Träume passen in keine Schublade - Bjoern Behr - E-Book
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Träume passen in keine Schublade E-Book

Bjoern Behr

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Beschreibung

Träume können wahr werden. Doch nicht einfach so. Nein, es braucht den Mut und die Gewissheit, dass es genau das ist, was man erreichen will. Das haben Bjoern und Christian auf ihrem Weg zwischen all den Unwägbarkeiten des Lebens gelernt. Obwohl viele sie in Schubladen stecken wollten, stehen sie nun hier: Beide haben sich Traumkarrieren erkämpft, sich immer wieder neu bewiesen, um am Ende festzustellen, dass ihnen etwas Entscheidendes zum ganz großen Glück fehlt: eine eigene kleine Familie, die sie mit ihrem Sohn nun haben. Da sie selbst kein Familienmodell als Vorbild heranziehen konnten, wollen sie nun als Vorbild für zukünftige Eltern, völlig egal, in welcher Konstellation, dienen und den Weg ebnen – denn auch queere Wege sind richtige Wege. Ehrlich und authentisch erzählt Bjoern mit Christian, was für Hindernisse sie überwinden mussten und was es war, das ihnen geholfen hat, ihre Lebensträume zu verwirklichen: Liebe und eine große Portion Mut.

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Seitenzahl: 290

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Bjoern Behr mit Christian Gothe-Behr

TRÄUME PASSEN IN KEINE SCHUBLADE

Bjoern Behr mit Christian Gothe-Behr

TRÄUME PASSEN IN KEINE SCHUBLADE

Wie wir gelernt haben, dass Mut Glück möglich macht

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

2. Auflage 2023

© 2023 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Ariane Novel

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: shutterstock/mhatzapa

Satz: Carsten Klein, Torgau

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7474-0492-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-885-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-886-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Vorwort

Kapitel 1

Wir

Kapitel 2

Eine Kindheit zwischen Rheinland und schwäbischer Alb

Kapitel 3

Wir können alle den Himmel anfassen

Kapitel 4

»Aus Ihrem Sohn wird nichts«

Kapitel 5

Wir können alles!

Kapitel 6

Jetzt erst recht

Kapitel 7

Schubladenwände

Kapitel 8

Das Finden des anderen Ichs

Kapitel 9

System Arbeitswelt

Kapitel 10

Als Paar überleben

Kapitel 11

Von Wegbegleiter*innen und Besserpisser*innen

Kapitel 12

Plötzlich Papas

Kapitel 13

Es muss ein Thema bleiben, solang es ein Thema ist

Kapitel 14

Der Schritt zum Glücklichsein

Kapitel 15

Stark durchs Leben gehen

Danksagung

Vorwort

Dieses Buch ist in den österreichischen Bergen und auf einer Schiffsreise in Norwegen entstanden. In großen Ohrensesseln in der Hotellobby und in der Bibliothek, mit der einen oder anderen Tasse Kaffee in der Hand und mit Blick auf schneebedeckte Berge und Fjorde, sind wir tief in unsere Vergangenheit eingetaucht. Es war eine Reise zu uns selbst, ein intensives und kritisches Hinterfragen von Ereignissen und Entscheidungen, die mit der Erkenntnis einhergeht, dass wir unglaublich viel Mut hatten.

Dieses Buch handelt von den Meteoriteneinschlägen unseres Lebens. Wie wir auf unserem Lebensweg beharrlich unsere Ziele verfolgt haben, um unseren Traum zu leben und so unser ganz eigenes Glück zu finden. Es handelt von Wegbegleiter*innen und Besserpisser*innen, von Familie, Freund*innen, der Gesellschaft, von Neid und Missgunst, aber vor allem von viel Mut und noch mehr Liebe.

Wir stellen nicht den Anspruch, dass alle Vorgehensweisen und Entscheidungen stets richtig waren. Es war durchaus wichtig, auch Fehler auf unserer Reise zu machen. Sie haben aber dazu geführt, dass wir ein selbstbestimmtes Leben führen. Die kommenden Seiten sind alles andere als eine wissenschaftliche Abhandlung von Selbstfindung und Persönlichkeitsentwicklung. Wir möchten dir eher Impulse, eine Inspiration für dein eigenes Leben geben.

Aber am Ende möchten wir dich auch herausfordern: Wir wünschen uns, dass du dir nach diesem Buch selbst die Frage stellst, ob du wirklich mutig in deinem Leben bist, aber vor allem, ob du alles dafür tust, dass du wirklich glücklich lebst! Und solltest du auch nur eine der Fragen mit Nein beantworten, dann wünschen wir uns, dass du genau das änderst und dein Leben in deine Hand nimmst!

Kapitel 1

Wir

An einem warmen Frühlingstag verlässt Carlotta pfeifend an der Hand ihres Vaters den Kindergarten. Als sie am Parkplatz Lukas mit seinem Papa sieht, zieht sie an der Hand ihres Vaters. Sie schaut lächelnd in die Richtung von Lukas und sagt: »Papa, das ist Lukas.« Ihr Vater schaut in die gleiche Richtung und nickt wohlwollend. Carlotta bleibt stehen und schaut ihren Vater mit glücklichem Gesicht an. »Und weißt du was? Der hat gleich zwei Papas! Ist das nicht cool?«

Diese beiden Papas, von denen Carlotta spricht, sind wir – Papi Christian und ich, Papa Bjoern. Zu unserer Familie gehören unser fünfjähriger Pflegesohn Lukas, Labrador Anton und Vogelspinne Julius, die eigentlich eine Julia ist und schon über 20 Jahre auf dem Spinnenbuckel hat. Christian und ich haben uns vor 13 Jahren kennengelernt, sind seit 2014 verheiratet, und seit über vier Jahren lebt Lukas bei uns. Das Rezept unserer Beziehung liegt darin, wie unterschiedlich unsere Charaktereigenschaften, unsere Betrachtungsweisen sind und wie unterschiedlich wir unser Sein leben.

Christian ist ein Träumer, ein lebensbejahender Chaot, ein bunter Vogel. Auf unserem gemeinsamen Weg bleibt er oft stehen und schaut sich um. Er entdeckt immer Neues und beginnt zu träumen. Ihm ist es unglaublich wichtig, Freude bei allem zu haben, was er macht. Bringen Dinge keinen Spaß, sind sie bei ihm unten durch. Sind sie notwendig, erledigt er sie zähneknirschend. Er will die Welt und ihre Möglichkeiten begreifen und erleben. Ihm ist es wichtig, viele Menschen um sich herum zu haben. Die meisten unserer Freunde kommen aus seinem Umfeld. Der Austausch mit anderen ist sein tägliches Benzin im Motor. Stundenlange Telefonate sind keine Seltenheit, unser Haus steht immer jedem offen. Gleichzeitig fällt es ihm schwer, Entscheidungen zu treffen. In einem immer wiederkehrenden Muster windet er sich wie eine Schlange um den Moment, macht statistische Erhebungen im Familien- und Freundeskreis, bis er irgendwann zum Ergebnis kommt. Und selbst dann kann es passieren, dass er nachträglich noch mal umschwenkt. Das geht beim Sockenkauf los und endet noch lange nicht beim Wie und Wo seiner Geburtstagssommerfeier.

Ich bin das Gegenteil von Christian. Immer lösungsorientiert renne ich auf unserem Weg nach vorne. Es müssen Entscheidungen getroffen werden? Dann werden sie eben getroffen. Es gibt kein Hadern, kein Grämen über die Vergangenheit, vor uns liegt das Ziel. Dadurch ziehe ich immer – egal, ob privat oder beruflich – alle mit, bleibe aber oft selbst auf der Strecke, weil ich bei anderen Erwartungshaltungen schüre und sich für mich der Druck aufbaut, Situationen immer auch für alle entsprechend zufriedenstellend lösen zu müssen.

Ich brauche nicht viele Menschen um mich herum, mir geht es eher um Qualität als um Quantität. Ich kann gut mit mir allein sein und schöpfe aus der Zeit, die ich mit mir verbringe, meine Energie. Ein Freund sagte mal zu uns: »Bjoern, du bist der Fels im Ozean. Dich kann wenig erschüttern, du hältst durch. Christian, du bist die Welle, die sich am Felsen reibt, die ihn umspült und formt.«

Wie recht er doch mit diesem Bild hat! Zusammen ergeben wir eine perfekte Symbiose aus Zielorientiertheit, Spaß, Ruhe und Trubel.

In den letzten 13 Jahren haben wir gelernt, in unserer Partnerschaft gemeinsam unsere Stärken auszubauen und den anderen bei seinen vermeintlichen Schwächen zu unterstützen. Unsere Liebe ist eine Partnerschaft geworden, die ein ganz besonderes Level erreicht hat. Sind wir früher als Einzelkämpfer durchs Leben gegangen, immer auf der Suche nach dem perfekten Job, der vollkommenen Beziehung, dem noch grüneren Gras, so haben wir gemeinsam unsere ganz eigene Definition von Perfektion gefunden – wir beide passen perfekt zusammen! Wir ergänzen und inspirieren uns. Wir wertschätzen und behandeln uns mit unglaublich viel Respekt. Wir haben unendliches Vertrauen und nehmen den anderen an die Hand und das seit über einem Jahrzehnt.

Eines Tages, wir waren fünf Jahre zusammen, waren wir bei Freunden zu Besuch, die etwas außerhalb der großen Stadt in einem Dorf wohnen. Das Haus, die Umgebung ... Uns gefiel, was wir sahen, und wir sprachen darüber, wie gut wir uns einen Umzug in ein Haus auf dem Land vorstellen könnten. Einige Wochen später riefen sie uns an und erzählten, dass ein Haus bei ihnen gegenüber frei würde. Wir verliebten uns in dieses Haus, packten unsere Sachen und zogen aufs Land – mit Vorgarten, Carport und Waschküche. Dieser Umzug hat mich sehr glücklich gemacht. Ich sauge äußere Einflüsse auf wie ein Schwamm. Menschen, Kulturen und Städte finde ich spannend, mein Job ist aufregend, aber genau deshalb brauche ich einen Ort, an dem ich meine Gedanken sortieren und zur Ruhe kommen kann – in unserem Zuhause, unserem Nest. Wir hörten zu der Zeit oft von unseren Freunden, wie spießig wir doch seien, wie man mit 33 und 37 Jahren einen solchen Schritt machen könne. Uns wurde zugeschrieben, dass wir als schwule Männer nur das Stadtleben zu lieben haben, dass Party, Lifestyle und schicke Restaurantbesuche zu unserem Leben gehören müssten.

Die Schublade, dass ein Umzug aufs Land nur für heterosexuelle Familien mit Kindern etwas wäre, wurde damals weit geöffnet. Mir waren und sind solche Aussagen schlichtweg egal. Ich bin ein Freigeist, ich habe mich mein Leben lang nicht in eine Form pressen lassen, wenn ich doch mal drinsaß, bin sehr schnell wieder ausgebrochen. Ich mochte die Vorstellung des Landlebens, und deshalb taten wir es.

Bei Christian sah das ein bisschen anders aus. Er war zwar der Initiator der Wir-ziehen-aufs-Land-Geschichte, doch für einen kurzen Augenblick wirkte es so, als bliebe sein Leben stehen. Christian ist ein unglaublicher Kommunikator, er schart Menschen um sich. Ein perfekter Tag ist für ihn, wenn er Stunden mit Freunden im Café sitzen und über die Welt philosophieren, sich aber auch über Klatsch und Tratsch austauschen kann. Der Umzug aufs Land brachte seine Welt kurz ins Wanken. Er hatte Angst, dass wir zu weit weg wohnen, niemand mehr zu uns kommen würde und wir, zu der Zeit noch zu zweit, verkümmern würden. Gleichzeitig redete er sich ein, dass wir als homosexuelles Paar auf dem Land beäugt und nicht gemocht werden würden. Ein Glaube, der weit von der Realität entfernt war, wir er schnell lernte.

Kurz nach unserem Umzug, als ich dabei war, im neuen Haus einen der Kartons auszupacken, beschlich mich das Gefühl, dass wir sie bald wieder packen würden. »Hörst du das?«, fragte mich Christian. Ich lauschte kurz und antwortete: »Hier ist es so schön ruhig!« – »Hier ist es tot!«, konterte er. Die Stimmung war schlecht, wir diskutierten und stritten uns oft. Es ging so weit, dass ich das weitere Auspacken unserer Kartons einstellte. Ein entscheidender Faktor, der dann alles veränderte, war unser direktes Umfeld im Dorf. Unsere Freunde, die uns das Haus vermittelt hatten und mit ihren Kindern gegenüber wohnten, aber auch die anderen in der Nachbarschaft empfingen uns mit offenen Armen. Es wurde uns so unglaublich leicht gemacht, Anschluss zu finden. Wir waren integriert, als wir noch gar nicht richtig angekommen waren, und wurden gefühlt jeden Abend bei jemand anderem eingeladen. Dieser Fakt ließ Christian leiser mit seiner Land-Kritik werden und schlussendlich über einen Zeitraum von einem halben Jahr sogar Frieden schließen.

Rückblickend war der Schritt des Umzugs trotzdem mutig. Wir haben uns getraut, die Einfachheit der Großstadt, mit all ihren Möglichkeiten – von Einkauf bis Kultur, von Freizeitaktivität bis Gesundheitswesen – mit der Abgeschiedenheit auf dem Land auszutauschen. Vieles war ab da organisatorisch definitiv schwerer, aber ein Faktor war unfassbar gestiegen und hatte in der Gewichtung alles überholt – Lebensqualität!

Unsere Welt ist so schnell geworden, wir hasten von Tag zu Tag und vergessen nur zu oft, auch mal stehen zu bleiben. Wir werden von äußeren Einflüssen getriggert und sind immer, zu jeder Zeit erreichbar! Wir merken gar nicht, wieso unser Leben an uns vorbeistreicht, und haben tatsächlich verlernt, einfach auch mal innezuhalten. Christian und ich haben durch den Umzug zu all dem unseren perfekten Ausgleich gefunden, wenn auch der Start mit Schmerz verbunden war – unser Nest, unser Wohlfühlzuhause.

Spätestens seitdem unser Sohn bei uns lebt, haben sich auch die letzten Zweifel bezüglich des Landlebens in Wohlgefallen aufgelöst. Obwohl Christian auf dem Dorf groß wurde, oder vielleicht gerader deshalb, tat er sich zu Beginn schwer. Ich bin als Stadtkind aufgewachsen. Meine Eltern mussten mich zum Spielplatz lange begleiten. Auch den Weg zu einem Freund oder dann in die Grundschule ging ich bis zum neunten oder zehnten Lebensjahr nicht allein. Unsere heutige Wohnsituation auf dem Land wissen wir sehr zu schätzen. Ob Spielstraße und Spielplatz vor der Haustür, Kindergarten und Grundschule im Dorf, Wald und Feld direkt hinterm Haus ... Wir sind sehr glücklich, dass Lukas so aufwachsen kann. Neben seiner kreativen Entfaltung – dem Spielen mit Dingen aus der Natur – beflügelt es seine Selbstständigkeit ganz ungemein. Wie stolz ist er, wenn er »Tschüss« ruft, die Haustür von außen schließt und allein zur Nachbarstochter rüber läuft.

Zwergi, wie wir ihn liebevoll nennen – was wohl langsam zu alternativen Spitznamen führen wird, denn so klein ist er gar nicht mehr –, war ein Jahr alt, als er bei uns einzog. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns bereits über drei Jahre mit unserem Kinderwunsch beschäftigt und sowohl einen vollständigen Bewerbungsprozess für Adoption als auch für die Aufnahme eines Pflegekindes abgeschlossen. Dabei stand ein Pflegekind lange nicht an erster Stelle, davon erzähle ich später aber mehr. Lukas Lebensstart war sehr holprig, dafür kann er zur Ruhe kommen, seit er bei uns eingezogen ist. Schon von Anfang an machte er uns unser plötzliches Elternsein sehr leicht. Schlafengehen, Essen, mit ihm zu verreisen, waren nie ein großes Thema. Er passte zu uns, als wäre es nie anders gewesen. Vielleicht liegt das am Ende auch daran, dass er spürte, dass wir nun sein sicherer Hafen, seine neue Familie sind.

Mit seiner offenen Art wickelt Lukas jeden um den Finger. Seine klaren Ansagen und Meinungsäußerungen sorgen oft für ein Schmunzeln bei uns. Ein Schmunzeln, weil wir glücklich sind, dass er so ist. Denn wir sind uns sicher, dass jede Klarheit von ihm, jedes Nachvornepreschen, ihm später zugutekommen wird. Denn die Welt wird definitiv nicht langsamer oder einfacher, sie verändert sich unaufhaltsam in riesigen Schritten! Seine Charaktereigenschaften, gepaart mit unserem Zutun, geben ihm die bestmöglichen Voraussetzungen, in diesem Lebenswahnsinn der Kapitän auch im größten Sturm zu bleiben. Nur den Kurs, den muss er eben selbst wählen.

Und natürlich hat Lukas unser Leben auch ganz schön durcheinandergebracht. Manchmal fragen wir uns, ob wir uns unser Leben mit Kind so vorgestellt haben. Christian war 36, ich 40, als Lukas zu uns kam. Aber es fällt uns heute schwer, uns überhaupt noch daran zu erinnern, wie das Leben ohne Lukas war. Dieses andere, alte Leben scheint so unendlich weit weg zu sein. Wir hätten nie gedacht, dass Liebe und Bindung so schnell wachsen können. Schon früh, als wir uns noch theoretisch mit unserem Kinderwunsch auseinandersetzten, wurden wir oft gefragt, ob wir denn zu einem fremden, nicht leiblichen Kind eine echte Bindung aufbauen und Liebe verspüren können. Eine Frage, die uns seitdem tatsächlich begleitet, noch heute wird sie uns ab und zu gestellt. Wir haben sie nie verstanden. Warum sollen wir denn nicht einen Menschen lieben können, den wir als unseren Sohn bezeichnen? Einen Menschen, der zu uns aufschaut, der uns braucht und uns bedingungslos liebt, weil er es bewusst gar nicht anders kennt? Am Ende ist es völlig egal, wie wir uns das Leben mit Kind vorgestellt haben, heute ist es so, wie es ist ... Ein wunderbares, erfülltes und wesentlich sinnvolleres Leben.

Mit dem Papasein kam auch die Verschiebung der Prioritäten. Sind wir früher durchs Leben gehastet, so haben wir vor vier Jahren vom einen auf den anderen Moment von Lukas gelernt, stehen zu bleiben, wir haben tatsächlich eine Vollbremsung hingelegt. Der Umzug ins Haus war eine Entschleunigung, das Kennenlernen von Lukas ließ hingegen die Welt tatsächlich kurz stillstehen. Er zeigt uns bis heute, wie wichtig einzelne Momente sind. Völlig egal, ob es darum geht, einen aus der Erde schauenden Regenwurm, die tote Maus auf der Straße, die Baustelle in der Nachbarschaft zu betrachten oder auch einfach ein Buch zu lesen und in eine andere Welt einzutauchen. Für ihn zählt immer nur das Hier und Jetzt, dieser eine Moment. Raum und Zeit verschwimmen für ihn. Eine Eigenschaft, um die wir ihn sehr beneiden, denn wir haben sie mit dem Älterwerden leider weitestgehend verlernt. Für uns Erwachsene geht es nicht um das Jetzt, es geht um das Danach, um morgen, um nächstes Jahr. Wir tun heute Dinge, damit sie in der Zukunft so werden, wie wir sie vielleicht gerne hätten. Dabei wissen wir doch nicht einmal, wie viel Zukunft überhaupt noch vor uns liegt. Mit Lukas ist Christians und mein Leben definitiv wertvoller geworden. Wir haben durch unseren Sohn gelernt, nicht immer nur nach vorne zu schauen. Sein Hier und Jetzt ist auch unser Hier und Jetzt geworden.

Unsere Prioritäten haben sich durch Lukas stark verschoben, und das betrifft auch unsere Einstellung zu unseren Berufen. Christian arbeitet bei einer großen deutschen Airline als Kabinenchef. Er zog mit 18 Jahren von Zuhause aus, um die Welt zu entdecken. Er fliegt seitdem zu Zielen, die andere Menschen ihr Leben lang nur aus dem Fernsehen kennen. Als ich ihn vor zwölf Jahren kennenlernte, gab es zu Beginn oft Momente, in denen wir mit seinem Fliegerkollegenkreis zusammensaßen, die sich darüber beschwerten, dass sie schon wieder nach New York fliegen mussten. Als ich das zum ersten Mal hörte, blieb mir die Pizza fast im Hals stecken. Wie kann man nur so undankbar, so satt sein? Über die Jahre lernte ich allerdings auch die Schattenseiten dieses Berufs kennen. Wenn man zum dritten Mal im Monat mit Jetlag im Hotelzimmer liegt und krampfhaft versucht, sich nach der deutschen Zeit zu richten, dann hat das wenig mit dem Reiz zu tun, die Welt zu entdecken, ferne Kulturen kennenzulernen oder ausgedehnte Sightseeing- oder Shoppingtouren zu unternehmen. Die vor allem körperlichen Strapazen dieses Jobs hatte ich bis dahin überhaupt nicht gesehen. Doch Christian machte das nicht viel aus, er stieg die Karriereleiter im Unternehmen immer höher. Er ließ fast keine Zusatz- und Weiterbildung aus. Auf dem Zenit seiner Karriere legte er dann auch noch eine Ausbildung zum Servicekaufmann im Luftverkehr oben drauf. Kein Projekt, keine Anfrage, keinen Hilferuf seiner Kolleg*innen lehnte er ab. Rückblickend betrachtet, war das der helle Wahnsinn, ein Leben auf der beruflichen Überholspur.

Auch bei mir zog sich der berufliche Erfolg durchs Leben, wie ein nie endender Wanderpfad mit dem Versprechen auf eine großartige Aussicht. Mein Fundament bildet dabei tatsächlich mein erster richtiger Job, den ich im Walt Disney World Resort in Florida hatte, da war ich 20 Jahre alt. In Lederhosen durfte ich die deutsche Kultur im Biergarten des Epcot Centers, einem von vier großen Vergnügungsparks vom Walt Disney World Resort in Orlando, vertreten. Diese 13 Monate prägten mich für alles, was kommen sollte, sowohl beruflich als auch in vielen privaten Bereichen. Ich verinnerlichte Disneys Firmenphilosophie, die darin bestand, Dienstleistung und Entertainment in Perfektion anzubieten und auszuführen. Dass man Berufliches und Privates sehr gut trennen und sich so sogar eigene, emotionale Inseln in seinem Leben schaffen konnte, lernte ich hier quasi von der Pike auf. Mit meinem Talent, Menschen zu unterhalten, wurde ich eins mit der DNA meines damaligen Arbeitgebers. Zurück in Deutschland, begann ich fünf Jahre später, nach meiner Ausbildung zum Mediengestalter Bild und Ton, als Jungredakteur in München zu arbeiten und stieg im Eiltempo die Stufen der Karriereleiter hoch. Mir gefiel es, Menschen zu führen, mit meinem eigenen Team etwas zu erschaffen. Es machte mich glücklich, wenn ich andere Menschen glücklich machen konnte ... Sei es, meine Mitarbeiter*innen, indem ich ihnen Aufgaben gab, die zu ihnen passten, und ich so ihre Stärken stärkte, oder eben die Zuschauer*innen vorm Fernseher mit unseren Sendungen. Als Redaktionsleiter produzierte ich eine Sendung nach der anderen. Dann wechselte ich den Arbeitgeber und in immer höhere Positionen. Ich hatte definitiv Spaß daran, als Entscheidungsträger eine Machkraft zu sein.

Als Lukas zu uns kam, begannen wir, unsere Karriereleiter aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Wir begannen, den Sinn zu hinterfragen und hinzuschauen, wie sehr wir uns für unseren Beruf in den vergangenen zehn bis 15 Jahren aufgeopfert hatten. Diese Veränderung passierte nicht von heute auf morgen, aber in sehr absehbarer Zeit. Denn, wem erzähle ich es, es ist eine unfassbare Herausforderung, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen – und wir hatten nur ein Kind und waren zu zweit. An wie vielen Tagen hastete ich übereilt aus meinem Büro, 40 Kilometer von zu Hause weg, um es noch pünktlich zum Kindergartenschluss zu schaffen, weil sich Christian gerade über den Wolken befand. Die zeitliche Organisation wurde zum Drahtseilakt, sowohl organisatorisch als auch nervlich.

Ebenso merkten wir sehr schnell, wie es uns an anstrengenden Tagen im Job nur noch nach Hause zog. Wir wollten uns mit Lukas auf den Fußboden legen, Bücher lesen, Quatsch machen, spielen und die Welt mit ihm gemeinsam entdecken. Wobei Welt entdecken eben nicht mehr die exotischsten Ziele sein sollten, sondern das leere Schneckenhaus, ein alter Tannenzapfen oder der Geschmack einer selbst angebauten Möhre. Wir merkten, dass es uns langsam, aber unaufhaltsam immer unwichtiger wurde, eine wichtige Rolle in unseren Berufen innezuhaben. Das soll nicht heißen, dass wir den Spaß an unserer Arbeit verloren haben. Die Art, wie wir sie angingen, veränderte sich aber. Wir betrachteten die Dinge differenzierter. Uns beiden wurde bewusst, dass wir nicht am offenen Herzen operierten. Lukas wiederum sorgte ganz unbewusst dafür, dass wir uns nicht mehr so wichtig nahmen. Und die Berufswelt? Die drehte sich weiter, egal, ob mit oder ohne uns auf der Überholspur.

Wir begannen, uns langsam zu fragen, woher überhaupt unser bisheriger Antrieb kam, es der Welt beweisen zu wollen. Waren all die Dinge wirklich das, was wir wollten? Die Grundsteine dafür wurden sicherlich bereits in unserer Kindheit gelegt - wie wir aufwuchsen, was uns an Werten mitgegeben wurde, wie sehr wir uns durchkämpfen mussten. Unser Outing war einer der größeren Meilensteine für unsere Kämpfe. Wir hatten es davor beide auch mit dem weiblichen Geschlecht probiert. Wahrscheinlich aber nur, weil wir es so gelernt hatten, weil uns gesagt wurde, dass das eben normal ist, weil die Gesellschaft einfach voraussetzte, dass es so zu sein hat.

Wir waren beide etwa 20 Jahre alt, ich arbeitete bei Disney in Orlando, Christian war gerade mit der Schule fertig, als wir unabhängig voneinander über eine schier unüberwindbar scheinende Schlucht sprangen und zehn Schritte in unserem Leben nach vorne gingen. Wir erzählten unseren Familien, unseren Freunden*innen, dass sich etwas in unserem Leben verändert hatte – wir outeten uns.

Rückblickend hat sich dadurch für uns selbst allerdings wenig verändert. Wir lieben einen Menschen – welches Geschlecht dieser hat, war doch völlig unwichtig! Doch für unsere Familien, unsere Freund*innen, die Gesellschaft um uns herum war es eine große Veränderung, eine Veränderung abseits der Norm.

Unsere Outings sind ein weiteres Fundament, das uns dazu geführt hat, dass wir bei vielen Dingen kämpferischer eingestellt sind, als manch anderer. Wir mussten uns schon früh durchsetzen, Strategien entwickeln und waren erfolgreich damit. Dieses System haben wir über die Jahre ausgebaut und perfektioniert. Wir wissen, dass jede Entscheidung im Leben Konsequenzen hat. Und wir treffen unsere Entscheidungen für uns und unsere Familie. Wir lassen uns schon lange nicht mehr sagen, was angeblich gut ist oder nicht, nur weil außenstehende Personen es vermeintlich besser wissen. Wenn andere wiederum still werden, sprechen wir die Dinge an, wir lassen uns den Mund nicht verbieten.

Christian, Lukas und ich sind eine völlig normale Regenbogenfamilie. Wir sind ein Familienmodell von so vielen, die es da draußen gibt. Wir sind zwei liebende Menschen, die einem Kind, das sein ursprüngliches Zuhause verloren hat, ein neues Zuhause geschenkt haben. Gemeinsam genießen wir diese bunte Welt und schaffen uns gemeinsame Erinnerungen. Wir stolpern ebenso über viele Elternthemen, beißen uns die Zähne an den Entwicklungsphasen unseres Sohnes aus. Wir lachen und weinen, wir diskutieren und streiten. Wir wachsen und lernen jeden Tag gemeinsam. Uns ist es wichtig, das Leben gemeinsam zu genießen. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns gegeben wird, wann all das nicht mehr so ist oder sein kann. Fakt ist, unsere Zeit auf dieser Erde ist endlich, und wir wollen sie so schön und bunt wie möglich verbringen. All diese Einstellungen begleiten uns seit vielen Jahren und lassen uns vieles entspannter betrachten. Wir waren und wir sind mutig, wir leben unseren Traum!

Kapitel 2

Eine Kindheit zwischen Rheinland und schwäbischer Alb

Christian und ich sind völlig unterschiedlich aufgewachsen. Während die Werte, die uns grundsätzlich vermittelt wurden, noch die gleichen waren, lebten wir in komplett verschiedenen Familienkonstellationen. Christians Familie hielt sich stringent an das klassische Familienbild mit Vater und Mutter. Meine Mutter war hingegen insgesamt dreimal verheiratet und jahrelang alleinerziehend. Doch uns verbindet, dass wir beide stark von anderen Familienmitgliedern beeinflusst wurden.

Sehr behütet, aber doch auch oft auf mich selbst gestellt, wuchs ich in einem Drei-Frauen-Haushalt auf. In den ersten Monaten seit meiner Geburt sind schon so viele Dinge passiert, an die ich mich gar nicht erinnern kann. Meine Mutter hatte gerade meinen Vater geheiratet, als sie mit 19 Jahren mit mir schwanger wurde. Heute spricht sie vom schönsten Unfall, den sie je in ihrem Leben hatte. Die Voraussetzungen waren damals nicht einfach. Obwohl ich noch ein Baby war, sind wir oft umgezogen, immer den Träumen und Wünschen meines Vaters hinterher. Schließlich trennte sich meine Mutter von meinem Vater, als ich zwei Jahre alt war.

Danach zog meine Mutter mit mir zurück zu meiner Oma, der Mutter meiner Mutter. Dort hatten wir jeweils ein eigenes Zimmer, meine Oma schlief in einem schrankähnlichen Klappbett im Wohnzimmer. Das Haus aus den 1950er-Jahren stand an einer Hauptstraße, am Ortsausgang von Königswinter – mit einem großen Garten, in dem alte, riesige Kastanien standen, mit Zinkwannen voller Erde und Blumen. Der Garten grenzte direkt an einen Schulhof und eine Kirche. Wir hatten einen tollen Blick auf den Petersberg, wo das Hotel lag, in dem die Staatsgäste der damaligen Bundeshauptstadt Bonn residierten.

In der Wohnung direkt nebenan lebte meine Großtante, die wir liebevoll Ikaka nannten, mit ihrem Dackel. Ein Name, den irgendein Kind ihr mal gegeben hatte, weil es ihren richtigen Namen nicht aussprechen konnte. Ihre Wohnung war klein, um ins Bad zu kommen, musste man sich seitwärts durch die Küchennische schlängeln. Im Bad gab es einen Heizstrahler über der Tür, das Geräusch der Klospülung war ohrenbetäubend. Im Wohnzimmer hingen unzählige alte Bilder, und die Regale waren randvoll mit Büchern berühmter Politiker*innen und Künstler*innen. In der Mitte stand ein uralter, runder Esstisch, um den lauter Ohrensessel und ebenso alte Stühle gestellt waren. Der Boden war mit Perserteppichen ausgelegt. Ikaka sollte auch ein halbes Jahrhundert später noch in besagter Wohnung leben und so einen Teil meiner Kindheit konservieren. Wenn ich heute das Haus betrete, riecht es noch genauso wie vor 40 Jahren. Ich sehe mich als Kind, wie ich von Wohnung zu Wohnung laufe und im Garten spiele. Ich sehe, wie meine Oma mit der Mülltüte in der Hand zu den Tonnen hinübergeht. Ich höre den Dackel meiner Großtante an der Tür, nachdem es geklingelt hat. Im Keller ist es selbst heute noch ein vertrautes Geräusch, wenn ich das Schloss des Holzver-schlages aufschließe. Jeder Besuch fühlt sich so an, als würde ich meine ganz eigene Matrix betreten. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Oma hinter mir steht und mir die Hand auf die Schulter legt.

Den Plan, nach der Schule Medizin zu studieren, musste meine Mutter in den Wind schießen. Plötzlich ging es darum, möglichst schnell Geld zu verdienen, um überhaupt auf eigenen Beinen stehen zu können und für die Familie zu sorgen. Sie begann eine Ausbildung im medizinischen Bereich und arbeitete viel. Wie viel das damals war, das wurde mir erst über drei Jahrzehnte später klar.

Während meine Mutter früh das Haus verließ, kümmerte sich meine Oma um mich. Ich erinnere mich gut daran, wie sie mich morgens in der Küche auf den Stuhl stellte und für den Kindergarten anzog. Dieser lag praktischerweise direkt neben der Schule, hinter unserem Haus. Ich musste nur über den Zaun klettern, beim Pfarrer einmal durch den Garten laufen und die Hühner aufschrecken. Natürlich schaute mir meine Oma hinterher, dass ich nicht falsch abbog und auch wirklich ankam, aber durch diese örtlichen Gegebenheiten hatte ich früh die Chance, bereits allein zum Kindergarten zu gehen – zumindest wurde mir dieses Gefühl vermittelt. Rückblickend sollten das schon die ersten Schritte in meine zukünftige Selbstständigkeit sein.

Ikaka war Lehrerin und die stellvertretende Schulleiterin einer Grundschule. Eine längere, partnerschaftliche Beziehung sollte es in ihrem Leben nicht geben. Deshalb kümmerte auch sie sich zur damaligen Zeit sehr viel um mich. Wenn der Kindergarten geschlossen war, durfte ich sie tagsüber in ihre Schule begleiten. Da saß ich während der Unterrichtsstunden in der letzten Bank und bastelte meistens an irgendwelchen Auto- oder Flugzeugmodellen herum. Ich hatte auf diese Weise früh viel Kontakt zu älteren Kindern, die alle neugierig auf mich zukamen und mich in den Pausen integrierten. Wenn der Unterricht zu Ende war, musste sie meist noch ins Haupthaus der Schule, in der nahegelegenen Stadt, und im Büro arbeiten, was für mich immer die spannendste Zeit war. Ich konnte ganz allein in einem komplett leeren Schulgebäude umherstreunen. Meine Fantasie und mein kreativer Input machten damals sagenhafte Sprünge, was vor allem daran lag, dass ich meist in der Schulbibliothek landete, wo ich alle Inhalte aufsaugte. Ich liebte Bücher und ihren Geruch. Und wenn es mir dann doch mal zu langweilig wurde, ging ich auf den Schulhof zum Spielplatz.

Nach diesen Tagen saß ich oft bei Ikaka im Wohnzimmer, bastelte oder malte etwas und hörte gemeinsam mit ihr klassische Musik. Ab meinem siebten Lebensjahr wohnten wir nicht mehr in Königswinter. Ich war bei ihr während der Ferien zu Besuch, und sie nahm mich oft mit nach Bonn in die Beethovenhalle, wo wir uns klassische Konzerte anhörten. Ich wuchs mit Carl Orffs »Carmina Burana«, Beethovens »9. Sinfonie« und Vivaldis »Vier Jahreszeiten« auf. Meine Mutter hatte schon Bedenken, dass ich überhaupt nicht mit zeitgemäßer Musik in Berührung kam. Ihre Bedenken sollten sich jedoch nicht bewahrheiten, mein Musikhorizont hat sich mit der Zeit komplett verbreitert – und doch liebe ich bestimmte Klassikstücke bis heute besonders. Sie erinnern mich an meine Kindheit und an Ikaka. Die Zeit mit ihr genoss ich sehr, und sie gab mir viel mit auf den Weg.

Mein Taufpate, der beste Freund meiner Mutter, nutzte damals seine Chance und kam mit ihr zusammen. Da sie die Beziehung kurz nach der Trennung von meinem Vater einging, war ich noch zu klein, um diesen Männerwechsel bewusst zu erleben. Ich wuchs ab diesem Moment mit meinem Stiefvater auf, der für mich mein Papa wurde. Ich nannte ihn auch in späteren Jahren nie Stiefvater, ich empfand nicht so – wenn man überhaupt ein spezielles Gefühl zum Verwandtschaftsverhältnis Stiefvater haben kann. Ich hatte die passende Vaterfigur und war glücklich darüber, wie es war. Schon früh erlebte ich, dass Papasein und einen Papa zu haben nicht mit einer Blutsverwandtschaft zusammenhängen muss und dass Familie einfach ein Gefühl ist. Niemand stellte damals mein Familienkonstrukt infrage, niemand fragte nach meinem leiblichen Vater, es war schlichtweg egal. Da ich meine Familie sowieso nicht anders kannte, kam das Thema auch nie groß zur Sprache, auch bei engen Freund*innen nicht. Nicht, weil es mir vielleicht unangenehm gewesen wäre, sondern weil es so war, wie es eben war. Erst, wenn wir uns wirklich aktiv über unsere Eltern unterhielten, stolperte so mancher meiner Freund*innen über die Erkenntnis, dass es sich um meinen Stiefvater und nicht um meinen leiblichen Vater handelte. Wir erfüllten das Bild einer normalen Familie, und so gab es nichts, über das man im Vorfeld hätte stolpern oder sprechen müssen.

Zu meinem leiblichen Vater hatte ich nie Kontakt. Nicht, weil es meine Mutter vielleicht nicht wollte, sie ging immer offen mit der Situation um. Ich wollte es nicht. Spätestens in der Pubertät entwickelte ich die These, dass ich bei einem tatsächlichen Aufeinandertreffen eher enttäuscht wäre, als dass es mir emotional helfen würde. Ich hatte mit meinem Stiefvater meinen Papa gefunden. Ich brauchte keinen Menschen in meinem Leben, der sich nicht für mich zu interessieren schien. Es war für mich eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung. Und da ich schon immer ein Pragmatiker war, stand auch diese Entscheidung damit fest und wurde auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht geändert. Vielleicht war meine Herkunft in der Pubertät immer mal wieder Thema. Da ich aber ein enges Verhältnis zu meiner Mutter und ihrer Familie hatte, kannte ich zumindest einen Teil meiner Wurzeln. Und da ich mich darin wiederfand, mich erkannt und verstanden fühlte, war der Umgang mit der Unbekannten nicht weiter schwierig. Hinzu kommt, dass auch mein leiblicher Vater in all den Jahren nie einen Versuch unternommen hatte, mich zu kontaktieren, und somit wollte ich es auf sich beruhen lassen. Ein Vater, der nicht über seinen Schatten springen, seine potenziellen Ängste verdrängen und aktiv werden kann, der sich nicht auch nur einmal im Leben seines Sohnes meldet, der will es auch nicht. Es gab tatsächlich nur wenige Momente, in denen ich überhaupt an diesen besonderen Teil meiner Geschichte dachte. Interessanterweise waren es manchmal TV-Sendungen, in denen Familien oder vermisste Menschen nach Jahrzehnten zusammengeführt wurden. Dann liefen auch bei mir stille Tränen. Mir war aber auch klar, dass der Auslöser für meine Traurigkeit die Zusammenführungen war, die zumindest im Fernsehen immer emotional, aber vor allem positiv verliefen. Ich hatte wahrscheinlich zu viel Angst vor besagter Enttäuschung in meiner Realität.

Und natürlich, bei allem Pragmatismus, ist mir trotzdem klar, dass heute noch tief in mir etwas schlummert, das sich ein friedliches und glückliches Treffen gewünscht und somit die anderen Teile meiner Wurzeln gezeigt hätte. Wie oft hörte ich von meiner Mutter oder auch von Ikaka, ich würde die breiten Schultern, die Statur von meinem Vater haben, aber auch Bewegungen oder meine Art würden an ihn erinnern. Diese Aussagen hinterließen immer ein seltsames Gefühl bei mir. Bereits als Kind hatte ich mit meinem leiblichen Vater abgeschlossen, und doch wurde ich immer wieder darauf gestoßen.

Dieser Teil meiner Geschichte hilft mir heute sehr im Umgang mit Lukas und seiner Familiengeschichte. Mit seinen fünf Jahren gibt er sich schnell mit unseren Antworten zufrieden, wenn er nach seinen Eltern fragt. Wenn er aber größer wird, werden sicherlich tiefgreifendere Fragen nach seinen Wurzeln und vor allem nach dem Warum kommen. Darum gehen wir schon immer ihm gegenüber offen mit seiner Vergangenheit um und unterstützen ihn bei all seinen Fragen. Er soll jede Chance bekommen, seine eigene Geschichte aufzuarbeiten, und auf alle Fragen auch ehrliche Antworten bekommen. Wir möchten ihm nichts verschweigen. Und wenn ihm das nicht reicht, werden wir ihn begleiten und uns mit ihm auf die Suche nach Antworten begeben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man nur so wirklich Frieden mit seiner Geschichte und deren Umstände schließen kann.

Ich war etwa 35 Jahre alt, als ich mit meiner Mutter eine lange Wanderung im Voralpenland machte, während der wir sehr intensiv über meine Kindheit sprachen. Ich erfuhr einige sehr intime Dinge, die ich bis dahin nicht einmal geahnt hatte und hier auch nicht weiter ausführen möchte. Ich sagte zu ihr: »Warum hast du mir das nie erzählt?« Sie antwortete: »Du hast nie gefragt.« Aber wie hätte ich fragen können, wenn ich die Frage gar nicht kannte? Die ganze Geschichte mit meinem leiblichen Vater hatte bei meiner Mutter viele Spuren hinterlassen. Und ich gehe davon aus, auch wenn sie mich immer unterstützt hätte, dass sie froh war, dass ihr Sohn nicht auf Spurensuche gehen wollte.

Mein Stiefvater und meine Mutter zogen zusammen, als ich sechs Jahre alt war. In den Jahren davor wurde mir das Bild einer richtigen