Totenkuss - Uta-Maria Heim - E-Book

Totenkuss E-Book

Uta-Maria Heim

3,0

Beschreibung

Da zieht´s dir doch die Schuhe aus mitsamt den Socken! Der rote Karle hockt mit 86 im hintersten Schwarzwald und traut seinen Augen nicht: Der Serienmörder Olaf Hahnke ist aus der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim ausgebrochen. Ein Skandal bahnt sich an, von Schorndorf über den Gardasee bis hinunter in die Toskana. Ein Pädophiler wird überfallen und erpresst. Er glaubt, Olaf Hahnke zu kennen. Damit ist er nicht allein. Jeder scheint mit ihm zu tun gehabt zu haben. Und Kriminalhauptkommissar Timo Fehrle träumt davon, endlich den Fall seines Lebens zu lösen: er will den Mord an seiner Schülerliebe Petra aufklären. Aber die Einzige, die schonungslos durchblickt, ist Rosa, Karles unbarmherzige Schwester. Sie kommt aus einer Totengräberfamilie und kennt sich aus in der Rechtsmedizin. Sie weiß, schuld an allem ist der Totenkuss: ein Aberglaube, der in früheren Zeiten ganze Dörfer das Fürchten gelehrt hat.

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Titel

Uta-Maria Heim

Totenkuss

Kriminalroman

Impressum

Dies ist ein Kriminalroman.

Personen, Orte und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten wären zufällig und

sind völlig unbeabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2010

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Korrekturen: Doreen Fröhlich

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Jacqueline Clarke / sxc.hu

ISBN 978-3-8392-3486-0

Widmung

Für A.

In memoriam Hedwig Helene Heim,

geb. Fix (1925–1983)

Zitat

Er. Fieberschauer mich durchbeben.

Sie. Wahnsinn bringt der Toten Kuß.

Er. Weh! es bricht mein junges Leben!

Sie. Mit ins Grab hinunter muß.

Joseph von Eichendorff, Das kalte Liebchen

Remember, Robert, in life anything can happen.

Even if you don’t have all the things you want,

be grateful for the things you don’t have that you don’t want.

Vater Dylan, zitiert nach Sohn Bob

Schauen, Schauen, Schauen. Und nie das Erstaunen vergessen. Wir sind nicht da, um zu richten. Wir sind da, um zu erzählen. Wir sind nicht da, um Rätsel zu erklären, wir müssen Rätsel erfinden. Die Lösung ist immer irrelevant.

Friedrich Glauser am 2. März 1936

in einem Brief an Martha Ringier

»In den nächsten Jahren werden rund 45 Millionen Euro in den Ausbau und die Modernisierung der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim investiert. Die neue Torwache schafft die Voraussetzungen für eine qualitätsvolle und zukunftsfähige Entwicklung. In fünf Jahren wird hier praktisch eine völlig neue Justizvollzugsanstalt entstanden sein.« Das sagte Baden-Württembergs Justizminister Prof. Dr. Ulrich Goll (FDP) bei der Einweihung des nach rund zweieinhalbjähriger Bauzeit neu entstandenen Torwachgebäudes in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim.

Der Neubau der Torwache der JVA Stuttgart sei nur der erste Schritt einer grundlegenden Umstrukturierung der größten Untersuchungshaftanstalt des Landes, erklärte Goll. Nächstes Frühjahr werde mit dem Bau von fünf neuen Haftplatzgebäuden auf dem arrondierten Anstaltsgelände begonnen. Sie sollen im Jahre 2013 in Betrieb genommen werden. »Dann ist die Zeit gekommen, den erheblich sanierungsbedürftigen Bau 1 mit dem Hochhaus und dem 7. Stock, in dem auch die RAF-Gefangenen saßen, abzureißen«, erklärte Goll. Ausschlaggebend dafür seien wirtschaftliche Erwägungen. Eine Sanierung des Hochhauses käme wesentlich teurer als dessen Abriss und der Neubau von fünf Gebäuden. Im Übrigen wäre das Hochhaus als Denkmal auch gänzlich ungeeignet. »Es entspricht baulich nicht einmal mehr ansatzweise dem früheren Zustand«, stellte der Minister klar. Ab dem Jahr 2013 könnte anstelle des Hochhauses die Nachfolgeeinrichtung des Justizvollzugskrankenhauses mit Vollzugspsychiatrie entstehen. Diese sei derzeit noch unter räumlich und sicherheitstechnisch ungünstigen Bedingungen auf dem Hohenasperg untergebracht, erläuterte der Minister.

Bis zum Jahr 2015 wolle das Land 285 Millionen Euro in die Neuordnung der Vollzugslandschaft Baden-Württemberg im Rahmen des Programms »Justizvollzug 2015« investieren. »Durch diese Investitionen lösen wir Strukturprobleme, die durch eine Vielzahl kleiner, alter und damit unwirtschaftlich zu betreibender Anstalten gekennzeichnet sind. Zudem verbessern wir die Unterbringungssituation im Baden-Württembergischen Justizvollzug und setzen wichtige Impulse für unsere Wirtschaft und den Erhalt von Arbeitsplätzen«, so Goll. »Den Abschluss des Programms soll der Neubau einer Justizvollzugsanstalt in Rottweil bilden. Auch an diesem Projekt halten wir weiterhin fest«, erklärte der Minister.

Auszug aus einer Medieninformation

des Justizministeriums Baden-Württemberg

vom 27. Oktober 2009

PROLOG

Sein Atem pfiff, seine Lungen brannten, und ihm tat das Bein weh. Das war normal, nach dem Sprung. Nach dem Sturz, weil er nicht sauber gelandet war. Jetzt aber flog er, verfolgt vom wabernden Licht der Scheinwerfer, hinaus in die Nacht. Er dachte an nichts, außer an den Takt seiner Beine und die schmerzenden Stöße seines Atems. Geblendet vom Dunkel lief er eine Straße entlang, hinein in einen unebenen Feldweg, nach ungefähr 200 Schritten um die Kurve, dann immer weiter geradeaus auf dem Schotter. Er hatte sich die Strecke auf der Karte genau eingeprägt. Er zählte mit den Schritten die Meter, warf den Kopf in den Nacken und zwang sich, noch schneller zu laufen, obwohl er Seitenstechen hatte, lähmendes Seitenstechen, und seine Lunge schier platzte. Während er rannte, wuchs er über sich hinaus, und er spürte, wie er immer größer wurde, seine Arme streckten sich ins Geäst der Bäume hinauf, und der Mond war der leuchtende Abdruck seines Daumennagels, der sich in den Himmel ritzte.

Stuttgarter Tagblatt online, Montag, 05.05.2008

Gefährlicher Serienmörder auf der Flucht

Nach Olaf Hahnke wird international gefahndet – Weiterhin erhebliche Sicherheitslücken in der Vollzugsklinik auf dem Hohenasperg – Justizministerium räumt Panne ein.

ASPERG/STUTTGART (kon). Der dreifache Mörder Olaf Hahnke (38) ist aus dem Vollzugskrankenhaus Hohenasperg (Kreis Ludwigsburg) entkommen. Wie aus ermittlungstechnischen Gründen erst jetzt bekanntgegeben wurde, überkletterte er in der Nacht von Samstag auf Sonntag einen sechs Meter hohen, mit Schneidedraht versehenen Zaun. Hahnke, der in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim seine Haftstrafe zu verbüßen hat, war wegen eines schweren Bandscheibenvorfalls nach Hohenasperg verlegt worden. Dort nutzte er umgehend eine bekannte Schwachstelle im Sicherheitssystem für seine spektakuläre Flucht. Trotz eines Großeinsatzes der Polizei mit mehreren SEK- und MEK-Einheiten konnte der gefährliche Gewaltverbrecher bislang nicht wieder aufgegriffen werden. Die letzte Spur lieferte eine Wärmebildkamera in einer Kleingartenanlage, wo Hahnke dem Vernehmen nach ein schwarzes Herrenfahrrad der Marke Peugeot entwendet hat. Damit soll er, wie jugendliche Zeugen aussagen, Richtung Stuttgart gefahren sein. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist ungeklärt. Gegen den Ausbrecher wurde umgehend ein internationaler Haftbefehl erlassen.

2005 ist Olaf Hahnke für drei Sexualmorde, die er 1994, 1999 und 2003 verübt hat, zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Auf Campingplätzen in Bayern und am Bodensee hatte er drei junge Frauen sexuell missbraucht und getötet, die zum Teil mehrfach körperlich und geistig behindert waren. Weil er seine Opfer zudeckte, nannte man ihn auch den Mantelmörder. Nach dieser Zeitung vorliegenden Informationen soll der Serientäter auch in Zusammenhang gebracht werden mit dem Mord an der 15-jährigen Petra Clauss, einer Arzttochter aus Schramberg. Die Leiche des Mädchens war 1984 im Stuttgarter Rosensteinpark auf drei Koffer verteilt aufgefunden worden, sie wurde jedoch irrtümlicherweise mit einer falschen Identität begraben. Erst vor zwei Jahren konnte Petra im Zuge eines erfolgreichen DNA-Abgleichs identifiziert werden. Der Altfall wurde neu aufgerollt. Zum Stand der Ermittlungen machten das Stuttgarter Polizeipräsidium sowie das baden-württembergische Landeskriminalamt keine Angaben. Die angeblichen Verdachtsmomente im Hinblick auf Hahnke, so ein LKA-Sprecher, seien reine Spekulation.

Nach dem Ausbruch eines gewalttätigen Räubers aus dem Gefängniskrankenhaus im vergangenen April ist dies nun schon die zweite geglückte Flucht. Wie aus dem Justizministerium in Stuttgart verlautete, soll nach dieser erneuten Panne die Fertigstellung des neuen Krankenhausgebäudes auf dem Stammheimer Gelände forciert werden. »Die Mängel in der Außensicherung sind seit Jahren bekannt«, räumte eine Pressesprecherin ein und fügte hinzu: »Das alte Gemäuer auf dem Hohenasperg lässt sich nicht mit Sicherheitstechnik aufrüsten.«

Nicht nur der Justizapparat, sondern auch die Ermittlungsbehörden sind in diesem Zusammenhang stark unter Beschuss geraten, was ein Sprecher der Staatsanwaltschaft harsch zurückwies. Seitens der Strafverfolgung seien hier keine Fehler gemacht worden. Die verantwortlichen Stellen im Strafvollzug halten sich indes mit Kommentaren zurück. Justizminister Ulrich Goll (FDP) war zu keiner Stellungnahme bereit. Mehrere Kabinettsmitglieder forderten angeblich seinen Rücktritt, äußerten sich allerdings nicht vor der Presse.

Nach Verbreitung der Nachricht im Internet gab es in Stammheim Randale: Sogenannte Neospontaneisten umstellten den ehemaligen Hochsicherheitstrakt, in dem in den siebziger Jahren etliche RAF-Terroristen untergebracht waren. Die Neospontis, ein Schmelztiegel aus Anarchisten, Ökochaoten und Neuen Linken, drangen in den Eingangsbereich ein und bekannten sich trotz ihrer staatsfeindlichen Aktion zu ganzheitlichem Widerstand und zur Gewaltfreiheit. Trotz der skandalösen Vorgänge auf dem Hohenasperg riefen sie den Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster dazu auf, den geplanten Abriss des Hochsicherheitsgebäudes zu verhindern und auf das neue Gefängniskrankenhaus, das auf dem Gelände gebaut werden soll, zu verzichten. Sie forderten, den gesamten Trakt unter Denkmalschutz zu stellen und darin ein »Museum des Deutschen Herbstes« zu errichten. Schuster war in dieser Sache, für die er unzuständig sei, bislang nicht zu sprechen.

Auch in den Räumen des Innenministeriums in der Dorotheenstraße ist es ungewöhnlich still. Für offizielle Stellungnahmen ist hier keiner zu erreichen, während zirka 50 erlebnisorientierte und teilweise gewaltbereite Demonstranten die angespannte Situation nutzen, um auf weitere Belange aufmerksam zu machen. Das Bürohaus, das in den fünfziger Jahren auf dem Gefängniskeller vom Hotel Silber, der vom Bombenhagel zerstörten Zentrale der Gestapo, hochgezogen wurde, soll abgerissen werden. Es ist in den letzten Wochen immer wieder in die Schlagzeilen geraten, weil ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben wird, um das Viertel neu zu ordnen und aufzuwerten (wir berichteten). Ein Dutzend Vereine und Initiativen fordern, dort stattdessen ein NS-Dokumentationszentrum einzurichten. Sie distanzierten sich von den Ausschreitungen, die »auf perverse Weise einen aktuellen Konflikt ausbeuten«.

Dass ein Regierungsgebäude des Landes seit bald 60 Jahren auf einem ehemaligen Gestapoquartier fußt, in dem massenhaft gefoltert und zum Tod verurteilt wurde, rückt nun erst ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung. Gerade junge Menschen radikalisieren sich. In rasender Geschwindigkeit vernetzen sie sich im Internet. Eine Protestwelle kündigt sich an. Bereits für die kommende Nacht werden Mahnwachen und Krawalle erwartet. Die Stuttgarter Innenstadt ist mit einem massiven Polizeiaufgebot bestückt, die Zugänge sind abgeriegelt. Mit einer Eskalation wird aber nicht gerechnet. Die Situation sei restlos unter Kontrolle. Dass in Baden-Württemberg eine Regierungskrise anstehe, dafür gebe es derzeit keine Anzeichen, erklärte Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU).

Dass die geglückte Flucht eines Schwerverbrechers aus dem Stammheimer Strafvollzug die öffentliche Ordnung derart destabilisiert, sorgt bei den Entscheidungsträgern für steigende Nervosität. Vorschnell wird die Verantwortung denen zugeschoben, deren Pflicht es ist, über die Missstände aufzuklären: den Medien. Sowohl aus dem Justizministerium wie auch aus dem Justizvollzug und aus Polizeikreisen wurden schwere Vorwürfe gegen die Berichterstattung in der Presse erhoben. Immer wieder seien im Zusammenhang mit den Missständen vertrauliche Details verhandelt worden, die dem Serienmörder Hahnke schließlich ein Rezept geliefert hätten. »Wer Zeitung lesen kann«, sagte ein Kriminalhauptkommissar, der nicht namentlich genannt werden möchte, »der wusste, wie man aus Stammheim rauskommt.«

Der Gesuchte: Olaf Hahnke, geboren am 14. Februar 1970 in Balingen, ist deutscher Staatsbürger. Er ist 1,86 Meter groß, schlank, sportlich. Er gilt als reaktionsschnell und verfügt über einen durchtrainierten Körper. Hahnke hat ein ovales Gesicht, dichte blonde Haare und blaue Augen. Keine Brille, keine unveränderlichen Kennzeichen. Er besitzt eine volltönende, tiefe Stimme und spricht Hochdeutsch mit schwäbischem Einschlag. Der Flüchtige hat ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert und war vor seiner Verhaftung in verschiedenen Berufen tätig. Zuletzt als Buchhändler, davor als Pressesprecher eines Pharma-Konzerns.

Olaf Hahnke trug bei seiner Flucht blaugraue Jeans, ein hellblaues Polo-Hemd, einen dunkelblauen Pullover, eine schwarze Jacke und weiße Tennisschuhe. Er hat sich bei seinem Sprung in die Tiefe möglicherweise verletzt. Dabei kann es zu Schürfungen, Prellungen oder Knochenbrüchen gekommen sein, die insbesondere seine Gehfähigkeit auffällig beeinträchtigen. Vielleicht ist er irgendwo untergetaucht, wo er medizinisch versorgt werden kann.

Vorsicht! Olaf Hahnke ist vermutlich bewaffnet. Obwohl davon auszugehen ist, dass er sich mit Tricks das Vertrauen von gutgläubigen Personen erschleicht, gilt er als ausgesprochen kaltblütig und skrupellos.

Für sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung des Gesuchten führen, ist eine Belohnung von 150.000 Euro ausgesetzt. Sie ist ausschließlich für Privatpersonen und nicht für Amtsträger bestimmt, zu deren Berufspflicht die Verfolgung strafbarer Handlungen gehört. Sie wird unter Ausschluss des Rechtswegs vergeben. Hinweise nimmt das Landeskriminalamt Baden-Württemberg entgegen oder jede andere Polizeidienststelle.

Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig vergessen, das war nötig; sonst verriet man sich, wenn sie drängten.

Rainer Maria Rilke,

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Sonntag, 4. Mai

# O Nacht ohne Gegenstände

Das Einfamilienhaus lag in der Nähe des Waldsaums nicht weit vom Dornhaldenfriedhof. Es stand geschützt in einer Einfahrt vor der Kehre, wo die Stäffele nach Heslach hinunterführten. Das flache Dach und die rechteckigen Fenster verrieten, dass der geräumige Bungalow in den sechziger Jahren gebaut worden war. Das kleine Grundstück war von hohen Hecken umsäumt und nirgendwo brannten Laternen. Trotz Halbhöhenlage gab es keinen Ausblick auf den Stuttgarter Kessel. Der Nachthimmel wurde nicht von künstlichen Lichtquellen verschmutzt. Nur schwach leuchteten einzelne Sterne. Die Schwärze war schier undurchdringlich. Es war beinahe Neumond und eine grashalmfeine Sichel ritzte den Himmel.

Gegen ein Uhr war das letzte Auto den Berg hochgefahren und abgebogen am Eck auf die Dornhalde. Seitdem war es still. Nirgendwo raschelte ein Igel, und die Vögel hatten noch nicht zu singen begonnen. Das einzige Geräusch kam von einer Katze, die vom Boden auf den schmalen Sims sprang und im offenen Klofenster verschwand. Die Nacht war fast lau, es war das erste warme Wochenende gewesen in diesem Jahr. Vorn an der Straße blühten schon bald die Kastanien. Tags hatten die Nachbarn im Liegestuhl gelegen und am Abend roch es nach Holzkohle.

Man konnte das angrenzende Grundstück schlecht einsehen, doch der Garten ging ebenfalls nach Süden hinaus, dem Wald zu. Das Haus stand wie dieses mit dem Rücken zur Stadt. Nebenan wohnte ein älteres Paar, das einen kläffenden Hund hatte, einen Terrier. Der war intelligent, beharrlich, auf hündische Weise unbeirrbar. Er besaß einen untrüglichen Jagdinstinkt. Den ganzen Abend hatte er auf der Terrasse gestanden und gebellt, und die Frau hatte sich bei den Gästen entschuldigt, die spitze Lacher ausstießen, während der Mann Mengen von Grillgut auf den Rost legte. Nachdem der Hund drinnen endlich verstummt war, lag der Nachhall seines Bellens noch eine Weile in der Luft.

Tagsüber wirkte das weißgetünchte Haus kalt, aber friedlich. Es strahlte eine zivilisierte Sicherheit aus. Der Hausherr, der es vor bald 50 Jahren hatte bauen lassen, war Arzt gewesen oder Architekt. Oder Steuerberater. Davon zeugte die dunkle Stelle auf dem Putz, seitlich neben dem Eingang. Das Schild war abmontiert worden. Inzwischen hatte er vermietet, verkauft oder vererbt, er war senil, dement oder schon unter dem Boden. Nichts deutete darauf hin, dass seine Frau oder Witwe hier noch lebte; allem Anschein nach bewohnte nur ein einzelner Mann mittleren Alters die große eineinhalbgeschossige Wohnung.

Nachts verlor die Wohngegend ihre Gediegenheit; sie vergaß ihr Versprechen von gutbürgerlichem Wohlsein. Aus der heilen Welt wurde eine unheilvolle Randlage, eine abseitige Struktur, die überaltert war und schon bessere Zeiten gesehen hatte. Unversehens fand man sich wieder in einer schutzlosen, verlorenen und trostarmen Umgebung, voller Selbstzweifel und Brüche, inmitten einer schleichenden, stummen Verwahrlosung. Die verkrüppelte Weide an der Einfahrt fing an zu flüstern. Sie sang tonlos ein garstiges Lied, bei dem es um Liebe und Tod ging, um die Toten, die keine Ruhe fanden. Aber niemand hörte auf sie. An der Mauer, die an der Wetterseite Moos angesetzt hatte, lehnte ein schwarzes Peugeot-Rad. Das Haus, das Schonung versprach, verwandelte sich in eine Falle.

Hinter dem Haus, der Stadt zu, stand ein Schuppen. Darin lagerten Gartengeräte, Schubkarren, Fahrräder, alte Spielzeuge, Leitern. Unterhalb des Ziegeldachs war ein Holzboden eingezogen. Dort oben hatten früher Kinder Verstecken gespielt. Man roch noch ihren Schweiß, man hörte noch ihr Kichern, das aus zugepressten Mündern platzte. Der Stauraum war leer, der Boden staubig und verdreckt. Eine Latte war locker, ansonsten war das wurmstichige Holz stabil. Durch das Giebelfenster hatte man einen direkten Blick ins Wohnzimmer, wo ein Laptop stand und in die Nacht leuchtete.

»Anita?«

»Mama!?«

»Ich weiß, es ist spät. Wie geht es dir? Was macht Bonnie?«

»Sie schläft. Uns geht es gut.«

»Wart ihr beim Hans?«

»Ja, das ganze Wochenende. Wir sind erst um halb zehn zurückgekommen.«

»Ich mache mir Sorgen.«

»Es ist alles in Ordnung.«

»Ich habe geträumt, dass ein Verrückter auf dich schießt.«

»Auf mich schießt schon keiner.«

»Du bist noch so jung.«

»Das ist relativ, Mama.«

»Wärst du bloß nie zur Polizei gegangen. Das ist doch kein Leben. Kein Mensch kann sich vorstellen, was eine Mutter da mitmacht. Ich warte auf den Tag, wo dir etwas passiert.«

O Himmel, fragst du dich, wer lebt denn noch, wenn alle warten? Du fragst mit Recht und müßtest, wenn du an deiner Definition des Lebens festhalten würdest, sagen: Niemand. Allein, du hast vielleicht voreilig definiert. Du bist doch Forscher und nicht Moralist, und trotzdem hast du das menschliche Verhalten an deiner Definition gemessen statt umgekehrt. Erst mußt du schauen, wie die Lebewesen wirklich leben, dann darfst du definieren und verallgemeinern. Ja? Also. Du drehst dich auf den Bauch, und wie von selbst entwickelt sich die schnittigste Begriffsbestimmung: Leben ist das, was alle tun; alle tun warten; also ist Leben Warten.

Markus Werner, Bis bald

Montag, 5. Mai

# Programmierte Puppen, erstarrte Schatten und leere, austauschbare Futterale

Am Montagmorgen stand Irmtraud Haselbacher in aller Herrgottsfrühe mit dem Fernglas auf dem Dachboden im zweiten Stock und stierte hinüber auf das Grundstück von Dr. Sachs, das dieser schon vor langer Zeit seinem Sohn überlassen hatte. Einem seiner beiden Söhne. Ludger und Gernot waren Zwillinge und grundverschieden. Während Gernot nie gut getan hatte, war Ludger angepasst geblieben. Und als Gernot beizeiten ins Ausland gegangen war, hatte Ludger sein Zimmer mit übernommen. Im Gegensatz zu Gernot war er ein Nesthocker. Das warf ihm Gernot, der inzwischen in einer reichen Gegend in Degerloch wohnte, regelmäßig vor. Ludger hatte oft darüber geklagt, dass sein Bruder ihn nicht verstand. Irmtraud Haselbacher schnaufte schwer. Was war das für eine Welt, in der sich selbst Zwillingsbrüder nichts zu sagen hatten. Ludger war im Grunde einfach nur ein bescheidener und relativ bedürfnisloser Junggeselle. Das Haus war eigentlich zu groß für ihn. Sieben Jahre war es schon her, seit Mone, seine Frau, mit den Töchtern Noé und Lucy ausgezogen war und die Scheidung eingereicht hatte. Seitdem lebte er hier allein.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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