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Welche Beziehung hat die Malerei zur Katastrophe, zum Chaos? Was ist eine Linie, eine Ebene, ein optischer Raum? Gibt es so etwas wie Farbregime? Von 1970 bis 1987 hielt Gilles Deleuze eine wöchentliche Vorlesung an der legendären Experimentaluniversität Vincennes, die immer wieder in die Schlagzeilen und in Konflikt mit der Staatsmacht geriet. Die acht Vorlesungen von 1981, die in diesem Band nun erstmals veröffentlicht werden, zeigen Deleuze in action. Sie sind ganz der Frage der Malerei und der schöpferischen Kraft gewidmet.
Das Nachdenken über Werke von Cézanne, van Gogh, Michelangelo, Turner, Klee, Pollock, Mondrian, Bacon, Delacroix, Gauguin oder Caravaggio sind für Deleuze der willkommene Anlass, wichtige philosophische Konzepte aufzurufen und zu durchdenken: Diagramm, Code, digital und analog, Modulation und andere mehr. Gemeinsam mit seinen Studierenden erneuert er diese Begriffe und stellt unser Verständnis der kreativen Tätigkeit der Kunstschaffenden auf den Kopf. Konkret und fröhlich wird Deleuze' Denken hier in seiner Bewegung nachvollziehbar und lebendig.
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Seitenzahl: 608
Veröffentlichungsjahr: 2025
3Gilles Deleuze
Über die Malerei
Vorlesungen März bis Juni 1981
Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von David Lapoujade
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs
Suhrkamp
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Titel der Originalausgabe: Gilles Deleuze, Sur la peinture. Cours mars-juin 1981
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025© der Originalausgabe: 2023 by Les Éditions de Minuit
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfoto: Bruno de Monès/Roger-Viollet
eISBN 978-3-518-78221-7
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Liste der Abkürzungen und benutzten Ausgaben
Vorlesung vom 31. März 1981
Die Katastrophe in der Malerei, von Turner zu Cézanne [
FB
, Kap.
XII
] — Lektüre von Cézanne. — Die zwei Momente von Cézanne: die präpikturalen Bedingungen als Konfrontation mit dem Chaos und der Akt des Malens als Katastrophe. — Das Gemälde als Synthese der Zeit. — Lektüre von Klee. — Die zwei Momente des Graupunkts bei Klee: der Chaos-Graupunkt und der Matrix-Graupunkt der Dimensionen. — Der Kampf gegen die Klischees bei Bacon und der Begriff des Diagramms [
FB
, Kap.
XI
und
XII
]. — Das Diagramm von van Gogh.
Vorlesung vom 7. April 1981
Rekapitulation der vorhergehenden Vorlesung. — Blödheit der Vorstellung vom weißen Blatt. — Methode von Gérard Fromanger. — Schrei und Erbrechen: die Verworfenheit und Conrads
Der Nigger von der ›Narzissus‹
[
FB
, 17]. — Michelangelo: Figur versus Figuration. — Die Kräfte malen: die Abplattungskraft des Schlafs bei Bacon [
FB
, Kap.
VIII
]. — Analyse von Bacons
Painting
(1946): Vogel und Regenschirm [
FB
, Kap.
XVII
]. — Die zwei Arten von Analogie: gewöhnliche Analogie (Übertragung von Ähnlichkeiten) und ästhetische Analogie (Unterbrechung von Ähnlichkeiten).
Vorlesung vom 28. April 1981
Die fünf Merkmale des Diagramms. — 1) Das Keim-Chaos. — 2) Das manuelle Merkmal. — Die vom Auge befreite Hand. — Das Diagramm als manuelles Ensemble von Strich und Fleck im Gegensatz zum visuellen Ensemble von Linie und Farbe. — 3) Flecken und Strich hin zu den Farben und den pikturalen Linien; das dritte Auge. — 4) Das Bild ohne Ähnlichkeit hervorbringen. — Das pikturale Faktum und der Manierismus. — 5) Der temperierte Weg. — Rekapitulation der Gefahren des Diagramms. — Das Diagramm auf seinem Höhepunkt: Gefahr des Chaos und abstrakter Expressionismus. — Das Diagramm auf seinem Tiefpunkt: Gefahr des Codes und abstrakte Malerei. Konfrontation mit dem Chaos des modernen Lebens. — Der temperierte Weg: die figurale Malerei als Maßstab des Chaos [
FB
, Kap.
xii
].
Vorlesung vom 5. Mai 1981
Rekapitulation: die drei diagrammatischen Positionen (expressionistischer Weg, abstrakter Weg, figuraler Weg), Durcheinander, Code, Diagramm [
FB
, Kap.
xii
]. — Der Expressionismus und das manuelle Diagramm (wider einen rein optischen Raum). — Der Code der abstrakten Malerei. — Bedeutungstragende Einheiten und binäre Wahl. — Manuell, taktil und digital. — Analog und digital. — Digitaler Code und Gleichartigkeit. — Analogie und Ähnlichkeit. — Bateson und die Delphine. — Übertragung des Codes auf die Analogie. — Die Modulierung. — Lektüre von Rousseaus
Essay über den Ursprung der Sprachen.
Vorlesung vom 12. Mai 1981
Rekapitulation und Wiederaufgreifen der drei Formen der Analoge: Analogie durch (physische) Gleichartigkeit, Analogie durch (organische) innere Beziehungen, Analogie durch (ästhetische) Modulation. — Das Analoge und das Digitale. — Das Konzept der Modulation und seine Variationen: (Präge-)Form, Modul, Modulation. — Die Signal-Räume. — Der ägyptische Raum (Grund, Figur und Kontur). — Die ägyptische Beschwörung des Würfels.
Vorlesung vom 19. Mai 1981
Vorschläge zum (genetischen) Farbendreieck Goethes und der (strukturale) Farbkreis. — Kurze Geschichte des Kolorismus: Delacroix und die Impressionisten. — Form, Grund und Kontur. —
La Belle Angèle
von Gauguin
.
— Das haptische oder dritte Auge: die Rückkehr Ägyptens in die moderne Malerei. — Das Ableben der ägyptischen Welt und die Trennung der Ebenen [
FB
, Kap.
XIV
]. — Die griechische Kunst, taktil-optisch.
Vorlesung vom 26. Mai 1981
Kurze Rekapitulation der vorangegangenen Vorlesungen: Analogie, Modulation und Signal-Räume. — Die Griechen und die organische Linie. — Der Rhythmus in der griechischen Bildhauerei und die innerliche (Präge-)Form. — Fleisch und Farbe. — Die zwei Räume: 16. Jahrhundert und 17. Jahrhundert (Wölfflin). — Die Farbe modulieren. — Delacroix, die Impressionisten und die Postimpressionisten.
Vorlesung vom 2. Juni 1981
Die Farbregime und ihre Charakteristika. — Die drei Methoden der Kolorimetrie. — Die Farbregime in der Malerei: das Regime Renaissance. — Das zweifache Regime des 17. Jahrhunderts, Regime Caravaggio, Regime Rubens. — Die zweifache Strecke des Farbkreises. — Seurat und Pissarro. — Cézanne und die Farbe. — Van Gogh, Gauguin und der gebrochene Ton: die Farb-Struktur und das Farb-Gewicht.
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Die Vorlesungen, die Gilles Deleuze (1925-1995) von den 1970er Jahren bis Mitte der 80er Jahre hielt, sind untrennbar verbunden mit der Gründung des Centre universitaire experimental de Vincennes (CUEV) im Herbst 1968. »Vincennes« wurde auf Betreiben von Edgar Faure, dem damaligen Bildungs- und Erziehungsminister, als Reaktion auf die Studentenbewegung von 1968 geschaffen. Nach den Worten des Ministers handelte es sich um ein »Modellexperiment«, wobei sowohl Studenten als auch Werktätigen ohne Abitur interdisziplinäre Ausbildungen angeboten werden sollten, die durch neuartige Abschlüsse und eine ganz neue pädagogische Organisation eingerahmt waren. Sehr rasch wurde dieser neue Ort als Folge und Fortsetzung der Bewegungen des Mai 68 wahrgenommen. Hier fanden sich Studenten, Arbeiter, Arbeitslose, Aktivisten, ausländische Besucher, Neugierige usw. ein. Die bewegte Geschichte von »Vincennes« hielt bis August 1980 an, dann wurden die Gebäude auf Anordnung von Alice Saunier-Seïté, der damaligen Universitätsministerin, einer erbitterten Gegnerin der Existenz des Centre, und mit Unterstützung von Jacques Chirac, dem Bürgermeister von Paris, in drei Tagen dem Erdboden gleichgemacht.[1] Das war der Beginn der von 10Guattari so getauften »Winterjahre«.[2] Die Universität wurde nach Saint-Denis verlegt und die Lehrveranstaltungen in neuen Räumlichkeiten untergebracht, im Rahmen eines bescheidenen Institut universitaire de technologie, das heißt einer gängigen universitären Einrichtung.
Angeworben von Michel Foucault, der zum Zeitpunkt seiner Gründung Leiter des Fachbereichs Philosophie war, trat Deleuze seine Stelle in Vincennes aufgrund schwerer gesundheitlicher Probleme erst im Wintersemester 1970-1971 an. Da Foucault unterdessen ans Collège de France gewählt worden war, hatte François Châtelet, langjähriger Freund von Deleuze, die Leitung des Fachbereichs übernommen. Um die Gesundheit von Deleuze zu schonen, gestattete er ihm, lediglich eine Vorlesung pro Woche zu halten, dienstags vormittags. Im ersten Jahr hielt er seine Vorlesung über »Die Logik Spinozas«, dann über »Logik und Begehren«. Die ersten aus der Zusammenarbeit mit Félix Guattari – den er im Sommer 1969 kennengelernt hatte – hervorgegangenen Vorträge sollten dann zum Erscheinen von L'Anti-Œdipe (Anti-Ödipus) führen. Die Vorlesungen dauerten ungefähr drei Stunden, unterbrochen von einer Pause.[3] Da Deleuze sich stets weigerte, in einem klassischen Hörsaal 11zu unterrichten, hielt er seine Vorlesungen bis zuletzt im Juni 1987 in einem Nebengebäude ab.[4]
In einem Sammelband von 1979 zur Verteidigung von Vincennes, dessen Existenz damals stark bedroht war, skizzierte Deleuze seine Vorlesungen und plädierte für die innovative pädagogische Praxis von Vincennes:
»Herkömmlicherweise spricht ein Professor vor Studenten, die mit einer bestimmten Disziplin beginnen oder darin bereits eine gewisse Kenntnis erlangt haben. Diese Studenten nehmen häufig auch an Veranstaltungen anderer Disziplinen teil; außerdem gibt es interdisziplinäre Lehrveranstaltungen, die aber nur von sekundärer Bedeutung sind. Im großen und ganzen werden die Studenten nach dem Wissenstand ›beurteilt‹, den sie in diesem oder jenem abstrakt betrachteten Fachgebiet erlangt haben.
In Vincennes ist es anders. Ein Professor, z. B. der Philosophie, spricht vor einem Publikum, dem in unterschiedlichem Ausmaß Mathematiker, Musiker klassischer Schule oder der Popmusik, Psychologen, Historiker usw. angehören. Doch statt diese anderen Disziplinen ›auszuklammern‹, um einen besseren Zugang zu derjenigen zu bekommen, in der man sie unterrichten will, erwarten hier dagegen die Hörer beispielsweise von der Philosophie etwas, das ihnen persönlich nützen oder sich mit ihren anderen Tätigkeiten überschneiden könnte. Die Philosophie interessiert sie nicht wegen eines Abschlusses, den sie hier machen wollen, und sei es auf der untersten Stufe einer Einführung, sondern aufgrund eines unmittelbaren persönlichen Interesses, das heißt im Zusammenhang mit den anderen Gegenständen oder Stoffen, mit denen sie bereits einigermaßen vertraut sind. Die Zuhörer besuchen also eine Lehrveranstaltung, um etwas für sich selbst zu finden. Der Philosophieunterricht orientiert sich daher unmittelbar an der Frage, inwiefern die Philosophie Ma12thematikern oder Musikern usw. dienen kann – vor allem und gerade dann, wenn sie nicht über Musik oder Mathematik spricht. Ein solcher Unterricht gehört keineswegs zur Allgemeinbildung, sondern ist pragmatisch und experimentell und weist immer über sich selbst hinaus, gerade weil die Zuhörer aufgefordert werden, je nach ihren Bedürfnissen oder ihren Beiträgen einzugreifen.
[…] Die Anwesenheit zahlreicher Arbeiter und Ausländer bestätigt und verstärkt diese Situation […]. Es gibt keinen Hörer oder Studenten, der nicht mit seinem eigenen Gebiet kommt, auf das die jeweils unterrichtete Disziplin ›eingehen‹ muß, statt es beiseitezulassen. Das ist das einzige Mittel, eine Materie an sich und von innen her zu erfassen. Weit entfernt, sich den vom Ministerium geforderten Normen zu widersetzen, sollte die Lehre von Vincennes deren Bestandteil sein. […] Heute hängt diese Methode faktisch mit der besonderen Situation in Vincennes zusammen, mit der Geschichte von Vincennes, die aber niemand beseitigen könnte, ohne gleichzeitig einen der wichtigsten Versuche einer pädagogischen Erneuerung in Frankreich zum Verschwinden zu bringen. Was uns bedroht, ist eine Art Lobotomie der Lehre, der Lehrenden und der Lernenden, gegen die Vincennes Widerstand leistet.«[5]
Während der Vorlesung hatte Deleuze lediglich kurze Notizen vor sich und wenige Bücher (manchmal sogar nur herausgerissene Seiten, wenn die Bücher zu dick waren), aus denen er Abschnitte vorlas. Er hat nie Vorlesungstexte verfaßt. 13Die redaktionelle Bearbeitung betraf ausschließlich Bücher, Artikel und Interviews. In Abécédaire jedoch erläutert Deleuze, daß er seine Vorlesungen gründlich vorbereitete und »in seinem Kopf« einübte:
»Es ist wie beim Theater, wie bei irgendeiner Gesangsnummer, es gibt wiederholte Proben, Repetitionen. Wenn man nicht viel repetiert hat, dann hat man auch null Inspiration. Eine Vorlesung bedeutet nun aber gerade: Augenblicke der Inspiration, oder sie bedeutet gar nichts. […] Es geht letzten Endes darum, interessant zu finden, was man sagt. Und das kommt nicht von selbst: interessant, mitreißend zu finden, was man sagt. Das ist keine Eitelkeit, meint nicht, sich selbst interessant, mitreißend zu finden. Man muß den Stoff, den man behandelt, den man zusammenbraut, mitreißend finden. Dazu muß man sich zuweilen regelrecht anpeitschen. […] Man muß sich selbst so weit bringen, mit Enthusiasmus über etwas sprechen zu können. Genau das ist der Sinn des Einübens, der Repetition.«[6]
Die Vorlesungen stellten häufig das Laboratorium für künftige Bücher dar, wobei der Stoff aber in einer anderen Form, in einem anderen Rhythmus und in einer anderen Klarheit als in den Büchern vorgetragen wurde. Es war eine andere Darstellungsweise der philosophischen Begriffe, wie er es auch im Hinblick auf Leibniz sagte, dessen Ausführungen in ihrer Dichte je nach Leserschaft variierten. In diesem Sinne sind die Vorlesungen keine Verdopplung der Bücher, sondern entfalten sie vielmehr auf andere Weise, unter einem anderen Licht, indem sie bestimmte komplexe Passagen durch 14eine außergewöhnliche pädagogische Zurichtung, dank ihrer Abschweifungen, der am Ende aufgegebenen oder veränderten Pisten, dank Augenblicken wechselnder Inspiration erhellen. Bestimmte Ausführungen, die in den Büchern auf wenige Zeilen oder Seiten verdichtet sind, werden in den Vorlesungen des längeren und geduldig entfaltet. Hier finden Leser von Deleuze nicht selten Erläuterungen, die aufgrund ihrer beeindruckenden Klarheit zu einem neuen Verständnis der Bücher verhelfen.
Von der Gesamtheit der Vorlesungen, die Deleuze gehalten hat, verfügen wir gegenwärtig nur über wenige komplette Jahrgänge, auch wenn das Tonmaterial beachtlich ist. Von den Vorlesungen aus den Jahren 1970 bis 1979 sind im Kern nur die Aufnahmen und Abschriften von Richard Pinhas zugänglich, einem regelmäßigen Hörer und engen Freund von Deleuze.[7] Aber da er nicht bei allen Vorlesungen anwesend war, sind die Lücken teilweise erheblich. Erst ab 1980, als die Universität zwangsweise nach Saint-Denis verpflanzt wurde, verfügen wir quasi über alle Vorlesungen.
Die Tonqualität der Aufnahmen ist, mit einigen Ausnahmen, relativ gut.[8] Da die Aufnahmegeräte auf dem Arbeitstisch von Deleuze standen, sind manchmal Einwürfe von Hörern, die zu weit entfernt von den Mikros saßen, nicht hörbar. Zudem waren die Vorlesungen regelmäßigen Unter15brechungen ausgesetzt – wenn eine Kassette ausgewechselt werden mußte.
Mit dieser Ausgabe legen wir eine treuestmögliche Abschrift der Aufnahmen vor, die zugleich zwei Klippen umschiffen soll. Unsere Absicht war es nicht, die gesamte mündliche Dimension der Vorlesungen, einschließlich der Interjektionen, der Aussetzer, Wiederholungen oder Inkorrektheiten der gesprochenen Sprache, beizubehalten, zum einen, weil die mündliche Vorlage ja existiert und per Internet verfügbar ist; zum anderen, weil das strikte Festhalten am mündlichen Charakter der Lesbarkeit des Textes geschadet hätte. Dasselbe Bemühen um Lesbarkeit hat uns veranlaßt, manchmal bestimmte absichtlich inkorrekte Formulierungen von Deleuze zu korrigieren, in anderen Fällen beizubehalten, um den Rhythmus des Vortrags nicht zu stören. Die andere Klippe hätte andererseits darin bestanden, den mündlichen Charakter völlig zu eliminieren. So haben wir uns entschlossen, den mündlichen Charakter dann zu bewahren, wenn dadurch die Lektüre nicht beeinträchtigt wird, alles in allem also eine schriftliche Form vorzulegen, die die Inflexionen des mündlich Geäußerten bewahrt, so wie Deleuze vorging, wenn er Interviews mit ihm redigierte. Schließlich legen wir im Verhältnis zu den bestehenden manchmal fehlerhaften oder lückenhaften Abschriften eine vollständige und korrigierte Version vor.
Die Redebeiträge der Hörerinnen und Hörer wurden immer dann in den Textkorpus eingefügt, wenn Deleuze darauf einging. Andernfalls sind sie entweder in den Fußnoten wiedergegeben oder in Klammern zusammengefaßt. Die Diskussionsteilnehmer sind im übrigen, sofern sie identifizierbar waren, mit ihrem Einverständnis namentlich genannt.
Darüber hinaus wurden – ebenfalls in eckigen Klammern – die nicht hörbaren Passagen sowie die Unterbre16chungen aufgrund des Kassettenwechsels angezeigt, unter Angabe der dabei aufgewendeten Zeit sowie der Dauer der längeren Unterbrechungen. Vom Herausgeber zum Zwecke der Lesbarkeit ergänzte Wörter, Wortgruppen oder Sätze (fehlende Wörter, veränderte grammatikalische Konstruktionen usw.) stehen ebenfalls in eckigen Klammern.
Die Fußnoten haben einen rein informativen Charakter: Entweder verweisen sie auf den Gebrauch, den Deleuze von einem Terminus, einem Begriff oder einem Autor macht, indem die Werke genannt werden, in denen sie signifikant Erwähnung finden, oder sie nennen die explizit oder implizit in der Vorlesung verwendeten Referenzen. Dabei wurden manchmal längere Passagen genannter Texte zitiert, um den Leser ein Bild zu vermitteln, welchen Gebrauch Deleuze davon während seiner Vorlesungen machte. Bestimmte Fußnoten schließlich zitieren Stellen aus anderen Vorlesungen, die direkt an das anknüpfen, was Deleuze gerade sagt.
Und wenn ein Gedankengang der Vorlesung in engem Zusammenhang steht mit dem aus einem bestimmten Werk, nennen wir im Textkorpus den abgekürzten Titel samt den betreffenden Seiten, zum Beispiel für Francis Bacon: [FB, S. 63-64].
Die Ausgabe der Vorlesungen wäre nicht zustande gekommen ohne die Unterstützung, die Ermutigungen und das Vertrauen der Rechteinhaber von Gilles Deleuze. Ihnen sei hiermit zutiefst gedankt.
Für die Ausgabe dieser Vorlesungen seien ebenfalls gedankt Pierre Butic für seine wertvolle Hilfe, Richard Pinhas für seine unschätzbare Arbeit sowie Anne Querrien, Pascale Criton und Odette Lazrak.
17
AÖ: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (mit Félix Guattari), übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977.
B: Bergson zur Einführung, herausgegeben und übersetzt von Martin Weinmann, Hamburg: Junius, 2020.
BB: Das Bewegungsbild. Kino 1, übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989.
D: Dialoge (mit Claire Parnet), übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980; überarbeitete Ausgabe, übersetzt von Bernd Schwibs; mit einem Anhang, übersetzt von Bernd Stiegler, Berlin: August-Verlag, 2019.
DF: Die Falte. Leibniz und der Barock, übersetzt von Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995.
DW: Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen von Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink Verlag.
EI: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953-1974, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.
FB: Francis Bacon. Logik der Sensation, aus dem Französischen von Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink Verlag, 1995.
K: Kafka. Für eine kleine Literatur, aus dem Französischen von Burkhart Kroeber, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 102017.
18KK: Kritik und Klinik, aus dem Französischen von Joseph Vogl, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.
KKP: Kants kritische Philosophie, aus dem Französischen übersetzt von Mira Köller, Berlin: Merve, 1990.
LS: Logik des Sinns, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993.
SG: Schizophrenie & Gesellschaft. Texte und Gespräche 1875-1995, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005.
TP: Tausend Plateaus (mit Félix Guattari), aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve, 1993.
U: Unterhandlungen, 1972-1990, aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993.
WP: Was ist Philosophie? (mit Félix Guattari), aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996.
ZB: Das Zeitbild. Kino 2, übersetzt von Klaus Englert, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991.
19
Die Katastrophe in der Malerei, von Turner zu Cézanne [FB, Kap. XII] — Lektüre von Cézanne. — Die zwei Momente von Cézanne: die präpikturalen Bedingungen als Konfrontation mit dem Chaos und der Akt des Malens als Katastrophe. — Das Gemälde als Synthese der Zeit. — Lektüre von Klee. — Die zwei Momente des Graupunkts bei Klee: der Chaos-Graupunkt und der Matrix-Graupunkt der Dimensionen. — Der Kampf gegen die Klischees bei Bacon und der Begriff des Diagramms [FB, Kap. XI und XII]. — Das Diagramm von van Gogh.
Ich möchte von der Malerei sprechen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Philosophie was auch immer zur Malerei beitragen kann. Keine Ahnung. Vielleicht sollte anders gefragt werden. Also stelle ich die Frage lieber umgekehrt, nämlich nach der Möglichkeit, daß die Malerei etwas zur Philosophie beitragen kann und daß die Antwort keineswegs eindeutig ist, daß sich nicht ein und dieselbe Antwort auf die Musik, die Malerei übertragen läßt … Was kann die Philosophie von der Malerei, der Musik erwarten? Was die Philosophie von der Malerei erwartet, ist etwas, das die Malerei allein ihr geben kann.
20Nun, was wäre das? Vielleicht Begriffe, beschäftigt sich die Malerei nicht mit Begriffen? Ich glaube, daß unsere Frage damit bereits in Fahrt gekommen ist: Ist die Farbe ein Begriff? Keine Ahnung. Was ist ein Begriff von Farbe? Was ist die Farbe als Begriff? Wenn das die Malerei in die Philosophie hineinträgt, wohin wird das die Philosophie führen? Ich meine: Wie es machen? Darin besteht offensichtlich ein Problem: von der Malerei zu sprechen. Was bedeutet, von der Malerei zu sprechen? Ich denke, daß es genau dies bedeutet: Begriffe bilden, die in direktem Bezug zur Malerei stehen, und zur Malerei allein.
In diesem Moment wird der Bezug auf die Malerei in der Tat wesentlich. Wenn ihr, wenn auch nur vage, begreift, was ich meine, habe ich bereits ein Problem gelöst. Ich vermute, daß diejenigen, die der Veranstaltung folgen, genauso viel Ahnung von Malerei haben wie ich, wenn nicht noch mehr. Reproduktionen mag ich euch nicht zeigen, denn dann hat man keine Lust mehr zu reden. Man sagt sich: Na ja, was läßt sich da schon sagen? Ich appelliere also an euer Gedächtnis. Nur in Ausnahmefällen, wenn ich es wirklich dringend brauche, werde ich ein kleines Bild zeigen, aber das wird sich von selbst ergeben, dazu braucht es keine Reproduktionen.
Ich habe auch nicht den Anspruch, mich zu fragen: Worin besteht das Wesen der Malerei? Für diejenigen, die dieser Forschungsserie folgen, werde ich das Thema, das ich jeweils behandle, wie auch die Maler, auf die ich mich beziehe, verbindlich angeben – denn die Einheit der Malerei ist problematisch. Es gibt überhaupt keinen Grund, sie sich vorgeben zu lassen. Zum Beispiel könnte man sich durchaus fragen wollen, ob es heute auf der Ebene der Materialien einen gemeinsamen Nenner von Aquarell, Öl- und Acrylgemälde gibt. Ich habe keine Ahnung. Nichts wird vorgegeben. Ich 21habe die Themen gewählt, die mich interessieren, und manchmal wird das auf die Philosophie übergreifen. Das werden dann glückliche Augenblicke für mich sein, wenn philosophische Begriffe kraft der Malerei in einem für mich neuen Licht erscheinen. Gut, versuchen wir's.
Heute ist meine gesamte Untersuchung auf diesen Begriff fokussiert, von dem ich schon einmal gesprochen habe: Katastrophe. Das setzt natürlich voraus, daß die Malerei einen ganz besonderen Bezug zur Katastrophe aufweist, und das werde ich zunächst nicht theoretisch begründen. Es ist gleichsam ein Eindruck. Das heißt, daß Schreiben, Musik nicht diesen Bezug zur Katastrophe aufweisen, oder nicht denselben beziehungsweise einen ebenso direkten.[10] Die Maler, auf die ich mich stützen werde, nehme ich aus einer relativ naheliegenden Epoche. Ich möchte in euch auch das Gespür wecken, wie sehr es begrenzte Beispiele sind, damit im weiteren untersucht werden kann, ob dies etwas Allgemeines über die Malerei aussagt oder lediglich für bestimmte 22Maler gilt. Im voraus habe ich keine Ahnung. Für diese Serie über die Katastrophe nehme ich als Beispiel Turner, den großen englischen Maler aus dem 19. Jahrhundert – ich greife natürlich nur sehr bedeutende heraus: Cézanne, van Gogh, Paul Klee und einen modernen, wiederum Engländer: Bacon.
Das also will ich sagen, und ich bin sehr vorsichtig: In einem Museum sind wir alle tief beeindruckt von Gemälden, auf denen eine Katastrophe abgebildet ist. Katastrophe welcher Art? Zum Beispiel, wenn die Malerei die Berge entdeckt: Gemälde über Lawinen, über Unwetter usw. Ich stelle fest, daß diese Katastrophenmalereien auf das gesamte Gemälde etwas ausbreiten, was sehr oft in den Gemälden präsent ist. Sie verallgemeinern eine Art Ungleichgewicht, Dinge fallen, stürzen. Nun, auf eine bestimmte Art und Weise hieß Malen immer schon, lokale Ungleichgewichte zu malen. Warum ist das Thema der Sachen im Ungleichgewicht so wichtig? Claudel, ein Schriftsteller, der mit am tiefsinnigsten über die Malerei geschrieben hat, insbesondere in einem fabelhaften Buch mit dem Titel L'œil écoute, das besonders die Holländer behandelt, sagt es treffend.[11] Er fragt: Was ist eine Komposition? Wie ihr seht, ist das ein Ausdruck aus der Malerei. Was ist eine Komposition in der Malerei? Gerade über die holländischen Meister äußert er: Eine Kom23position ist immer ein Ensemble, eine Struktur, die aber dabei ist, in Ungleichgewicht zu geraten oder sich aufzulösen.[12] Halten wir für den Augenblick nur das fest: den Moment des Sturzes, ein Glas, das allem Anschein nach gleich umkippen wird, ein Vorhang, der allem Anschein nach gleich fallen wird.[13]
Dafür müssen nicht einmal unbedingt die Töpfe Cézannes erwähnt werden, das seltsame Ungleichgewicht seiner Töpfe, als wären sie kurz vor Anbeginn, vor dem Eintreten eines Sturzes erfaßt worden. Ein Zeitgenosse Cézannes sprach von »besoffenen Tongefäßen«.[14] Das Malen einer Lawine ist generalisiertes Ungleichgewicht. Aber damit kommt man letztlich nicht weiter, denn man verbleibt, beim ersten Blick, bei dem, was im Gemälde abgebildet ist. Und dem24entsprechend habe ich, wenn ich mich nach der Bedeutung einer Kategorie wie der Katastrophe in der Malerei frage, eine Katastrophe anderer Art im Sinn, nämlich eine, die den Malakt selbst affiziert. Wie ihr seht: Wir gehen von der auf dem Gemälde abgebildeten Katastrophe, sei es eine örtlich beschränkte oder das Ganze betreffende Katastrophe, zu einer viel geheimeren, die den Akt des Malens selbst affiziert. Nun lautet meine Frage: Kann der Malakt ohne Bezug auf eine ihn affizierende Katastrophe definiert werden? Ist der Malakt im tiefsten Innern seiner selbst nicht mit dieser Katastrophe konfrontiert, umfaßt sie, selbst wenn das Abgebildete keine Katastrophe ist? Tatsächlich stellen die Tongefäße Cézannes keine Katastrophe dar, findet kein Erdbeben statt. Bei den Gläsern Rembrandts ereignet sich keine Katastrophe. Es handelt sich also um eine tiefer gehende Katastrophe, die den Malakt selbst in einer Weise affiziert, daß er gar nicht anders definiert werden könnte.
Das typische, für mich grundlegende Beispiel ist Turner. Er hat gleichsam zwei große Perioden. In der ersten Periode malt er eine Menge Katastrophen. Beim Meer interessieren ihn die Stürme; beim Gebirge häufig die Lawinen. Er ist bereits genial. Was ereignet sich um 1830? Es sieht ganz so aus, als würde er in ein neues Element eintreten, so tiefgreifend allerdings, daß er an seine erste Malweise gebunden bleibt. Worin besteht dieses neue Element? Die Katastrophe ist im Innersten des Malakts. Es heißt, die Formen verschwimmen. Das Gemalte und der Malakt werden tendenziell identisch. In welcher Form? In Form von Dampfstrahlen, Feuerkugeln, in denen keine Form unversehrt bleibt, wo lediglich Striche etwas andeuten. Mittels Strichen bewegt man sich in einer Art Flammenmeer, als ginge das ganze Gemälde aus einem Flammenmeer hervor. Eine Feuerkugel. Berühmte vorherrschende Farbe Turners: das Goldgelb. Eine Feuers25brunst gleichsam, Schiffe, die durch diese Feuersbrunst aufgeschlitzt werden.[15]
Typisches Beispiel ist ein Gemälde mit dem komplizierten Titel Licht und Farbe (Goethes Theorie). Das alles werden wir brauchen. Schaut euch also eine entsprechende Reproduktion an. Das Gemälde wird beherrscht von einer riesigen, wunderbaren Feuerkugel, einer Goldkugel, die für eine Art Gravitation des gesamten Gemäldes sorgt. Weshalb halte ich den Titel für so bedeutsam? Turner hat haufenweise Aquarelle hinterlassen. Es heißt, er war seiner Zeit so sehr voraus, daß er seine Gemälde nicht zeigte, sie in Kisten steckte, das alles … Er hat alles dem Staat vermacht, England, das es übrigens auch lange in Kisten lagerte. Und dann gibt es den wunderbaren und fatalen Ruskin, seinen leidenschaftlichen Bewunderer, der vieles wegen Pornographie verbrannte. Das war eine Katastrophe. In einer Erklärung, die 26einen erschaudern läßt – aber letztlich darf niemand einen anderen verdammen –, sagt Ruskin: Ich bin stolz, sehr stolz, ganze Stöße von Zeichnungen und Aquarellen Turners verbrannt zu haben.[16] Ruskins Verdienst bleibt dennoch, daß er einer der ganz wenigen war, die Turner zu Lebzeiten verstanden haben. Alle Sorten von Aquarellen sind von Ruskin getauft worden: Geburt oder Beginn der Farbe. Für den Anfang will ich es dabei belassen …
Am Beispiel Turner kann ich also sagen: Hier haben wir es mit einer Malerei zu tun, die in bestimmten Fällen von abgebildeten Katastrophen des Typs Lawine und Sturm übergeht zu einer weitaus tiefer gehenden Katastrophe, die den Malakt betrifft, die den Malakt im tiefsten Inneren affiziert. Ich füge hinzu, daß eine derartige Katastrophe im Akt des Malens nicht zu trennen ist von einer Geburt. Geburt wo27von? Von der Farbe. Da tut sich fast ein Problem auf. Von uns gleichsam unabsichtlich hervorgerufen. Mußte der Malakt durch diese Katastrophe hindurchgehen, um das hervorzubringen, womit er zu tun hat, nämlich die Farbe? Mußte beim Akt des Malens durch die Katastrophe hindurchgegangen werden, damit die Farbe entsteht, die Farbe als pikturale Schöpfung? Es drängt sich der Eindruck auf, die den Malakt affizierende Katastrophe sei auch etwas anderes als Katastrophe. Wir sind nicht sehr viel weiter gekommen. Wenn ihr einen Turner aus der Spätphase betrachtet, werdet ihr den Ausdruck Katastrophe durchaus für angebracht halten. Wie kommt es, daß uns in diesem Augenblick Maler zu Hilfe kommen, die das Wort verwenden, die sagen: Ja, die Malerei, der Akt des Malens verläuft über das Chaos oder die Katastrophe? Und hinzufügen: Nur geht daraus etwas hervor. Unsere Idee bestätigt sich: Notwendigkeit der Katastrophe im Malakt, damit daraus etwas hervorgeht.
Was geht daraus hervor? Mag sein, daß ich Maler derselben Tendenz auswähle, ich weiß nicht, jedenfalls bleibt die Antwort dieselbe: [Was daraus hervorgeht, das ist] die Farbe. Wer sind diese Maler? Katastrophe, das gewaltige Wort Cézannes. Daß die Katastrophe den Akt des Malens affiziert, damit, so Cézanne, die Farbe aufsteigt. Und Paul Klee: Notwendigkeit des Chaos, damit daraus das von ihm so genannte Ei oder die Kosmogenese hervorgeht. Und zur gleichen Zeit: Panik! Mein Gott – endlich der Gott der Maler! Der verhindert, daß die Katastrophe alles an sich reißt? Was passiert, wenn die Katastrophe alles an sich reißt und dann nichts daraus hervorgeht? Besteht in dieser Hinsicht Gefahr fürs Malen? Wenn der Maler mit einer derartigen Katastrophe konfrontiert wird, wenn er nicht malen kann, ohne daß eine Katastrophe seinen Malakt im tiefsten Inneren affiziert, dann muß zugleich die Katastrophe gewissermaßen kontrol28liert sein. Was geschieht, wenn nichts daraus hervorgeht, wenn die Katastrophe sich ausbreitet, wenn das zu einem Brei wird? Hat man in bestimmten Fällen nicht den Eindruck, jawohl, das Gemälde mißlingt? Es kommt immer wieder vor, daß Maler scheitern, ihre Gemälde in die Ecke werfen – höchst erstaunlich das Ganze. Es kommt zu einer Art Zerstörung, Vernichtung des Gemäldes. Läßt sich eine Katastrophe unter Kontrolle bringen? Bei bestimmten Bildern van Goghs sagt man sich: Er streift da etwas … Van Goghs Wahnsinn, woher rührt er? Von seinen Beziehungen zu seinem Vater oder von seinen Beziehungen zu seiner Farbe? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist die Farbe aber doch das Interessantere.
Unsere Aufgabe jetzt wird sein, den Blick auf zwei Texte zu werfen. Von Texten von Malern war bisher noch nicht die Rede. Wie ein Maler von seiner Malerei spricht, deckt sich nicht mit dem, wie ein Musiker von seiner Musik spricht. Ich behaupte nicht, daß der eine besser ist als der andere, ich sage nur, daß man von Texten von Malern etwas ganz Besonderes erwarten muß. Ich möchte einige mutmaßliche Texte Cézannes sowie einen Text Paul Klees heranziehen, die jeweils nachdrücklich auf die Katastrophe in den Beziehungen zur Malerei zu sprechen kommen.
[Unterbrechung der Vorlesung 1:18:08]
Gasquet hat ein sehr wichtiges Buch über Cézanne geschrieben.[17] Ein wenig geriert er sich in diesem Buch wie Platons Sokrates, das heißt, er rekonstruiert diverse Jahre nach den 29Dialogen, den Gesprächen mit Cézanne. Es ist keine Transkription. Was fügt Gasquet – der kein Maler, sondern Schriftsteller war – von sich aus hinzu? Viele Kritiker sind in bezug auf den Text äußerst skeptisch. In dieser Frage stehe ich völlig auf Seiten Maldineys, der vielmehr der Ansicht ist, daß der Text gerade deshalb sehr wahrheitsgetreu sein dürfte, weil die Argumente an sich bizarr sind.[18] Bekanntlich hält sich, was Maler betrifft, eine Art Legende, ein Gerücht: Sie gelten als eher ungebildet und nicht sehr clever. Sobald man liest, was sie geschrieben haben, ist man beruhigt: Weder das eine noch das andere trifft zu. Einer der Gründe, warum die Echtheit des Textes von Gasquet angezweifelt wird, besteht darin, daß Cézanne überraschenderweise manchmal wie ein Postkantianer redet.
Tatsächlich war er sehr gebildet, zeigte es nur nicht oder selten. Er spielte verwunderlicherweise die Rolle eines Bauern, eines Hinterwäldlers, dabei wußte er viel und las viel. Die Maler gaukeln immer vor, nichts gesehen zu haben, von nichts eine Ahnung zu haben. Ich glaube, sie lesen viel nachts. Durchaus vorstellbar, daß Gasquet Cézanne Dinge über Kant erzählt hat. Und Cézanne versteht sehr gut, weil er weitaus mehr versteht als ein Akademiker. Einmal läßt ihn Gasquet diesen sehr schönen Satz sagen: »Ich möchte, sagte ich mir, 30den Raum und die Zeit malen, damit sie die Formen der Farbempfindungen werden, denn ich stelle mir manchmal die Farben vor als große, noumenale Entitäten, als leibhaftige Ideen, Wesen der reinen Vernunft […].«[19] Da heißt es dann bei den Kommentatoren: Das kann Cézanne nicht gesagt haben, das hat Gasquet ihm in den Mund gelegt. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sie nicht eines Abends über Kant geredet haben, den Cézanne gut verstanden hat, denn – wenn ich sage, er verstehe mehr als ein Philosoph – er hat ganz richtig gesehen, daß bei Kant das Verhältnis zwischen Noumenon und Phänomenon derart war, daß das Phänomenon die Erscheinung des Noumenon war. Von daher das Thema: Die Farben sind die noumenalen Ideen, sind die Noumena, und Zeit und Raum, das ist die Form des Erscheinens der Noumena, das heißt der Farben. Die Farben erscheinen im Raum und in der Zeit, sind an sich aber weder Raum noch Zeit. Eine, wie mir scheint, sehr anregende Idee, ich erkenne da nur höchste Wahrscheinlichkeiten. Natürlich, gleichzeitig pickt sich Gasquets Text Sachen aus Cézannes Briefen an ihn heraus, mischt das Ganze. Aber was das Wesentliche anbelangt, entspricht das unseren Überlegungen.
Im Text, den ich gleich vorlesen werde, unterscheidet Cézanne – ich kommentiere mehr oder weniger nach logischen Gesichtspunkten – zwei Momente im Malakt.[20] Er wird uns also für die Behandlung unseres Problems eine Menge beisteuern. Eines dieser Momente nennt er Chaos oder Abgrund, und das zweite Moment (wenn man den Text richtig 31liest, der freilich so klar nicht ist, es handelt sich um ein mutmaßliches Gespräch), das zweite Moment nennt er Katastrophe. Der Text ist sehr logisch, sehr streng aufgebaut. Im Akt des Malens gibt es das Moment des Chaos, dann das Moment der Katastrophe, und daraus geht etwas hervor: die Farbe. Wenn sie denn daraus hervorgeht … Noch mal: Nicht ausgeschlossen werden kann, daß daraus nichts hervorgeht. Sicherheit gibt es keine, nichts ist im voraus gegeben.
Hier nun der Text – ich beginne mit dem ersten Aspekt. »Um eine Landschaft richtig zu malen, muß ich auch zuerst die geologische Schichtung erkennen. Bedenken Sie, daß die Geschichte der Welt an dem Tage begann, an dem zwei Atome sich begegneten, zwei Wirbel, zwei chemische Tänze sich miteinander verbanden. Diese großen Regenbögen, die kosmischen Prismen, diese Morgenröte unseres Selbst über dem Nichts […].«[21] Was ist darin für uns von Belang? Zum ersten Mal findet sich hier ein Thema, das meiner Meinung nach überall gegenwärtig ist, nämlich: Immer malen sie nur eines, den Beginn der Welt. Darum geht es ihnen, sie malen den Beginn der Welt. Was ist das: der Beginn der Welt? Das ist die Welt vor der Welt. Da ist etwas, das noch nicht die Welt ist, das ist wahrhaftig die Entstehung, die Geburt der Welt. Wie können die Maler unter solchen Umständen Christen sein? Wie kann die Geschichte der Schöpfung sie interessieren? Als Maler ist das offensichtlich. Es ist offensichtlich, daß sie mit etwas zu tun haben, das die Erschaffung der Welt betrifft. Ich will sagen: Das gehört zum Wesenskern des Malens.
32»Bedenken Sie, daß die Geschichte der Welt an dem Tage begann, an dem zwei Atome sich begegneten, zwei Wirbel, zwei chemische Tänze …« Turner, das sind chemische Tänze, ja, chemische Tänze der Farben. »[…] diese Morgenröte unseres Selbst über dem Nichts, ich sehe sie emporsteigen, sauge sie ein, wenn ich Lukrez lese.« Tatsächlich las Cézanne häufig Lukrez. Und Lukrez' Geschichte betrifft natürlich die Atome, die Tänze der Atome, aber verblüffenderweise auch die Farben und das Licht. Von Lukrez versteht man nichts, wenn man nicht berücksichtigt, was er über die Farbe und das Licht in Beziehung zum Atom sagt. »Diese großen Regenbögen, die kosmischen Prismen, diese Morgenröte unseres Selbst über dem Nichts, ich sehe sie emporsteigen, sauge sie ein, wenn ich Lukrez lese. Unter diesem feinen Regen […].« Er setzt sich einem feinen Regen aus, den gilt es zu malen, diesen feinen Regen. Mag er auch ein Porträt malen, eine Vase, eine Schale, er mag seine Frau malen, immer geht es darum, den feinen Regen herüberzubringen oder etwas dergleichen. »Unter diesem feinen Regen atme ich die Jungfräulichkeit der Welt.« Was ist das, die Jungfräulichkeit der Welt? Das ist die Welt vor dem Menschen und vor der Welt. »Ein scharfer Sinn für die Nuancen arbeitet in mir. Ich fühle mich farbig von all diesen Abtönungen des Unendlichen. In diesem Augenblick bin ich vollkommen eins mit meinem Bilde.« Höchst sonderbar, dieses »bin ich vollkommen eins mit meinem Bilde«. … Was ist damit gemeint? Wir müssen präzise kommentieren. Mein anzufertigendes Gemälde … Denn, wie der Rest es uns noch genauer vergegenwärtigen wird, er hat noch nicht begonnen zu malen. Vielleicht können wir damit besser verstehen, erahnen, warum die Katastrophe zum Akt des Malens gehört. Sie gehört deshalb so essentiell zum Malakt, weil sie da ist, bevor der Maler zu malen beginnt. Sie ist auch währenddes33sen da, aber sie beginnt davor. Das Gemälde ist noch anzufertigen. »Unter diesem feinen Regen atme ich die Jungfräulichkeit der Welt. Ein scharfer Sinn für die Nuancen arbeitet in mir«: Das ist die präpikturale Arbeit. Die Katastrophe ist bereits vor dem Malakt da, ist gewissermaßen die Voraussetzung des Malens, ist vor dem Akt des Malens. »Ein scharfer Sinn für die Nuancen arbeitet in mir. Ich fühle mich farbig von all diesen Abtönungen des Unendlichen. In diesem Augenblick bin ich vollkommen eins mit meinem Bilde.«
»Wir sind …« – das Gemälde und ich, das Gemälde noch nicht angefertigt und der Maler, der sich noch nicht ans Malen gemacht hat – »Wir sind ein schillerndes Chaos. Ich komme vor mein Motiv …« Wie ihr seht, hat er noch nichts gemalt. »… ich verliere mich darin. Ich denke nach, ich schweife umher.« Er verliert sich vor seinem Motiv. Ein Chaos. »Die Sonne durchdringt mich dumpf, wie ein entfernter Freund, der meine Faulheit wärmt […]. Wir keimen.« Schau an, die Vorstellung eines Keims wird wortwörtlich von Klee wiederaufgegriffen. »Wir keimen. Und wenn die Nacht herniedersteigt, dann ist mir, als ob ich niemals wieder malen werde und niemals gemalt habe.« Das ist präpiktural, das ist das Vor-dem-Malen in alle Ewigkeit. »Es muß Nacht sein, damit ich meine Augen von der Erde lösen kann, von diesem Winkel der Erde, mit dem ich mich verschmolzen habe. Eines schönen Morgens, am nächsten Tage …« Ich bin immer noch beim ersten Moment, und wie ihr seht, gab es dieses präpikturale Moment des Chaos. Er verschwimmt mit seinem Motiv, er sieht nichts mehr, es wird Nacht. Wie er in einem Brief schreibt: Meine Frau schimpft mich aus, weil ich, wenn ich heimkomme, ganz rote Augen habe.[22] Er sieht nichts mehr. Man muß sich also 34fragen: Das Auge des Malers, was ist das eigentlich? Wie funktioniert das in der Malerei, das Auge? Nun, das eine wissen wir schon mal: Das Auge ist gerötet. »Eines schönen Morgens, am nächsten Tage, erscheinen mir allmählich die geologischen Grundlagen, Schichten lagern sich ab, die großen Flächen meiner Leinwand, ich zeichne im Geiste ihr Gesteinsskelett.« Wenn ihr euch die von Cézanne gemalten Landschaften um Aix vor Augen führt, seht ihr sofort, was er mit dem Gesteinsskelett meint. »Ich zeichne im Geiste ihr Gesteinsskelett …« Wie ihr erkennt, er hat noch immer nicht angefangen. »Ich zeichne im Geiste ihr Gesteinsskelett. Ich sehe, wie die Felsen aus dem Wasser ragen, der Himmel lastet. Alles ist im Lot. Ein fahles Wogen verhüllt die Linienzüge. Die roten Erden steigen aus einem Abgrund auf.« Der Abgrund, das ist das Chaos vom Vortag. Die roten Erden steigen daraus hervor. Rot in welcher Ausprägung? Es dürfte braunrote, purpurschwarze, zum Schwarz neigende Erde sein. »Ich beginne mich von der Landschaft zu trennen, sie zu sehen.« Seht, das ist auch eine Genese des Auges, diese Geschichte. Im Augenblick des reinen Chaos gibt es kein Auge, es hat sich aufgelöst. Es ist ganz rot, sieht nichts mehr. »Ich löse mich von ihr [der Landschaft] durch diese erste Skizze, diese geologischen Linien. Die Geometrie, das Maß der Erde.« Mit anderen Worten, Geometrie und Geologie sind identisch.
Kurz, ich sage, daß dieses erste Moment präpiktural, das Moment des Chaos ist. Der Durchgang durch das Chaos ist zwingend. Was geht nach Cézanne aus dem Chaos hervor? Das Gerüst. Das Gerüst der Leinwand. Nun zeichnen sich die großen Flächen ab. »Alles ist im Lot.« Das ist bereits eine 35Gefahr. In einem Brief schreibt Cézanne: Das geht nicht. Er sagt: »Die Flächen fallen übereinander.«[23] Von dem Augenblick an kann alles scheitern, es ist ein erster Faktor eines möglichen Scheiterns. Es kann durchaus vorkommen, daß die Unterscheidung der Flächen nicht gelingt. Diese Unterscheidung erfolgt ausgehend vom Chaos. Wenn das Chaos alles ergreift, wenn ihm nichts entrinnt, wenn das Chaos als solches bleibt, dann fallen die Flächen übereinander, statt daß alles ins Lot kommt. Das Gemälde ist schon verpfuscht, bevor es überhaupt begonnen wurde. Das ist dann scheiße, und es stimmt, die Erfahrung des Malers stellt Tricks bereit: Das funktioniert, das funktioniert nicht; ich bin blockiert, ich bin nicht blockiert.
[Unterbrechung der Aufnahme 1:33:45.]
Anne Querrien[24] : Ich habe den Eindruck, daß es bei den Architekten Ende des 18. Jahrhunderts in der großen Debatte über das Erhabene und das Pittoreske Analoges gegeben hat. Beim Pittoresken werden drei Etappen durchlaufen, beim Erhabenen dagegen nur zwei, das Erhabene wird in unmittelbaren Gegensatz zum Chaos gesetzt. Letztlich ist das Chaos primär … Vom Chaos aus wird das Erhabene konstruiert 36und man verbleibt entweder im Erhabenen, das heißt den geometrischen Linien usw., oder es gelingt, ins Pittoreske überzuwechseln, das heißt zur Farbe und zu alldem. Was meine Architekturkollegen über ihre Debatten zum Erhabenen und zum Pittoresken berichten, paßt zu dem, was Sie über Kant, zum Erhabenen und zum Chaos bei Kant[25] gesagt haben …
G. D.: Wen das interessieren sollte: In Kants Kritik der Urteilskraft, eines der, wie ich meine, bedeutendsten Bücher der Philosophie insgesamt, das Kant erst in fortgeschrittenem Alter geschrieben hat und das eines der ersten großen philosophischen Ästhetiken enthält, gibt es eine Theorie des Erhabenen. Kant unterscheidet darin zwei Aspekte oder Momente: Den einen nennt er das geometrische beziehungsweise mathematische Erhabene und den anderen das dynamische Erhabene.[26] Der erste ist ein geometrisches oder – entsprechend dem Ausdruck Cézannes – »geologisches« Erhabene, das andere ein eher »dynamisches« Erhabene. Kants Text ist ganz außergewöhnlich. Er gehört zu den bedeutenden Gründungstexten der Romantik.
37Gehen wir nun über zum zweiten Moment. Vom ersten Moment hieß es: Etwas geht aus dem Chaos hervor, nämlich das Gerüst. Zweites Moment: »Eine zärtliche Erregung ergreift mich. Aus den Wurzeln dieser Erregung steigen der Saft, die Farben. Eine Art Befreiung. Das Ausstrahlen der Seele, der Blick, das nach außen gekehrte Geheimnis, die Wechselwirkung zwischen Erde und Sonne, … die Farben. Eine luftige, farbige Logik …« Zuvor waren wir mit den geologischen Grundlagen in einer erdhaften, landschaftlichen Logik. »Eine luftige, farbige Logik tritt plötzlich an die Stelle der düsteren, hartnäckigen Geometrie.«[27] Ein wahrhaft schöner Text … Wie ihr seht, wechselt das Element. »Alles ordnet sich, die Bäume, die Felder, die Häuser.« War das alles noch nicht organisiert? Aber die Flächen waren doch im Lot. »Alles ordnet sich«, als würde es ganz von vorn anfangen. »Ich sehe …« Zweite Genese des Auges. »Ich sehe. In Flecken. Die geologischen Grundlagen …« Das genau wird uns das Geheimnis enthüllen. Sonderbar, er sagt es nicht, aber er vermittelt den Eindruck, als begönne er ganz von vorn. Er hat bereits »Ich sehe« gesagt, und dabei tut er so, als sähe er zum ersten Mal.
Was ist geschehen? Eine einzige Antwort: Was aus dem ersten Moment hervorgegangen war, das Gerüst, ist erneut in sich zusammengefallen. Er sagt es ausdrücklich, alles »Vorausgegangene« war vorbereitende, präpikturale Arbeit: »Die geologischen Grundlagen, die vorbereitende Arbeit, die Welt der Zeichnung bricht zusammen, ist zusammenge38kracht wie in einer Katastrophe.« Am Text höchst interessant erscheint mir, daß er selbst, in seinem eigenen Namen, in seiner Erfahrung in dem, was man allgemein Katastrophe nennen kann, zwei Momente unterscheidet: ein Moment des Chaos/Abgrunds, aus dem die Grundlagen oder das Gerüst hervorgehen, und ein zweites Moment, die Katastrophe, die die Grundlagen und das Gerüst mit sich reißt und aus der – was hervorgeht? »Die geologischen Grundlagen, die vorbereitende Arbeit, die Welt der Zeichnung bricht zusammen, ist zusammengekracht wie in einer Katastrophe. Eine Sturmflut hat sie davongefegt … Eine neue Ära beginnt. Die wahre! Die, in der mir nichts entgeht, in der alles dicht und flüssig zugleich ist, natürlich. Nun gibt es nur noch Farben und in ihnen Klarheit, das Wesen, das sie denkt, diesen Aufstieg der Erde zur Sonne, dieses Atmen aus den Tiefen empor zur Liebe.« Das ist erstaunlich, weil man, worauf Maldiney hinweist, nicht nur den Bezug zu Kants Texten über das Erhabene herstellen könnte, sondern auch, Wort für Wort, Entsprechendes in Texten Schellings wiederfinden könnte, der der Malerei sehr nahesteht.[28] »Ich will mich dieser Idee bemächtigen, dieses Erregungsstromes, dieses Dampfes des Seins« – die aufsteigende Farbe – »über der Glut des Alls.« Auch hier stellt sich der Eindruck ein, als beschriebe er Gemälde von Turner. Aber das sagt er nicht in bezug auf Turner, sondern in bezug auf seine eigenen Bilder, darauf, was er machen will.
Ich setze nochmals an. Ein in zwei Aspekte aufgetrenntes erstes Moment: das Chaos/der Abgrund, ich sehe nichts. Zweiter Aspekt der ersten Phase: etwas geht aus dem Chaos/Abgrund hervor: die großen Flächen, das Gerüst, die Geologie. Zweite Phase: die Katastrophe reißt die Grundla39gen und großen Flächen mit sich, das heißt, es beginnt bei Null. Aber wäre die erste Phase nicht da, würde das Ganze sicher nicht funktionieren. Erneut Gefahr, daß die Katastrophe alles mit sich reißt und die Farbe daraus nicht hervorgeht. Es gibt also Fortschritt: Was geschieht, wenn die Farbe nicht aufsteigt, wenn sie in der Glut nicht gedeiht? Die Farbe muß aus diesem Glutofen, dieser Katastrophe herausfinden. Wenn sie nicht gedeiht, wenn sie nicht getrocknet wird oder nur mangelhaft … Hat es der Maler mit Keramik zu tun? Ja, natürlich. Er verwendet andere Mittel, aber er hat seinen Ofen. Keine Farbe, die nicht aus dieser Art Ofen hervorkommt, der zugleich auf der Leinwand ist. Das ist der Feuerball, die Lichtkugel Turners. Bei Cézanne wäre das was? Wie es nennen? Wir wissen es noch nicht. Die Farbe soll daraus hervorgehen. Die Farbe steigt auf … Muß das als Metapher genommen werden? Nein, das ist keine Metapher, und ganz bestimmt nicht in bezug auf Cézanne. Es bedeutet, daß die Farbe mit einer aufsteigenden Skala zu tun hat. Sie muß steigen. Gilt das für alle Maler? Nein, bei manchen Malern gibt es im Gegenteil eine absteigende Skala. Bei Cézanne ist es, und den Grund dafür werden wir noch sehen, eine aufsteigende Skala. Und was nach einer Metapher aussieht, ist tatsächlich keine.
Anne Querrien: Sie steigt zum Weiß.
G. D.: Sie steigt zum Weiß? Nein, keineswegs.
Eine Studentin: Zum Blau …
Anne Querrien: Gegenwärtig gibt es eine aufsteigende Skala zu Schwarz, zum intensiven schwarzen Körper …
G. D.: Gut, aber bei Cézanne steigt das nicht zum Weiß. Das steigt …
Anne Querrien: Dann zum Licht …
G. D.: Nein, das ist eine absteigende Skala. Na ja, wir werden das noch sehen.
40Anne Querrien: Nein, weil es, wie in der Ausstellung über die Realismen in den Zwischenkriegsjahren sehr gut zu sehen ist, Maler gibt, die sich für das Schwarze und das Dunkle als Intensität stark machten …[29]
G. D.: Ja, aber hier haben wir es mit Cézanne zu tun.
Was ist, wenn die Farbe nicht aufsteigt? Wenn sie nicht gedeiht, nicht trocknet? Vorhin sahen wir die Gefahr in der ersten Phase: Die Flächen fallen übereinander, sind nicht mehr im Lot. Das Scheitern der Geologie. Im Lot, was heißt das, da es nur im Gemälde existiert? Das ist nicht das Lot der Ähnlichkeit. Wenn die Flächen übereinanderfallen, ist das Bild schon verpfuscht. Ihr seht, das ist viel wichtiger als das Problem der Tiefe. Das Problem der Tiefe ist dem Problem der Fläche und dem Zusammenbruch der Flächen völlig untergeordnet. Die Flächen müssen fallen, aber nicht übereinander. Mit der Tiefe kommt man dann schon zurecht. Im Hinblick auf die Tiefe ist alles Kreative erlaubt. Aber man hat eben immer nur die Tiefe, die man verdient, abhängig von der Art und Weise, wie man die Flächen zusammenbrechen läßt. Darin besteht das Problem des Malers. Mit der Tiefe hat er nie Probleme. Lachhaft, das Tiefenproblem.
Die zweite Phase: die Farben steigen nicht auf. Worin besteht die Gefahr? Die Maler formulieren es ganz deutlich: Die Gefahr besteht in den Morast-Farben, es ist Morast, Sumpf. Ist Matsch … Ist Grisaille. Die übereinanderfallenden Flächen bedeuten Konfusion. Die nicht aufsteigenden Farben sind Grisaille. Letztlich sind es schmutzige Bilder. Gauguin war einmal sehr verärgert, als ein damals sehr kompetenter Kritiker sagte: Das alles sind »stumpfe und grindi41ge« Farben.[30] Er hat ihm das nie verziehen. Noch zwanzig Jahre später erinnerte er sich, daß das über ihn gesagt worden war. Farbe ist etwas Schwieriges, es ist schwierig, aus dem Stumpfen, Grindigen, aus der Grisaille herauszukommen. Warum führe ich diese Idee hier ein? Es gibt einen berühmten Text von Delacroix, den alle Maler ständig wiederholt haben, in dem es heißt: Das Grau ist der Feind der Farbe, ist der Feind der Malerei.[31] Was das bedeutet, ist nur allzu deutlich. Das Grau an der Grenze, was ist das? Das ist da, wo Weiß und Schwarz sich vermischen – wo letztlich alle Farben sich vermischen, nicht aufsteigen. Das ist Grisaille.
Derselbe Cézanne sagt nun aber kurz nach dem bereits von mir aufgerufenen Text dies zu Gasquet: »Ich war in Talloires. […] Willst du graue Töne, da sind sie. Und Grün. Alle Graugrün der Welt. Die Hügel der Umgebung sind ziemlich 42hoch, schien mir, sie wirken niedrig, und es regnet! … Ein See ist da zwischen zwei Landzungen, ein See für Engländerinnen. Die Albumblätter fallen fertig aquarelliert von den Bäumen. Sicherlich ist es immer noch Natur … Aber nicht, wie ich sie sehe. Begreifen Sie? Grau auf Grau. Man ist kein Maler, solange man nicht ein Grau gemalt hat. Der Feind aller Malerei ist das Grau, sagt Delacroix. Nein, man ist kein Maler, solange man nicht ein Grau gemalt hat.«[32] Was meint er damit? Er hat Unrecht, wenn er Delacroix angreift. Delacroix' Text ist ebenso wichtig und ebenso mitreißend wie sein eigener – zudem sagen beide genau dasselbe.
Es gäbe also zwei oder auch vielerlei Grau, enorm viel Grau. Es gibt ein Grau der sich vermischenden Farben, und das ist das Grau des Scheiterns. Und dann gibt es noch ein anderes Grau, das vielleicht wie das Grau der Glut wäre, ein wesentlich leuchtendes Grau, aus dem die Farben hervorgehen. Wir müssen ganz behutsam vorgehen, denn bekanntlich gibt es zwei Methoden, Grau herzustellen. Kandinsky erinnert daran. Es gibt eine herrliche Passage über die zwei Grau, ein passives und ein aktives Grau.[33] Auf der anderen Seite können wir uns daran nicht halten. Das sei vorab gesagt, um Einwänden vorzubeugen. Es gibt das Grau als Mischung aus Schwarz und Weiß und das große Grau als Mischung aus Grün und Rot – oder sogar, weiter gefaßt, als Mischung aus zwei Komplementärfarben, aber vor allem aus Grün und Rot. Delacroix nun sprach von jenem anderen Grau, dem aus Grün und Rot. Das ist natürlich nicht dasselbe Grau.
Man könnte leichthin sagen: Ja, es gibt ein Grau der sich vermischenden Farben – das weiß-schwarze Grau – und ein 43Grau, das gleichsam die Matrix der Farben ist, das grün-rote Grau. In seiner Theorie der Farben bezeichnet Kandinsky das grün-rote Grau als das wirkliche dynamische Grau, das zur Farbe emporsteigt.[34] Warum reicht es nicht aus, das zu sagen? Weil zum Beispiel von der chinesischen oder japanischen Malerei bekannt ist, daß sie von Schwarz und Weiß aus eine unendliche Reihe graduell unterschiedlichen Graus erhält. Also läßt sich nicht ausschließen, daß auch die Mischung aus Weiß und Schwarz Matrix ist. Nur frage ich hier nach dem Grau. Warum? Sicherlich, um von Cézanne zu Klee überzugehen. Wie wir sehen werden, wird die Geschichte des Grau vollständig wiederaufgegriffen.
Ich fasse im Hinblick auf Cézanne zusammen. Folgendes sagt er uns, wobei er uns einen unschätzbaren Hinweis gegeben hat: Die Katastrophe ist in dem Maße Teil des Malakts, als sie bereits da ist, bevor der Maler überhaupt mit seiner Aufgabe beginnen kann. Er hat uns eine Präzisierung geliefert, die wir, wie ihr seht, noch nicht hinter uns gelassen haben. Was sind wir im Begriff zu fassen, ansatzweise zu fassen? Und das interessiert mich selbst. Die Malerei mit dem Raum in Beziehung zu setzen reicht nicht aus, das liegt schließlich auf der Hand. Ich glaube sogar, daß die Malerei, um deren Zusammenhang mit dem Raum zu verstehen, 44mit der Zeit in Beziehung gebracht werden muß, mit einer der Malerei inhärenten Zeit. Ein Gemälde so behandeln, als würde es bereits eine Synthese der Zeit vollziehen. Sagen: ein Gemälde impliziert eine Synthese der Zeit. Sagen: aufgepaßt, das Gemälde betrifft den Raum nur deshalb, weil es zunächst einmal eine Synthese der Zeit verkörpert. Es gibt eine genuin pikturale Synthese der Zeit, und der Malakt definiert sich durch diese Synthese der Zeit.
Es gäbe also eine Synthese der Zeit, die nur der Malerei angemessen ist. Wenn diese Hypothese stimmt, wie ließe sich dann die von mir als genuin piktural bezeichnete Synthese der Zeit finden und definieren? Nehmen wir an, der Akt des Malens verwiese zwingend auf eine präpikturale Voraussetzung und daß andererseits aus dem, worauf dieser Akt trifft, etwas hervorgehen soll. Der Malakt muß so auf seine präpikturale Voraussetzung treffen, daß daraus etwas hervorgeht. Da habe ich nun eine Synthese der Zeit. In welcher Form? In Form eines Präpikturalen, bevor der Maler beginnt, eines Malakts und von etwas, das aus diesem Akt hervorgeht. Alles das wäre im Gemälde. Dies wäre die genuine Zeit des Gemäldes. Sodaß ich vor jedem Gemälde mit Recht fragen könnte: Worin besteht die präpikturale Voraussetzung dieses Gemäldes? Dabei handelt es sich keineswegs um allgemeine Kategorien. Zeigen Sie mir den Akt des Malens in diesem Gemälde, und: Was geht aus diesem Gemälde hervor? Damit hätte ich meine genuin pikturale Synthese der Zeit. Um aus dieser Perspektive Cézannes Thema zu rekapitulieren: erstens, die präpikturalen Voraussetzungen, das Chaos oder der Abgrund, aus dem die großen hingeworfenen Flächen hervorgehen. Zweites Moment, der Akt des Malens als Katastrophe. Die großen Flächen müssen von der Katastrophe mitgerissen werden. Was geht daraus hervor? Die Farbe.
45Ruht euch jetzt bloß nicht aus oder fangt an nachzudenken. Ich gehe zu Paul Klee über. Paul Klee hat sich immer mit etwas recht Sonderbarem auseinandergesetzt. In vielen seiner Texte taucht immer wieder das Thema des von ihm so genannten Graupunkts auf. Man spürt, da gibt es einen bestimmten Bezug zum Graupunkt. Das beschäftigt ihn. So kann er erklären, was Malen für ihn ist. Bis zu seinem Ende wird er an seiner Idee vom Graupunkt und dessen Abenteuer festhalten, allenthalben darüber sprechen, nun ja, häufig. Das sagt er uns: »Das Chaos als Gegensatz ist nicht das eigentliche wirklich wahrhaftige Chaos, sondern ein zum Kosmosbegriff örtlich bestimmter Begriff. Das eigentliche Chaos wird nie in eine Wagschale gelangen, sondern ewig unwägbar und unermessbar bleiben.«[35] Was sagt er uns damit? Ganz philosophisch sagt er: Wenn Sie von Chaos sprechen, dürfen Sie es sich nicht vorgeben, denn würden Sie das tun, kämen Sie nicht mehr heraus. Er sagt: Ich bin bereit, es mir vorzugeben, weil ich Maler bin. Aus logischer Sicht aber können Sie sich das Chaos nicht vorgeben, als wäre es die Antithese zu etwas, denn das Chaos ergreift alles und droht alles zu ergreifen. Sie können nicht sagen: Das Chaos ist das Gegenteil von Ordnung. Das Chaos steht in keinem Bezug zu irgend etwas. Es ist kein Gegenteil von irgend etwas, es ergreift alles. Von Beginn an stellt er also jedes logische Denken des Chaos in Frage. Das Chaos hat keinen Gegensatz. Wenn Sie das Chaos postulieren, wie kommen Sie dann da wieder heraus?
46Klee