das erste Jahr absolvieren wird. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hält sein Zug in Berlin. Die »Reichskristallnacht« geht nur knapp an ihm vorbei, wie er im Gedicht »La Contrescarpe« erzählt:

Über Krakau

bist Du gekommen, am Anhalter

Bahnhof

floß deinen Blicken ein Rauch zu,

der war schon von morgen.

In Paris bleibt Celan bei seinem Onkel Bruno Schrager, der Schauspieler hat werden wollen. Die Eltern haben es ihm nicht erlaubt, und so verdient er sein Geld mit dem Rezitieren heiliger und anderer Texte, erst in Czernowitz, dann auf dem Montmartre und anderswo. Damals ist Celan von Paris begeistert. All das zu sehen, von dem er nur hat träumen können! An Gusti Chomed schreibt er anschließend, traurig und allein, aus Tours:

Schau, in Paris ist es so, daß überall das Leben herumsteht, auf den Straßen und in den Häusern, überall. Da ist Notre Dame und der Louvre und das Musée Rodin, Kirchen und Gärten, Konzerte, Theater.

Tours, das ist Öde, Alleinsein, Bangnis.

Auf der Durchreise hat sich Celan damals wohlgefühlt in der für ihn viel zu teuren Stadt. Aber als er zehn Jahre später wiederkommt, um zu bleiben, fühlt er sich bald wie in Tours.

Noch ein Jahr nach seiner Ankunft hat er nicht wirklich in die große Stadt gefunden. Da lernt er bei einem befreundeten Lyriker Yvan Goll und dessen Frau kennen. Celan trägt noch einen Brief für Yvan bei sich. Sein Mentor in Bukarest, Alfred Margul-Sperber, hat ihn ihm mitgegeben. Celan besucht das Paar an einem Sonntag in ihrem Zimmer im feinen Hotel Palais d’Orsay. Er liest vor, und beide sind beeindruckt. Yvan Goll notiert Anfang November 1949 in seinem Tagebuch:

Paul Celan, 31, rue des Écoles, hatte mir einen Brief mit Grüßen von Sperber geschickt. Er liest uns Gedichte aus »Der Sand aus den Urnen« mit inspirierter Stimme vor, und Claire und ich finden sie beide dort bewundernswert, rein und wissend, wo die Schatten von Rilke und von Trakl vor seinem klaren Genie langsam verlöschen. Vor allem »Todesfuge« ergreift und entzückt uns.

Celan ist gleichzeitig schüchtern und sehr stolz. Er ist mit vollem Recht von seiner Mission als Dichter überzeugt. Er ist der typische, geistig anspruchsvolle Jude aus Czernowitz.

Er hatte Claire acht rote Rosen mitgebracht, er, der im Quartier Latin ohne einen Sou dahinvegetiert. Wir haben ihn zu einem kleinen Abendessen eingeladen.

(Ü.: BARBARA WIEDEMANN)

In einem Brief an die Wiener Kinderbuchautorin Erica Lillegg berichtet auch Celan von der Begegnung:

Vergangenen Sonntag war ich bei Ywan Goll. Ein wirklicher Dichter. Ein Mensch. Der erste, dem ich in Paris begegne.(…) Ein langes Jahr habe ich gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. (…) Ywan Goll kennt alle Größen unserer Zeit. Rilke, Joyce, Picasso. Alle. Und dabei ist er bescheiden. Und sterbenskrank.

Goll hat Leukämie, was man Celan nicht gleich erzählt. Schon damals erwähnt er auch Claire:

Kennst Du seine Frau, Claire Goll? Sie war lange Zeit die Freundin Rilkes. Sie ist Schriftstellerin. »Wissen Sie«, meinte sie, »wir fürchteten, Sie könnten einer sein, der Gedichte schreibt, aber kein Dichter ist. Sie sind aber ein Dichter, ein wirklicher«. Und Iwan Goll, der das wahrscheinlich besser weiß als sie, meinte dasselbe.

Ich brauche ein paar Menschen, auch in der Nähe. Warum musste ich ein volles Jahr warten, ehe ich Goll kennen lernte?

Rote Rosen. Celan war ein gutes Dutzend Mal im Krankenhaus, er war mit Claire auf dem Friedhof, hat sie in der Zeit nach Yvans Tod begleitet, hat versprochen, Yvans Gedichte zu übersetzen.

Claire schien ihn zu mögen. Er hat noch ihre Briefe und Karten. Einen Kugelschreiber von Yvan hat sie ihm geschenkt und dazu notiert:

Er hat mit ihm den Mythe de la Roche Percée geschrieben. Vielleicht wird er auch für Dich, liebes Paulchen, ein Instrument der Inspiration. (26.11.1950)

Liebes Päulchen, entschuldige meine Nervosität heute am Telephon (…) (7.6.1951)

Liebes Päulchen, einen warmen Gruß aus Metz (…). (16.8.1951)

Wie sich alles verändert hat. Heute ist Celan nur noch froh, wenn er nicht an Claire denken muss. Er hätte nie gedacht, dass diese schöne Frau, die sich mit sechzig Jahren in eine stark geschminkte Gouvernante zu verwandeln begann, ihm mit ihren Intrigen einmal den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Manchmal fühlt er sich nur noch von ein paar Spinnweben gehalten, und sobald er sich zu bewegen versucht, zerfallen auch sie.

In einem Brief von 1956 hat Celan dem Schriftsteller Alfred Andersch, der durch seinen Roman Die Kirschen der Freiheit bekannt geworden war, eine Szene aus der Todesnacht von Yvan Goll geschildert. Andersch war damals Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk.

Als uns die Krankenschwestern ins Sterbezimmer riefen, lautete der »Schmerzensschrei« der »deutsch-französischen Dichterin« – lachen Sie bitte nicht –: »My darling!« Die beiden Krankenschwestern verstanden nämlich weder Deutsch noch Französisch …

Claire war mit ihrem Mann ins American Hospital gefahren und fühlte sich dort wie auf einer Bühne.

Manchmal denkt Celan, dass er Claire falsche Hoffnungen gemacht hat. Die Intensität, mit der ihn diese schrille Frau noch nach 15 Jahren verfolgt, deutet auf etwas, das tiefer liegt als die Plagiate, die sie ihm vorwirft. Vielleicht hatte sie sich den charmanten, kleinen Juden aus dem armseligen Osten, der ihr schon zum Auftakt Rosen überreicht hatte, ganz selbstverständlich zum unterwürfigen Lebensbegleiter auf Dauer sowie zum mehr oder weniger unbezahlten Übersetzer auserkoren. Sie konnte nicht dulden, dass er mit Gisèle auf einmal die Frau kennengelernt hatte, die er heiraten wollte.

Der jungen, auf selbstverständliche Art freundlichen Adligen und Künstlerin, von der er ihr anfangs nichts erzählt hatte, musste Claire sich unterlegen fühlen. Und durch Mohn und Gedächtnis war er selbst auf einmal beinahe berühmt geworden, berühmter jedenfalls als Yvan und Claire. Er wollte nicht mehr – für sie und unter ihrem Namen – für wenig Geld Übersetzungen von Yvans Gedichten anfertigen. Wahrscheinlich hat er sie in ihren Augen »verraten«, und sie hat es ihm heimgezahlt.

Celan liegt immer noch auf seinem schmalen Bett im Freiburger Hotel Victoria und fühlt sich schwer, so schwer wie die alten, dunkelroten Vorhänge, aus denen Staubwolken kamen, als er sie vorhin bewegte. Er sollte aufstehen, Ausschau halten nach dem, was hinter ihnen geschieht. Nicht in unendlichen Erinnerungen kramen.

Ob die Luft in dieser kleinen deutschen Stadt, die er in diesen Tagen zum ersten Mal sieht, noch so frisch und leicht ist wie eben, als er durch ihre Straßen ging, ob es so schwül geworden ist, wie er es hier drinnen empfindet?

Während Celan regungslos daliegt, spürt er, dass ihn die Unruhe, die es ihm in den letzten Jahren so schwer gemacht hat, auf Menschen zuzugehen, wieder zu erfassen beginnt. Es sind Zufälle, denkt er, wenn noch irgendetwas passiert. Bei Ilana war es vor zwei Jahren die Überraschung. Es war keine Anstrengung. Es war etwas Neues, das aus dem ganz Alten kam. Plötzlich war sie da. Er wird sie in Israel besuchen müssen, wo sie mit Mann und zwei Kindern lebt. Er hat keine Ahnung, was sie dazu sagen wird, aber irgendwann muss es sein.

Claire Golls Fälschungen sind inzwischen erwiesen. Die Tübinger Celan-Expertin Barbara Wiedemann hat ein ganzes Buch darüber geschrieben. Unter anderem hat Claire Celans Übersetzungen der Gedichte Yvans nicht zurückgegeben und anhand seiner Übersetzungen unveröffentlichte Gedichte Golls verändert. Die »Todesfuge« gab es, bevor Claire für den toten Yvan ähnliche Bilder benutzte, das zeigt schon Yvans Tagebuch. Genau genommen hat Claire nicht nur Celan, sondern auch ihren Yvan betrogen. Aber damals ist das noch nicht für jedermann klar. Wer hat wann wem was zu- und zurückgeschickt? Das kann nicht nachverfolgt werden, solange Claire Briefe und Tagebücher zurückhält, in Texten von anderen herumpfuscht.

Celans ganze Existenz, die Wirklichkeit, auf der sein Werk fußt, seine Glaubwürdigkeit, seine Wahrhaftigkeit stehen auf dem Spiel. Celan fühlt sich von beinahe allen deutschen Freunden, die die Details der Debatte nicht verstehen, verlassen, gerät in Wahnvorstellungen.

Im Winter 1962 hat er mit Frau und Kind in Savoyen Skiurlaub gemacht. Er ist noch jetzt über sich entsetzt, wenn er sich daran erinnert, dass er dort einen zufälligen Passanten der Komplizenschaft mit Claire bezichtigt hat: »Vous aussi, vous êtes dans le jeu!« Sie, auch Sie sind mit im Spiel!

Das war vor fünf Jahren. Er wird von all dem endlich loskommen müssen. Vielleicht sind schon die nächsten Tage ein guter Anfang. Da geht es um ein anderes Spiel. Es geht um mehr als um eine Betrügerin.

Celan hat schwere Bedenken gehabt vor seinem Freiburger Auftritt. Aber schon sein erster Spaziergang heute Vormittag hat ihn in mildere Stimmung versetzt. Überall plätschern die Bächlein in der freundlichen kleinen Stadt. In allen Buchhandlungen stehen seine Gedichte im Schaufenster. Auch Von Schwelle zu Schwelle, Sprachgitter und Die Niemandsrose. Das literarische Freiburg, daran besteht kein Zweifel, wartet auf Paul Celan. Das Niveau der Stadt, hat er mittags gegenüber Gerhart Baumann, so scherzhaft wie freudig, behauptet, sei mit dem von Paris vergleichbar. Baumann hat gelächelt.

Beide wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass genau dies das Ziel der besonderen Schaufensteraktion war: dass sich der berühmte, aber schwierige Gast in der Stadt von Anfang an wohlfühlen möge.

Und dafür verantwortlich zeichnet ausgerechnet Martin Heidegger, dem Celan aus guten Gründen misstraut. Heidegger ist für Celans Interesse an der kleinen Universitätsstadt Freiburg verantwortlich, aber auch für die Reserve ihr gegenüber. Ausgerechnet in Freiburg haben sie den Eigensinnigen aus Meßkirch zum Philosophie-Fürsten gemacht, dessen umstrittenen Denk- und Lebensweg Celan seit Langem verfolgt.

Heidegger hat seinen Buchhändler Fritz Werner dazu angehalten, die Kollegen zu informieren, damit sie ihre Schaufenster mit Celan schmücken. Denn auch Heidegger weiß, dass es zu einem Treffen zwischen Celan und ihm kommen soll. Auf Gerhart Baumanns briefliche Anfrage hat er enthusiastisch geantwortet:

Schon lange wünsche ich, Paul Celan kennen zu lernen. Er steht am weitesten vorne und hält sich am meisten zurück. Ich kenne alles von ihm, weiß auch von der schweren Krise, aus der er sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch vermag.

Celan indessen, den die Werke Heideggers nie gleichgültig gelassen haben, wird bei dem Gedanken an das geplante Gespräch zwischen ihm – dem anerkannt wichtigsten jüdischen Gegenwartsdichter deutscher Sprache – und dem bewunderten, tief deutschen Autor des philosophischen Weltbestsellers Sein und Zeit immer unbehaglicher zumute, je näher es rückt.

An Gisèle hat er geschrieben, Franz Wurm, ein befreundeter Lyriker, Jude und in Prag geboren, habe ihm aufgetragen, »Heidegger Grüße auszurichten, was mich nicht gerade beglückt. In Wahrheit ist das Ziel meiner Reise Frankfurt, das heißt die Unterredungen mit Unseld (…).«

Celan will die Bedeutung des Treffens vor sich selbst herunterspielen. Kein Wunder. Heideggers politische Verstrickungen, die Nähe zur nationalsozialistischen »Bewegung« sind in dieser Zeit zwar noch nicht vollständig, aber doch in wichtigen Einzelheiten bekannt. Heideggers Werke freilich bleiben Celans eigenen in der Suche nach einer neuen, unverbrauchten Sprache, die aus einer alten, verschütteten entwickelt werden muss, verwandt. Seit er Heideggers Sprache zum ersten Mal begegnet ist, liest Celan sie immer wieder mit Staunen. Aber er will diesem zwielichtigen Menschen mit dem Treffen keinen »Persilschein« ausstellen.

Das ist er seinen Eltern schuldig, die in Michailowka, in einem deutschen Konzentrationslager in der Ukraine gestorben sind. Der Vater an Typhus, die Mutter durch Genickschuss. Die unsägliche Claire hat ihren Tod »legendär« genannt.

Es wäre ein Wunder, wenn das Treffen mit Heidegger keine neue Aufregung brächte. Das kann Celan gerade nicht brauchen. Die schwere Krise, aus der er kommt, da hat Heidegger recht, sie ist noch lange nicht überstanden.

2

HÖRRESTE, SEHRESTE UND EIN FREIGÄNGER

Sechs Wochen zuvor, Anfang Juni in Paris.

Frische Luft! Eine ganze Woche lang! Der etwas gebückt gehende, nicht allzu große Mann mit dem fliehenden Haaransatz atmet auf. Gerade hat er, der, wie alle Patienten hier, in Socken gehen muss, das Büro von Jean Delay, dem angesehenen Direktor der Psychiatrischen Klinik St. Anne verlassen. Die Klinik, in der dieser Mann schon zum zweiten Mal behandelt wird, liegt im 14. Pariser Arrondissement, das nach der riesigen alten Sternwarte offiziell »Observatoire« heißt. Eine etwas zersiedelte Gegend mit wuchtigen Institutionen wie dem Gefängnis »La Santé«. Alle lagen sie einmal am Rande der Stadt.

St. Anne wurde Mitte des 17. Jahrhunderts erbaut. Vor hundert Jahren hat Napoleon III. das Spital in eine psychiatrische Klinik umgewandelt. Hier haben sie schon alles gesehen. Ein Verwirrter mehr oder weniger fällt nicht auf. Doch es steht wirklich nicht gut um Paul Celan, der gerade Urlaub erhalten hat, um nach Deutschland zu fahren. Ausgerechnet.

Diesmal ist er seit dem 13. Februar dieses Jahres hier. Fast vier Monate sind das. Er hält es, so gut wie möglich, geheim, aber wenn er hier herauskommt, wird er sich eine Wohnung suchen müssen. Gisèle, seine Frau, hat endgültig darauf bestanden, dass sie sich trennen. »Wir tun uns weh«, hat sie geschrieben. Das hat sie schön gesagt. Immerhin hat Celan schon versucht, sie umzubringen. Nichts Schöngeistiges. Mit einem Messer. Zwei Jahre ist das her.

Diesmal, Ende Januar, hat Celan sich selbst umzubringen versucht. Wieder war ein Messer mit im Spiel. Celan hat sein Herz nur knapp verfehlt. Der linke Lungenflügel war schwer verletzt. Sie mussten ihn in einer Zwangsjacke einweisen. Befragung der Nachbarn, Ambulanz.

Trotz all dieser Geschichten hat Gisèle Eric, ihren gemeinsamen Sohn, wieder zu ihm gelassen. Einmal pro Woche. Sie essen zusammen oder gehen ins Kino.

Gisèle ist beinahe eine Heilige. Sie hat ihre große katholische Familie, für die der dahergelaufene ostjüdische Dichter zu klein war, für ihn verlassen. Und wenn er eine lange Unterhose braucht, schickt sie ihm diese noch jetzt.

Was Eric wohl von ihm denken wird? Er ist gerade erst zwölf geworden und hat einen Vater, der immer wieder in der Psychiatrie verloren geht. Eric hat ihn schon oft außer sich gesehen. Er muss ihn für einen Verrückten halten.

Aber es ist nicht so, dass Eric diesem Verrückten gleichgültig ist. Dass da einer ist, der nach ihm weiterleben wird, scheint für Celan besonders wichtig zu sein. Und das begreift auch Eric. Er sieht beinahe so aus wie sein Vater. Er ist Teil der Behauptung »Celaniens«, wie sein Vater ihr kleines Familienland nennt, gegen das schreckliche 20. Jahrhundert. »Wir werden wieder hochkommen«, »standhalten«, wie Paul Celan in dieser Zeit oft sagt. Er will seine Familie retten, so lange wie möglich, er schreibt Postkarten und Briefe an Eric, die herzzerreißend sind. Beschwörende Ermutigungen, die wie Selbstermutigungen klingen.

Mein lieber Eric, Du weißt, daß es mir im Augenblick nicht sehr gut geht – ich muß mich in Behandlung begeben. Du wirst einige Tage bei Tante Monique bleiben. Dann wird dich Mama abholen kommen, Du wirst in unser Haus zurückkehren, Du wirst fleißig arbeiten. Du wirst wachsen. Du wirst mit Mama warten, bis ich zurückkomme, um mit Euch zu leben, mit Euch und für Euch zu arbeiten. Nichts, das weißt Du, kann uns auseinanderbringen. Sei lieb zu Mama.

Ich umarme Dich ganz fest, mein Sohn Eric! Bis bald! Gruß! Dein Vater

Manche Karten waren schon Botschaften aus dem Wahnsinn: »Mein Sohn Eric, ich grüße Dich. Ich grüße Euch, Menschen.«

Doch auch diesmal ist Celan wieder auf die Beine gekommen, trotz Ausgehverbots bis Ende April. »Zu Ihrem eigenen Schutz!«

Kaum Besuch. Hier kann man, denkt Celan, tatsächlich irre werden. Ständig schleichen Pfleger und Ärzte um ihn herum. Als wären es Deutsche oder Rumänen, die etwas mit ihm anstellen wollen. Wie damals im Arbeitslager von Tabaresti. Bald werde ich wieder Steine schleppen und graben, werde irgendwelchen Siegern irgendeine Straße bauen.

Die Welt ist mehr, als man sehen kann. Celan spürt die Gegenwart der Vergangenheit überall. Auch das unschuldigste Grün kann kontaminiert sein. Der Parc Montsouris, ganz in der Nähe der Klinik, ist schön: sanfte Hügel, ein Teich, verschlungene Wege, Spaziergänger darauf. Der Meridian von Paris läuft durch ihn hindurch. Eine Stele macht darauf aufmerksam. Der Meridian? Celan muss an seine Büchner-Preis-Rede denken, an den Meridian von Czernowitz, an die Schicksalslinie, die ihn mit seiner Heimatstadt verbindet, die ihn immer wieder aus dem Wahnsinn zurückruft und am Leben hält.

Ob Celan weiß, dass die »grüne Lunge« des 14. Arrondissements auch an die dunkleren Abschnitte seines Meridians erinnert? Montsouris wurde direkt über einem Steinbruch errichtet. Beim Bau wurden Hunderte von Leichen gefunden, die weggeschafft werden mussten.

In Czernowitz hatten die Juden Glück, wenn sie, wie Celan, in einem der rumänischen Arbeitslager bleiben konnten und nicht über den Bug, in die ukrainischen Konzentrationslager mussten. Immanuel Weissglas, ein Jugendfreund von Celan, mit dem er sich später nicht mehr verstand, schrieb Kariera am Bug, Gedichte aus einem Steinbruch.

Es ist gut, dass der Mann in Socken jetzt Hoffnung schöpfen kann und in die weitere Welt hinausdarf. Allein. Und wenn es gut geht, hat man ihm gesagt, kommen Sie im Herbst ganz raus. Erst mal eine Woche, dann werden wir sehen.

Celan, der seit fast vier Monaten nur an einzelnen Tagen Ausgang hatte, um seiner Arbeit als Deutschlektor an der Pariser Elitehochschule École Normale Supérieure nachzugehen, der ausnahmslos in der Anstalt übernachtet hat, kann es kaum fassen.

Obwohl er es sich schon lange erhofft. Er braucht die Luft. Er wird versuchen, wandern zu gehen. Über weite Hügel. Durch Wälder. Nicht wie hier, an den immer gleichen Türen entlang, auf und ab, in diesem dumpfen, alten Gewölbe, in dessen Gängen sich windschiefe Gestalten tummeln, die ihn beobachten, die aufschreiben, was sie sehen, und tuscheln. Auch jetzt geht, wie immer, wenn er sich aus seiner Abteilung entfernt, ein Pfleger hinter ihm her. Wenigstens hält er ihn nicht am Arm.

In der ersten Anstalt, in die er vor fünf Jahren eingewiesen wurde, nördlich von Paris, in Épinay, hat Celan – wie er an Gusti Chomed, der wieder in Czernowitz wohnt, geschrieben hat – noch »mittelalterliche Scherze« erlebt. Was genau Celan damit meint, sagt sein Brief nicht. Aber in den 1960er-Jahren empfand man oft nichts Ungewöhnliches dabei, wenn Psychiatriepatienten an ihren Betten angekettet wurden.

Über den Hügeln des Schwarzwalds wird er nahe am Himmel sein! Bei gutem Licht sieht man, so haben sie ihm versprochen, die Alpen. Und im Halbdunkel des Waldes kann sich jeder, der will, verbergen! In St. Anne, das sich über viele Gebäude verteilt, gibt es grüne Höfe, die Celan viel zu selten sieht, innen aber nur Enge und künstliches Licht. Sie wollen alles sehen. Lichtzwang wird Celan die Gedichtsammlung nennen, an der er gerade schreibt. Auch das Gemüt soll, bitte schön, heiter werden.

Hörreste, Sehreste, im

Schlafsaal eintausendundeins,

tagnächtlich

die Bären-Polka:

sie schulen dich um,

du wirst wieder

er.

Wieder er? Wer ist »er«? Wieso »wieder«? War er etwa »es«? Eins mit sich? Ist er das noch, ausgerechnet hier, in der Klinik? Oder war er es davor? In dem kurzen Moment, als er sich umzubringen versuchte? Oder als er mit Eric in der Bretagne am Meer herumtollte?

Die Polka, der Tanz der Verrückten, Hofgang, tagnächtlich.

Pierre Deniker, hinter Delay der zweite Mann in St. Anne, leitet dort die Abteilung für männliche Patienten. Er beschreibt eine namenlose geschlossene Anstalt dieser Zeit:

Wenn neue manische Patienten kamen, war das oft von großem Lärm und Unruhe begleitet. Laut schrien Patienten die Schwestern und andere Patienten an, erzählten Witze, führten Kunststücke auf oder wurden wütend. Wenn sie noch mehr in Fahrt gerieten, begannen sie zu kreischen, Gedichte zu rezitieren, zu johlen oder Opern zu singen. Tag und Nacht ging das so, nur mit kurzen Pausen, die für neuen Aufruhr frisch machten.

(Ü.: H.-P. K.)

Was immer geschieht: Celan wird auch aus seinem jetzigen Leben Gedichte machen. Er hat, bis auf ein paar ihm heute peinliche kitschig-romantische Anfänge, immer mitten aus sich heraus geschrieben. Seine Sprache muss durch dieses eigene, schwierige Leben in eben dieser Zeit hindurch. Anders kann man nicht schreiben. Oder es wird unerheblich.

Wahrscheinlich sind alle Leute, die ihn hier beobachten, die ihm beim Versuch, zu leben, zusehen, Diebe, heimliche Schriftsteller, Verrückte, Drogensüchtige auf der Suche nach Stoff.

Der Gedanke liegt nicht ganz fern: Henri Michaux, der so kluge wie sonderbare belgische Surrealist, den Celan für den »größten lebenden französischsprachigen Schriftsteller« hält, hat unter Aufsicht Experimente mit Rauschgift veranstaltet, hat sich, wie für alle Extreme, auch für den Wahnsinn begeistert. Michaux hat Celan schon in Épinay besucht. In St. Anne war er bei der Behandlung von Patienten mit dabei. Er hat Gisèle die Klinik empfohlen.

Michaux kann ihm nur Gutes wollen. Celan hat ihn vergangenes Jahr gemeinsam mit Kurt Leonhard übersetzt. Er hat alle Texte gemeinsam mit Michaux ausgewählt. Es ist eine schöne Sache geworden.

Celan lächelt scheu vor sich hin. Michaux’ kurze Erzählungen sind Blicke in genau diese Gänge. Als Celan sie las, draußen, in der Rue de Longchamp, im feinen 16. Arrondissement, wo die drei Celanier nach der Versöhnung mit Gisèles katholischer Mutter ihr Zelt aufschlagen durften, wurde dem Dichter, in seinem kleinen Dienstboten- und Arbeitszimmer, beinahe schwindlig. Ein Verrückter, dachte er sich.

Manchmal bleiben gewisse Worte wie Türme stehen. Ich muß wiederholt auf sie losgehen, und wenn ich in meinen Verwüstungstaten schon weit fortgeschritten bin, da, plötzlich, an der Kehre eines Gedankens, erblicke ich wieder diesen Turm. Also hatte ich ihn nicht weit genug niedergerissen, ich muß meinen Weg zurück gehen, muß das richtige Gift für ihn finden, und so verbringe ich eine endlose Zeit.

Woran hat Michaux gedacht, als er das schrieb? An Autoren, an ihre Übersetzer?

An der Kehre eines Gedankens.

Wenn Celan Heidegger trifft, könnte er ihn fragen, ob Kurt Leonhard »détour« hier mit dem Heidegger-Wort »Kehre« übersetzen durfte. Das muss ihm gefallen, auch wenn man hier auch Abzweigung, Umweg und anderes hätte schreiben können.

Ob Heidegger seine eigene wichtigste Kehre geschafft hat? Weg von den Nazis? Ist er nicht etwa noch mitten drin?

Dass Celan zum ersten Mal länger aus der Anstalt hier herausgelassen wird, ausgerechnet, um in Freiburg eine Lesung zu halten und einen Philosophen zu treffen, für den die Nazis einmal Teil seines erhofften Deutschlands waren, der sich ihnen eine Zeit lang konsequent angedient hat, kommt Celan wie ein böser Scherz und Schicksal zugleich vor.

Womöglich hat es auch damit zu tun, dass der zweite Dichter, der dafür verantwortlich ist, dass Celan in St. Anne eine vergleichsweise gute Behandlung genießt, ein Heidegger-Freund ist: René Char.

Aber wie viel weiß Char, ein großer, kräftiger Mann mit massigem Kopf, der bekannte Poet und Résistance-Kämpfer aus der Provence, von den politischen Fehltritten seines kleinen oberschwäbischen Philosophen-Freundes?

Heidegger und er sollen idyllisch unter einem Kastanienbaum in Paris-Ménilmontant gesessen haben. Die Stimmung soll bestens gewesen sein. Jean Beaufret, ein als Deutschlandfreund und -kenner bekannter und berüchtigter Résistance-Kollege Chars, der Heidegger schon 1946 besucht hat, habe pausenlos geredet. So hätten die beiden Zeit gehabt, sich anzusehen. Vielleicht hat das schon gereicht.

Vergangenes Jahr hat Heidegger ihn zum ersten Mal in Südfrankreich besucht. Ob Char ihn da nach seiner Vergangenheit gefragt hat? Wahrscheinlich hat er Heidegger gar nichts gefragt. Wenn man ihn nicht zwingt, eine Waffe in die Hand zu nehmen, ist Char zu gutmütig. Dabei könnte er alles fragen: 1,92 groß, Fallschirmoffizier, Verbindungsmann der Résistance in Algerien, Kommandeur einer Widerstandsgruppe in Südfrankreich, Deckname »Alexandre«. Char hat genug Selbstbewusstsein, sich nicht kleinmachen zu lassen. Daneben sieht Heidegger wie ein Stumpen aus. Und er, Paul Celan, wie Chars schmächtiger Neffe.

Beaufret und seine Freunde haben Heidegger in Freiburg abgeholt, in die Provence kutschiert und dort wie einen privaten Staatsgast empfangen. Der Aufenthalt entwickelte sich »spontan« zu einem »Seminar«, in der Mitte der ehrfürchtig bestaunte weise Zwerg aus dem deutschen Wald, drum herum neugierige Franzosen. Char und Heidegger haben zusammen gelacht. Es ist ein schönes Foto geworden. Aber ob sie gesprochen haben?

Char hat schon 1944/1945 in Hypnos, seinem zerstückelten, aphorismenhaften »Bericht« aus dem Widerstand geschrieben:

Bildhaft gesehene Zeit ist aus den Augen verlorene Zeit. Sein und Zeit sind zweierlei. Das Bild, wenn es über Sein und Zeit hinaus ist, strahlt und ist ewig.

Das Bild ist die Sprache der Dichter. Hat Char da auf seine Weise den Vorrang der Poesie vor der Philosophie behauptet? Man kann die Passage als Chars Interesse an einem Gespräch mit Heidegger verstehen.

Celan hat Hypnos übersetzt. Aber er traut Char nicht ganz. Er weiß, dass er Claire Goll mindestens flüchtig kennt. Es ist gespenstisch. Die eine bringt ihn in die Psychiatrie, der andere sorgt dafür, dass er dort anständig behandelt wird. Ein gefährliches Pärchen. Ob sie sich abgesprochen haben?

In St. Anne kennt Char den Direktor und seine Frau. Das heißt, Char hat ein Verhältnis mit ihr. Char, von Gisèle darüber unterrichtet, dass Celan in ein 17er-Zimmer in St. Anne überwiesen worden ist, hat an Pierre Deniker und sie geschrieben und ihr eine französische Ausgabe der Niemandsrose geschickt. Marie-Madeleine Delay, auf einer Fotografie anlässlich einer Ehrung ihres Mannes elegant und schön wie eine Frau aus den Modejournalen der Zeit, ist begeistert von der »großen und schrecklichen Schönheit« von Celans Gedichten. »Ein Mann«, schreibt sie über Celan, »der zu Jeans Familie gehören könnte«!

Es hat schon seinen Grund, dass sich die Beziehung zwischen Celan und Char etwas abgekühlt hat. Dieser »einfache Mann« spricht ihm zu gern von sich selbst, seiner lästigen Berühmtheit und er ist nicht allzu wählerisch in seinen Kontakten.

Immerhin hat Char aus seiner Zeit in der Résistance keine Erbauungsprosa gemacht. Da ist nicht alles präzise austariert, aber gerade deswegen lässt es die provisorische, gefährliche Existenz, von der Hypnos erzählt, erleben. Manchmal sind es tiefe Sätze, manchmal nur rasche Bemerkungen, Beschreibungen, kaum zu unterscheiden von dem, was passiert ist.

Mein eingegipster Arm verursacht Schmerzen. Grand Sec, unser guter Doktor, ist damit wunderbar fertiggeworden, trotz der Schwellung. Ein Glück, daß mein Unterbewußtes den Fall so geschickt zu steuern verstand. Sonst wäre mir die abgezogene Granate wohl in der Hand explodiert.

Mal geht es glücklich aus, mal nicht.

Entsetzlicher Tag! Ich habe, aus wenigen hundert Meter Entfernung, der Hinrichtung von B. zugesehen. Ein Druck auf den Abzug meiner Maschinenpistole und er hätte gerettet werden können! Wir waren auf der Anhöhe oberhalb Céreste, die Büsche strotzten vor Waffen, an Zahl waren wir der SS mindestens ebenbürtig. Die zudem nichts von unserem Vorhandensein ahnte. Den Augen ringsum, die um das Signal, das Feuer zu eröffnen, flehten, antwortete ich mit einem Kopfschütteln ….Die Junisonne fuhr mir eisig in die Knochen.

Er fiel, als habe er seine Mörder gar nicht gesehen; und so leicht, schien mir, als hätte der leiseste Hauch ihn vom Boden hinwegheben können.

Ich habe das Signal nicht gegeben, weil das Dorf um jeden Preis verschont bleiben mußte.

Ein Dorf – was ist das? Ein Dorf wie jedes andere auch? Vielleicht hat er das gewußt in diesem letzten Augenblick?

Wahrscheinlich hätte Celan Char schon lange anrufen sollen, wie er es sonst immer mal wieder getan hat, und sagen, er wäre gern dabei, wenn »Sie beide zusammen denken«. Oder so ähnlich. Damals, 1955, nach dem ersten Treffen mit Heidegger unter Kastanienbäumen, hat Char ihm begeistert geschrieben.

Lieber Paul Celan,

ich hatte das Vergnügen letzte Woche lange mit Heidegger zu sprechen, der in Paris auf der Durchreise war. Ich war überwältigt, von ihm, wie von seiner Philosophie, die der Dichtung gegenüber so offen ist. Seine Einfachheit. Seine Aufmerksamkeit, die er auf das Empfangen verwendet wie auf das Geben, ist heute etwas sehr Seltenes. Er schätzt Ihre Gedichte außerordentlich und kennt Ihre Werke sehr genau.

(Ü.: H.-P. K.)

Dabei – Celan lächelt wieder böse – kann Char kein Wort Deutsch.

Celan hat es schwerer. Er kann nicht einfach so tun, als ob er nichts von Heideggers »Sünden« wisse. Sie sind zu offensichtlich. Die gemeinsame Sprache ist da ein Hindernis. Und Char ist, genau betrachtet, ein Sieger. Er hat dazu beigetragen, die Deutschen aus Frankreich zu vertreiben, und Hitler und seine Kumpane haben sich umgebracht. Nazideutschland gibt es nicht mehr. Die kleiner gewordenen deutschen Staaten geben sich nach außen hin reumütig bieder oder, wie die DDR, gar »antifaschistisch«: Char kann dem unterlegenen einstigen Eiferer Heidegger mit Großmut entgegenkommen.

Celan ist kein Sieger.

Er könnte Heidegger fragen, wie er die »Todesfuge« verstanden hat. Oder er könnte doch mit dem Thema Char beginnen, auf den Widerstand zu sprechen kommen. Wo Heidegger sich da verorten würde? Aber das wäre zu böse.

Was will Char mit Claire? Wenn der Mann in Socken, der immer noch vor seinem Pfleger durch die langen Gänge von St. Anne geht, nur an sie denkt, wird ihm schlecht. Sie hat beinahe alle Freunde von ihm abfallen lassen. Wenn er ehrlich ist, denkt er manchmal, dass er keine mehr hat. Claire hat versucht, ihn zu ruinieren. Und leider ist es ihr wahrscheinlich gelungen. Sein Stolz verbietet ihm, daran zu denken, dass Claire aus ihm diesen Mann in den Gängen gemacht hat.

Manchmal ist er erstaunt, dass er in Deutschland noch immer hochgehalten wird. Dass er noch eingeladen wird, dass er auch in Freiburg wieder öffentlich auftreten soll!

Das Schlimmste, aber auch das Gewöhnlichste an Claire ist, dass sie die hässliche Rolle der »jüdischen Kollaboration« erfüllt, wie Celan es einmal ausgedrückt hat. Aber sie hat ja auch geschrieben, ihrer Mutter sei es recht geschehen, dass sie ins KZ gekommen sei. Sie habe ihre Tochter brutal erzogen. Und jetzt lässt Claire die alten Nazikritiker und ihr Opfer »Paulchen« nach ihrer Pfeife tanzen. Beinahe müsste man sie bewundern.

Char muss blind sein, dass er sich mit dieser Frau auf irgendeine Weise eingelassen hat. Es hat schon seine ausgleichende Gerechtigkeit, wenn er jetzt dafür sorgt, dass es Celan in St. Anne wahrscheinlich nicht so schlecht ergeht wie manch anderen.

Ob Gisèle gewusst hat, dass Char auch mit der hübschen Madame Delay ein Verhältnis hat? Delay selbst stört das vermutlich nicht. Er gilt als fanatischer Arbeiter, der um neun ins Bett geht, damit er um vier aufstehen kann. Und er ist doch auch ein Grandseigneur, der den Damen die Hand küsst. Vermutlich hat er seine eigenen Affären.

Das Schönste aber: Auch der Direktor von St. Anne ist eine Art Schriftsteller. Jean Delay hat schon ein mächtiges dreibändiges Werk über das Leben des Nobelpreisträgers André Gide verfasst, über die Psychologie des »Immoralisten«. Als ob ein Immoralist Psychologen und Psychiater bräuchte, sich wieder anpassen wollte! So einer hat sich von der Gesellschaft verabschiedet. Aber es stimmt, dass das Amoralische beim tief bürgerlichen Gide nur eine Attitüde ist.

Gerade eben noch hat der Mann in Socken am Ende der Audienz zu hören bekommen, dass Delay selbst fantastische Erzählungen geschrieben hat: Die graue Stadt, unter Pseudonym. Er arbeite gerade auch an einem Nachwort zum neuen Roman seines Akademie-Kollegen Henry de Montherlant: Ein Mörder ist mein Herr und Meister.

Delay schien Celan dabei so vor- wie nachsichtig anzuschauen. Deniker war auch dabei und hat sich nicht gerührt. Celan wusste nicht, was er sagen sollte. Unheimlich ist ihm vor allem, dass Delay und er sich erstaunlich gleichen. Delay ist größer, aber das sanfte, länglich-runde Gesicht ist ähnlich, bei Delay nur etwas schärfer geschnitten. Ist er ein überlegenes Spiegelbild, das seine Dämonen besser kontrollieren kann?

Sicher wird Delay bald auch ein Buch über ihn ins Auge fassen, ein Werk über den armen Juden Paul Celan. Kennen Sie den? Ein Hochbegabter! Die Deutschen haben ihn beinahe umgebracht, jetzt halten sie ihn für einen der größten Dichter des 20. Jahrhunderts. Ich kann das nicht beurteilen, aber meine Frau sagt, er sei gut. Er ist hier Patient. Ein faszinierender Fall! Meistens kümmert sich der junge Dalle um ihn. Er hat Verständnis für Künstler, Dalle ist selbst so ein »Nonkonformist«.

Jetzt lasse ich den Antschel nach Deutschland. Celan? Nein, Antschel! Sie haben ihm die offizielle Namensänderung abgeschlagen. Obwohl er schon lange Franzose ist. Das hat ihn mitgenommen, aber es macht doch nichts. Ich schreibe ja auch oft als Faurel und heiße Delay. In Deutschland will Celan einen Giganten treffen: Martin Heidegger, den Bauern unter den Philosophen, kennen Sie den?

Wenn Hannah Arendt über Heidegger einmal geschrieben hat, dass er in den 1920er-Jahren als »heimlicher König« der Philosophie galt, so ist Delay in den 1960er-Jahren in Paris der repräsentierende König der Psychiatrie.

Jeden Dienstag, wenn er einem interessierten Publikum ausgewählte Fälle vorführt, entwickelt Delay einen ganz besonderen, sanft majestätischen Pomp.

Madame Suzanne legt ihm vorsichtig einen offenen blauen Mantel über die Schultern, dessen helle Tönung ideal mit dem makellosen Weiß seines Hemds korrespondiert. Um Punkt 11 Uhr tritt Delay, mit dem gut abgemessenen, ruhigen Schritt des Gelehrten, ins große Amphitheater seines Reichs, wo schon zweihundert Menschen dichtgedrängt warten. Meist Studenten, in den ersten Reihen aber auch würdige Herren und ein paar Damen im Pelz. Seine Mitarbeiter, der Hierarchie entsprechend aufgereiht, warten, bis Delay sich an den langen Tisch setzt, der die Mitte der Bühne besetzt, und seinen Mantel sorgsam wieder in die passende Position rückt. Nicht ohne dabei mit einer unauffälligen Bewegung seine, so scheint es, dezent blau gefärbten Wimpern sanft zur Seite zu streichen. Worauf ein im Vorhinein bestimmter Mitarbeiter mit lauterhobener, klarer Stimme den präzisen und gut dokumentierten, in die Tiefe gehenden Krankenbericht eines Patienten vorträgt, der nach dreißig Minuten selbst auftritt, Delay vorgestellt werden muss und von ihm dann, ebenso höflich wie respektvoll, genauso lange befragt wird, wie sein Interesse anhält. Nach dem Abgang des Patienten entwickelt der Meister seine Überlegungen, seine Meinung, seinen Ratschlag, den eine Assistentin, berückt vom Klang der gut modulierten Stimme, mit devotem Heben und Senken ihrer Schultern in Empfang nimmt. Wenn es Zeit wird, steht der Meister auf und geht, langsam die Kohorte seiner engsten Mitarbeiter anführend. Keine Fragen sind von den Hörern gestellt worden, keine Bemerkungen gemacht. Sie hätten das Ritual gestört.

(Ü.: H.-P. K.)

So schildert es Benoît Dalle, der sich in St.Anne am intensivsten mit Celan beschäftigt und, wie Gisèle mehrfach an Celan schreibt, viel Verständnis für ihn beweise. Aber auch Dalle wirkt von heute aus betrachtet schillernd. Mit der ironisierenden Schilderung des Königreichs Delay in seinem Buch Laissez parler les fous präsentiert er, der darin »die Irren sprechen lässt« und eine Menge Fälle vorstellt, aber über Celan kein Wort verrät, sich auf der Seite der damals neuen Zeit. Doch auch die Bestrebungen der Anti-Psychiatrie, die sich in diesen Jahren entwickelt und zu einigen Reformen des veralteten Systems führen wird, sind ihm vor allem Anlass zu Spott.

Bald werden alle Ärzte Celan nichts mehr angehen. Schon in ein paar Wochen wird er sie verlassen und mit Heidegger durch deutsche Wälder streifen. Er wird mit den Blumen und Kräutern sprechen, wird ihnen die Namen geben, die seine Mutter, Fritzi Schrager aus Sadagora bei Czernowitz, ihm damals vorgesprochen hat, und die Deutschen werden sich wundern.

Was dort oben blühen wird, Ende Juli? Türkenbund, Rapunzel, Prachtnelke? Celan weiß, dass er Schmetterlingstäler finden kann, Quellen, einsame, kräftige Bäche und Pfützen, um die sie sich tummeln. Er wird sich hinsetzen an einen Bach, wird sich umflattern lassen auf einer Lichtung, am Wasser, wird wieder ein Junge sein, träumen, langsam größer werden und doch immer dortbleiben wollen. Vielleicht gibt es auch einen Fluss, in dem man baden kann? Wie damals mit Malzia, Ruth und Ernst im Pruth, der durch Czernowitz fließt. Die Badefotos von 1934 zeigen einen strahlend-energischen vierzehnjährigen Paul, der sich mit seinen Freunden wohlfühlt. Aber das Wasser im Schwarzwald muss kühl sein. Immerhin: Es ist Sommer.

Vielleicht haben Delay, Deniker und Dalle nicht gelogen, und diese Woche in Deutschland ist tatsächlich der Auftakt zu seiner Freiheit? Celan hat gemerkt: Es ist einfacher geworden, sie zu überzeugen. Er hält sich nicht schlecht. Sie scheinen ihm zu vertrauen. Delay, der literarische Psychiater, und manchmal sogar Pierre Deniker, der kommende Mann, der, mit Delay zusammen, als der Erfinder von Psychopharmaka gilt. Auch er soll in der Résistance gewesen sein. Es ist fast wie in Deutschland …

Seit einiger Zeit kann Celan wieder in die Rue d’Ulm, hält dort seine Übersetzungskurse an der École Normale, als sei nichts gewesen. Aber abends muss er zurück. Ob er von Donnerstag auf Freitag draußen bleiben könne? Das ginge vielleicht. Sie müssen uns nur sagen, wo Sie übernachten, verstehen Sie?

Ja, Celan wird sich eine Wohnung suchen müssen, wenn er rauskommt. Oder bleibt er hier? Sich bei den Irren einrichten, wie Robert Walser, den Celan sehr schätzt? Er hat nicht die geringste Lust. Er muss raus! Auch, wenn sein Draußen wieder schwierig werden wird: Er muss zu Eric. Celanien ist seine einzige Chance. Er wird es auch diesmal schaffen und nie mehr zurückkommen.

Manchmal geht Celan zu den Bollacks. Der charismatische Elsässer Jude Jean Bollack, ein wirkungsmächtiger Professor für griechische Kultur, ist ein Charakterkopf mit wildem Haar und sehr von sich überzeugt. Celan ist er »zu eitel«, wie er in seinen Tagebüchern schreibt, aber Bollack kommt aus Straßburg und kann Deutsch. Er ist einer der wenigen hier, die Celans Gedichte im Original lesen können. Auch wenn sich Bollack in seinem Urteil meist bedeckt hält. Celan berührt das Thema lieber nicht. Es reicht ihm, dass er weiß, dass einer ihn liest. Oder lesen könnte. Mit Mayotte, Bollacks Frau, damals Lateinlehrerin, kann Celan über Erics Schwierigkeiten mit ihrem Fach sprechen.

Eine Weile lang geht es um die Frage, ob Eric wiederholen soll – oder soll er in den neusprachlichen Zweig wechseln? So kleine Sachen sind manchmal schön. Da kommt sich der Verrückte in Socken wieder wie ein richtiger Vater vor.

Neulich hat Celan Bollack auch von dem möglichen Treffen mit Heidegger erzählt. Plötzlich hat beide die Wut gepackt. Am Ende waren sie sich einig, dass man Heidegger »vor Gericht« stellen müsse! Aber das wird niemand einfach so tun. Das wird Celan schon selbst machen müssen.

Der direkte Kontakt hat sich per Zufall ergeben. Der junge Neumann aus Freiburg hatte von Heidegger erzählt. Er habe nach dem Krieg zwar einige Jahre lang nicht unterrichten dürfen, aber inzwischen sei er in Einzelvorträgen immer wieder zu hören. Er habe nach wie vor gewaltigen Zulauf. Baumann, Neumanns Doktorvater, sei gut mit ihm bekannt. Heidegger, muss Celan sich gedacht haben, das ist der Nazirektor, dessen Bücher ich seit zwanzig Jahren lese.

Elmar Tophoven, ein freundlicher Mann vom Niederrhein, immer darauf bedacht, neue Verbindungen herzustellen, musste Celan gut zureden: »Jetzt könnten Sie ihn kennenlernen. Wenn er doch wichtig für Sie ist! Vielleicht können Sie mit ihm wirklich sprechen!« Ob Celan Heidegger seine Bewunderung ausdrücken soll? Oder seine Verachtung? Oder beides? Er muss Heidegger darauf ansprechen, wie er es heute mit den Juden hält. Wie es damals war und warum?

Aber werden sie überhaupt alleine sprechen können? Celan kann sich noch immer nicht vorstellen, wie sich dieses Treffen in Freiburg gestalten wird. Ja, er muss Heidegger dazu bringen, Stellung zu beziehen. Wird Heidegger sich anbiedern, oder wird er versuchen, ihn kommen zu lassen? Je länger Celan nachdenkt, desto nervöser wird er. Vielleicht sollte er die ganze Sache lassen?

Er wird den Deutschen klarmachen müssen: Diese Reise ist in erster Linie Geschäft, Orientierung zwecks Bestätigung des neuen Verlagsverhältnisses. Celan hat sich entschieden, von S. Fischer wegzugehen und bei Suhrkamp neu anzufangen. Siegfried Unseld macht Celan den Eindruck, er werde im Kampf gegen Claire zu ihm stehen. Er kann diesen großen, kräftigen Kerl brauchen.

Nein, es darf keinen bedingungslosen Frieden mit Heidegger geben. Er hat Bollack gegenüber angedeutet, dass er mit Heidegger in einem Hochmoor wandern gehen will. Um dort auf seine Aussagen zu warten.

Zufällig hat er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Bericht über eine Inszenierung von Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches gelesen und darin vom Kampf der Moorsoldaten erfahren. Es geht um untereinander zerstrittene Anhänger verschiedener Parteien der Weimarer Republik, die im KZ gelandet sind, um dort im Moor zu arbeiten – wie die realen Vorbilder im KZ Börgemoor im Emsland, die das »Lied der Moorsoldaten« geschrieben haben. Alle sind sie Regimegegner und können sich noch immer nicht über den Kampf gegen Hitler einigen. Immer droht die Gefahr, dass sie mit ihren Schaufeln im Moor aufeinander losgehen. Bollack hat ihn mit großen Augen angeschaut. Er hat nicht ganz verstanden, was Celan vorhat.

Dass Celan Freigänger ist, darf er niemandem erzählen, den Deutschen dort unten erst recht nicht. Sonst halten sie ihn für verrückt. Aber sicher wissen sie es. Sie haben ihre Kanäle, noch immer. Seit Celan erlebt hat, wie die deutsche Presse mit Claires Plagiatsvorwürfen umgegangen ist, wie sie ihr immer wieder geholfen hat, die Gerüchte über die Jahre am Leben zu erhalten, ist jeder Gedanke an Deutschland wieder mit Misstrauen besetzt.

Fünf Tage vor seinem Selbstmordversuch im Januar hat Celan Claire Goll zufällig im Goethe-Institut getroffen. Er musste den Raum sofort verlassen und hat dem Leiter des Instituts geschrieben, in ein Haus, in dem sie verkehrt, könne er nicht mehr kommen. Er darf nicht mehr an Claire denken.

Es fallen Celan hundert verschiedene Szenarien für die paar Tage in Deutschland ein, die er alle wieder verwirft. Man müsste all das berechnen können. Aber man kann nichts berechnen. Gar nichts.

3

EINE LIEBE UND IHRE FOLGEN. WIE PAUL CELAN ÜBER INGEBORG BACHMANN ZU MARTIN HEIDEGGER KAM

Das fehlende »Glück« Celans beim Gedanken, Heidegger Grüße auszurichten, ihn ansprechen zu müssen, und die alternierende Lust darauf, ihn persönlich zu treffen, haben mit der öffentlich lange nicht bekannten, wechselvollen Beziehung zu tun, die sich zwischen zwei der wichtigsten, aber auch geheimnisvollsten deutschsprachigen Dichter und Denker über ein Vierteljahrhundert entwickelt hat, ohne dass die beiden sich bis zu dem geplanten Treffen in Freiburg gesehen hätten.

Zum ersten Mal liest Celan den Namen Heideggers schon 1943, offenbar in einer Zeitung in seiner Heimatstadt Czernowitz, die damals unter der Herrschaft der rumänischen Militärregierung von General Antonescu steht, einem Verbündeten Hitlers. Der Abschnitt aus Sein und Zeit, der in der Zeitung abgedruckt gewesen sein soll, wird von Celan nie näher benannt, aber laut Otto Pöggeler, dem Bochumer Philosophen, der mit Celan wie mit Heidegger gut bekannt war, vergisst Celan den Eindruck nicht. Sein frühes Gedicht »Ein Krieger«, verfasst am 2. April 1943, zeige Spuren der Lektüre. Tatsächlich findet man darin, neben Stil- und Motivparallelen zu Rilkes Cornet, den Gedanken vom existenzbestimmenden, individuellen »Sein zum Tode«, abgesetzt vom Tod als lautem Massenphänomen:

Hörst du: ich rede zu dir, wenn schwül sie das Sterben vermehren.

Schweigsam entwerf ich mir Tod, leise begegn ich den Speeren.

(…)

Ich steh. Ich bekenne. Ich ruf.

Einige Jahre später erhält die Verbindung zu Heidegger für Celan einen konkreteren Anlass. Im Dezember 1947 schlägt er sich zu Fuß und mithilfe von Schleppern von Bukarest aus über Budapest in Richtung Österreich durch, geht im burgenländischen Schattendorf über die Grenze und trifft etwas später in Wien ein, dessen Nachkriegsatmosphäre in Orson Welles’ Filmklassiker Der dritte Mann wohl bis heute am plastischsten wird.

Eine überraschende, aber wirklichkeitsgesättigte Schilderung von Celans Existenz in dieser Zeit liefern seine damaligen Freunde Milo Dor und Reinhard Federmann in ihrem Spionageroman Internationale Zone