Twyns, Band 1: Die magischen Zwillinge - Michael Peinkofer - E-Book

Twyns, Band 1: Die magischen Zwillinge E-Book

Michael Peinkofer

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Beschreibung

Ein magischer Elfenstein katapultiert Wynn aus der sagenhaften Anderwelt in die Welt der Menschen, mitten hinein in das Leben der zwölfjährigen Anny – die Wynn zum Verwechseln ähnlich sieht! Kurzerhand tauschen die beiden Mädchen die Rollen ... *** Band 1 der magischen Verwechslungsgeschichte von Bestseller-Autor Michael Peinkofer *** Anny brauchte einen Moment, um es zu erkennen. Aber das Mädchen, das von einem Moment zum anderen auf der Lichtung aufgetaucht war, sah genauso aus wie sie selbst!"Da-das ist unmöglich", entfuhr es ihr, während sie ihr Gegenüber ungläubig anstarrte.Diese grünen Augen, die blasse Haut, die Sommersprossen um die etwas zu spitze Nase – es war, als würde sie in einen Spiegel schauen. Nur die Haare waren anders, kürzer, es sah aus wie ein Pagenschnitt, und ihr Kleid war ein Traum aus wilder Seide, hellgrün und mit hübschen Stickereien verziert.Sie umkreisten einander und betrachteten sich voller Argwohn, wie ein Spiegelbild, das wirklich geworden war. Es war ziemlich abgedreht.Der Gedanke, dass das Ganze ein Traum gewesen sein könnte – wenn auch ein ziemlich lebhafter –, kam ihnen gleichzeitig. Beide streckten die Hände aus, um herauszufinden, ob das jeweilige Gegenstück auch wirklich existierte. Dabei berührten sich ihre Fingerspitzen und sie stießen beide einen Schrei aus."Das ... das war seltsam", stellte das fremde Mädchen fest."Kann man wohl sagen." Anny nickte. "Als ob wir ...""... miteinander verbunden wären", ergänzte die andere. Etwas absolut Eigenartiges schien in diesem Augenblick vor sich zu gehen ..."Wie heißt du?", fragte das fremde Mädchen."Annlea. Und du?""Wynlon, aber ich werde Wynn genannt.""Und ich Anny." Sie lächelte und Wynn lächelte ebenfalls. Da war etwas an ihr, das Anny gefiel. Auch wenn es eigentlich ganz schön gruselig war, dass sie ihr so ähnlich sah.Michael Peinkofers fantastische Anderwelt-Reihen im Überblick: Gryphony • Band 1: Im Bann des Greifen• Band 2: Der Bund des Drachen• Band 3: Die Rückkehr der Greife• Band 4: Der Fluch der Drachenritter Twyns • Band 1: Die magischen Zwillinge• Band 2: Zwischen den Welten• Band 3: Der dunkle König

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2018 by Michael Peinkofer undRavensburger Verlag GmbHDie Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.Umschlaggestaltung: Carolin LiepinsLektorat: Ulrike SchuldesAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47929-0www.ravensburger.de

Vor zwölf Jahren in der Nacht des Schattens …

„Ist es die richtige Entscheidung?“ Sie sah ihn fragend an.

„Haben wir denn eine andere Wahl?“

Er konnte die Sorge sehen, die ihr sonst so sanftes Gesicht verfinsterte. Die Sorge – und die Furcht.

„Hab keine Angst“, flüsterte er. „Es wird alles gut werden.“

„Die anderen hatten recht, nicht wahr? Es war ein Fehler, von Anfang an. Es hätte niemals geschehen dürfen …“

Er lächelte schwach und deutete zu der Wiege, die in einer Ecke der gemütlich eingerichteten Turmkammer stand. Zwei Babys lagen darin und schliefen tief und fest. „Nennst du das einen Fehler?“

Sie trat näher und sah ihnen beim Schlafen zu. „So klein und verletzlich“, flüsterte sie. „Und völlig ahnungslos …“

„So soll es auch bleiben“, fügte er entschlossen hinzu. „Wir werden alles dafür tun.“

„Und wenn es … für immer ist?“ Wieder sah sie ihn an. Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln und liefen über ihre bleichen Wangen.

Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Wortlos zog er sie an sich heran, und sie umarmten einander und spendeten sich Hoffnung und Trost in dieser kalten, sturmgepeitschten Nacht. Schäumende Wellen brachen sich rauschend an den Klippen, auf denen die Burg stand, und immer wieder zuckten Blitze über den dunklen Himmel.

„Sie kommen!“, sagte sie leise. „Ich kann sie spüren.“

„Dann wird es Zeit“, entgegnete er.

Noch einmal sahen sie sich an, bestärkten sich gegenseitig in dem, was zu tun war. Wenig später beugten sie sich über die Wiege, und jeder von ihnen nahm eines der Kinder heraus. Das ältere von beiden – wenn auch nur um einige Augenblicke – erwachte für einen kurzen Moment und sah seine Mutter müde an. Dann schmiegte es sich an ihre Schulter und war gleich wieder eingeschlafen.

Kurz darauf war von draußen Lärm zu vernehmen.

Hektische Schritte.

Schreie.

Das Klirren von Waffen …

„Es ist so weit“, sagte der Vater. „Sie werden gleich hier sein.“

Die Mutter nickte und hob den freien Arm, an dem sie eine silberne Spange trug. Sie war mit dem Symbol eines Triskelions versehen und mit einem ovalen, türkisfarbenen Stein verziert. Und während die Mutter ein Wort in der alten Sprache murmelte, begann dieser Stein zu leuchten.

Der Lärm draußen wurde immer lauter. Sie kamen näher …

„Jetzt“, drängte der Vater.

„Ar-aragur!“

Sie wiederholte das Wort, lauter und eindringlicher diesmal, und das Leuchten steigerte sich. Kurz darauf wurde heftig gegen die Tür geschlagen.

„Aufmachen!“, schrie eine raue Stimme, die mit dem hässlichen Akzent der Grimmlinge sprach. Nur wenige unter ihnen konnten überhaupt sprechen. „Im Namen des Königs! Aufmachen!“

Wieder krachte es gegen die Tür der Kammer. Womit auch immer die Angreifer dagegen anrannten, es zeigte allmählich Wirkung. Ächzend gaben die Angeln ein Stück nach. Jeden Augenblick würden sie brechen.

„Das Tor“, sagte der Vater drängend. Das Kind auf seinem Arm war erwacht. Es hörte den Lärm, und als es die Unruhe spürte, begann es leise zu weinen.

Das blaue Leuchten des Steins war immer heller geworden und wie aus dem Nichts entstand darüber eine Blase aus Licht. Sie dehnte sich aus und wurde größer und größer.

In diesem Moment brach die Tür krachend aus ihren Angeln, und die Grimmlinge stürmten herein.

Entsetzlicher Gestank ging von den gedrungenen Kreaturen aus, die mit pechschwarzem Fell bedeckt waren und rostige Rüstungen trugen. Ihre Hände, die Speere mit vergifteten Spitzen hielten, waren so grün wie ihre spitznasigen Gesichter, aus denen eitrig gelbe Augen starrten. Lauthals kreischend stürmten sie herein, die Münder mit den mörderischen Reißzähnen weit aufgerissen …

… doch sie kamen zu spät.

Denn inzwischen war die Blase aus Licht schon so groß geworden, dass sie den Mann, die Frau und die beiden Kinder vollkommen einhüllte. Schlagartig wurde das Licht so blendend hell, dass die Grimmlinge erschrocken zurückwichen. Und als es wieder erlosch, waren die Schergen des Dunklen Königs allein in der Kammer.

Nur blauer Rauch war zurückgeblieben, der sich rasch verflüchtigte. Der Mann, die Frau und ihre Kinder waren längst verschwunden.

Als der Wecker klingelte, war Annlea sofort hellwach.

Es war Montagmorgen. Schule …

MiteinergeübtenHandbewegungschalteteAnnydenWeckeraus,schlugdieBettdeckezurückundschwangsichausdenFedern.NichtdasssiebesondersgernzurSchulegegangenwäre,undamAnfangeinerneuenWocheschongarnicht.

Aber Anny war pflichtbewusst.

Und das bedeutete, dass sie nicht nur wusste, was zu tun war, sondern es auch ohne Murren tat.

Ihr Vater scherzte manchmal, dass sie wohl einen kleinen Mann im Ohr habe, der ihr die ganze Zeit Befehle gab. Das war natürlich Unsinn. Aber Anny konnte einfach nicht anders.

Draußen herumzustreifen oder im Sommer ins Schwimmbad zu gehen, wie andere Mädchen in ihrem Alter es taten, kam für sie nicht infrage. Denn es gab immer Dinge, die zu erledigen waren. Anny half ihrem Vater, wo sie nur konnte: Sie saugte die Wohnung und wischte Staub, kaufte ein und kochte. Und wenn sie mit allem fertig war, hatte sie noch Hausaufgaben zu machen. Freie Zeit blieb da nicht allzu viel, sodass Anny sich auch nie mit anderen Mädchen traf, um mit ihnen zu spielen. Freunde hatte Annlea deshalb keine. Aber das machte ihr nichts aus.

Denn es gab ja noch die Musik, und Musik war ihre große Leidenschaft.

Ganz gleich, wie anstrengend ein Tag auch gewesen sein mochte – wenn Anny am Abend ihre Violine zur Hand nahm, wenn sie mit dem Bogen über die Saiten strich und die sanften Schwingungen fühlte, dann war sie glücklich. Sie übte gern und freute sich, wenn sie mit jedem Mal besser wurde. Und dass die anderen Kinder in ihrer Klasse darüber nur den Kopf schüttelten und sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machten, war ihr egal.

Sie war eben nicht wie andere und das war eigentlich immer so gewesen.

Es fing schon bei ihrem Namen und seiner besonderen Schreibweise an. Und es ging bei ihrem Vater weiter, der Bibliothekar war und ein komischer Kauz sein konnte. Anny hatte ihn lieb, aber die Leute redeten über ihn und machten ihre Scherze über den eigenbrötlerischen Bücherwurm.

Der Weg zum Badezimmer kam Anny an diesem Morgen trotz allem endlos weit vor. Gähnend schleppte sie sich den Flur entlang. Das blasse Mädchen im Spiegel sah sie so müde an, dass sie beinahe darüber erschrak. Ihr schwarzes Haar hing ihr glatt und strähnig herab. Sie hätte wohl doch nicht bis nach Mitternacht Geige üben sollen.

Anny wusch sich und putzte sich die Zähne. Dann kämmte sie sich, steckte sich die Haare hinten zusammen und schlüpfte in den knielangen schwarzen Rock und das dunkelrote Polohemd, die ihre Schule als Uniform vorschrieb. Wenig später ging sie hinunter in die Wohnküche des kleinen Hauses, wo ihr Vater schon beim Frühstück saß. Oder bei dem, was er dafür hielt …

„Guten Morgen, Paps“, sagte Anny.

„Morgen“, gab ihr Vater mit vollem Mund zurück, während er sie über seinen Teller hinweg ansah.

„Isst du schon wieder Porridge?“, fragte Anny und zog die Nase kraus. Wenn sie etwas nicht mochte, dann war es Haferbrei. Ganz gleich, ob man ihn mit Milch oder mit Wasser anrührte, ob man ihn süß oder salzig aß – er schmeckte einfach schauderhaft.

„Was denn sonst?“, fragte ihr Vater.

„Na ja, zum Beispiel frisches Obst“, sagte Anny, während sie nach einem Apfel griff und hineinbiss.

„Ohne Porridge wären Wellingtons Soldaten vor Waterloo verhungert, und Napoleon hätte den Krieg gewonnen“, klärte ihr Vater sie grinsend auf. Er wusste genau, dass sie das Zeug nicht mochte. „Porridge ist der Mörtel, mit dem das britische Weltreich errichtet wurde.“

„Mörtel ist richtig“, meinte Anny und verdrehte die Augen. Sie setzte sich zu ihm an den kleinen Tisch in der Mitte der Küche und aß ihren Apfel, während ihr Vater weiter sein Porridge löffelte.

„Woran denkst du gerade?“, wollte er wissen.

„An das Vorspielen übermorgen. Oben in Llandudno“, erklärte sie.

„Vorspielen“, echote er. Den leeren Blick, mit dem er sie durch die Gläser seiner Hornbrille musterte, kannte sie gut.

„Paps!“, sagte sie streng. „Du hast es doch hoffentlich nicht vergessen?“

„Nein, nein“, versicherte er und fuhr sich durch das wirre braune Haar. „Vorspielen am Freitag. Llandudno. Schon klar.“

„Übermorgen, am Mittwoch“, verbesserte sie ihn seufzend. „Du hast es tatsächlich vergessen.“

„Sorry, Schätzchen.“ Er machte ein Gesicht wie ein kleiner Junge, den man beim Kekseklauen erwischt hatte. „Kannst du mir noch einmal verzeihen?“

Anny zuckte mit den schmalen Schultern – sie kannte ihren Paps ja schließlich. „Hauptsache, du fährst mich hin.“

„Klar.“ Er nickte und damit war die Angelegenheit geklärt. Dachte Anny zumindest …

Nachdem sie den Frühstückstisch abgeräumt hatten, brachen sie auf. Der Vauxhall, der in der Auffahrt stand, gehörte der Bibliothek und hatte schon bessere Zeiten gesehen, was kein Wunder war bei all den schweren Bücherkisten, die er ständig zu schleppen hatte. Der Wagen knirschte und quietschte bei jeder Kurve, dass er Anny beinahe leidtat.

Das Haus, das ihr Vater und sie bewohnten, lag ein Stück außerhalb des Städtchens Tywyn auf einer Anhöhe. Bei klarem Wetter reichte der Blick von dort bis zum Meer, doch leider war der Himmel meist wolkenverhangen und es regnete, wobei es verschiedene Arten von Regen gab: prasselnden Frühlingsregen, erfrischenden Mairegen, lauen Sommerregen, stürmischen Herbstregen und natürlich nicht enden wollenden Hunde-und-Katzen-Winterregen. Aber das war nicht weiter schlimm. Die Menschen an der walisischen Küste waren daran gewöhnt und Anny war es sowieso egal. Denn wenn sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nachging und Geige spielte, brauchte sie schließlich kein schönes Wetter.

Tywyn war eine kleine Stadt an der Mündung des Flusses Dysynni und seine meist zweistöckigen Häuser duckten sich zwischen dem blauen Meer und grünen Hügeln. Da die Einwohnerzahl nur etwas über dreitausend betrug, kannten sich die meisten zumindest vom Sehen, was gut und schlecht zugleich war. Denn einsam war in Tywyn zwar niemand, aber es wurde heftig getratscht und geklatscht. Nicht selten waren Anny und ihr Vater Thema dieses Tratsches. Anny hatte sich schon manches Mal gefragt, warum sie nicht längst von Tywyn weggezogen waren, doch ihr Paps, der aus London stammte, pflegte zu sagen, dass er das beschauliche Leben in dieser kleinen Stadt dem hektischen Trubel in der Großstadt vorziehe. Und Anny hatte es aufgegeben, ihm zu widersprechen.

Immerhin gab es in Tywyn alles, was man zum Leben brauchte: zwei Supermärkte, eine Eisdiele, ein Kino und mehrere Läden entlang der Hauptstraße, die von Nordosten kommend durch die Hügel führte. Außerdem hatten sie hier ein öffentliches Schwimmbad sowie einige Bäckereien und Restaurants, darunter sogar ein indisches, in dem Anny und ihr Paps manchmal essen gingen. Und dann war da natürlich noch die Bibliothek, in der Annys Vater arbeitete – ein kleines Gebäude an der Neptune Road, das bis unter das flache Dach mit Büchern vollgestopft war. Trotzdem war es der besondere Ehrgeiz von Annys Vater, immer neue Bestände heranzuschaffen.

Bücher waren seine Welt.

Anny konnte sich an keinen einzigen Tag in ihrem Leben erinnern, an dem sie ihren Paps nicht mit einem Buch in der Hand gesehen hatte. In jüngeren Jahren hatte er sich sogar selbst am Schreiben eines Romans versucht, wie er Anny einmal erzählt hatte, doch aus irgendeinem Grund hatte er damit aufgehört. Anny vermutete, dass es etwas mit ihrer Mutter zu tun hatte, aber sie hatte ihn noch nie danach gefragt. Denn wann immer die Rede auf ihre Mutter kam, wurde Annys Vater seltsam traurig und verschlossen, und es schmerzte Anny, ihn so zu sehen.

Tywyns eigentliche Attraktion aber waren weder die Bibliothek noch die Strände, die sich entlang der Bucht von Cardigan reihten und im Sommer Touristen aus dem Landesinneren anlockten, sondern es war die Talyllyn Railway, eine alte, von einer Dampflok gezogene Eisenbahn, die auf schmalen Schienen durch die Täler und Schluchten des Hinterlandes ratterte – und das seit mehr als einhundertfünfzig Jahren.

Eine Schule hatte Tywyn auch – ein altes Backsteingebäude, das inmitten der kleinen Ortschaft lag. Annys Vater setzte sie jeden Tag auf dem Weg zu seiner Arbeit dort ab, sodass sie nicht mit dem Schulbus zu fahren brauchte. Oft nutzten sie diese gemeinsame Zeit, um sich noch ein wenig zu unterhalten. An diesem Morgen jedoch sprach Annys Vater kaum ein Wort. Angespannt saß er auf dem Fahrersitz und lenkte den Wagen, während er auf seiner Unterlippe kaute. Plötzlich – sie hatten das Schultor gerade erreicht – machte er ein Gesicht, als ob er in ein Stück Treibholz gebissen hätte.

„Verdammt“, knurrte er.

„Was ist denn?“, fragte Anny erschrocken.

„Wusst’ ich’s doch!“, rief ihr Vater und schlug frustriert auf das Lenkrad.

„Was wusstest du?“

„Dass ich etwas Wichtiges vergessen habe.“ Kleinlaut sah er sie durch seine Brillengläser an. Sein Blick flehte um Verzeihung. „Anny, Liebling, es tut mir wirklich leid … Das Vorspielen in Llandudno …“

„Ja?“, hakte sie nach.

„Es geht nicht“, gestand er zähneknirschend.

Anny sah ihn zweifelnd an. „Aber Paps, du hast es doch versprochen.“

„Ich weiß, ich weiß“, versicherte er und fuhr sich hilflos durch das ohnehin schon wirre Haar. „Ich habe nur irgendwie gedacht, dass das Vorspielen am Freitag wäre, und habe deshalb für die Spendenparty zugesagt, die übermorgen in der Bibliothek stattfindet.“

„Für die Spendenparty? Aber …“

„Die ist wirklich wichtig, Schätzchen. Es werden ein paar einflussreiche Leute anwesend sein, die darüber entscheiden, ob wir das Geld für den neuen Anbau bekommen. Und bei dieser Gelegenheit wäre es schön, wenn du … wenn du …“

„Ich soll ein Konzert geben?“ Anny hob ungläubig die Brauen. „Auf deiner Spendenparty? Und dabei mein Vorspielen in Llandudno versäumen?“

„Es ist schließlich auch ein Vorspielen“, sagte ihr Vater mit entschuldigendem Lächeln. „Und sogar eins für einen guten Zweck. Wenn genügend Spendengelder zusammenkommen …“

Anny starrte ihn an. Sie sah, wie er den Mund auf und zu machte, aber sie bekam nicht mit, was er sagte.

„Das Vorspielen ist wichtig für mich, Paps“, erwiderte sie leise. „Wenn ich Glück habe, darf ich danach beim großen Festival teilnehmen. Es findet nur einmal im Jahr statt, und ich hätte die Chance, auf einer richtigen Bühne vor vielen Leuten aufzutreten.“

„Das kannst du im nächsten Jahr doch immer noch.“ Er strich ihr tröstend über die Wange. „Glaub mir, Schätzchen, du würdest mir einen riesigen Gefallen tun.“

Anny biss sich auf die Lippen.

Sie wollte sich weigern, wollte ihm sagen, dass das nicht fair war, dass sie unbedingt an dem Vorspielen teilnehmen wollte und dass es ihr großer Traum war …

Aber sie tat es nicht.

„Okay“, sagte sie nur und nickte. Was hätte sie sonst auch sagen sollen? Ihr Pflichtbewusstsein hatte sie eingeholt wie eine schlechte Gewohnheit und ließ es einfach nicht zu, dass sie widersprach.

„Danke, Schätzchen. Ich mach’s bald wieder gut, das verspreche ich dir.“

Anny seufzte. Hätte sie jedes Mal, wenn er das sagte, zehn Pence bekommen, dann hätte es inzwischen schon für ein neues Fahrrad gereicht.

„Ich wünsch dir einen schönen Tag.“

„Ich dir auch, Paps.“ Sie lächelte schwach, öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Sie wollte schon gehen und sich dem Strom der anderen Schüler anschließen, der sich dem Eingangstor entgegenwälzte, aber dann drehte sie sich noch einmal um. „Mama hätte mich verstanden“, sagte sie leise und wusste selbst nicht genau, warum.

„Ja“, gab er zu und ein Schatten legte sich über sein Gesicht. „Das hätte sie wohl.“

Sie konnte sehen, wie er schluckte, und obwohl es genau das war, was sie gewollt hatte, tat es ihr jetzt leid. Sie wollte noch etwas sagen, da schlug er schon die Tür zu und fuhr davon.

Anny seufzte und schulterte ihre Sachen.

Die Schule begann.

Es war langweilig.

Absolut LANGWEILIG.

„Prinzessin Wynlon?“

LAAAAAANGWEILIG.

„Prinzessin?HörtIhrnicht,dassichmitEuchspreche?“

Plötzlich drang die Stimme in ihr Bewusstsein. Wynn war so damit beschäftigt gewesen, das Wort „langweilig“ in allen Ausführungen vor sich hin zu buchstabieren, dass sie sie gar nicht wahrgenommen hatte.

„Äh … was?“

Wynlon blickte von ihrem Tischchen auf. Weise Augen, die durch dicke Brillengläser blickten, starrten fassungslos auf sie herab.

„Das ist schon das dritte Mal, dass ich Euch ermahnen muss, Prinzessin“, sagte der Mann, der vor ihr stand und mit dem langen weißen Bart und den grünen Kleidern wie ein Waldschrat aussah. Er war ein Elderling, ein Baumdruide, und mindestens ebenso alt wie weise. Aber leider auch ebenso langweilig.

„DasdritteMalindieserWoche?“,fragteWynnsBanknachbarGwydd,derwieimmerdenMundnichthaltenkonnte.

„Nein, in dieser Unterrichtsstunde!“, verbesserte ihn der bärtige Lehrer knurrend, dessen runzlige Haut wie die Borke eines Baumes wirkte. „Wenn es so weitergeht, werde ich der Königin einen Brief schreiben müssen, Hoheit.“

Wynn zuckte nur mit den Schultern. Es wäre nicht der erste Brief, den der Druide ihrer Mutter zukommen ließ.

Gwydd warf ihr einen bewundernden Blick zu – anders als Unny, die hinter ihm saß und Störungen des Unterrichts immer als sehr ärgerlich empfand.

„Also, wo waren wir stehen geblieben?“ Meister Cathbad rückte seine Brille zurecht. Die Eule, die in einer Ecke des Klassenzimmers auf ihrem Ständer hockte, gurrte ihm etwas zu. „Ah“, sagte er, und seine faltige Miene hellte sich etwas auf. „Vielen Dank, Athena. Wir waren bei der Präsenskonjugation des Elfischen. Als Beispiel nehmen wir das schöne wie einfache elfische Wort anádalu. Was bedeutet es, Prinzessin?“

„Äh – was?“ Wynn sah ihn an. Sie hatte keinen Schimmer.

Meister Cathbad schnaubte. „Was anádalu bedeutet, würde ich gerne wissen.“

„Vielleicht ‚Langeweile‘?“ Es war das erste Wort, das ihr in den Sinn kam.

„Nein, das bedeutet es ganz gewiss nicht.“ Meister Cathbad wand sich mit Grausen und deutete auf Wynns Kameradin. „Unny?“, fragte er.

„Anádalu bedeutet ‚atmen‘“, antwortete das Gobblingmädchen blitzschnell. Kein Wunder, dachte Wynn, schließlich war Unny eine richtige Streberin. Genau wie ihr Bruder Nogg, der in der Bank hinter ihr saß, kannte sie nichts Schöneres, als ihre runde Kartoffelnase in Bücher zu stecken.

„Sehr richtig“, lobte Meister Cathbad und strich seinen in Unordnung geratenen Bart wieder glatt. „Also, Prinzessin, nachdem Ihr nun wisst, was es bedeutet, werdet Ihr sicher in der Lage sein, das Wort anádalu zu konjugieren.“

„Konju-was?“ Wynn wurde heiß und kalt.

„Kon-ju-gie-ren“, wiederholte er, jede einzelne Silbe betonend. „Also, wenn ich bitten darf: anádala – ich atme, anádalain …“

„Anádalain – du atmest“, nahm Wynn die Vorlage dankbar auf. „Anádal…is?“, startete sie einen unsicheren Versuch, die Reihe fortzuführen.

„Nein“, kam es unbarmherzig zurück. Der Eldermann schien kurz davor, die Fassung zu verlieren. „Was habt Ihr denn noch anzubieten, Prinzessin? Anádalirum? Anádalarum? Turalu? Tütatü?“

„Sehr witzig“, knurrte Wynn.

„Nein, das ist überhaupt nicht witzig! Es zeigt mir nur, dass Ihr für das, was ich Euch beizubringen versuche, nicht das geringste Interesse aufbringt. Unny?“, rief der Meister wieder in seiner Not.

„Anádalan – er atmet“, kam es prompt zurück. „Anádalawen – wir atmen. Anádalanai – ihr atmet. Anádalanor – sie atmen.“

„Na also.“ Der Druide nickte. „Ist das denn wirklich so schwer, Prinzessin?“

Verlegen zuckte Wynn mit den Schultern. „Elfisch ist eben nicht gerade mein bestes Fach.“

„So?“ Meister Cathbad rückte seine Brille zurecht. „Aber welches ist denn Euer bestes Fach, Hoheit? An Gesang und Tanz seid Ihr nämlich auch nicht interessiert, wie ich von Fräulein Teg höre. Von meinen Lektionen in Geschichte und Geografie ganz zu schweigen.“

Wynlon merkte, wie sich alle Augen auf sie richteten. Sie hatte zwar nur drei Mitschüler, aber die starrten sie in diesem Moment alle an. Das ärgerte Wynn. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt und hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. „Weil es langweilig ist“, platzte sie heraus.

„Wie bitte?“ Die Augen in Meister Cathbads Baumrinden-Gesicht weiteten sich.

Wynn war noch nie gut darin gewesen, sich zu beherrschen.

„Wynlon!“, hauchte Unny entsetzt.

„Ist doch wahr“, ereiferte sich Wynn. „Wozu brauchen wir das denn alles? Ich würde viel lieber rausgehen! Ich möchte den Wald sehen und die Blumen und die Tiere und nicht nur darüber lesen …“

„Ein altes elfisches Sprichwort lautet pob na’lhur“, fiel der Meister ihr ins Wort. „Alles zu seiner Zeit.“

„Aber ich will nicht länger warten“, widersprach Wynn. „Ich will hinaus und die Welt entdecken!“

„Du würdest erschrecken“, sagte der Druide.

„Ich bin kein kleines Kind mehr“, erwiderte Wynlon zornig. „Ich weiß, was damals geschehen ist.“

„Dann wisst Ihr auch, was Euch außerhalb dieser Burgmauern erwartet – und dass Ihr sehr vorsichtig sein müsst, Prinzessin. Und dankbar dafür, dass die Gobblinge Euch und Eurer Mutter in der Stunde der Not Unterschlupf gewährt haben.“

„Das bin ich“, versicherte Wynn. Warum kamen Erwachsene nur immer mit denselben Argumenten um die Ecke? „Aber warum muss ich all diese Dinge lernen, die mich nicht interessieren? Warum soll ich Elfisch pauken? Die Menschen verstehen diese Sprache ja nicht einmal!“

„Ihr wollt in die Welt der Menschen? Dorthin zieht es Euch?“ Meister Cathbads Wangen blähten sich unter seinem weißen Bart, während er nach Atem rang. „Du … du undankbares Gör!“, herrschte er sie an. „Du hast ja keine Ahnung, was andere geopfert haben, nur damit du hier sein kannst!“

Damit wandte er sich um und war im nächsten Moment zur Tür hinaus. So aufgebracht hatte Wynn ihn noch nie erlebt. Als er die Tür hinter sich zuschlug, flatterte Athena kreischend auf, und die unzähligen Landkarten und ausgestopften Tiere, die von der Decke hingen, wackelten.

Einen Augenblick lang herrschte Stille.

„Das hättest du nicht tun sollen“, sagte Unny schließlich. Ihre Stimme piepste noch mehr als sonst, sie schien den Tränen nahe. „Jetzt hast du ihn bestimmt verletzt.“

„Na und?“, fragte Wynn.

„Ehrlich, das war nicht nett“, fügte Gwydd hinzu, der sonst immer zu Streichen aufgelegt war. Er war ein bisschen größer und kräftiger als die meisten Gobblinge in seinem Alter, und dass auch er gegen sie war, obwohl er sie sonst immer verteidigte, traf Wynn ganz besonders.

Entrüstet schaute sie von einem zum anderen. „Was wisst ihr schon?“, fauchte sie dann und stürmte im nächsten Moment ebenfalls aus dem Klassenzimmer, das sich im ältesten Turm der Gobbling-Burg befand.

Weit kam sie allerdings nicht, denn eine der reich verzierten Steinsäulen, die den Gang säumten, erwachte zum Leben. Ein grünes Augenpaar leuchtete ihr aus dem Gestein entgegen, und das Maul, das scheinbar darin eingemeißelt war, bewegte sich plötzlich.

„Wo’in des Weges?“, fragte es.

Wynn reagierte gar nicht, als die Säule ihren angestammten Platz verließ und ihr in den Weg trat. Es war ein Gargoyler oder Wasserspeier, ein Wesen, das sich jederzeit in Stein verwandeln konnte. Und es konnte sich angeblich auch unsichtbar machen, aber Wynn hielt das für ein Gerücht, denn sie hatte es noch nie erlebt. In seiner wahren Gestalt sah ein Gargoyler aus wie eine riesige, zu dick geratene Fledermaus, aber wenn er zu Stein erstarrte, konnte er alle möglichen Formen annehmen. Der Name dieses speziellen Exemplars war Blodowin – Wynn nannte ihn Blodo –, und er war ihr Leibwächter, weshalb er sich immer in ihrer Nähe aufhielt. Auch dann, wenn sie eigentlich lieber allein sein wollte …

„Jetzt nicht“, knurrte sie. „Lass mich in Ruhe!“

„Aber isch muss mit dir spreschen.“

„Vielleicht, aber isch muss nischt mit dir spreschen“, antwortete sie, seinen Akzent imitierend. Blodo stammte vom Festland, aus der Gegend um Brokilien, entsprechend stark war die Färbung seiner Sprache.

„Doch“, widersprach er und spreizte seine Flügel.

Wynn hatte keine Chance mehr, an ihm vorbeizukommen. Seufzend blieb sie stehen.

„Was willst du?“

Blodo stemmte seine langen Arme in die breiten Hüften. „Du bist respektlos gewesen“, knurrte er. „Und undankbar.“

„Was denn?“ Sie stemmte ebenfalls die Arme in die Hüften und blitzte ihn zornig an. „Spionierst du mir etwa nach?“

„Als dein Leibwäschter ist es meine Pflischt, in deiner Nä’e su bleiben, das weißt du genau.“

Wynn verdrehte die Augen.

„Meister Cathbad ’at völlisch rescht. Du solltest froh und dankbar sein, dass die Gobblinge dir Suflucht gewähren.“

„Das bin ich ja auch“, versicherte Wynn und wippte ungeduldig auf ihren Füßen. „Aber ich halte es einfach nicht mehr aus hier drin. Ich will raus in den Wald und den freien Himmel sehen.“

„Das geht nischt, es ist nischt sischer. Wenn die Grimmlinge ’erausfinden, wo du und deine Mutter eusch versteckt …“

„Schon gut, schon gut!“ Wynn hob die Arme. Sie hatte es so satt, immer die gleichen Sprüche zu hören. „Und wie lange soll das noch so weitergehen?“

„So lange es notwendisch ist“, beschied der Gargoyler ihr. „Wenn du es nischt einse’en willst, tu es wenigstens für deine Mutter. Sie ’at sowieso schon genug Kümmer.“

„Kummer“, verbesserte ihn Wynn schnaubend. „Wer bist du? Mein Leibwächter oder ihrer?“

Blodo schnaubte ebenfalls – allerdings klang es bei ihm viel eindrucksvoller. „Isch diene dieser Familie nunmehr seit drei Jahr’underten“, stellte er mit bebender Stimme fest. „Aber deine Freschheiten muss isch mir nischt gefallen lassen.“

„Nein“, gab Wynn unumwunden zu, „musst du nicht. Du kannst auch gerne gehen.“

„Das werde isch“, versicherte er, während er seine Flügel wieder zusammenfaltete und sich abwandte. „Isch werde der Königin davon berichten.“

„Ja, tu das, du Petze!“, rief Wynn ihm hinterher, während er bereits den Gang hinabwatschelte. „Geh zu meiner Mutter und sag ihr, dass die Prinzessin sich mal wieder danebenbenimmt! Aber sag ihr auch, dass ich hier drin langsam ersticke. Und“, fügte sie flüsternd hinzu, während eine Träne in ihrem rechten Auge brannte, „dass ich schrecklich einsam bin.“

Die Highschool von Tywyn war keine besonders große Schule, nur etwa dreihundert Mädchen und Jungen besuchten sie. Aber sie genoss einen guten Ruf, wie die Rektorin Mrs Hopkins niemals müde wurde zu betonen.

Auch Anny war mit dieser Schule ganz zufrieden. Das alte Backsteingebäude atmete den Geist vergangener Zeiten und gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit, und sie mochte die meisten ihrer Lehrer. Mr Lewis zum Beispiel, der Geschichte und Walisisch unterrichtete, oder Mrs Owen, die Geografielehrerin. Obwohl ihre weiteste Reise sie nur bis Edinburgh geführt hatte, schien sie fast alles über die Länder dieser Welt zu wissen.

Annys Lieblingslehrerin jedoch war Miss Collins, die für Literatur und Musik zuständig war. Sie war die jüngste Lehrerin im Kollegium und erst seit diesem Jahr an der Schule, aber das hatte ihr ausgereicht, um Annys außergewöhnliches Talent zu erkennen. Zweimal pro Woche, jeweils dienstags und donnerstags, gab sie ihr Geigenunterricht, und Anny freute sich jedes Mal darauf.

Annys Mitschüler waren weniger nett zu ihr. Sie war als Streberin verschrien und galt als Außenseiterin, aber das kümmerte sie wenig. Nur manchmal, wenn die anderen in Gruppen beisammenstanden und lachten oder sich Videos auf ihren Smartphones zeigten, ertappte sich Anny bei dem Gedanken, dass sie gern dabei gewesen wäre. Besonders, wenn Rick Driscoll in der Nähe war. Aber das war eine andere Geschichte …

„Herrje, bist du auch schon wieder da?“ Eine Stimme, die sich mehr nach Wellensittich als nach Mädchen anhörte, riss Anny aus ihren Gedanken. Sie hatte gerade das Schulhaus erreicht, als sich ihr jemand in den Weg stellte.

Anny hätte nicht mal hinzusehen brauchen, um zu wissen, wer es war: natürlich Kayla Queen, die mit ihrer Mädchengang an der Tür auf sie lauerte.

Während die meisten ihrer Mitschüler Anny in Ruhe ließen, war es bei Kayla anders – sie schikanierte Anny, wo es nur ging. Wahrscheinlich lag es daran, dass die beiden so unterschiedlich waren, wie man nur sein konnte.

Kayla war für ein Mädchen ziemlich groß und breit, Anny eher schmal und zierlich. Kaylas Haar war lang und blond und wallte in einer üppigen Mähne, während Anny ihre dünnen und dunklen Haare meistens hochsteckte. Kayla trug riesige Ohrringe oder anderen protzigen Schmuck, während Anny nicht einmal welchen besaß. Kaylas Eltern waren ziemlich wohlhabend, denn ihnen gehörte das Hotel unten am Strand, und Anny und ihr Dad mussten zusehen, wie sie über die Runden kamen.

Ihre einzige Gemeinsamkeit bestand darin, dass beide gern Musik machten, auch wenn sie es auf unterschiedliche Weise taten.

Kayla, die zwei Jahre älter war als Anny, jedoch in dieselbe Klasse ging, hatte mit ihren besten Freundinnen eine Mädchenband gegründet. Sie nannten sich „Kayla and the Queens“, und Kayla spielte darin nicht nur Gitarre, sondern trat auch als Sängerin auf. Und das, obwohl sie nach Annys Einschätzung weder das eine noch das andere besonders gut konnte. Wenn Kayla und ihre Band ein Konzert gaben, klang es, als würde ein Rasenmäher durch einen voll besetzten Hühnerstall fahren.

Aber das war natürlich Geschmackssache.

„Würdet ihr mich bitte vorbeilassen?“, fragte Anny, von einer zur anderen blickend. „Die Schule fängt gleich an.“

„Was denn, Jones? Hast du es wirklich so eilig, in den Stressbunker zu kommen?“, fragte Marnie, die Schlagzeugerin der Band. Ihr Markenzeichen war ein Tattoo am rechten Unterarm, das einen Notenschlüssel darstellte. Anny bezweifelte allerdings, dass es echt war, denn manchmal wechselte der Notenschlüssel auf magische Weise seine Position. Auch wenn das sonst niemandem aufzufallen schien …

„Willst du dich etwa schon wieder bei Mr Lewis einschleimen? Und der spießigen Collins in den Hintern kriechen?“, fügte Barla, die brünette Bassgitarre, grinsend hinzu.

„Miss Collins ist eine der nettesten Lehrerinnen an unserer Schule“, erwiderte Anny.

„Ach so?“ Kayla rümpfte die gepiercte Nase. „Als ihr absoluter Liebling musst du es ja wissen“, sagte sie spöttisch und die anderen lachten.

Das war ein weiterer Unterschied zwischen Anny und Kayla und ihren Girls: Während Anny sich am Unterreicht beteiligte und ziemlich gute Noten hatte, machten die anderen nur Blödsinn und ihre Zensuren waren entsprechend – und auch ihr Neid auf alle, die bessere Noten hatten als sie.

„Wo hast du übrigens deine Fiedel gelassen, Anybody?“, fragte Alice, die Keyboarderin und das vierte Mitglied der Band. So nannten sie Anny oft.

Anybody.

Anyone.

Anything.

Oder andere Kombinationen mit -any. Auch solche, die es eigentlich gar nicht gab, wie Anygirl oder Anysome. Das fanden sie furchtbar komisch.

„Meine Geige ist zu Hause“, erwiderte Anny. „Montags ist kein Unterricht.“

„Wie schade, Anyhow. Wir hätten dir so gern zugehört, nicht wahr, Mädels?“, sagte Alice, deren Haare fast so rot wie der Feuermelder am Eingang der Schule waren. „Stimmt es übrigens, was man erzählt?“

„Keine Ahnung – was erzählt man denn?“

„Dass du dich beim Festival beworben hast und dort im Sommer auftreten willst“, wurde Kayla deutlicher. „Wir gehen nämlich auch hin.“

Darum ging es also. Die vier hatten Angst, dass Anny ihnen den Auftritt streitig machen könnte.

„Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen“, versicherte sie.

„Ich mache mir keine Sorgen. Und deinetwegen schon gar nicht.“

„Musst du auch nicht – ich habe meine Bewerbung zurückgezogen. Das Vorspielen ist übermorgen und da hab ich keine Zeit.“

„Wie schade.“ Kayla grinste gehässig. „Wahrscheinlich musst du Vokabeln pauken oder deinem alten Herrn beim Bücherschleppen helfen. Da fällt mir ein neuer Name für dich ein, Jones – wie wär’s mit Anybook?“

Die anderen lachten laut, und Anny merkte, wie sich etwas in ihr zusammenkrampfte. Unwillkürlich stiegen ihr Tränen in die Augen.

„Herrje“, stöhnte Barla. „Was ist denn jetzt?“

„Heulst du etwa schon wieder?“ Die rote Alice stieß sie unsanft an. „Echt jetzt, verstehst du keinen Spaß?“

„Würdet ihr mich bitte vorbeilassen?“, fragte Anny – die meisten anderen Schüler waren nämlich schon längst im Schulhaus.

„Na klar.“ Kayla trat zur Seite. „Warte, ich trag dir deine Tasche“, fügte sie hinzu und war schon dabei, sie ihr abzunehmen.

„Danke“, sagte Anny, „aber das ist nicht nö…“

Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da hatte Kayla ihr auch schon die Schultasche aus den Händen gerissen und sie umgedreht. Hefte, Bücher und Schreibzeug fielen auf die Stufen vor dem Eingang, und der Wind trieb lose Blätter davon.

„Ups“, machte Kayla. „Jetzt ist sie mir doch tatsächlich ausgekommen.“

Die anderen starrten sie eine Weile lang an, als würden sie darüber nachdenken, ob sie das lustig fanden oder nicht. Doch dann prusteten und kicherten sie los. Kayla ließ die Schultasche achtlos fallen und zog lachend mit ihren Freundinnen davon, während Anny anfing, ihre Sachen wieder einzusammeln. Nun würde sie zu spät zum Unterricht kommen, und genau darauf hatten es Kayla und ihre Schnepfen natürlich angelegt!

Anny konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.

Warum mussten Kayla und ihre Freundinnen immer auf ihr herumhacken! Und warum durften die zum Vorspielen nach Llandudno, während sie selbst zu Hause bleiben musste?

„Warte, ich helfe dir“, sagte da eine freundliche Stimme.

„Danke, geht schon“, schniefte Anny. Im Moment wollte sie einfach nur allein sein.

Jemand ging neben ihr in die Knie und sammelte ihre Schulhefte auf. Anny war wie vom Donner gerührt, als sie durch den Tränenschleier sah, wer es war.

Rick. Rick Driscoll. Der mit Abstand beliebteste Junge der Schule.

Nicht dass Anny schon besonders viel mit ihm zu tun gehabt hätte, schließlich ging er in eine Klasse über ihr. Er hing meist mit Kayla und ihren Freundinnen ab. Aber Anny hatte sich immer vorgestellt, dass er nett sein musste – schließlich sah er gut aus, hatte hübsches dunkelbraunes Haar, blaue Augen und das sympathischste Lächeln der Welt. Rick war der beste Cross-Country-Fahrer der Schule und Kapitän der Schulmannschaft. Die große Vitrine in der Aula der Schule konnte all die Pokale, die er gewonnen hatte, kaum noch fassen.

„Hier“, sagte er und hielt ihr einen Stapel eingesammelter Hefte hin.

„Da-danke“, stammelte sie. Sie traute sich nicht, ihn anzuschauen, mit ihren verheulten Augen, und starrte stattdessen zu Boden. „Ne-nett von dir.“

„Kein Ding“, sagte er nur. Und auch wenn sie nicht hinsah, wusste Anny, dass für einen kurzen Moment dieses unnachahmliche, freundliche Lächeln über sein Gesicht huschte. Doch dann war er auch schon auf und davon – und sie kam sich wie ein Trottel vor.

Da-danke? Ne-nett?

War das wirklich alles, was sie gesagt hatte? Da gab sich der netteste Junge der Schule mit ihr ab, und ihr fiel nichts anderes ein?

„Mama?“

Wynn stieß vorsichtig gegen die Tür, sodass die mit leisem Knarren nach innen schwang.

Der Raum dahinter war gemütlich eingerichtet, schließlich befanden sie sich in einer Burg der Gobblinge, und Behaglichkeit ging den Gobblingen über alles. Wände und Decke waren mit Holz getäfelt und verströmten einen angenehmen Duft. Der Schrank auf der einen und das Himmelbett auf der anderen Seite waren eigentlich viel zu groß für Gobblinge. Aber die Gobbling-Zimmerleute hatten sie nicht für sich selbst gebaut und mit kunstvollen Schnitzereien liebevoll verziert, sondern für zwei Fremde, die nun schon seit fast dreizehn Jahren bei ihnen in der Burg lebten.

Am Fenster der Kammer, deren gewölbte Decke von gewundenen Säulen getragen wurde, stand eine Gestalt in einem blauen Kleid. Sie blickte hinaus und kehrte Wynlon den Rücken zu.

„Mama?“, fragte Wynn noch einmal, während sie leise eintrat und die Tür hinter sich schloss.

Nun drehte die Frau sich um. Das Kleid aus blauer Seide rauschte wie ein Frühlingsregen. Ihr Haar war lang und dunkel wie das von Wynn und auf ihrer Stirn glänzte das Diadem des Königreichs Anwyn. Aber ihr Gesicht war traurig wie so oft, wenn sie am Fenster stand und hinaussah, und sie blickte Wynn jetzt durchdringend an.

„Blodowin hat mir alles erzählt“, sagte sie nur.

Wynn seufzte.

Alte Petze, dachte sie bei sich.

„Ist es wahr? Bist du zu Meister Cathbad wirklich so ungezogen gewesen? Respektlos gegenüber unseren Gastgebern, denen wir so viel verdanken?“

„Nein“, erwiderte Wynn kopfschüttelnd, „so war das nicht. Ich bin …“

„Hast du gesagt, dass Meister Cathbads Unterricht langweilig ist, oder nicht?“

„Ich wollte doch nur …“

„Ja oder nein?“

„Ja“, gestand Wynn widerstrebend.

„Warum?“, fragte ihre Mutter.

„Weil es die Wahrheit ist“, sagte Wynn.

Die Königin seufzte. Dann ließ sie sich in dem Sessel neben dem Fenster nieder, den die Zimmerleute der Gobblinge ebenfalls eigens für ihre Größe angefertigt hatten.

„Wynlon“, sagte sie und sah ihre Tochter auf einmal so traurig an, dass es Wynn ganz anders wurde. „Was ist nur los mit dir? Du hattest schon immer deinen eigenen Kopf, und ich habe aufgehört, die Male zu zählen, in denen du dich im Stall versteckt oder den armen Gwydd zu irgendeiner halsbrecherischen Dummheit überredet hast … Aber ich hatte gehofft, dass du irgendwann vernünftig werden würdest.“