Totgesagt - Harlan Coben - E-Book
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Totgesagt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Sara Lowell und Michael Silverman sind eines der bekanntesten Paare New Yorks: sie eine beliebte TV-Journalistin, er ein erfolgreicher Basketballspieler, beide jung und attraktiv und aus zwei der besten Familien der Stadt. Eine glorreiche Zukunft liegt vor ihnen. Bis Sara bei den Recherchen zu einer Mordserie eine erschreckende Entdeckung macht: Alle Opfer waren HIV-positiv und bei einem Arzt in Behandlung, der ein Heilmittel für die tödliche Krankheit gefunden zu haben scheint. Kurz darauf wird auch er ermordet. Als Sara der Sache auf den Grund gehen will, werden ihre Nachforschungen schnell gefährlich – und sehr persönlich …

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Seitenzahl: 569

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Seine Thriller wurden in über 40 Sprachen übersetzt und erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde – dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award –, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in New Jersey. Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.harlancoben.com.

Buch

Sara Lowell und ­Michael Silverman sind eines der bekanntesten Paare New Yorks: sie eine beliebte TV-Journalistin, er ein erfolgreicher Basketballspieler, beide jung und attraktiv und aus zwei der besten Familien der Stadt. Eine glorreiche Zukunft liegt vor ihnen. Bis Sara bei den Recherchen zu einer Mordserie eine erschreckende Entdeckung macht: Alle Opfer waren HIV-positiv und bei einem Arzt in Behandlung, der ein Heilmittel für die tödliche Krankheit gefunden zu haben scheint. Kurz darauf wird auch er ermordet. Als Sara der Sache auf den Grund gehen will, werden ihre Nachforschungen schnell gefährlich – und sehr persönlich …

HARLAN COBEN

Totgesagt

Thriller

Deutsch vonCharlotte Breuer und Norbert Möllemann

Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel »Miracle Cure« bei British American Publishing, Latham, NY.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © 1991, 1992 der Originalausgabe by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Äste: © FinePic®, München

Haus: © GettyImages/Busà Photography

Redaktion: Anja Lademacher

An · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-17851-2V001

www.goldmann-verlag.de

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Vorbemerkung des Autors

Okay, wenn dies das erste Buch von mir ist, das Sie in der Hand haben, legen Sie es am besten gleich wieder weg. Geben Sie es zurück. Suchen Sie sich ein anderes aus. Kein Problem. Ich warte.

Falls Sie aber immer noch da sind, sollten Sie wissen, dass ich Totgesagt seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr gelesen habe. Es ist mein zweiter Roman, und ich habe ihn mit Anfang zwanzig geschrieben, als naiver junger Kerl, der in der Reisebranche arbeitete und sich fragte, ob er in die Fußstapfen seines Vaters und seines Bruders treten und – o Graus – Jura studieren sollte.

Ich urteile hart – aber tun wir das nicht alle –, wenn es um unsere frühen Werke geht? Erinnern Sie sich noch an den Schulaufsatz, für den Sie eine Eins bekommen haben, den Aufsatz, unter den Ihr Lehrer »großartig!« geschrieben hat? Wenn Ihnen dieser Aufsatz dann irgendwann beim Aufräumen in die Finger fällt und Sie ihn lesen, denken Sie sicher: »Gott, was hab ich mir denn dabei gedacht?«

So geht es manchen Autoren auch mit ihren ersten Romanen. Dieser hier ist an manchen Stellen ein wenig ­moralisierend und oft überholt (obwohl ich mir wünschen würde, das medizinische Problem wäre tatsächlich überholt, aber das ist ein anderes Thema). Sie könnten vielleicht annehmen, dass sich ein gewisser Teil des Buchs auf ein Ereignis bezieht, das wirklich stattgefunden hat. Das ist nicht der Fall. Dieses Buch ist vor dem realen Ereignis entstanden. Mehr verrate ich nicht – ich möchte schließlich nichts vorwegnehmen. Im Lauf der Jahre habe ich mir das eine oder andere aus diesem Buch hier geborgt – ­Namen, Orte, sogar die eine oder andere Figur. Einigen meiner treuen Leserinnen und Leser wird das vielleicht auffallen, und es wird ihnen hoffentlich ein Lächeln entlocken.

Aber letztlich mag ich dieses Buch – mit all seinen Fehlern und Schwächen. Totgesagt hat eine Energie und Risikobereitschaft, die ich heute nicht mehr besitze. Dieser junge Mensch bin ich einfach nicht mehr – was in Ordnung ist. Wir alle entwickeln uns weiter, wenn es um unsere Leidenschaften und unsere Werke geht. Und das ist gut so.

Genießen Sie es.

Prolog

Freitag, 30. August

Dr. Bruce Grey zwang sich, nicht zu schnell zu gehen. Am liebsten wäre er durch die schmuddelige Ankunftshalle des Kennedy Airport International gerannt, vorbei am Zoll und hinaus in die feuchte Abendluft. Sein Blick wanderte unruhig hin und her. Er tat so, als hätte er einen verspannten Nacken, um sich immer wieder umdrehen zu können, um zu sehen, ob ihm jemand folgte.

Schluss jetzt!, schalt sich Bruce. Hör auf, dich zu benehmen wie ein Möchtegern-James-Bond. Du zitterst ja, als hättest du Malaria, Herrgott noch mal. Da wäre es ja weniger ver­dächtig,wenn du ein Schild mit deinem Namen hochhalten würdest.

Er schlenderte am Gepäckband vorbei und nickte der kleinen alten Dame höflich zu, die im Flieger neben ihm gesessen hatte. Während des gesamten Flugs hatte sie ununterbrochen geplappert, über ihre Familie, wie gern sie flog und über ihre letzten Reisen nach Übersee. Sie war eigentlich ganz nett, eine liebe Oma eben, aber Bruce hatte die Augen zugemacht und so getan, als würde er schlafen, um ein bisschen abzuschalten. Aber natürlich hatte er keinen Schlaf gefunden. Und daran würde sich vorläufig auch nichts ändern.

Aber vielleicht war sie ja gar keine liebe Oma. Vielleicht hat sie dich ja verfolgt …

Er verscheuchte seine innere Stimme mit einem nervösen Kopfschütteln. Diese ganze Geschichte vernebelte ihm das Gehirn. Zuerst hatte er gedacht, der Mann mit dem Bart würde ihn verfolgen. Dann der hünenhafte Typ mit dem gegelten Haar im Armani-Anzug in der Telefonzelle. Nicht zu vergessen die hübsche Blondine am Ausgangsgate. Auch sie war hinter ihm her gewesen.

Und jetzt auch noch diese kleine alte Dame.

Reiß dich zusammen, Brucie. Paranoia ist das Letzte, was du jetzt gebrauchen kannst. Klar denken, alter Junge – das ist es, was dir jetzt hilft.

Er ging am Gepäckband vorbei zur Zollkontrolle.

»Ihren Pass bitte.«

Bruce reichte dem Mann seinen Pass.

»Kein Gepäck, Sir?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur das Handgepäck hier.«

Der Angestellte betrachtete erst den Pass, dann musterte er Bruce. »Sie haben nicht viel Ähnlichkeit mit dem Foto.«

Bruce bemühte sich um ein müdes Lächeln, aber es gelang ihm nicht. Die Schwüle war fast unerträglich. Das Hemd klebte ihm auf der Haut, und seine Krawatte hing auf Halbmast. Schweiß perlte ihm von der Stirn. »Ich habe mich ein bisschen verändert.«

»Ein bisschen? Auf diesem Bild sind Sie dunkelhaarig und tragen einen Bart.«

»Ich weiß …«

»Jetzt sind Sie blond und glatt rasiert.«

»Wie gesagt, ich habe mich ein bisschen verändert.« Zum Glück kann man auf einem Passfoto die Augenfarbe nicht erkennen, sonst würdest du noch wissen wollen, wieso meine Augen jetzt blau und nicht mehr braun sind.

Der Mann wirkte nicht überzeugt.

»Waren Sie geschäftlich unterwegs oder im Urlaub?«

»Im Urlaub.«

»Reisen Sie immer mit so wenig Gepäck?«

Bruce schluckte. »Ich kann es nicht leiden, auf das Gepäck zu warten«, erwiderte er achselzuckend.

Immer noch verglich der Mann das Passfoto mit Bruce’ Gesicht. »Würden Sie bitte Ihre Tasche öffnen?«

Mit zitternden Händen versuchte Bruce, die Zahlenkombination einzustellen. Er brauchte drei Anläufe, um das Schloss zu öffnen. »Bitte sehr.«

Misstrauisch durchwühlte der Zollangestellte die Tasche. »Was ist das hier?«, fragte er.

Bruce schloss die Augen, sein Atem ging flach. »Akten.«

»Das sehe ich«, erwiderte der Mann. »Aber wofür sind die?«

»Ich bin Arzt«, krächzte Bruce. »Ich wollte mir im ­Urlaub ein paar Krankenakten ansehen.«

»Machen Sie das immer, wenn Sie in Urlaub fahren?«

»Nicht immer.«

»Was für ein Arzt sind Sie?«

»Internist am Columbia Presbyterian«, antwortete Bruce. Es war die halbe Wahrheit. Er verschwieg die Tatsache, dass er auch Epidemiologe war und als Spezialist für die Gesundheitsbehörde arbeitete.

»Aha«, erwiderte der Angestellte. »Ich wünschte, mein Arzt wäre auch so gewissenhaft.«

Erneut versuchte Bruce, sich ein Lächeln abzuringen. Es gelang ihm nicht.

»Und was ist in diesem verschlossenen Umschlag hier?«

Bruce bekam weiche Knie. »Wie bitte?«

»Was ist in dem wattierten Umschlag?«

Bruce bemühte sich um einen entspannten Gesichtsausdruck. »Ach, das sind bloß ein paar medizinische Informationen, die ich einem Kollegen schicken muss.«

Der Zollangestellte musterte Bruce’ gerötete Augen. »Verstehe«, sagte er und legte den Umschlag zurück in die Tasche. Nachdem er den Rest des Handgepäcks inspiziert hatte, unterschrieb er Bruce’ Zollerklärung und gab ihm den Pass zurück. »Diesen Zettel geben Sie bitte der Frau am Ausgang.«

Bruce nahm die Tasche. »Danke.«

»Dr. Grey?«

Bruce schaute den Mann an.

»Sie sollten mal einen Kollegen aufsuchen«, bemerkte der Zollangestellte. »Falls Sie die Meinung eines medizinischen Laien hören wollen, Sie sehen furchtbar aus.«

»Ich werde Ihren Rat beherzigen.«

Bruce blickte sich noch einmal um. Die kleine alte Dame wartete noch auf ihr Gepäck. Der Mann mit dem Bart und die hübsche Blondine waren nirgendwo zu sehen. Der Hüne im Armani-Anzug telefonierte immer noch.

Bruce machte sich auf den Weg Richtung Ausgang, seine Tasche in der rechten Hand, während er sich mit der linken das Gesicht rieb. Er gab die Zollerklärung ab und trat durch die automatische Glasschiebetür in den Warte­bereich, wo ein Meer erwartungsvoller Gesichter wartete. Die Leute reckten die Hälse, um einen Blick durch die Schiebetür zu erhaschen, und ließen jedes Mal enttäuscht den Kopf hängen, wenn wieder nur ein Unbekannter durch die Tür kam.

Bruce ging gemessenen Schritts vorbei an all den Wartenden und den gelangweilten Chauffeuren, die Namensschilder hochhielten, und steuerte den Ticketschalter von Japan Airlines an.

»Gibt es hier einen Briefkasten?«, fragte er.

»Da hinten rechts«, erwiderte die Angestellte. »Neben dem Air-France-Schalter.«

»Danke.«

Als er an einem Papierkorb vorbeikam, warf er beiläufig seine zerrissene Bordkarte hinein. Er war sich ziemlich clever vorgekommen, als er den Flug unter einem falschen Namen gebucht hatte, bis man ihm am Flughafen erklärt hatte, dass der Name auf einem internationalen Flugticket mit dem im Reisepass übereinstimmen musste.

Dumm gelaufen.

Zum Glück war der Flieger nur zur Hälfte ausgebucht gewesen. Auch wenn er ein neues Ticket hatte kaufen müssen, war es letztlich gar nicht so dumm gewesen, noch eins auf einen anderen Namen zu haben, denn so hatte bis zu seinem Abflug niemand herausfinden können, welchen Flug er gebucht hatte: Schließlich war sein Name ja nicht im Computer gespeichert. Ein genialer Schachzug.

Jawoll, Brucie. Du bist ein Genie.

Von wegen Genie. Lachhaft.

Er entdeckte den Briefschlitz neben dem Air-France-Schalter. Ein paar Reisende unterhielten sich mit der Dame am Schalter. Niemand interessierte sich für ihn. Die alte Dame, der Bärtige und die hübsche Blondine waren entweder schon weg oder wurden noch beim Zoll aufgehalten. Der einzige »Spion«, den er entdecken konnte, war der Hüne im Armani-Anzug, der gerade durch die Glas­türen aus dem Terminal eilte.

Bruce atmete erleichtert auf. Niemand beachtete ihn, als er sich dem Briefschlitz näherte. Er nahm den dicken Umschlag aus seiner Reisetasche und ließ ihn durch den Schlitz gleiten. Seine Lebensversicherung war gerettet.

Und jetzt?

Er konnte auf keinen Fall nach Hause. Falls irgendjemand ihn suchte, wäre sein Apartment an der Upper West Side die erste Adresse. Die Klinik war um diese Zeit auch nicht der geeignete Ort. Dort konnte man ihn genauso leicht finden.

Hören Sie, ich bin darin nicht besonders gut. Ich bin ein ganz durchschnittlicher Arzt. Ich hab Medizin studiert, geheiratet, ein Kind in die Welt gesetzt, meinen Facharzt gemacht, bin geschieden, hab das Sorgerecht für mein Kind verloren und arbeite zu viel. Ich bin nicht dafür geschaffen, den Spion zu spielen.

Aber was blieb ihm sonst übrig? Er konnte zur Polizei gehen, aber wer würde ihm glauben? Er hatte noch keinen eindeutigen Beweis. Verdammt, er war sich selbst nicht mal sicher, was überhaupt vor sich ging. Was hätte er der Polizei erzählen sollen?

Wie wär’s mit: »Hilfe! Beschützen Sie mich! Zwei Menschen sind schon ermordet worden, und zahllose andere könnten folgen – mich eingeschlossen!«

Vielleicht war da was dran. Vielleicht auch nicht. Frage: Was wusste er mit Sicherheit? Antwort: fast nichts. Weniger als nichts. Würde er zur Polizei gehen, würde er damit die Klinik und all die wichtige Arbeit zunichtemachen, die sie dort leisteten, da war Bruce sich ganz sicher. Er hatte die letzten drei Jahre der Forschung gewidmet, und er würde diesen verdammten Frömmlern nicht die Waffe in die Hand spielen, die sie brauchten, um das Projekt sterben zu lassen. Nein, er würde diese Sache auf andere Weise handhaben.

Aber wie?

Er vergewisserte sich ein weiteres Mal, dass er nicht verfolgt wurde. Alle potenziellen Spione waren inzwischen verschwunden. Gut. Erleichtert winkte er ein Taxi heran und nahm auf dem Rücksitz Platz.

»Wo soll es hingehen?«

Bruce versuchte, sich an all die Thriller zu erinnern, die er gelesen hatte. Wo würde George Smiley hingehen, oder noch besser Travis McGee oder Spenser? »Das Plaza ­Hotel, bitte.«

Das Taxi fuhr los. Bruce warf noch einen Blick durch die Heckscheibe. Kein Auto schien ihnen zu folgen, als sie über den Van Wyck Expressway Richtung Manhattan fuhren. Bruce lehnte sich zurück. Er versuchte, tief zu atmen und sich zu entspannen, aber er zitterte immer noch vor Angst.

Denk nach, verdammt noch mal. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für ein Nickerchen.

Als Erstes brauchte er eine neue Identität. Sein unruhiger Blick blieb schließlich auf der Lizenz des Taxifahrers hängen, die im Wagen hing. Benjamin Johnson. Bruce drehte den Namen um. John Benson. Das würde bis morgen sein Name sein. John Benson. Nur bis morgen. Wenn es ihm gelang, bis dahin am Leben zu bleiben …

So weit traute er sich gar nicht zu denken.

Alle in der Klinik glaubten, er wäre immer noch im Urlaub in Cancún, Mexiko. Niemand – absolut niemand – wusste, dass die ganze Urlaubsidee ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Bruce hatte sehr überzeugend den glück­lichen Urlauber gespielt. Er hatte sich Strandklamotten gekauft, war letzten Freitag nach Cancún geflogen, hatte im Hotel Oasis eingecheckt, die Woche im Voraus gezahlt und dem Hotelportier erklärt, er wolle ein Boot mieten und sei nicht zu erreichen. Dann hatte er sich den Bart abrasiert, sein Haar geschnitten und gebleicht und sich blaue Kontaktlinsen eingesetzt. Er hatte sich im Spiegel fast nicht wiedererkannt. Dann war er zum Flughafen zurückgefahren, in ein anderes Land geflogen, hatte dort unter dem Namen Rex Veneto eingecheckt und war seinem fürchterlichen Verdacht nachgegangen.

Die Wahrheit war noch schockierender gewesen, als er je gedacht hatte.

Das Taxi hielt vor dem Plaza Hotel in der Fifth Avenue. Auf der anderen Straßenseite glitzerten die Lichter des Central Park. Bruce zahlte, gab dem Fahrer ein angemessenes Trinkgeld und betrat die luxuriöse Lobby des Hotels. Trotz seines Designeranzugs kam er sich nachlässig gekleidet vor. Jackett und Hose waren total zerknittert. Der Anzug sah aus, als hätte er eine Woche lang ganz unten im Wäschekorb einer Reinigung gelegen – nicht gerade das, was seine Mutter als präsentabel bezeichnet hätte.

Er wollte gerade auf die Rezeption zugehen, als er aus dem Augenwinkel heraus etwas wahrnahm. Er blieb stehen.

Das bildest du dir ein, Bruce. Das ist nicht derselbe Typ. Das kann nicht sein.

Bruce spürte, wie sein Puls zu rasen begann. Er wirbelte herum, aber der Hüne im Armani-Anzug war nirgends mehr zu sehen. War es wirklich derselbe Mann gewesen? Wahrscheinlich nicht, aber er konnte kein Risiko eingehen. Er verließ das Hotel durch den Hinterausgang und ging zur U-Bahn. Dort kaufte er sich ein Ticket, fuhr mit der Linie 1 zur 14th Street, dann weiter mit der Linie A zur 42nd Street, durchquerte die Stadt mit der Linie 7 und sprang, kurz bevor die Türen schlossen, an der 3rd Avenue aus dem Wagen. Eine halbe Stunde lang wechselte er wahllos die Züge, stieg jeweils erst im letzten Moment aus oder ein und landete schließlich Ecke 56th Street und 8th Avenue. Dann ging »John Benson« ein paar Blocks weiter und nahm sich ein Zimmer im Days Inn, einem Hotel, in dem Dr. Bruce Grey noch nie gewesen war.

Er ging in sein Zimmer im elften Stock, verriegelte die Tür und hängte die Sicherheitskette ein.

Und nun?

Ein Anruf war riskant, aber Bruce beschloss, das Risiko einzugehen. Er würde nur ganz kurz mit Harvey sprechen und dann auflegen. Er nahm das Telefon und wählte die Privatnummer seines Partners. Harvey nahm beim zweiten Läuten ab.

»Hallo?«

»Harvey, ich bin’s.«

»Bruce?« Harvey klang überrascht. »Wie geht’s dir so in Cancún?«

Bruce ignorierte die Frage. »Ich muss mit dir sprechen.«

»Gott, du klingst ja furchtbar. Was ist los?«

Bruce schloss die Augen. »Nicht am Telefon.«

»Was redest du da?«, fragte Harvey. »Bist du noch …?«

»Nicht am Telefon«, wiederholte Bruce. »Ich erzähle es dir morgen.«

»Morgen? Was zum Teufel …?«

»Keine weiteren Fragen. Wir sehen uns morgen früh um halb sieben?«

»Wo?«

»In der Klinik.«

»Gott, bist du in Gefahr? Hat das etwas mit den Morden zu tun?«

»Ich muss jetzt …«

Klick.

Bruce erstarrte. Er hatte ein Geräusch an der Tür gehört.

»Bruce?«, rief Harvey. »Was ist los? Was hast du denn?«

Bruce bekam Herzrasen. Er hielt den Blick auf die Tür gerichtet. »Morgen«, flüsterte er. »Dann erkläre ich dir alles.«

»Aber …«

Vorsichtig legte Bruce den Hörer auf.

Ich bin für so was nicht geschaffen. Bitte, lieber Gott, mach, dass das nur meine blühende Phantasie ist. Ich kann das nicht. Ich bin für so was nicht geschaffen …

Es war nichts mehr zu hören, und einen kurzen Moment lang fragte sich Bruce, ob seine überreizten Gehirnzellen ihm einen Streich gespielt hatten. Wahrscheinlich war da gar nichts gewesen. Und selbst wenn er ein Geräusch auf dem Flur gehört hatte, was war daran schon sonderbar? Schließlich befand er sich in einem Hotel in New York und nicht in einem schalldichten Tonstudio. Vielleicht war es ja ein Zimmermädchen gewesen. Oder ein Hotelboy.

Oder aber ein Hüne mit gegeltem Haar und einem maßgeschneiderten seidenen Armani-Anzug.

Bruce schlich zur Tür. Widerstrebend setzte er einen Fuß vor den anderen. Er war nie besonders sportlich gewesen und seine Bewegungen nie sehr geschmeidig. Aber im Augenblick kam er sich regelrecht behindert vor.

Klick.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Beine drohten unter ihm nachzugeben. Es bestand kein Zweifel, woher das Geräusch diesmal gekommen war.

Von seiner Tür.

Er stand wie angewurzelt da. Sein Atem hallte so laut in seinen Ohren wider, dass man es auf dem Flur garantiert hören konnte.

Klick.

Ein kurzes, schnelles Klicken. Da fummelte nicht irgend­ein Dilettant am Schloss herum, dieses Klicken verriet den Profi.

Hau ab, Bruce. Hau ab und versteck dich.

Aber wo sollte er hin? Er befand sich in einem kleinen Zimmer im elften Stock eines Hotels. Wohin sollte er abhauen und sich verstecken? Er machte noch einen Schritt auf die Tür zu.

Ich könnte sie schnell aufreißen, mir die Seele aus dem Leib schreien und den Flur runterrennen, als wäre ich aus der Psychiatrie entflohen. Ich könnte …

Das Klopfen kam so plötzlich, dass Bruce beinahe aufgeschrien hätte.

»Wer ist da?«, rief er panisch.

»Handtücher«, sagte ein Mann.

Bruce ging näher an die Tür. Handtücher, von wegen. »Ich brauch keine«, rief er, ohne die Tür zu öffnen.

Nichts. Dann: »Okay. Gute Nacht, Sir.«

Er hörte, wie sich die Schritte von Mr Handtuch entfernten. Mit dem Rücken an der Wand schob Bruce sich weiter Richtung Tür. Er zitterte am ganzen Körper. Obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, waren seine Kleider nass geschwitzt, und die Haare klebten ihm an der Stirn.

Und jetzt?

Der Türspion, Mr James Bond. Schau durch den verdammten Spion.

Bruce gehorchte der Stimme in seinem Kopf. Langsam drehte er sich und lugte mit einem Auge durch den Spion. Nichts. Nada, wie die Mexikaner sagen würden. Da war niemand, da war überhaupt nichts. Er versuchte, nach links zu blicken, dann nach rechts …

In diesem Moment flog die Tür auf.

Die Kette riss, als wäre sie ein dünner Faden. Der Metallknauf traf Bruce so heftig an der Hüfte, dass ihm vor Schmerzen übel wurde. Instinktiv versuchte er, seine Hüfte mit der Hand zu schützen. Das war ein Fehler. Eine riesige Faust schoss auf Bruce’ Gesicht zu. Er versuchte, sich wegzuducken, doch er war zu langsam. Die Faust prallte mit einem grauenhaften Geräusch auf die Nase, zerschmetterte Knochen und Knorpel. Blut lief ihm übers Kinn.

O Gott, nein …

Während er nach hinten stolperte, fasste Bruce sich ans Gesicht. Der Hüne im Armani-Anzug kam ins Zimmer und schloss die Tür. Er bewegte sich mit einer Schnelligkeit und Geschmeidigkeit, die man einem so massigen Mann nicht zugetraut hätte.

»Bitte …«, stieß Bruce hervor, aber eine riesige Pranke hielt ihm den Mund zu. Die Hand drückte brutal gegen Bruce’ gebrochene Nase, sodass ihm vor Schmerzen übel wurde.

Der Mann lächelte und nickte ihm höflich zu, als hätten sie sich gerade bei einer Cocktailparty kennengelernt. Dann holte er mit dem Fuß aus und trat mit geübter Präzision zu. Der Tritt zerschmetterte Bruce’ Kniescheibe, und er hörte, wie der Knochen unterhalb des Knies brach. Sein Schrei wurde von der Hand gedämpft, die noch fester zupackte. Dann schlug der Mann so hart zu, dass sich ­mehrere Zähne lösten und der Kieferknochen brach. Anschließend packte der Mann ihm mit den Fingern in den Mund und zog den Unterkiefer ruckartig nach unten, bis die Sehnen rissen.

O Gott, nein …

Der Hüne im Armani-Anzug ließ Bruce wie einen Sack Kartoffeln auf den Boden fallen. Wie durch einen Nebel sah er, dass der Mann einen Blutfleck auf seinem Anzug betrachtete. Es schien ihn wütend zu machen, dass der Fleck in der Reinigung nicht rausgehen würde. Kopfschüttelnd trat der Mann ans Fenster und zog den Vorhang auf.

»Sie haben sich ein Zimmer schön weit oben ausgesucht«, bemerkte er. »Das macht die Sache einfacher.«

Der Mann wandte sich vom Fenster ab und ging wieder zu Bruce, der sich auf dem Boden vor Schmerzen wand. Er ergriff Bruce’ Fußgelenk und hob langsam das gebrochene Bein hoch. Ein unerträglicher Schmerz schoss durch Bruce’ Körper.

LieberGott, bitte lass es enden …

Plötzlich begriff Bruce, was der Mann vorhatte. Er versuchte zu fragen, was er von ihm wollte. Er konnte alles von ihm haben. Er wollte ihn um Gnade anflehen, aber aus seinem Mund kam nur ein gurgelndes Geräusch. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Mann aus angstvoll aufgerissenen Augen anzuschauen. Blut troff ihm aus dem Mund und der Nase über das Kinn, den Hals und die Brust.

Benommen vor Schmerzen sah er den Blick in den Augen des Mannes. Es war kein wütender, wahnsinniger Blick, nicht hasserfüllt noch blutrünstig, es war nicht der Blick eines psychopathischen Killers. Der Mann war ganz ruhig. Geschäftsmäßig. Er erledigte einen lästigen Job. Gleichgültig. Ohne jedes Gefühl.

Das hier bedeutet diesem Typen überhaupt nichts, dachte Bruce. Für ihn ist das ein Arbeitstag wie jeder andere.

Der Mann nahm einen Stift und ein Blatt Papier aus der Brusttasche seines Jacketts und warf beides auf den Boden. Dann packte er Bruce’ Fuß mit beiden Händen. Bruce bäumte sich vor Schmerzen auf.

Der Mann lockerte den Griff und sagte: »Ich werde Ihren Fuß jetzt um hundertachtzig Grad drehen, bis er nach hinten zeigt und der Knochen durch die Haut dringt.«

Mit einem gelangweilten Lächeln änderte er seinen Griff, um einen besseren Hebel zu haben.

»Sobald Sie Ihren Abschiedsbrief unterschrieben haben, lass ich los, okay?«

Bruce unterschrieb, ohne zu zögern.

1

Samstag, 14. September

Sara Lowell schaute auf ihre Armbanduhr. In zwanzig Minuten würde sie ihr landesweites Fernsehdebüt vor dreißig Millionen Zuschauern geben. Eine Stunde später würde sich ihre Zukunft entscheiden.

Zwanzig Minuten.

Sie schluckte, stand langsam auf und richtete ihre Beinschiene. Ihr Atem ging stoßweise. Sie musste sich bewegen, irgendetwas tun, damit sie nicht durchdrehte. Das Metall der Schiene rieb und scheuerte auf der Haut. Auch nach all den Jahren konnte sich Sara nicht an das sperrige Teil gewöhnen. An das Hinken dagegen schon. Sie hinkte, seit sie denken konnte. Es kam ihr fast natürlich vor. Aber die klobige Schiene würde sie am liebsten in der nächsten Mülltonne versenken.

Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu entspannen. Sie überprüfte ihr Make-up im Spiegel. Ihr Teint war ein bisschen blass, aber das war nichts Neues. Das gehörte genauso zu ihr wie das Hinken. Ihr honigblondes Haar hatte sie nach hinten frisiert, sodass ihre hübschen, feinen Gesichtszüge und ihre großen grünen Augen zur Geltung kamen. Auch ihr Mund war groß, ihre sinnlichen Lippen so voll, dass sie beinahe geschwollen wirkten. Sie nahm ihre Drahtbrille ab und reinigte die Gläser. Einer der Sende­leiter kam zu ihr.

»Fertig, Sara?«, fragte er.

»Jederzeit«, erwiderte sie mit einem dünnen Lächeln.

»Gut. Sie gehen in einer Viertelstunde mit Donald auf Sendung.«

Sara blickte zu ihrem berühmten Partner hinüber. Mit sechzig war er doppelt so alt wie sie und hundertmal erfahrener. Er war schon bei NewsFlash gewesen, als die Sendung noch nicht diesen unglaublich großen Marktanteil besessen hatte. Donald Parker war eine Legende in der Welt des Fernsehjournalismus.

Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Das ist definitiv eine Nummer zu groß für mich.

Zum hundertsten Mal ging sie ihre Unterlagen durch. Die Worte verschwammen ihr schon vor den Augen. Einmal mehr fragte sie sich, wie sie eigentlich so schnell so weit hatte kommen können. Sie dachte an ihr Studium, ihre Kolumne im New York Herald, ihre Arbeit beim Privatfernsehen, ihre Diskussionssendung im öffentlichen Fernsehen. Bei jeder Stufe, die sie auf der Karriereleiter erklommen hatte, war sie davon überzeugt gewesen, dass sie das Ende erreicht hatte. Das neidische Geflüster ihrer Kolleginnen hatte sie geärgert: »Ich wünschte, ich hätte auch berühmte Verwandte … Mit wem sie wohl geschlafen hat? … Es ist dieses verdammte Hinkebein.«

Aber die Wahrheit war viel einfacher: Das Publikum verehrte sie. Selbst wenn sie einem Gast gegenüber ungehalten oder sarkastisch wurde, konnten die Zuschauer nicht genug von ihr kriegen. Ja, ihr Vater war der ehemalige Kommandeur des militärischen Sanitätsdienstes und ihr Mann ein Basketballstar, und vielleicht brachten ihre Behinderung und ihre Schönheit ihr zusätzliche Sympathiepunkte. Aber Sara erinnerte sich noch gut daran, was ihr erster Chef zu ihr gesagt hatte:

»Mit Schönheit allein überlebt niemand in diesem Geschäft. Im Gegenteil. Das bedient eher das Hübsche-Blondinen-Vorurteil. Ich weiß, dass das unfair ist, Sara, aber so ist es nun mal. Es reicht nicht, genauso gut zu sein wie die Konkurrenz – Sie müssen besser sein. Sonst wird man Sie als Dummchen abstempeln. Wenn Sie nicht die Cleverste auf der Bühne sind, dann sind Sie ganz schnell weg vom Fenster.«

Sara wiederholte diese Sätze im Stillen wie einen Schlachtruf, doch ihr Selbstvertrauen wagte sich nicht aus dem Schützengraben. In der heutigen Sendung ging es um einen Bericht über das zweifelhafte Finanzgebaren von Reverend Ernest Sanders, Fernsehprediger und Gründer der Sekte »Heiliger Kreuzzug«. Ein widerlicher Schleimer. Nach Erscheinen des Berichts hatte Reverend Sanders tatsächlich eingewilligt, ein Live-Interview zu geben und zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen – allerdings unter der Bedingung, dass seine 800er-Nummer am Bildschirmrand eingeblendet würde. Sara hatte sich bemüht, die Geschichte so objektiv wie möglich zu gestalten. Sie hatte lediglich Fakten zusammengetragen und sich auf ein Minimum von Andeutungen und Schlussfolgerungen beschränkt. Aber tief in ihrem Innern kannte Sara die Wahrheit über Reverend Ernest Sanders.

Der Mann war purer Abschaum.

Im Studio herrschte rege Betriebsamkeit. Techniker kümmerten sich um den Ton und die Scheinwerfer. Kameraleute brachten ihre Kameras in Position. Der Teleprompter wurde getestet – nicht mehr als drei Wörter pro Zeile, damit das Publikum vor dem Fernseher nicht mitbekam, wie die Augen des Sprechers sich bewegten. Aufnahmeleiter, Sendeleiter, Ingenieure und Kabelträger wuselten an einem Drehort herum, der aussah wie ein großes Wohnzimmer mit nur einer Wand und ohne Decke, so als hätte ein Riese den Rest weggerissen, um hineinsehen zu können. Ein Mann, den Sara nicht kannte, kam eilig auf sie zu.

»Hier, nehmen Sie«, sagte er. Der Mann reichte ihr mehrere Blatt Papier.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Papier.«

»Nein, ich meine, wozu brauche ich das?«

Er zuckte die Achseln. »Zum Blättern.«

»Blättern?«

»Na, Sie wissen schon, wenn Sie die Werbeunterbrechung ankündigen und die Kamera wegfährt, dann blättern Sie ein bisschen darin rum.«

»Echt jetzt?«

»Sieht wichtig aus«, versicherte er ihr, dann war er auch schon wieder weg.

Sie schüttelte den Kopf. Man lernte doch nie aus.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, begann Sara vor sich hin zu singen. Normalerweise sang sie nur unter der ­Dusche oder im Auto, vorzugsweise begleitet von einem sehr lauten Radio, aber gelegentlich, wenn sie nervös war, fing sie auch in der Öffentlichkeit an zu singen. Richtig laut.

Beim Refrain von Tattoo Vampire (»Vampire photo s­uckin’ the skin«) wurde sie lauter und spielte Luftgitarre dazu. Sie steigerte sich in die Musik hinein. Es beruhigte sie.

Dann merkte sie, dass die Leute sie anstarrten.

Sie ließ die Hände sinken und ihre gut gestimmte Luftgitarre in der Versenkung verschwinden. Das Lied erstarb auf ihren Lippen. Lächelnd zuckte sie die Achseln. »Äh … Entschuldigung.«

Die Leute nahmen ihre Arbeit wieder auf, als wäre nichts geschehen. Jetzt, wo sie keine Luftgitarre mehr hatte, versuchte Sara, an etwas zu denken, was sie ablenkte und beruhigte.

Sofort kam ihr Michael in den Sinn. Sie fragte sich, was er wohl gerade tat. Wahrscheinlich joggte er nach dem Basketballtraining nach Hause. Sie stellte sich vor, wie er die Tür öffnete, ein weißes Handtuch um den Hals und in seinem durchgeschwitzten grauen Trainingspullover. Er trug immer die verrücktesten Shorts – schrille gelbe, orange- oder pinkfarbene Hawaiishorts, die ihm bis auf die Knie reichten oder von abgedrehten Designern entworfene Jams Shorts. Im Laufschritt würde er am teuren Klavier vorbei ins Wohnzimmer laufen, Bach auflegen, in die Küche gehen, sich ein Glas frisch gepressten Orangensaft eingießen und es in einem Zug zur Hälfte leeren. Dann würde er sich in den Fernsehsessel fläzen und sich von der Kammermusik davontragen lassen.

Michael.

Jemand tippte ihr auf die Schulter. »Telefon für Sie.« Derselbe Mann, der ihr die Blätter gebracht hatte, hielt ihr ein Handy hin.

Sie nahm es. »Hallo?«

»Und? Singst du schon?«

Sie musste grinsen. Es war Michael.

»Blue Oyster Cult?«, fragte er.

»Ja.«

»Lass mich raten.« Michael überlegte. »Don’t Fear the Reaper?«

»Nein, Tattoo Vampire.«

»Gott, wie furchtbar. Was tut sich denn so bei euch?«

Sara schloss die Augen. Sie spürte, wie sie sich langsam entspannte. »Nicht viel. Ich häng hier noch am Set rum und warte drauf, dass es losgeht.«

»Schon Luftgitarre gespielt?«

»Natürlich nicht«, erwiderte sie. »Ich bin professionelle Journalistin, Herrgott noch mal.«

»Alles klar. Und wie nervös bist du?«

»Ich bin total locker«, antwortete sie.

»Du lügst.«

»Also gut, ich mach mir fast ins Hemd. Zufrieden?«

»Begeistert«, gab er zurück. »Aber vergiss eins nicht.«

»Was denn?«

»Du machst dir immer ins Hemd, bevor du auf Sendung gehst. Je mehr Schiss du hast, desto besser bist du.«

»Meinst du?«

»Ich weiß es«, sagte er. »Der arme Sanders tut mir jetzt schon leid.«

»Wirklich?«, fragte sie und strahlte über das ganze Gesicht.

»Ja, wirklich«, sagte er. »Nur noch eine kurze Frage: Müssen wir heute Abend unbedingt zu dem Wohltätigkeitsball deines Vaters gehen?«

»Ganz kurze Antwort: ja.«

»Abendanzug?«

»Ja.«

»Ich kann diese spießigen Großveranstaltungen nicht ausstehen.«

»Ich auch nicht.«

Er schwieg einen Moment. »Versprichst du mir, dass du mich wenigstens ein bisschen ran lässt während der Party?«

»Mal sehen?«, erwiderte Sara. »Wenn du brav bist.« Sie klemmte sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter. »Kommt Harvey heute Abend auch zu der Party?«

»Ich hole ihn ab.«

»Schön. Ich weiß, dass er mit meinem Vater nicht so gut klarkommt …«

»Du meinst, dein Vater kommt nicht mit ihm klar«, verbesserte Michael sie.

»Wie auch immer. Wirst du heute Abend mit ihm reden?«

»Worüber?«

»Weich mir nicht aus, Michael«, sagte sie. »Ich mache mir Sorgen um deine Gesundheit.«

»Hör mal, mit Bruce’ Tod und all den Problemen in der Klinik hat er derzeit genug um die Ohren. Ich will ihn nicht damit belästigen.«

»Hat er mit dir über Bruce’ Selbstmord gesprochen?«

»Kein Wort«, erwiderte Michael. »Ehrlich gesagt ­mache ich mir ein bisschen Sorgen um ihn. Er kommt gar nicht mehr aus dem Labor. Er arbeitet Tag und Nacht.«

»So war Harvey doch schon immer.«

»Ich weiß, aber diesmal ist es anders.«

»Lass ihm ein bisschen Zeit, Michael. Bruce ist erst seit zwei Wochen tot.«

»Es ist nicht nur wegen Bruce.«

»Was meinst du?«

»Ich weiß auch nicht. Es hat was mit der Klinik zu tun, vermute ich.«

»Michael, bitte sprich mit ihm über deinen Bauch.«

»Sara …«

»Red heute Abend mit ihm … mir zuliebe.«

»Okay«, willigte er widerstrebend ein.

»Versprochen?«

»Ja, versprochen. Und, Sara?«

»Was denn?«

»Bring diesen Südstaaten-Reverend ordentlich ins Schwitzen.«

»Ich liebe dich, Michael.«

»Ich dich auch.«

Sara spürte, wie ihr jemand auf die Schulter klopfte. »Zehn Minuten.«

»Ich muss jetzt auflegen«, sagte sie.

»Bis heute Abend dann«, sagte er. »Dann treibe ich es mit einer berühmten Fernsehdiva in ihrem ehemaligen Kinderzimmer.«

»Träum weiter.«

Ein Stich fuhr Michael Silverman in den Unterleib, als er den Hörer auflegte. Er hielt sich den Bauch und verzog das Gesicht vor Schmerz. Sein Bauch machte ihm jetzt schon seit Wochen zu schaffen. Zuerst hatte er es für eine Darmgrippe gehalten, aber inzwischen war er sich da nicht mehr so sicher. Die Schmerzen wurden immer unerträg­licher. Und allein bei dem Gedanken an Essen drehte sich ihm der Magen um.

Beethovens 7. Sinfonie schwebte wie eine angenehme Brise durchs Zimmer. Michael schloss die Augen und ließ die Melodie wie eine sanfte Massage auf seine schmerzenden Muskeln wirken. Seine Mannschaftskameraden ­zogen ihn gnadenlos auf wegen seines Musik­geschmacks, allen voran Reece Porter, der schwarze ­Power Forward, ­Michaels Co-Kapitän bei den New York Knicks.

»Wie kannst du dir nur diesen Mist anhören, Mikey?«, fragte er immer wieder. »Das hat keinen Beat, keinen Rhythmus.«

»Mir ist schon klar, dass das musikalische Gehör eines Chopin sich nicht mit dem von MC Hammer vergleichen lässt«, antwortete Michael dann, »aber vergiss mal dein Vorurteile. Hör einfach hin, Reece. Lass dich von der ­Melodie mitnehmen.«

Reece lauschte eine Weile. »Für mich hört sich das an wie die Geräusche in einer Zahnarztpraxis. Wie kann dich so ein Gesäusel vor einem großen Spiel aufbauen? Man kann nicht dazu tanzen und gar nichts.«

»Ach, hör einfach mal hin.«

»Es hat nicht mal einen Text«, sagte Reece.

»Und diese Lärmbelästigung, die du dir antust? Bei dem Krach versteht man sowieso kein Wort.«

Reece lachte. »Mikey, du bist ein typischer weißer Snob«, erwiderte er.

»Ich ziehe den Ausdruck aufgeblasener, weißer Arsch vor.«

Der gute alte Reece. Michael hielt das Glas mit dem frisch gepressten Orangensaft in der Hand, aber bei der Vorstellung, auch nur einen Schluck davon zu trinken, wurde ihm schlecht. Letztes Jahr das Knie, und jetzt der Bauch. Er verstand es nicht. Er war immer der gesündeste Spieler der Liga gewesen. Die ersten zehn Spielzeiten in der NBA hatte er ohne einen Kratzer überstanden, bis er sich vor etwas mehr als einem Jahr einen Kreuzbandriss zugezogen hatte. In seinem Alter war es kein Pappenstiel, nach einer Knieoperation wieder die alte Form zurückzugewinnen … Diese mysteriöse Bauchgeschichte war das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Er stellte das Glas ab, ging zum Fernseher und vergewisserte sich, dass der Videorekorder programmiert war. Dann schaltete er die Stereoanlage aus und den Fernseher ein. Sara würde in ein paar Minuten ihr Debüt bei News Flash geben. Michael rutschte auf dem Sofa hin und her. Er spielte an seinem Ehering, rieb sich das Gesicht. Er versuchte, sich zu entspannen, aber es gelang ihm genauso wenig wie Sara. Es gab keinen Grund, nervös zu sein, sagte er sich. Alles, was er Sara am Telefon gesagt hatte, stimmte. Sie war eine hervorragende Journalistin, die beste. Geistreich und klug. Manchmal ein bisschen überheblich. Aber auch ausgesprochen humorvoll, wenn die Situation es verlangte. Und beharrlich wie ein Terrier.

Michael hatte am eigenen Leib erfahren, wie hartnäckig Sara als Interviewerin sein konnte. Sie hatten sich vor sechs Jahren kennengelernt, als der New York Herald sie beauftragt hatte, ihn zwei Tage vor dem Beginn der NBA-Finals zu interviewen. Sie sollte ein persönliches Feature über ihn bringen, das sein Leben außerhalb der Basketball-Arena skizzieren sollte. Michael hatte das nicht gefallen. Er wollte nicht, dass sein Privatleben – vor allem die Vergangenheit – in die Schlagzeilen geriet. Es gehe niemanden etwas an, hatte er Sara erklärt, und seinen Standpunkt mit ein paar deutlicheren Worten unterstrichen. Anschließend hatte er den Hörer aufgeknallt. Aber Sara Lowell hatte sich nicht so einfach abwimmeln lassen. Präziser ausgedrückt, Sara Lowell wusste gar nicht, was aufgeben hieß. Sie wollte das Interview. Und sie blieb am Ball.

Heftige Stiche vertrieben jede schöne Erinnerung. Er hielt sich den Bauch und krümmte sich auf dem Sofa, wartete ab, bis der Schmerz langsam nachließ.

Was zum Teufel ist mit mir los?

Er lehnte sich zurück und betrachtete das Foto von Sara und sich auf dem Regal hinter dem Fernseher. Er stand hinter ihr, hatte die Arme um ihre schmale Taille gelegt. Sie wirkte so klein, so unglaublich schön, so verdammt zerbrechlich. Er hatte sich schon oft gefragt, was es war, das Sara so unschuldig erscheinen ließ, so zart. Sicherlich lag es nicht an ihrer Figur. Trotz ihres steifen Beins ging sie dreimal die Woche ins Fitnessstudio. Sie hatte einen straffen, athletischen Körper – besser gesagt: Sie war Dynamit. Unglaublich sexy. Michael betrachtete das Foto erneut und bemühte sich um einen objektiven Blick. Manch einer würde sagen, es läge an ihrem blassen Porzellanteint, der ihre Erscheinung so ungekünstelt wirken ließ, aber das war es nicht. Ihre Augen, dachte Michael jetzt, die großen grünen Augen, die Zerbrechlichkeit und Sanftheit ausstrahlten, obwohl sie auch gewieft und herausfordernd dreinblicken konnten. Es waren vertrauenswürdige und vertrauensvolle Augen. Ein Mann konnte in diesen Augen baden, auf immer verschwinden, seine Seele für alle Ewigkeit verlieren.

Und sie waren so unfassbar sexy.

Das Telefon unterbrach seine Tagträume. Michael griff hinter sich und nahm den Hörer ab. »Hallo?«

»Hi, Michael.«

»Hallo, Harvey. Wie geht’s?«

»Nicht schlecht. Ich will dich nicht lange aufhalten, ich weiß, dass die Sendung gleich anfängt.«

»Erst in ein paar Minuten.« Im Hintergrund hörte er etwas krachen. »Was ist das für ein Lärm? Bist du noch in der Klinik?«

»Ja«, antwortete Harvey.

»Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«

»Bist du meine Mutter?«

»Ich frag ja nur«, sagte Michael. »Ich dachte, ich sollte dich heute Abend bei dir zu Hause abholen.«

»Ich komme einfach nicht weg«, antwortete Harvey. »Ich habe eine der Schwestern gebeten, mir einen Mietsmoking zu organisieren. Hier ist die Hölle los. Eric und ich sind völlig überfordert, jetzt wo Bruce nicht mehr da ist.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

»Ich kann es immer noch nicht fassen, Harvey«, sagte Michael vorsichtig und hoffte, dass sein Freund endlich so weit war, über Bruce’ Selbstmord zu sprechen.

»Ich auch nicht«, sagte Harvey tonlos. Dann: »Hör mal, ich möchte dich was fragen.«

»Schieß los.«

»Kommt Sara heute Abend auch zu dem Ball?«

»Ja, aber ein bisschen später.«

»Aber sie kommt?«

Michael hörte die Dringlichkeit in der Stimme seines alten Freundes. Er kannte Harvey seit fast vierundzwanzig Jahren, seit sich Dr. Harvey Riker, damals Assistenzarzt im zweiten Jahr, um den achtjährigen Michael Silverman gekümmert hatte, der mit einer Gehirnerschütterung und einem gebrochenen Arm in die Notaufnahme des Saint-Barnabas-Hospitals eingeliefert wurde.

»Natürlich kommt sie.«

»Gut. Dann sehen wir uns heute Abend.«

Michael blickte verwirrt auf den Hörer. »Ist alles in Ordnung, Harvey?«

»Alles bestens«, murmelte er.

»Und was ist das für ein geheimnisvoller Anruf?«

»Es ist … ach nichts. Ich erklär’s dir später. Wann holst du mich ab?«

»Viertel nach neun. Kommt Eric auch mit?«

»Nein«, sagte Harvey. »Einer von uns muss den Laden am Laufen halten. Ich muss jetzt auflegen, Michael. Wir sehen uns um Viertel nach neun.«

Dann klickte es in der Leitung.

Dr. Harvey Riker legte den Hörer auf die Gabel. Er seufzte schwer und fuhr sich mit der Hand durch das lange, widerspenstige graubraune Haar, eine Mischung aus Albert Einstein und Art Garfunkel. Man sah ihm jedes seiner fünfzig Jahre an. Seine Muskeln waren schlaff aus Mangel an Bewegung. Sein Gesicht drückte Überdruss aus. Er war nie ein Adonis gewesen, aber sein Aussehen war mit den Jahren versauert wie billiger Wein.

Er öffnete die Schreibtischschublade, goss sich einen Whiskey ein und kippte ihn hinunter. Seine Hände zitterten. Er hatte Angst.

Ich muss mit Sara sprechen. Das ist die einzige Möglichkeit. Und danach …

Besser nicht drüber nachdenken.

Er drehte seinen Bürostuhl und betrachtete die drei Fotos auf der Kommode. Er nahm das Foto ganz rechts in die Hand, das ihn mit seinem Freund Bruce Grey zeigte.

Der arme Bruce.

Die beiden Polizisten hatten sich höflich Harveys Verdacht angehört, bedächtig genickt und Notizen gemacht. Dann hatte Harvey ihnen zu erklären versucht, dass Bruce Grey niemand war, der Selbstmord begehen würde, und sie hatten ihm weiterhin höflich zugehört, bedächtig genickt und sich Notizen gemacht. Schließlich erzählte er ihnen, dass Bruce ihn am Abend, als er angeblich aus dem Fenster im elften Stock des Days Inn gesprungen war, noch angerufen hatte, und sie hatten wiederum höflich zugehört, genickt und sich Notizen gemacht … und waren zu dem Schluss gekommen, dass Dr. Bruce Grey Selbstmord begangen hatte.

Vor Ort sei ein Abschiedsbrief gefunden worden, erinnerten ihn die Detectives. Und ein Sachverständiger hatte festgestellt, dass es sich um Bruce’ Handschrift handelte. Und das war’s.

Fall abgeschlossen.

Das zweite Foto auf der Kommode zeigte Jennifer, die sechsundzwanzig Jahre lang seine Ehefrau gewesen war und ihn von heute auf morgen verlassen hatte. Auf dem dritten Foto war sein jüngerer Bruder Sidney zu sehen. Er war vor drei Jahren an Aids gestorben, was Harveys Leben für immer verändert hatte. Auf dem Foto sah Sidney noch gesund aus, braungebrannt, ein bisschen pummelig. Als er zwei Jahre später gestorben war, war seine Haut, wo sie nicht von rosafarbenem Schorf bedeckt war, teigig weiß gewesen, und er hatte nicht einmal mehr vierzig Kilo gewogen.

Harvey schüttelte den Kopf.

Alle waren sie gegangen.

Er beugte sich vor und nahm das Foto seiner Exfrau in die Hand. Er wusste selbst, dass er mindestens genauso viel Schuld am Scheitern ihrer Ehe trug – wenn nicht mehr. Sechsundzwanzig Jahre. Sechsundzwanzig Jahre Ehe voller hoffnungsvoller und zerplatzter Träume gingen ihm durch den Kopf. Wo waren sie geblieben? Was war geschehen? Wann hatte Harvey sein Privatleben zu Staub vertrocknen lassen? Er strich sanft mit den Fingerspitzen über das Foto. Konnte er Jennifer wirklich Vorwürfe machen, weil sie die Nase voll gehabt hatte von der Klinik und weil sie sich nicht für eine Sache hatte opfern wollen?

Er musste sich eingestehen, dass er es tat.

»Das ist nicht gesund, Harvey«, hatte sie damals gesagt. »Immer nur arbeiten.«

»Jennifer, verstehst du denn nicht, um was es mir geht?«

»Natürlich verstehe ich das, aber es grenzt an Besessenheit. Du musst dir mal eine Auszeit gönnen.«

Doch das konnte er nicht. Er wusste, dass sein Engagement mehr als übertrieben war, aber sein Leben erschien ihm so unbedeutend, wenn er bedachte, wie groß dagegen die Aufgaben in der Klinik waren. Also hatte ­Jennifer ihre Sachen gepackt und war nach Los Angeles zu ihrer Schwester Susan, Bruce’ Exfrau, gezogen. Ja, Harvey war sowohl sein Schwager als auch sein Partner und enger Freund gewesen. Er musste beinahe lächeln, als er sich die beiden Schwestern in Kalifornien vorstellte. Er konnte regelrecht hören, wie Jennifer und Susan sich darüber stritten, ­welche den lausigeren Ehemann gehabt hatte. Wahrscheinlich hätte Bruce den Vogel abgeschossen, aber jetzt, wo er tot war, wurde er vermutlich heiliggesprochen.

Tatsache war, dass Harveys gesamtes Leben sich in der Klinik abspielte. Die Klinik und Aids, das war sein Leben. Die Pest der Achtziger und Neunziger. Nachdem er miterlebt hatte, wie sein Bruder von Aids zerfressen worden und bis auf die Knochen abgemagert war, hatte er sein Leben dem Kampf gegen das gefürchtete Virus verschrieben und sich geschworen, es für immer aus der Welt zu schaffen. Genau wie Jennifer es jedem, der es hören wollte, verkündete, war er von diesem Ziel besessen, so besessen, dass es ihm manchmal sogar selbst Angst machte. Aber er war seinem Ziel schon sehr viel näher gekommen. Er und Bruce hatten endlich Fortschritte erzielt, einen wirklichen Durchbruch …

Es klopfte an der Tür. »Komm rein, Eric.«

Dr. Eric Blake drehte den Knauf. »Woher wusstest du, dass ich das bin?«

»Weil du der Einzige bist, der hier anklopft. Komm rein. Ich habe gerade mit deinem alten Schulfreund gesprochen.«

»Michael?«

Harvey nickte. Sie hatten Eric Blake vor zwei Jahren ins Team aufgenommen, als sie eingesehen hatten, dass sie so viele Patienten zu zweit nicht versorgen konnten. Eric war ein netter Kerl, dachte Harvey, auch wenn er das Leben manchmal etwas zu ernst nahm. Es war ja in Ordnung, ernsthaft zu sein, vor allem, wenn man den ganzen Tag mit Aidspatienten zu tun hatte, aber wer die tägliche Tortur aus Tod und Leid überleben wollte, musste auch mal ein bisschen lockerer sein können, ein bisschen schrullig oder verrückt.

Eric aber wirkte regelrecht verklemmt. Sein auffälligstes Merkmal war sein rotes, zum Bürstenschnitt getrimmtes Haar. Bei seinem Anblick fiel einem unweigerlich das Wort »adrett« ein. Poliertes Schuhwerk. Maßanzüge. Erics Krawatte war immer gebügelt und tadellos gebunden, sein Gesicht frisch rasiert, selbst nach achtundvierzig Stunden Bereitschaftsdienst.

Harveys Krawatte hingegen war so locker gebunden, dass sie ihm fast um die Knie schlackerte, er rasierte sich nur, wenn es unumgänglich war, und seine Frisur hätte einen Windkanal benötigt, um halbwegs in Form zu kommen.

Eric Blake war im selben Wohnblock wie Michael aufgewachsen, in einer Kleinstadt in New Jersey. Als Michael Harveys Patient wurde, besuchte der kleine rothaarige Eric ihn täglich im Krankenhaus und blieb immer so lange, wie es die Besuchszeit erlaubte. Damals war Harvey ein überarbeiteter Assistenzarzt gewesen, dennoch hatte er jeden freien Moment am Krankenbett seines kleinen Patienten verbracht. Selbst Jennifer, die zur selben Zeit ein Praktikum im Krankenhaus absolvierte, fühlte sich zu dem Kind hingezogen. Schon sehr bald hatten Harvey und Jennifer eine intensive Beziehung zu diesem unwiderstehlichen Jungen aufgebaut, der in einer Welt der häuslichen Gewalt gefangen war.

Harvey und Jennifer hatten Michael vom kleinen Jungen zum Mann heranwachsen sehen. Sie waren zu seinen Basketballspielen und seinen Konzerten gegangen und hatten bei den Preisverleihungen applaudiert wie stolze ­Eltern. Sie hatten ihn getröstet, wenn er wieder verprügelt worden war, nachdem seine Mutter sich umgebracht und sein Stiefvater ihn im Stich gelassen hatte. Im Rückblick fragte sich Harvey oft, ob ihre enge Beziehung zu Michael ihr größtes Problem – dass ihre Ehe kinderlos geblieben war – womöglich noch verschlimmert hatte.

Vielleicht war das so gewesen.

Sie hatten alles probiert, aber Jennifer konnte keine ihrer Schwangerschaften austragen. Hätte sie es gekonnt, wäre alles vielleicht anders gelaufen.

Oder auch nicht. Wahrscheinlich nicht.

Harvey fragte sich, ob Jennifer noch mit Michael in Kontakt war. Vermutlich ja.

»Hast du Michael gesagt …«, setzte Eric an.

Aber Harvey unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. »Noch nicht. Ich wollte mich erst vergewissern, ob Sara heute Abend auch auf dem Ball sein würde.«

»Und kommt sie?«

»Ja.«

»Und? Willst du es ihr sagen?«

Harvey zuckte die Achseln. »Das weiß ich noch nicht.«

»Das verstehe ich nicht. Vor allem, wo wir so nah dran sind …«

»So nah dran sind wir gar nicht.«

»Nein?«, fragte Eric. »Harvey, ich bitte dich. Einige Menschen verdanken dir ihr Leben.«

»Dieser Klinik«, verbesserte Harvey ihn.

»Meinetwegen. Wenn wir unsere Ergebnisse veröffentlichen, dann gehen wir in die Medizingeschichte ein, gleich hinter Jonas Salk.«

»Ich denke eher an die Gegenwart.«

»Aber wir brauchen Publicity, damit wir Geld bekommen, um weiterzumachen …«

»Genug«, unterbrach Harvey ihn mit einem Blick auf die Uhr. »Lass uns noch kurz die Krankenakten durchsehen und dann in den Aufenthaltsraum gehen.« Er lächelte müde. »Ich möchte Saras Bericht über Reverend Sanders sehen.«

»Der Mann ist kein Freund unserer Sache.«

»Nein«, pflichtete Harvey ihm bei. »Allerdings nicht.«

Eric nahm ein Foto von der Kommode. »Der arme Bruce.«

Harvey nickte, sagte jedoch nichts.

»Ich hoffe, er ist nicht umsonst gestorben.«

Harvey war schon unterwegs zur Tür. »Das hoffe ich auch, Eric.«

George Camron zog seinen grauen Armani-Nadelstreifenanzug aus, strich sorgfältig die Bügelfalten glatt und hängte ihn auf einen hölzernen Kleiderbügel. Vor zwei Wochen war er gezwungen gewesen, einen Armani-Anzug zu verbrennen, und das hatte ihn sehr geärgert. Was für eine Verschwendung. Er musste mit seiner Garderobe sorgfältiger umgehen. Blutverschmierte Seidenanzüge erhöhten die Fixkosten und seine Spesen.

George, ein ausgesprochen massiger Mann, genoss die feineren Dinge des Lebens. Er trug ausschließlich maßgeschneiderte Anzüge. Er stieg nur in den luxuriösesten Hotels ab. Er aß nur in den besten Gourmet-Restaurants. Sein gegeltes Haar ließ er sich nur von den teuersten Haardesignern (nicht Friseuren) stylen (nicht schneiden). Maniküre und Pediküre waren Pflicht.

Er nahm den Hörer seines Zimmertelefons ab und drückte die Sieben.

»Zimmerservice«, sagte eine Stimme. »Haben Sie irgendeinen Wunsch, Mr Thompson?«

Im Ritz wurden die Gäste grundsätzlich namentlich angesprochen, wenn sie anriefen. Der persönliche Anstrich eines sehr guten Hotels. George mochte das. Thompson war natürlich nur sein derzeitiges Alias. »Kaviar, bitte. Iranischen, keinen russischen.«

»Gern, Mr Thompson.«

»Und eine Flasche Bollinger von 1979. Sehr kalt.«

»Gern, Mr Thompson.«

George legte den Hörer auf und machte es sich auf dem Doppelbett bequem. Seit seinen bescheidenen Anfängen in Wyoming war er sehr weit gekommen. Die Zeit als Soldat in Vietnam lag lange zurück, und er war weit weg von Thailand, dem Land, das er inzwischen seine Heimat nannte. Wenn er sich nicht in Thailand aufhielt, waren elegante Hotels sein Zuhause. Die Somerset-Maugham-Suite im ­Hotel Oriental in Bangkok. Das Penthouse mit Blick auf den Hafen im Peninsula in Hongkong. Die Ecksuite im Crillon in Paris. Die Präsidentensuite im Hassler in Rom.

George schaute auf die Uhr, nahm die Fernbedienung und schaltete Kanal 2 ein. In ein paar Minuten würde NewsFlash mit Donald Parker und Sara Lowell laufen. Und George würde sich das nicht entgehen lassen.

Das Telefon klingelte. George nahm den Hörer ab. »Hallo.«

»Hier ist …«

»Ich weiß, wer da ist«, unterbrach George den Anrufer.

»Haben Sie die letzte Zahlung erhalten?«

»Ja.«

»Gut«, sagte die Stimme.

Die Stimme klang nervös. George war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel. Nervöse Menschen hatten die Tendenz, Fehler zu machen. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte er.

»Tja, da wäre tatsächlich noch etwas …«

Ein neuer Auftrag. Sehr gut. George hatte keine Ahnung, wer sein Auftraggeber war, und es interessierte ihn auch nicht. Er wusste nicht einmal, ob die Stimme am anderen Ende tatsächlich der Auftraggeber war oder bloß eine Zwischenstation. Es spielte auch keine Rolle. Bei dieser Art von Aufträgen stellte man keine Fragen. George machte seine Arbeit, kassierte und zog weiter.

»Ich höre«, sagte er.

»Der letzte Auftrag … ist alles glatt verlaufen? Keine Probleme?«

»Sie haben doch bestimmt die Zeitungen gelesen. Was glauben Sie?«

»Schon gut, ich wollte mich nur noch mal vergewissern. Haben Sie Dr. Greys Akten?«

»Die habe ich hier bei mir«, erwiderte George. »Wann soll die Übergabe stattfinden?«

»Bald. Haben Sie Handschuhe und eine Maske getragen, wie ich es Ihnen aufgetragen habe?«

»Ja.«

»Und es hat keinen Zwischenfall gegeben?«

George überlegte einen Moment, ob er seinem Auftraggeber von dem dicken Umschlag berichten sollte, den Bruce Grey am Flughafen in den Briefkasten geworfen hatte. Aber nein, das ging ihn nichts an. Er war beauftragt worden, den Mann zu töten, es wie Selbstmord aussehen zu lassen, Akten oder Papiere, die der Mann bei sich hatte, an sich zu nehmen, eine Seite aus seinem Pass zu reißen und alles Geld, seine persönlichen Gegenstände und Dinge, an Hand derer er identifiziert werden konnte, unberührt zu lassen. Punkt. Aus. Von Postsendungen war keine Rede gewesen.

Es sei denn, es ging ihn doch etwas an. Er hätte nicht zulassen dürfen, dass Bruce diesen Umschlag in den Briefkasten warf. Es war ein Fehler gewesen, da war George sich sicher, aber er hatte keine Chance gehabt, es zu verhindern. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht hätte er ein paar Hintergrundrecherchen anstellen sollen, bevor er den Auftrag angenommen hatte. Irgendetwas an dieser Geschichte stimmte nicht.

»Nein«, antwortete George.

»Sicher?«

George räusperte sich. Dr. Bruce Grey hatte ihm die Arbeit ziemlich leicht gemacht. Dass er sich ein Zimmer im elften Stock genommen hatte, war ein Geschenk des Himmels gewesen, das hatte ihm erlaubt, jedes Mittel anzuwenden, das genügend Schmerzen verursachte, um an den Abschiedsbrief zu kommen. Alle Spuren von Verletzungen, die er Dr. Grey hatte zufügen müssen, waren durch den Aufschlag auf dem Pflaster überdeckt worden.

»Ich bin mir sicher«, erwiderte George. »Und in Zukunft möchte ich mich nicht wiederholen müssen. Damit verschwenden Sie nur meine Zeit.«

»Tut mir leid.«

»Sie deuteten einen weiteren Auftrag an?«

»Ja«, sagte die Stimme. »Ich möchte, dass Sie eine weitere … Person eliminieren.«

»Ich höre.«

»Ist da jemand bei Ihnen?«

»Nein.«

»Ich höre Stimmen.«

»Der Fernseher läuft«, erklärte George. »NewsFlash beginnt gleicht. Sara Lowells Debut.«

Die Stimme am anderen Ende klang erschrocken. »Warum … warum sagen Sie das?«

Komische Reaktion, dachte George. »Sie haben mich nach den Stimmen gefragt.«

»Ja, natürlich.« Die Person am anderen Ende der Leitung bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen, aber die Unruhe war ihr deutlich anzumerken. »Ich möchte, dass Sie noch jemanden aus dem Weg räumen.«

»Wann?«

»Heute Abend.«

»Das ist sehr kurzfristig. Das kostet extra.«

»Kein Problem.«

»Gut«, erwiderte George. »Wo?«

»Im Haus von Dr. John Lowell. Da wird heute ein Wohltätigkeitsball stattfinden.«

George hätte beinahe laut gelacht. Er blickte zum Fernseher hinüber. Dr. Lowell. Ehemaliger Militärarzt. Sara Lowells Vater. Das erklärte die merkwürdige Reaktion. Er fragte sich, ob Sara auch auf dem Ball sein würde.

»Dieselbe Methode wie bei den ersten beiden?«, fragte George.

»Ja.«

George nahm sein Stilett aus der Tasche, klappte es auf und überprüfte die lange, schmale Klinge. Das würde eine Sauerei werden, keine Frage. Nach einem Blick in seinen Kleiderschrank entschied er sich für das grüne Ralph-Lauren-Polohemd, das er in Chicago gekauft hatte. Das spannte sowieso an den Schultern.

2

Nicht nervös werden. Nicht nervös werden. Nicht nervös werden …

»Fünf Sekunden.«

Bei der Ankündigung zog sich Sara der Magen zusammen. Einen ganz kurzen Moment war sie versucht, wieder zu singen. Sie zwang sich, den Mund geschlossen zu halten, richtete ihre Brille und wartete.

Es wird alles gut. Ich werde ihm ordentlich einheizen … Ich werde ihm so richtig …

»Vier, drei, zwei …« Der Aufnahmeleiter gab den beiden Leuten, die am Tresen saßen, mit der Hand das Zeichen.

»Guten Abend, mein Name ist Donald Parker.«

Jetzt bloß nicht singen … »Und ich bin Sara Lowell. Willkommen bei NewsFlash.«

Dr. John Lowells Anwesen in den Hamptons war sehr weitläufig. Das Herrenhaus im Tudorstil thronte über vier Hektar ansehnlich gestalteter Landschaft. Es gab einen Rasen-Tennisplatz und Swimmingpools im Haus und draußen, drei Jacuzzi-Bäder, zwei Saunen, eine Hütte mit Umkleidekabinen, einen Hubschrauberlandeplatz und mehr Zimmer, als Lowell jemals würde benutzen können. Die Villa hatte seinem Großvater gehört, einem Kapitalisten, der – wenn man liberalen Lehrbüchern Glauben schenken durfte – durch Landplünderung und Ausbeutung zu Wohlstand gekommen war. Johns Vater jedoch hatte beschlossen, einen Bogen um das Familienunternehmen zu machen und Chirurg zu werden. John war dem Beispiel seines Vaters gefolgt. Er verdiente gut, obwohl die Tätigkeit als Arzt bei Weitem nicht so einträglich war wie Plünderung und Ausbeutung.

In wenigen Stunden würde sich der Ostflügel mit den reichsten Leuten der Welt füllen, die alle Tausende Dollars für das Erin-Lowell-Krebszentrum gespendet hatten, nur um an dem Ball teilnehmen zu dürfen. John würde viel ­lächeln und Smalltalk machen müssen, was ihm zutiefst widerstrebte. Während seiner umstrittenen Arbeit als Sani­tätsinspekteur der US Army Anfang der Achtzigerjahre hatte John Lowell nicht viel über Diplomatie und politische Geschmeidigkeit dazugelernt. Er führte einen regelrecht fanatischen Feldzug gegen den Krebs und bekämpfte alles und jeden, das oder der ihm dabei im Weg stand. Er hatte den Rauchern den Krieg erklärt und in einer landesweit ausgestrahlten Sendung erklärt: »Zigaretten sind Mordwaffen, so einfach ist das. Ich empfinde kein Mitleid mit Rauchern, die selbst dafür verantwortlich sind, dass sie Lungenkrebs bekommen. Sie ziehen ihre Mitmenschen, ja sogar ihre eigenen Kinder durch Passivrauchen in Mitleidenschaft. Ich begreife einfach nicht, wie wir Menschen tolerieren, die sich so selbstsüchtig und zerstörerisch verhalten.«

Diese Sätze hatten die Nation erschüttert. Die Lobbyisten der Tabakindustrie hatten versucht, dafür zu sorgen, dass John Lowell abgesetzt würde. Es war ihnen nicht gelungen. Aber nicht etwa, weil sie sich nicht nachdrücklich genug dafür eingesetzt hätten, sondern weil an jenem Tag eine Gefechtslinie gezogen worden war. Inzwischen war John schon lange nicht mehr Sanitätsinspekteur, doch seinen Kampf hatte er nicht aufgegeben.

»Hi, Dad.«

John Lowell wirbelte zu seiner älteren Tochter Cassandra herum. Sie trug einen Bademantel und Sandalen. »Wo willst du hin, Cassandra?«

»Ich will mich nur kurz im Pool abkühlen«, erwiderte sie.

»Aber deine Schwester ist in ein paar Minuten auf Sendung. Die Gäste werden hereinkommen, um es sich anzusehen.«

Cassandras Blick verdüsterte sich, aber John schien es nicht zu bemerken. »Ich bin gleich wieder zurück.«

»Du solltest die Sendung mit uns zusammen ansehen.«

Erneut entging ihm das wütende Funkeln in den Augen seiner Tochter. »Du nimmst die Sendung doch bestimmt auf, oder?«, sagte sie.

»Natürlich.«

»Dann werde ich mir meine Schwester so oft ansehen können, wie ich will, ich Glückspilz.«

»Cassandra …«

Sie ließ ihren Vater stehen und ging. Sara. In Cassandras ganzem Leben hatte es immer nur geheißen Sara hier, Sara dort. »Sara ist krank.« »Wir müssen Sara ins Krankenhaus bringen.« »Sei nicht so grob zu Sara.« In den Augen ihres Vaters war Cassandra nie so hübsch, so freundlich, so ehrgeizig und so klug gewesen wie Sara.

Ihre Mutter war anders gewesen. Erin Lowell hatte Cassandra genauso geliebt wie die hübschere, liebenswürdigere, ehrgeizigere, fleißigere, klügere Sara. Gott, wie sehr ihr ihre Mutter fehlte. Sie war jetzt schon mehr als zehn Jahre tot, aber Cassandras Trauer war immer noch frisch und manchmal überwältigend.

Es war drückend heiß, und viele Gäste hatten sich vor der schwülen Luft in den Pool gerettet. Doch jetzt waren die meisten unterwegs ins Haus, um das Debüt der wundervollen Sara bei NewsFlash mitzuerleben. Beim Anblick der in Richtung Pool strebenden Cassandra hatten einige der Männer es dann allerdings doch nicht mehr so eilig, ins Haus zu kommen.

Cassandra war hochgewachsen, hatte feurige Augen, eine dunkle Lockenmähne und einen olivfarbenen Teint. Die beiden Frauen waren so unterschiedlich, dass niemand sie für Schwestern hielt. Anders ausgedrückt, Cassandra war eine heiße Braut. Brennend heiß. Gefährlich heiß. Während man Saras Augen bestenfalls als tiefgründig bezeichnen konnte, glühten Cassandras wie Kohlen.

Sie ging zum Pool und streifte ihre Sandalen ab. Mit einem Lächeln ließ sie den Bademantel von ihren Schultern gleiten. Der einteilige Badeanzug, den sie darunter trug, bedeckte nur notdürftig ihre üppigen Kurven. Sie stieg aufs Sprungbrett, wohl wissend, dass alle Blicke ihr folgten, und schlenderte aufreizend langsam bis ans Ende. Dann machte sie einen eleganten Kopfsprung in das angenehm kühle Wasser. Mit kräftigen, geschmeidigen Bewegungen schwamm sie bis ans andere Ende des Pools.

»Kurz vor acht«, rief jemand aus dem Haus. »NewsFlash fängt gleich an!«

Die Frauen, die noch draußen waren, eilten ins Haus, doch die Männer konnten sich von Cassandras Reizen nicht so recht losreißen. Sie zogen ihre Wampen ein oder zupften ihre T-Shirts zurecht, um allzu offensicht­liche Mängel zu bedecken, gingen betont lässig an ihr vorbei und versuchten unauffällig, noch einen letzten Blick auf sie zu erhaschen.

Cassandra stieg aus dem Pool und ging, ohne sich abzutrocknen, langsam zu einem Liegestuhl. Sie nahm eine Sonnenbrille aus der Tasche ihres Bademantels, setzte sie auf, legte sich in den Liegestuhl und schlug die Beine übereinander. Sie wirkte vollkommen entspannt und in sich gekehrt, aber hinter ihrer Sonnenbrille wanderte ihr Blick aufmerksam umher.

Da war der rundliche Stephen Jenkins, der zweiundsechzigjährige ehemalige Senator von Arkansas. Stephen – Sara und sie nannten ihn Onkel Stevie – war ein alter Freund des Hauses. Er und John Lowell hatten gemeinsam das Amherst College besucht, ihre Ehefrauen hatten Partys gegeben, ihre Kinder waren zusammen ins Sommerlager gefahren. Schöne heile Welt. Und mit dem republikanischen Minderheitenführer im Senat ins Bett zu gehen war für Cassandra eine sportliche Herausforderung gewesen, wenn auch kein Vergnügen.

»Hallo, Cassandra«, rief Jenkins.

»Hallo, Onkel Stevie.«

Cassandra hatte in Erwägung gezogen, den gut aussehenden einzigen Sohn des Senators ebenfalls zu verführen, aber Bradley war eine ziemliche Nervensäge. Und, schlimmer noch, er war mit Sara befreundet. Die beiden konnten stundenlang reden, ohne Cassandra überhaupt zu beachten. Wären Sara und Bradley ein Paar gewesen, hätte Cassandra nicht lange überlegen müssen. Aber das waren sie nicht. Seit dem Tag ihrer Hochzeit vor zwei Jahren liebte Sara Michael mit einer Hingabe, die Cassandra zu Tode langweilte.