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Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) ist gewiss einer der größten Philosophen in der Geschichte der Philosophie, die zugleich eine grundsätzliche Kritik der Philosophie entwickelt haben. Sein ganzes Denken bewegt sich im Spannungsfeld von Philosophie und deren selbstkritischer Reflexion. Im Rahmen des islamischen Denkens entwickelt er so sowohl eine Philosophie wie auch eine Kritik der Philosophie, indem er an die der Tradition der griechischen Philosophie entwachsenen islamischen Philosophie, wie sie sich bis in seine Zeit herausgebildet hat, anknüpft. Das rechtfertigt, den ersten Band dieser Reihe dem Denken al-Ghazālīs zu widmen. al-Ghazālī hat uns ein vielschichtiges und reiches Werk vermacht, das in seiner gewaltigen Fülle mitunter unübersichtlich erscheinen mag. Da genügt es nicht, die Thematik auf die Kritik der Philosophie im islamischen Denken einzugrenzen, um einen Weg durch dieses klüftige Gelände zu bahnen. Es ist zudem erforderlich, das Augenmerk besonders auf das spannungsreiche Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu richten. al-Ghazālī behandelt dieses Thema häufig mit Blick auf eine Regel, die er qānūn at-taʾwīl nennt, was in einer ersten Annäherung mit Regel der Interpretation übersetzt werden kann. So liegt es nahe, diese Richtschnur zum Leitfaden zu wählen, um sich daran entlang zu hangeln und damit einen Zugang zu al-Ghazālīs Werk und Denken zu eröffnen. Dieser rote Faden, der die Texte des vorliegenden Buches durchzieht, erlaubt zugleich, die übergreifenden Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung sowie der Kritik der Philosophie stets im Blick zu behalten. Da die Regel der Interpretation al-Ghazālī als Richtschnur zur Behandlung echter oder vermeintlicher Widersprüche zwischen Vernunft und Offenbarung dient, steht sie in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach Rolle und Stellenwert der sich auf Vernunft berufenden Philosophie im islamischen Denken, das stets an Offenbarung zurückgebunden bleibt.
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Seitenzahl: 506
Veröffentlichungsjahr: 2019
Yusuf Kuhn
Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken
YUSUF KUHN
Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken
Studien zur Kritik der Philosophieim islamischen Denken
Band 1
Bibliografische Information der
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Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7482-3089-2
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2. Auflage 2019
ISBN Taschenbuch: 978-3-7482-3089-2
ISBN Hardcover: 978-3-7482-3090-8
ISBN e-Book: 978-3-7482-3091-5
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Umschlaggestaltung & Satz: Yusuf Kuhn
Wenn die Vernunft mit der
Offenbarung vereint wird,
ist sie wie ein Licht, das ein anderes
Licht noch heller macht; und
derjenige, der sich nur mit einem
von beiden begnügt, ist das Opfer
einer gefährlichen Täuschung.
Abū Hāmid al-Ghazālī
Als ich diese Ader von Narrheit
in diesen Toren pulsieren sah,
nahm ich es auf mich, dieses Buch
zu schreiben als Widerlegung
(radd) der alten Philosophen, um
die Inkohärenz (tahāfut) ihrer
Glaubenslehre (ʿaqīda) und die
Widersprüchlichkeit ihrer Worte in
bezug auf die Metaphysik
(ilāhiyyāt) aufzuzeigen, um die
Gefahren ihrer Lehre (madhhab)
und ihre Fehler aufzudecken, die
genau genommen Gegenstände des
Gelächters für die Vernünftigen und
eine warnende Lektion für die
Verständigen sind. Ich meine damit
die Arten von vielerlei
Glaubenslehren und Meinungen,
durch die sie sich speziell
ausgezeichnet sehen gegenüber
dem Volk und der breiten Masse.
Abū Hāmid al-Ghazālī
INHALT
VORWORT
1 ZU AL-GHAZĀLĪS WIDERLEGUNG DER PHILOSOPHEN:TAHĀFUTAL-FALĀSIFA
2 ZUAL-GHAZĀLĪS »REGEL DER Interpretation«:QĀNŪN AT-TAʾWĪL
3 ZUAL-GHAZĀLĪS KRITERIUM DER UNTERSCHEIDUNG:FAYSAL AT-TAFRIQA
4 AL-GHAZĀLĪ UND DIE EINFÜHRUNG DER LOGIKIN DEN KALĀM
5 AL-GHAZĀLĪ UND DIE EINFÜHRUNG DER LOGIKIN DEN FIQH
6 AL-GHAZĀLĪ UND ARISTOTELISCHE LOGIK
7 AL-GHAZĀLĪ UND GRIFFELS PHILOSOPHISCHE THEOLOGIE
8 EIN BEDEUTENDER LESER VON AL-GHAZĀLĪ:I BN TAYMIYYA
ANHANG
AL-GHAZĀLĪ - QĀNŪN AT-TAʾWĪL
AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
1 ZUAL-GHAZĀLĪS WIDERLEGUNG DER PHILOSOPHEN:TAHĀFUT AL-FALĀSIFA
Einführung
Vorgeschichte des Tahāfut
Was bedeutet »tahāfut al-falāsifa«?
Aufbau des Tahāfut
Themen des Tahāfut
Zu den Einleitungen des Tahāfut
Zur Einführung
Zur ersten Einleitung
Zur zweiten Einleitung
Zur dritten Einleitung
Zur vierten Einleitung
Zum Schlusswort
2 ZUAL-GHAZĀLĪS »REGEL DER INTERPRETATION«: Qānūn at-taʾWĪL
Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung?
Fünf Gruppen
Offenbarung über Vernunft
Vernunft über Offenbarung
Harmonisierung von Vernunft und Offenbarung?
Drei Empfehlungen
al-Ghazālī und Griffels Rationalismus
al-Ghazālīs Rationalismus?
Kurzer Überblick
Literalismus und Rationalismus
Vernunft oder Offenbarung
Vom Wissen nur wenig
Wo al-Ghazālī am rationalistischsten ist
Dogmatismus der Vernunft
Rationalität oder Vernunft
3 ZUAL-Ghazālīs Kriterium der UNTERSCHEIDUNG:FAYSAL AT-TAFRIQA
Zum Titel: Faysal at-tafriqa
al-Ghazālī und die Kultur der Gelehrten
Kriterium der Unterscheidung und Regel der Interpretation
Sie behaupten, dieses Buch enthielte Dinge
Monopol und Substanz
Prophetie und Lüge
Fürwahrhalten und Existenz
Fünf Stufen der Existenz
Interpretation und Beweis
Zwei Perspektiven und Logik
Äußeres Kriterium und Philosophie
Warnung und Mahnung
4 AL-GHAZĀLĪ UND DIE EINFÜHRUNG DER LOGIKIN DEN KALĀM
Kalām und seine Funktion bei al-Ghazālī
Hat al-Ghazālī die Logik in den Kalām eingeführt?
5 AL-GHAZĀLĪ UND DIE EINFÜHRUNG DER LOGIKIN DEN FIQH
Logik und Recht
al-Ghazālī als Wegbereiter
Rechtliche und aristotelische Logik
6 AL-GHAZĀLĪ UND ARISTOTELISCHE LOGIK
Welches Ziel verfolgt al-Ghazālī?
al-Ghazālīs Beurteilung der aristotelischen Logik
Darstellung der Logik in seinen methodischen Schriften
Einsatz der Logik in der Theologie
Ergebnisse?
7 AL-Ghazālī und GRIFFELS PHILOSOPHISCHETHEOLOGIE
Philosophische Theologie?
Dantes philosophische Theologie
Philosophische Theologie!
Zum Leben al-Ghazālīs: Erstes Hindernis
al-Ghazālī und falsafa
Tahāfut al-falāsifa
Zur Kosmologie al-Ghazālīs: Zweites Hindernis
Kausalität
Der, dem gehorcht wird
Und was man heute daraus lernen könnte
8 EIN BEDEUTENDER LESER VON AL-GHAZĀLĪ:IBN TAYMIYYA
Einführung: Komplexes Bild und breite Kenntnis
al-Mustasfā und griechische Logik
Ihyāʾ und Philosophie
Kausalität und Ethik
Kausalität im Ihyāʾ
Authentizität des Madhnūn
Fürsprache im Madhnūn
Prophetentum im Madhnūn
Alte und neue Kritiken
Drei Glaubenslehren: Zwischen Islam und Philosophie
ANHANG
AL-Ghazālī - QĀNŪN AT-TAʾWĪL
Vorbemerkung des Übersetzers
al-Ghazālī - Regel der Interpretation
Vernunft und Offenbarung
Fünf Gruppen
Drei Empfehlungen
Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
die in diesem Buch versammelten Texte sind Teil eines größeren Projektes, das sich mit der Kritik der Philosophie im islamischen Denken befasst. Es trägt den Titel: alastu-Projekt – Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Eine Erläuterung dieses Titels1 und eine knappe Vorstellung des Projektes2 finden sich auf der Website3 des Projektes. Die Texte, die aus diesem Projekt hervorgehen, sollen in Gestalt von Büchern wie dem vorliegenden und auf der Website des Projektes alastu.net veröffentlicht werden. Das vorliegende Buch ist der erste Band der Reihe Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Weitere Bände sind in Vorbereitung und Planung.
Wie das Projekt als Ganzes so verstehen sich auch diese Texte als work in progress. Sie liefern also keine abschließenden Ergebnisse, sondern bieten vielmehr einen schlaglichtartigen Einblick in die Werkstatt einer fortschreitenden Arbeit, deren derzeitigen und vorläufigen Stand sie widerspiegeln. Die Texte könnten daher auch als Vorstudien bezeichnet werden.
Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) ist gewiss einer der größten Philosophen in der Geschichte der Philosophie, die zugleich eine grundsätzliche Kritik der Philosophie entwickelt haben. Sein ganzes Denken bewegt sich im Spannungsfeld von Philosophie und deren selbstkritischer Reflexion. Im Rahmen des islamischen Denkens entwickelt er so sowohl eine Philosophie wie auch eine Kritik der Philosophie, indem er an die der Tradition der griechischen Philosophie entwachsenen islamischen Philosophie, wie sie sich bis in seine Zeit herausgebildet hat, anknüpft. Das rechtfertigt, den ersten Band dieser Reihe dem Denken al-Ghazālīs zu widmen.
al-Ghazālī hat uns ein vielschichtiges und reiches Werk vermacht, das in seiner gewaltigen Fülle mitunter unübersichtlich erscheinen mag. Da genügt es nicht, die Thematik auf die Kritik der Philosophie im islamischen Denken einzugrenzen, um einen Weg durch dieses klüftige Gelände zu bahnen. Es ist zudem erforderlich, das Augenmerk besonders auf das spannungsreiche Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu richten. al-Ghazālī behandelt dieses Thema häufig mit Blick auf eine Regel, die er qānūn at-taʾWīl nennt, was in einer ersten Annäherung mit Regel der Interpretation übersetzt werden kann. So liegt es nahe, diese Richtschnur zum Leitfaden zu wählen, um sich daran entlang zu hangeln und damit einen Zugang zu al-Ghazālīs Werk und Denken zu eröffnen. Dieser rote Faden, der die Texte des vorliegenden Buches durchzieht, erlaubt zugleich, die übergreifenden Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung sowie der Kritik der Philosophie stets im Blick zu behalten. Da die Regel der Interpretation al-Ghazālī als Richtschnur zur Behandlung echter oder vermeintlicher Widersprüche zwischen Vernunft und offenbarung dient, steht sie in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach Rolle und Stellenwert der sich auf Vernunft berufenden Philosophie im islamischen Denken, das in der einen oder anderen Weise stets an Offenbarung zurückgebunden bleibt.
Nun wäre es wohl das übliche Verfahren, an dieser Stelle einen Überblick über al-Ghazālīs Leben und Werk sowie eine Darstellung des aktuellen Stands der Forschung samt der sich daraus ergebenden Fragestellungen zu geben. Dieser Versuchung will ich jedoch widerstehen, da sie doch voraussetzte, was allererst zu leisten wäre, nämlich eine genaue Kenntnis der Texte und eine darauf basierende Interpretation, die sich tatsächlich an den Texten erweisen ließe. Damit soll nicht alles über den Haufen geworfen, sondern lediglich der Anspruch einer erneuten Prüfung angemeldet werden. Die vorherrschenden Interpretationen nehmen nur allzu leicht einen verselbständigten Lauf und entfernen sich auf der Grundlage immer stärker verfestigter Urteile und Vorurteile von den Texten selbst. Damit einhergehend entfernen sich die Fragestellungen ebenfalls zunehmend von den Texten und richten sich auf Personen, denen vermeintlich einheitliche Positionen über lange Zeiträume hinweg, womöglich ein ganzes Leben lang, zugeschrieben werden. Diesem Drang zur Vereinheitlichung im Rahmen eines bestimmten Vorverständnisses werden sodann die Texte mehr oder weniger gewaltsam gefügig gemacht. Dies, um Fragen folgender Art zu beantworten: Welche Position hat beispielsweise al-Ghazālī zu dieser oder jener Frage vertreten?
Dieser Tendenz soll hier mit einer anderen Fragestellung widerstanden werden: Was hat al-Ghazālī in diesem oder jenem Text wirklich gesagt? Die erneute Frage nach dem Sinn der Texte soll also in den Vordergrund gerückt werden. Freilich geschieht dies nicht in der naiven Annahme, dass sich jegliches Vorverständnis fernhalten ließe, sondern vielmehr in der Absicht, das vorherrschende Vorverständnis in Frage zu stellen, ja überhaupt erst ins Bewusstsein zu rücken, und somit neue Wege der Interpretation zu eröffnen. Auch in diesem Sinne handelt es sich bei den in diesem Buch versammelten Texten eben um Vorstudien und nicht um die Präsentation von fertigen Ergebnissen.
Die Auslegung der Texte al-Ghazālīs, die also möglichst textnah und gründlich erfolgen soll, wird von der stets präsenten Fragestellung begleitet, ob und inwiefern bestimmte Interpretationen diesem Text tatsächlich gerecht werden. Dies geschieht mitunter im Hintergrund, wird aber gelegentlich auch ganz ausdrücklich durch die ebenso textnahe und gründliche Untersuchung von Texten durchgeführt, die für sich beanspruchen, im Ergebnis zu bestimmten Thesen über al-Ghazālīs Position in der einen oder anderen Frage gelangt zu sein. Hier lautet die vorrangige Fragestellung mithin: Inwieweit gelingt es den Autoren dieser Texte wirklich, ihre Interpretationen an den Texten al-Ghazālīs stichhaltig auszuweisen? Dem nachzugehen, erfordert freilich, dass die dafür herangezogenen Texte al-Ghazālīs selbst wiederum einer gründlichen Betrachtung unterzogen werden, die allererst ein Urteil über die in Frage stehende Auslegung erlauben kann.
So verbindet sich allemal die genaue Betrachtung der Texte al-Ghazālīs mit der prüfenden Untersuchung bestehender Interpretationen derselben zu einem eindringlichen und hoffentlich frischen Blick, der neue Perspektiven zu eröffnen vermag, ohne der Versuchung zu erliegen, zu voreiligen Schlüssen zu gelangen, was sich schon aufgrund der in Hinsicht auf das Gesamtwerk al-Ghazālīs winzigen Textauswahl verbietet.
Die geneigte Leserin, der geneigte Leser soll nun nicht länger durch andeutende Vorbemerkungen von der Lektüre der Studien abgehalten werden, die dadurch ohnehin nicht besser werden, sondern vielmehr für sich selbst sprechen müssen.
Die einzelnen Texte können unabhängig voneinander gelesen werden, bauen aber in gewissem Maße aufeinander auf, so dass es vorteilhaft sein kann, sie in der vorgegebenen Reihenfolge zu lesen. Es sei lediglich noch eine kurze Übersicht über den Inhalt des Buches gegeben.
Der erste Text, der auch als bündige Einführung in die Thematik der Kritik der Philosophie im islamischen Denken gelesen werden kann, trägt den Titel Zu al-Ghazālīs Widerlegung der Philosophen und befasst sich mit einem der bekanntesten Werke al-Ghazālīs, namentlich dem Tahāfut al-falāsifa, was gelegentlich mit Inkohärenz der Philosophen übersetzt worden ist. al-Ghazālī entwickelt darin eine Kritik der Philosophie, wie sie es im islamischen Denken bis dahin nicht gegeben hat. Der Tahāfut stellt daher einen Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte des islamischen Denkens dar. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei vor allem den kurzen Einführungen, die al-Ghazālī seinem Werk vorangestellt hat und in denen er sein Projekt einer Kritik der Philosophie in grundlegenden Zügen vorstellt.
Der zweite Text mit dem Titel Zu al-Ghazālīs Schrift »Regel der Interpretation« behandelt eingehend eine kleine Schrift al-Ghazālīs, die den arabischen Titel Qānūn at-taʾWīl trägt. al-Ghazālī versucht in dieser Abhandlung, wie schon der Titel besagt, eine Regel der Interpretation von Äußerungen und Texten zu bestimmen. Interpretation (taʾWīl) gilt dabei als notwendig, wenn bestimmte Probleme, die bei der Auslegung der Offenbarung auftreten können, zu lösen sind. Diese Probleme können sich daraus ergeben, dass bei einigen Stellen der Eindruck eines Widerspruchs zwischen Vernunft (ʿaql) und Offenbarung (naql) auftreten kann. Um diesen vermeintlichen Widerspruch aufzulösen, bedarf es mithin einer Interpretation nach einer regelhaften Methode.
Der dritte Text mit dem Titel Zu al-Ghazālīs Kriterium der Unterscheidung: Faysal at-tafriqa befasst sich mit al-Ghazālīs Abhandlung Faysal at-tafriqa bayna al-islām wa az-zandaqa. Dieser Titel kann annäherungsweise übersetzt werden mit Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und verborgenem kufr (Ablehnung des Islam, Nicht-Islam). al-Ghazālī geht es darin um die Entwicklung eines Kriteriums für eine möglichst eindeutige Unterscheidung zwischen Islam und zandaqa (verborgenem kufr) und zur Bestimmung der Vereinbarkeit einer Auffassung mit dem Islam. al-Ghazālī geht dabei von seiner Erfahrung mit dem in seiner Umgebung häufigen Gebrauch des Ausschlusses aus der muslimischen Gemeinschaft aus, dem er einen Riegel vorschieben wollte, da er die muslimische Gemeinschaft allzu oft in heillose und unnötige Streitigkeiten zu verwickeln drohte. Demgegenüber strebte al-Ghazālī danach, diese Konflikte beizulegen und die Einheit der muslimischen Gemeinschaft (umma) zu schützen. Dass dieses Anliegen auch und gerade heute leider keineswegs an Aktualität verloren hat, dürfte ohne weiteres einsichtig sein. Da sich diese Konflikte vor dem Hintergrund der Entwicklung des muslimischen Denkens abspielen, muss auch dieser ein wenig ausgeleuchtet werden. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Debatte zwischen zwei Tendenzen des islamischen Denkens, die oftmals als Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Traditionalismus beschrieben wird. Wer sich heute für diese Fragen interessiert, sollte dies zumindest in Kenntnis des klassischen Werkes von al-Ghazālī tun, das einen wichtigen Beitrag zum islamischen Denken darstellt.
Der vierte Text mit dem Titel al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den Kalām beschäftigt sich mit einer spezielleren Frage im Rahmen der Debatte um al-Ghazālīs Rationalismus: Hat al-Ghazālī die Logik in den kalām (meist mit islamische Theologie unzulänglich übersetzt) eingeführt? Es geht also um die Untersuchung der These, der zufolge al-Ghazālī die Durchdringung des kalām mit aristotelischer Logik und Philosophie zugeschrieben wird. al-Ghazālī hat indes zwar erste Schritte in diese Richtung unternommen, ist aber auf halbem Wege stehengeblieben. Erst hundert Jahre später wurde dieser Weg von ar-Rāzī konsequent bis an sein Ende beschritten.
Der fünfte Text mit dem Titel al-Ghazālī und die Einführung der Logik in den fiqh wirft die entsprechende Frage im Hinblick auf den fiqh (islamisches Recht) auf: Welchen Beitrag hat al-Ghazālī zur Einführung der Logik in das islamische Recht (fiqh) und Rechtstheorie (usūl al-fiqh) geleistet? Der sunnitischen Rechtstheorie war es bis ins 5./11. Jahrhundert weithin gelungen, das Eindringen der aristotelischen Logik zu verhindern. In den Auseinandersetzungen um die Grundlegung und Ausrichtung des islamischen Rechts erschien die Logik als Werkzeug der Philosophie und stand daher unter dem Verdacht, ihre metaphysischen Voraussetzungen zu teilen. Die vorherrschende Tendenz in der sunnitischen Rechtstheorie widersetzte sich erfolgreich diesen Einflüssen eines philosophischen Rationalismus, der als den Grundlagen des Islam zuwiderlaufend erachtet wurde. Erst al-Ghazālī befreite die Logik von diesem Verdacht, indem er sie vermeintlich als neutrale Methode aus der aristotelischen Philosophie herauslöste und so von ihren als nicht-islamisch geltenden metaphysischen Voraussetzungen abspaltete. Dadurch räumte er den Weg frei für die Aufnahme der Logik in Rechtstheorie (usūl al-fiqh) und Recht (fiqh), die in den folgenden Jahrhunderten von seinen Nachfolgern mit kaum zu überschätzenden Auswirkungen bis in die Gegenwart aufgegriffen und fortgeführt wurde.
Der sechste Text mit dem Titel al-Ghazālī und aristotelische Logik geht der Frage nach al-Ghazālīs Verhältnis zur aristotelischen Logik in einem weiteren Rahmen nach. al-Ghazālī hat sich immer wieder recht unterschiedlich zur aristotelischen Logik geäußert. Diese Vielfalt scheinbar divergierender Meinungen mag verwirrend wirken. Verbergen sich dahinter dennoch ein einheitliches Ziel und klar definierte Absichten? al-Ghazālī hat sicherlich einen maßgeblichen Beitrag zur Einführung der aristotelischen Logik in kalām und Rechtswissenschaft geleistet. Aber war sein Eintreten für die aristotelische Logik auch konsequent? al-Ghazālī hat die Logik zwar mehrfach dargestellt. Aber hat er sie überhaupt selbst zur Anwendung gebracht? Welchen Stellenwert räumt er also der aristotelischen Logik in seinem Denken ein?
Der siebte Text trägt den Titel al-Ghazālī und Griffels philosophische Theologie und befasst sich anhand einiger ausgewählter Themen mit dem Versuch einer Reinterpretation von al-Ghazālīs Denken als philosophischer Theologie, die Frank Griffel in seinem Buch Al-Ghazālī’s philosophical theology4 vorgelegt hat. Frank Griffel, der als der angesehenste al-Ghazālī-Experte unter den Orientalisten gilt, hat neben zahlreichen Artikeln mit diesem Buch eine ziemlich umfängliche Darstellung von al-Ghazālīs Denken vorgebracht, die sicherlich als so einflussreich erachtet werden kann, dass das Bild al-Ghazālīs weithin und maßgeblich davon geprägt wird. al-Ghazālī erscheint darin als rationalistischer Philosoph im Sinne der philosophischen Tradition, für die Namen wie Platon und Aristoteles stehen, gleichsam in Umkehrung des sattsam bekannten Klischees von al-Ghazālī als vernunftfeindlichem Theologen und Zerstörer der Philosophie in der islamischen Geistesgeschichte. Das allein würde schon eine ausführliche Auseinandersetzung mit Griffels Thesen rechtfertigen. Darüber hinaus verspricht eine eingehende Untersuchung seiner Interpretation ein schärferes Bild von al-Ghazālīs Denken, das freilich nur in einigen Aspekten einer näheren Betrachtung unterzogen werden kann. Was also meint Griffel, wenn er al-Ghazālī schon im Titel seines Buches eine philosophische Theologie zuschreibt? Und kann er seine Thesen durch den Text al-Ghazālīs wirklich ausweisen und schlüssig begründen?
Der achte und letzte Text mit dem Titel Ein bedeutender Leser von al-Ghazālī: Ibn Taymiyya lässt Ibn Taymiyya als fleißigen Leser und Kommentator von al-Ghazālīs Schriften auftreten. Dieser Text stützt sich auf einen Artikel von Yahya Michot, in dem Textausschnitte aus dem Werk von Ibn Taymiyya vorgestellt werden, in denen es vorwiegend um die Einschätzung von al-Ghazālīs Denken und dessen Wirkungsgeschichte geht. Michot hat eine Auswahl von neun Textausschnitten unterschiedlicher Länge aus dem Arabischen ins Englische übersetzt und mit einem Kommentar versehen. In meiner Darstellung werde ich mich auf die inhaltlichen Aspekte insbesondere mit Blick auf das uns hier vor allem beschäftigende Thema der Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl) sowie des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung konzentrieren. Ibn Taymiyya interessierte sich für al-Ghazālī als herausragenden Denker und Schlüsselfigur für die Entwicklung des islamischen Denkens, auf das al-Ghazālī einen kaum zu überschätzenden Einfluss ausübte. Ibn Taymiyya erweist sich dabei im Gegensatz zu verbreiteten Zerrbildern keineswegs als einseitiger Polemiker, sondern vielmehr als ausgewogener Kritiker, der Lob und Tadel miteinander zu verbinden versteht. So zeichnet er ein durchaus komplexes und vielschichtiges Bild, das einem Denker, über den es kaum einverständliche Meinungen gibt, jedenfalls viel eher entspricht als alle vorschnellen Vereinseitigungen, von denen es bis heute nur allzu viele gibt. Die Spannbreite der einseitigen Darstellungen deckt dabei alle Extreme ab: Vom rechtgeleiteten Muslim bis zum Verräter am Islam, vom aufgeklärten Philosophen bis zum finsteren Fundamentalisten ist alles dabei. Ibn Taymiyya hat sich diesem Sog erfolgreich widersetzt. Michot wird durch seine Untersuchung zu einem erstaunlichen Schluss geführt: Ibn Taymiyya verfügte über eine weit bessere Kenntnis und Auffassung von al-Ghazālīs Werk als seine Widersacher aus den Reihen der falāsifa wie Ibn Tufayl und Ibn Ruschd. Was also können wir von Ibn Taymiyya über al-Ghazālīs Denken lernen?
Mein Dank gilt all denen, die mich durch ihre anregenden und bereichernden Beiträge in Diskussionen und anderweitig bei der Arbeit an diesem Projekt über viele Jahre unterstützt haben und die viel zu zahlreich sind, um namentlich aufgeführt werden zu können. Besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitgliedern des VDM5, die mir mit ihrer großmütigen Unterstützung in allerlei Gestalt stets tatkräftig zur Seite standen. Möge Allāh es ihnen allen reichlich lohnen und unser Projekt mit Seinem Beistand zum Gelingen führen!
Mai 2018 / Ramadan 1439 Yusuf Kuhn
1 https://alastu.net/ueber
2 https://alastu.net/node/29
3 https://alastu.net
4 Frank Griffel, Al-Ghazālī’s philosophical theology, Oxford University Press, Oxford, 2009.
5 Verein für denkende Menschen e.V., Website: vdmev.de
1
Zu al-Ghazālīs Widerlegung der Philosophen: Tahāfut al-falāsifa
Es gibt noch immer keine Übertragung von al-Ghazālīs Tahāfut al-falāsifa ins Deutsche, allerdings zwei ins Englische. Ich habe mich vor allem auf die Ausgabe von Marmura gestützt, die neben der englischen Übersetzung auch den arabischen Text bietet und deren Einleitung ich wertvolle Hinweise entnommen habe.1 Daneben gibt es noch die ältere Übersetzung von Kamali, die sich oftmals allzu weit von der Vorlage entfernt und weithin eher einer Paraphrase gleicht.2 Bei allen Schwächen hat sich die Übersetzung von Marmura als vergleichsweise zuverlässiger erwiesen.
Einführung
al-Ghazālī entwickelt in seinem Werk Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen) eine Kritik der Philosophie, wie sie es im islamischen Denken bis dahin nicht gegeben hat. Der Tahāfut stellt daher einen Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte des islamischen Denkens dar.
al-Ghazālī setzt sich darin die Aufgabe, zwanzig philosophische Thesen zu widerlegen, indem er deren Inkohärenz (tahāfut) aufweist. Siebzehn der Thesen werden als unzulässige Neuerungen (bidʿa) und drei als nicht-islamisch (kufr) verurteilt.
Die kritisierten Philosophen (falāsifa) waren keineswegs Atheisten. Denn ihr philosophisches System beinhaltete die These, dass Gott existiert. Die Kritik richtete sich also in erster Linie gegen ihr spezifisches Verständnis des Gottesbegriffs. Ihr Gott war für al-Ghazālī der Gott der Philosophen, nicht der Offenbarung – zumindest hinsichtlich der von ihm kritisierten Thesen.
Während der Gott der Offenbarung alles Seiende in einem Willensakt als Schöpfung hervorbringt, steht der Gott der Philosophen in einem Kausalverhältnis, also von Ursache und Wirkung, zur Welt, das von Notwendigkeit bestimmt ist. Aus dem Wesen Gottes als erster Ursache geht so die Welt als dessen notwendige Wirkung hervor. Nach al-Ghazālī bedeutet dies, dass Gott die Welt in der gleichen Weise notwendig bewirkt, wie beispielsweise ein unbelebtes Objekt wie die Sonne aufgrund ihrer Natur Licht erzeugt. Dies bedeutete für ihn die Leugnung solcher Eigenschaften Gottes wie Leben, Wille, Macht und Wissen.
al-Ghazālī geht es darum, den Gottesbegriff der Philosophen zu untersuchen, auf seine Übereinstimmung mit der Offenbarung hin zu prüfen und wo nötig zu kritisieren. Dabei bediente er sich wiederum selbst philosophischer Mittel wie der aristotelischen Logik und Begriffen, die der griechischen Philosophie entstammten.
Die Wirkung von al-Ghazālīs Kritik der Philosophie erscheint daher in einem doppelten Licht. Einerseits drängte er die Philosophie zurück, indem er bestimmte ihrer Thesen als mit dem islamischen Denken unvereinbar kritisierte, andererseits propagierte er geradezu philosophisches Denken. Denn schon um diese Thesen gründlich und überzeugend zu widerlegen, war es erforderlich, sie ausführlich darzustellen, was al-Ghazālī meisterlich gelang. Allerdings führte seine Kritik auch dazu, dass diese Thesen in weiteren Kreisen bekannt wurden und rasch größere Verbreitung fanden. Noch wichtiger war jedoch, dass al-Ghazālī sich bei seiner Widerlegung selbst philosophischer Begriffe und Methoden bediente, die dadurch wie nie zuvor Eingang in das islamische Denken fanden. Der Kalām (kalām, »islamische Theologie«) sollte fortan sich nicht nur ausführlich mit philosophischen Ideen beschäftigen, sondern in noch stärkerem Maße als bisher schon vom philosophischen Denken geprägt werden.
Von al-Ghazālī heißt es im allgemeinen, dass er auf dem Gebiet des fiqh (Recht) ein Anhänger der schafiʿitischen Schule und auf dem Gebiet des Kalām ein Anhänger der aschʿaritischen Schule gewesen sei. Ob letzteres wirklich zutrifft, wird von manchen (z.B. von den Orientalisten Richard M. Frank und Frank Griffel) bestritten. Die Kritik, die al-Ghazālī selbst am Kalām, auch dem aschʿaritischen, übt, mag allemal Zweifel an einer allzu glatten Zuordnung zu einer Schule wecken. Doch davon unabhängig ist jedenfalls unübersehbar, dass aschʿaritisch geprägte Denkweisen den Hintergrund von al-Ghazālīs Kritik bilden, auch wenn der Tahāfut vor allem der Widerlegung dient und nicht der Darstellung einer bestimmten Lehre.
Der Aschʿarismus wurde im elften Jahrhundert zur vorherrschenden Schule des Kalām. Er beruhte auf verschiedenen metaphysischen Voraussetzungen. Seine Ontologie zeichnet sich dadurch aus, dass die Existenz von kleinsten unteilbaren Teilen, Atomen, und Akzidenzien angenommen wird, aus denen materielle Körper zusammengesetzt sind. Auch die Zeit wird als aus kleinsten Einheiten, Zeitatomen, bestehend begriffen. Die Teilchen sind insofern äußerst flüchtig, als sie immer nur für einen Moment, ein Zeitatom, im Dasein Bestand haben. Die Gesamtheit aller Teilchen und deren Akzidenzien wird von Gott geschaffen, und zwar in jedem Moment neu. Da sie von sich aus keinen Bestand haben, müssen sie in jedem Zeitatom insgesamt neu geschaffen werden. Nur dadurch werden sie in ihrem Dasein erhalten.
Alles in der Zeit Seiende ist somit eine direkte Schöpfung Gottes, von Seinem Willen bestimmt und Seiner Macht verwirklicht. Da die Zeit eine distinkte Abfolge von Momenten ist, die ausschließlich über den Willen Gottes miteinander verbunden sind, gibt es keine davon unabhängigen Beziehungen von Ursache und Wirkung. Was den Menschen für gewöhnlich als eine Kette von Ursachen und Wirkungen erscheint, ist in Wirklichkeit ein Auftreten von zeitlich benachbarten Ereignissen, deren Verbindung einzig durch Gott willkürlich hergestellt wird. Zwischen geschaffenen Dingen gibt es keine kausalen Verbindungen; und daher schon gar keine notwendigen.
Gott gilt im Aschʿarismus als die einzige »Ursache«. Alles ist Wirkung dieser einzigen Ursache, was zugleich als Schöpfungsvorgang begriffen wird. Es gibt in der Natur keine davon unabhängigen Gesetze oder Wesen, die von sich aus oder kraft einer inhärenten Notwendigkeit eine Gleichförmigkeit oder Regelmäßigkeit bestimmen. Diese beruhen lediglich auf dem Willen Gottes, wie er von Moment zu Moment die Welt neu erschafft, indem er dank Seiner Gnade zum Wohle der Menschen eine gewisse Regelmäßigkeit walten lässt. Wenn Gott diesen regelmäßigen Lauf zu gewissen Zeiten unterbricht und beispielsweise für einen Propheten ein Wunder schafft, kann kein Gegensatz zu irgendeiner der Natur selbst inhärenten Ordnung auftreten, da eine solche gar nicht existiert. Diese von Atomismus und Okkasionalismus geprägte Lehre des Aschʿarismus bildet den Hintergrund, dessen Kenntnis allemal für ein Verständnis von al-Ghazālīs Kritik der Philosophie und ihrer metaphysischen Voraussetzungen förderlich ist, unabhängig von der Frage, welche Position al-Ghazālī selbst bezogen haben mag.
al-Ghazālī schrieb den Tahāfut vermutlich in der Zeit zwischen 1091 bis 1095. Daneben verfasste er in diesem Zeitraum noch drei weitere Werke, die kurz vorgestellt seien.
al-Ghazālī begann nach einem gründlichen Studium der Philosophie mit einem Werk, das sich die Darstellung derselben zur Aufgabe machte, insbesondere in der seinerzeit vorherrschenden Gestalt, die vor allem von Ibn Sīnā geprägt war, der eine originelle Synthese auf der Grundlage der griechischen Philosophie und seiner arabischen Vorgänger wie al-Kindī und al-Fārābī hervorgebracht hatte. Dieses erste Werk trägt bezeichnenderweise den Titel Maqāsid al-falāsifa: Lehren der Philosophen. Darin schreibt al-Ghazālī, dass er diese Darstellung verfasst hat, um die Theorien der Philosophen zunächst als Vorbereitung zu erklären und sodann in einem weiteren Schritt zu widerlegen. Im Tahāfut findet sich allerdings kein Verweis auf Maqāsid.
Das zweite Werk ist eine Darstellung der Logik von Ibn Sīnā unter dem Titel Miʿyār al-ʿilm: Richtmaß des Wissens. al-Ghazālī erachtete diese Logik für philosophisch neutral und gebrauchte sie als bloßes Instrument zur Gewinnung von Wissen, ohne ihre metaphysischen Voraussetzungen zu untersuchen, womöglich sogar ohne sich auch nur ihrer bewusst zu sein. Nicht zufällig verfasste al-Ghazālī sie als Anhang zum Tahāfut, in dessen Einleitung er sich dazu bekennt, die Logik der Philosophen selbst zu verwenden, um diese zu widerlegen, was freilich noch nicht als Übernahme schlechthin verstanden werden darf.
Das dritte Werk plante al-Ghazālī als Fortsetzung des Tahāfut. Es ist eine Darstellung der aschʿaritischen Lehre und trägt den Titel al-Iqtisād fī al-iʿtiqād: Die Mäßigung im Glauben. Der Tahāfut diente der Kritik und Widerlegung, der Iqitisād der Entfaltung und Darlegung der Lehre.
Die Kritik im Tahāfut richtete sich in erster Linie gegen das Denken von al-Fārābī (gest. 950) und Ibn Sīnā (gest. 1037), die beide die griechische Philosophie in Gestalt von Platon und Aristoteles in Verbindung mit zahlreichen Elementen des Neoplatonismus aufgriffen und im Kontext der islamischen Kultur fortführten. Die Unterschiede zwischen ihnen sind für al-Ghazālīs Kritik nicht von erheblicher Bedeutung, da sich diese vorwiegend gegen Thesen richtet, die beiden gemeinsam sind, und wenn dies nicht der Fall sein sollte, so zielt die Kritik letztlich auf Ibn Sīnā, der seine arabischen Vorgänger in Größe und Wirkung deutlich überragte.
Die im Tahāfut behandelten zwanzig Thesen gliedern sich in zwei Teile. Der erste Teil umfasst sechzehn Erörterungen auf dem Gebiet metaphysischer Fragen. Darin wird zum Beispiel die These von der anfangslosen Ur-Ewigkeit der Welt diskutiert. Zum zweiten Teil gehören die restlichen vier Themen, die sich auf die Physik oder Naturphilosophie beziehen. Dieser Teil beginnt mit der berühmten Kritik an der Kausalität und widmet sich dann der Theorie von der Seele sowie der Frage der körperlichen Auferstehung. Die Einteilung in metaphysische und naturphilosophische Thesen stammt von al-Ghazālī selbst.
Die Abhandlung über die Theorie der Ur-Ewigkeit der Welt bildet das längste Kapitel das Tahāfut und lässt charakteristische Züge der Kritik der Philosophie von al-Ghazālī deutlich hervortreten. Im Zentrum der Debatte steht die Frage nach dem Wesen des göttlichen Wirkens. al-Ghazālī stellt die Behauptung der Philosophen dar, dass die Welt eine notwendige Wirkung einer ewigen Ursache sei und daher selbst ewig sein müsse. Es geht letztlich um die Frage, ob Gott kraft der Notwendigkeit Seines Wesens oder kraft Seines Willens wirkt bzw. handelt. al-Ghazālī geht davon aus, dass die Lehre von der Ewigkeit der Welt darauf hinausläuft, den Willen Gottes zu verneinen. Um diese Lehre zu begründen, müssten die Philosophen beweisen, dass es unmöglich ist, eine Welt durch einen Willen in der Zeit zu erschaffen. al-Ghazālī zeigt aber auf, dass ihnen dies nicht gelingt. Damit bleibt die Gegenthese von der Erschaffung der Welt in der Zeit als Möglichkeit bestehen und die These von der Ewigkeit der Welt zumindest unbewiesen. Und das ist, was al-Ghazālī zeigen wollte.
Was Ibn Sīnās Theorie über die Seele, welche die körperliche Auferstehung leugnet, betrifft, so zeigt al-Ghazālī auch hier wieder in einer gründlichen Argumentation auf, dass die zugrunde liegende Theorie von der Immaterialität der Seele nicht bewiesen ist. Es gibt also keinen Grund, die ausdrücklichen Aussagen des Koran über die körperliche Auferstehung zu bestreiten. Sie müssen daher in ihrer äußeren Bedeutung angenommen werden und bedürfen keiner weiteren Interpretation und Umdeutung.
Und hiermit kommen wir in unserem Zusammenhang ins Zentrum des Interesses. Denn darin ist bereits ein wesentlicher Bestandteil der Regel der Interpretation, des qānūn at-taʾWīl, zum Ausdruck gebracht, der sich nach al-Ghazālī grob, in einer ersten Annäherung etwa so verstehen lässt:
Den Ausgangspunkt des Verständnisses der Offenbarung bildet die äußere Bedeutung ihrer Aussagen. Gibt es keinen zwingenden Grund, ist eine darüber hinaus gehende Interpretation nicht erforderlich oder sogar abzulehnen. Eine Interpretation, die von der äußeren Bedeutung auf die allegorische, bildliche oder metaphorische Ebene übergeht, ist nur dann nötig, wenn bewiesen werden kann, dass der Inhalt von Aussagen, die in ihrer äußeren Bedeutung verstanden werden, unmöglich ist. Welche Formen des Beweises al-Ghazālī dabei für gültig erachtet, ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage, doch sicherlich gehört dazu auch der Beweis im strengen Sinne der aristotelischen Logik, der in der Auseinandersetzung mit den arabischen Philosophen, welche die griechische Tradition fortführen, allemal im Vordergrund steht. Dieses Kriterium des Beweises der Unmöglichkeit als Voraussetzung für den Übergang zur allegorischen Interpretation liegt der gesamten Argumentation des Tahāfut zugrunde.
al-Ghazālī legt seine Absicht, die er beim Schreiben des Tahāfut verfolgt, in der Vorrede zum Werk ausdrücklich dar. Er verurteilt darin scharf »eine Gruppe«, die sich »völlig von den Zügeln der Religion gelöst« und »einen anderen Weg als den der Religion des Islam eingeschlagen« hat. Ihre Ablehnung der islamischen Lehren und Gebote geht so weit, dass sie sich vom Islam abwenden. Den Grund dafür erkennt al-Ghazālī darin, dass sie so »hochtönende Namen wie Sokrates, Hippokrates, Platon, Aristoteles und dergleichen« sowie die übertriebenen Beschreibungen von ihren vermeintlich überragenden geistigen Fähigkeiten hörten und sich davon derart beeindrucken ließen, dass sie zu bloßen Nachahmern dieser Philosophen und deren Nachfolger wurden, ohne sich wirklich mit deren Denken zu befassen. al-Ghazālī kommentiert: »Welchen Rang in Gottes Welt gibt es, der niedriger ist als der Rang desjenigen, der sich selbst mit der Aufgabe der Wahrheit, die traditionell geglaubt wird, durch die eilfertige Annahme des Falschen als wahr schmückt, indem er es ohne (verlässliche) Überlieferung und Verifikation anerkennt?« (Tahāfut, S. 2; alle Verweise beziehen sich auf die oben genannte Ausgabe von Marmura.)
Angesichts dessen, so al-Ghazālī, hat er »sich zur Aufgabe gemacht, dieses Buch zu schreiben als Widerlegung der alten Philosophen, um die Inkohärenz ihrer Überzeugungen und den Widerspruch ihrer Worte in Fragen bezüglich der Metaphysik aufzuzeigen«. Und al-Ghazālī will »zugleich ihre Lehre so, wie sie tatsächlich ist, darstellen, um denjenigen, die den Irrglauben (ilhād) durch Nachahmung annehmen, klarzumachen, dass alle bedeutenden Denker in Gegenwart und Vergangenheit darin übereinstimmen, an Allah und den Letzten Tag zu glauben.« (S. 3)
In der darauf folgenden Einleitung verdeutlicht al-Ghazālī, dass seine Kritik nicht gegen die Mathematik, Astronomie und Logik der Philosophen gerichtet ist, die er für metaphysisch neutral hält, sondern nur gegen solche Lehren, die mit den Grundsätzen des Islam in Konflikt stehen. Seine Aufgabe sieht er hierbei nicht darin, selbst eine bestimmte Lehre zu vertreten. Sie beschränkt sich vielmehr darauf, lediglich die Philosophen zu widerlegen, indem er aufzeigt, dass diejenigen ihrer Thesen, die mit bestimmten Lehren des Islam nicht vereinbar sind, im Gegensatz zu den von ihnen erhobenen Ansprüchen nicht bewiesen sind. Als Kriterium für die Gültigkeit eines Beweises bedient al-Ghazālī sich hier der Bedingungen, welche die Philosophen selbst für die richtige Beweisführung vor allem in ihren Werken über die Logik aufgestellt haben. Es handelt sich also in erster Linie um eine immanente Kritik der Philosophie mit den ihr eigenen Instrumenten nach den von ihr selbst aufgestellten Kriterien.
al-Ghazālī erkannte aus muslimischer Perspektive die Gefahren, die von der griechischen Philosophie und der von ihr abgeleiteten vermeintlich islamischen Philosophie für die Glaubenslehre und Lebensweise (dīn) des Islam ausgingen, und bemühte sich daher um deren Schutz und Verteidigung. Dies war sicherlich einer seiner Beweggründe für die Widerlegung bestimmter Thesen der falāsifa. Darüber hinaus war es ihm als Denker, der nach sicherem Wissen strebte, auch daran gelegen, zu prüfen, ob solches Wissen in der Philosophie zu finden ist. Deshalb unternahm er über mehrere Jahre hinweg ausführliche und gründliche Studien, deren Ergebnisse er in seinem großen Werk über die Absichten, Anschauungen und Lehren der Philosophen (Maqāsid al-falāsifa) darstellte.
Seine Untersuchungen führten ihn zu der Erkenntnis, dass im philosophischen Denken die von ihm erstrebte Gewissheit nicht zu finden war. Er musste einsehen, dass es den Philosophen nicht gelang, ihre Thesen wirklich zu beweisen. Und ohne hinreichende Beweise reduzierten sich diese auf unbegründete, bloße Behauptungen. Darauf wollte al-Ghazālī nun mit der breit angelegten Kritik des Tahāfut aufmerksam machen.
Allerdings behielt er bei all seiner Kritik die Maßstäbe und Methoden der Philosophen selbst bei. In welchem Ausmaß und Sinn dies genau geschieht, ist nicht immer leicht zu erkennen. Aber in mancher Hinsicht kann es kaum Zweifel geben. So hält er ganz ausdrücklich an Mathematik, Logik und vielen Begriffen und Methoden der aristotelischen Wissenschaftstheorie fest und betont wiederholt deren Neutralität gegenüber der Lehre des Islam.
Wie konnte es dazu kommen? Warum hat er keinen Blick für die metaphysischen Voraussetzungen dieser Denkformen gehabt? Was hat ihn daran so fasziniert, dass er derart verblendet wurde? War es der Begriff der Vernunft und das damit verbundene Erkenntnisideal? War es das Streben nach absoluter Gewissheit, das nur durch diese Methoden zu befriedigen zu sein schien?
Können wir Aufschluss darüber in seiner autobiographischen Darlegung al-Munqidh min adh-dhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum) finden, in dem er doch selbst eben dieses Erkenntnisideal zutiefst in Zweifel zieht?
Darauf können wir an dieser Stelle nicht näher eingehen. Wir wollen aber kurz al-Ghazālīs Position, wie sie sich in der Gedankenführung des Tahāfut niederschlägt, ganz allgemein skizzieren.
Er geht zunächst als Muslim von den Aussagen der Offenbarung aus. Sollten diesen Aussagen Behauptungen der Philosophen widersprechen, so gilt es, diese zu prüfen. Überstehen sie die Prüfung aufgrund ihrer mangelhaften Begründung, Inkohärenz oder inneren Widersprüchlichkeit nicht, so hat sich der vermeintliche Widerspruch erledigt. In diesem Fall ist die Aussage der Offenbarung am Maßstab der rationalen Beweisführung, also der sogenannten »Vernunft«, gemessen zumindest möglich, da ihre Unmöglichkeit durch einen Widerspruch mit ihr ja nicht erwiesen werden konnte. Es spricht somit nichts dagegen, die vom Zeugnis der Offenbarung bestätigte Aussage anzunehmen.
Sollte es sich jedoch herausstellen, dass eine These der Philosophen den strengen Kriterien der korrekten Beweisführung, die er großteils der aristotelischen Wissenschaftstheorie entnimmt, genügt, in diesem Sinne also sicheres Wissen darstellt, so muss die betreffende Aussage der Offenbarung einer Interpretation unterzogen werden, welche die Bedeutung dieser Stelle mit der bewiesenen These in Einklang bringt und dadurch den Widerspruch als bloß scheinbar erweist. Wenn also die Unmöglichkeit der Aussage der Offenbarung durch »rationale« Beweisführung, also die sogenannte »Vernunft« erwiesen ist, muss sie anders gedeutet werden, um dadurch den Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung aufzuheben. Diese Deutung verlangt einen Übergang von der äußeren Bedeutung der betreffenden Aussage, die zunächst den Ausgangspunkt für das Verstehen gebildet hatte, zu einer bildlichen, allegorischen oder metaphorischen Bedeutung. Diese Reinterpretation ist das, was al-Ghazālī unter taʾWīl versteht. Und das Verfahren insgesamt ist nichts anderes als die Anwendung der Regel der Interpretation, des qānūn at-taʾWīl.
al-Ghazālī verfolgt damit das Ziel, Vernunft und Offenbarung miteinander in Einklang zu bringen. Deren Verhältnis beschreibt er in al-Iqtisād fī al-iʿtiqād mit einer bemerkenswerten Metapher, die es verdient, angeführt zu werden. Das folgende Zitat ist dem Buch Al-Ghazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie von Muhammad ʿAbd Al-Hadi Abu Ridah entnommen. Die Anmerkungen in runden Klammern stammen von Abu Ridah. al-Ghazālī schreibt also in al-Iqtisād fī al-iʿtiqād über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung:
Wer die Offenbarung und die Vernunft nicht miteinander in Einklang bringt, geht ganz sicher fehl und verstrickt sich in die Schlingen des Irrtums, denn die Vernunft gleicht dem gesunden Auge und die Offenbarung (wörtlich: der Koran) der scheinenden Sonne. Der Sucher, welcher auf das eine verzichtet und sich mit dem anderen begnügt, ist sicherlich dumm. Wer nämlich auf die Vernunft verzichtet und sich mit dem Licht der Offenbarung begnügt, gleicht einem, der sich nach der scheinenden Sonne richtet, aber die Augen schliesst; es gibt keinen Unterschied zwischen ihm und einem Blinden (und wer sich von der Offenbarung abwendet und sich mit der Vernunft begnügt, ist wie einer, der gesunden Auges ist, sich aber in Dunkelheit befindet; er ist auch als ein Blinder anzusehen. [Fußnote: Dies ist der andere Teil des Vergleiches, den Ghazālī nicht ausdrücklich erwähnt.]) Wenn die Vernunft mit der Offenbarung vereint wird, ist sie wie ein Licht, das ein anderes Licht noch heller macht; und derjenige, der sich nur mit einem von beiden begnügt, ist das Opfer einer gefährlichen Täuschung.3
Vorgeschichte des Tahāfut
al-Ghazālī beschreibt in seiner Schrift al-Munqidh min adhdhalāl (Der Erretter aus dem Irrtum), in der er seinen Denkweg rückblickend darstellt, dass er nach dem Studium des Kalām dazu übergegangen ist, sich mit der Philosophie zu beschäftigen. Er ist davon überzeugt, dass erst eine vertiefte Untersuchung einer Wissenschaft zu einer gründlichen und tragfähigen Kritik derselben befähigt:
Nachdem ich das Studium der islamischen Scholastik [kalām] beendet hatte, begann ich, mich mit der Philosophie zu beschäftigen. Ich erfuhr mit Gewißheit, daß man die Fäulnis einer Wissenschaft nicht erkennen kann, solange man nicht in die Tiefe ihrer Grundlagen eingedrungen ist, bis man dabei dem besten ihrer Gelehrten gleichkommt und ihn übertrifft. In dieser Lage wird man erkennen, was jener Gelehrte selbst von dieser Wissenschaft an Tiefe und Gefahr nicht entdeckt hat. Erst dann könnte die Behauptung von der Fäulnis jener Wissenschaft sich als richtig erweisen.4
In diesem Bestreben scheint er eine Ausnahme gewesen zu sein, denn er sagt über den Zustand der Erforschung der Philosophie unter den Gelehrten des Kalām:
Ich habe keinen einzigen Gelehrten des Islam gefunden, der sich mit dieser Aufmerksamkeit und diesem Eifer dem Studium der Philosophie widmete. Vielmehr gab es in den Büchern der islamischen Scholastiker [mutakallimūn] dort, wo sie sich mit den Antworten auf die Philosophen beschäftigen, nichts außer unzusammenhängenden und komplizierten Worten, deren Widersprüchlichkeit und Falschheit eindeutig ist.5
Aus dieser Lage zog al-Ghazālī den Schluss, sich auf eine Kritik der Philosophie intensiv vorbereiten zu müssen. Er widmete sich daher mit großem Eifer dem autodidaktischen Studium ihrer Lehren:
Daraufhin erkannte ich, daß die Zurückweisung einer Lehrmeinung, bevor man sie verstanden und ergründet hat, ein Herumtappen im Dunkeln ist. Deshalb strengte ich mich an, mir diese Wissenschaft aus ihren Quellen durch die bloße selbständige Lektüre, ohne Hilfe eines Lehrers anzueignen. Diesem widmete ich mich in der Zeit, in der ich mich von meiner üblichen Autorentätigkeit, der Lehre in den religiösen Wissenschaften und der Verpflichtung frei war, dreihundert Studenten in Bagdad zu unterrichten.6
Diese Beschäftigung mit der Philosophie dauerte insgesamt etwa drei Jahre lang (1093-1095), bis al-Ghazālī schließlich den Eindruck gewonnen hat, sich die für eine Kritik nötigen Kenntnisse angeeignet zu haben:
Der erhabene Gott ließ mich allein durch die Lektüre während dieser mir abgestohlenen Zeit den höchsten Grad ihrer (philosophischen) Wissenschaft in weniger als zwei Jahren erkennen. Nachdem ich all diese verstanden hatte, hörte ich nicht auf, darüber noch ungefähr ein Jahr lang nachzudenken; ich bewegte es in meinen Gedanken hin und her und überprüfte noch einmal seine Tiefen und Gefahrstellen, bis ich ein unbezweifelbares Wissen darüber erlangte, worin die Täuschung und die Verfälschung besteht, was davon wahr ist und was bloße Einbildung darstellt.7
Aus diesen Worten geht nicht nur deutlich hervor, wie ernst al-Ghazālī seine Aufgabe nahm und mit welcher Gründlichkeit er sich darauf vorbereitete, sondern auch, dass es ihm dabei um eine ernsthafte Prüfung einzelner Thesen auf ihren Wahrheitsgehalt hin und keineswegs um eine pauschale Verurteilung oder gar blindwütige Zerstörung der Philosophie insgesamt ging, was vor nicht allzu langer Zeit noch von den meisten Orientalisten unterstellt wurde. al-Ghazālī war vielmehr an einer realistischen und eingehenden Prüfung, Einschätzung und Beurteilung auf der Grundlage genauer Kenntnisse gelegen, was die Übernahme des für richtig Befundenen nicht nur nicht ausschloss, sondern geradezu beförderte, wobei dies allerdings keineswegs ins andere Extrem einer unkritischen Übernahme und blinden Nachahmung der Philosophie umschlagen muss, wie es in jüngerer Zeit von einer ganzen Reihe von Orientalisten zwar im Widerspruch zu ihrer eigenen Tradition, aber unter Beibehaltung des dichotomischen Bewertungsschemas auf der Grundlage eines unkritisch vorausgesetzten Vernunftbegriffs der philosophischen Tradition unterstellt wird.
Daher sollte die erste Frucht dieser Bemühungen al-Ghazālīs auch nicht eine Widerlegung, sondern eine genaue Darstellung der Lehren der Philosophen sein, die wohl im Jahr 1094 unter dem Titel Maqāsid al-falāsifa erschienen ist. al-Ghazālī verfolgte damit die Absicht, eine getreue Darstellung der Philosophie, insbesondere des Ibn Sīnā, zu verfassen, die zugleich als Vorstudie zu einer künftigen Widerlegung dienen konnte. Dass er die Anschauungen der falāsifa selbst nicht teilte, brachte er in der Einleitung des Maqāsid zum Ausdruck.
In der ersten lateinischen Übersetzung, die schon im 12. Jahrhundert in Toledo auf der spanischen Halbinsel erstellt wurde, ließ man jedoch diese Einleitung weg, so dass al-Ghazālī im lateinischen Westen, der erst durch dieses Werk mit der Philosophie des Ibn Sīnā, den die Lateiner Avicenna nannten, vertraut gemacht wurde, lange Zeit als herausragender Vertreter eben der Philosophie galt, die er doch in Wirklichkeit zu widerlegen trachtete. In der langen Geschichte des Orientalismus ist das Pendel also schon öfter umgeschlagen, so dass sich die Frage aufdrängt, ob die heutigen Orientalisten wieder da angelangt sind, wovon ihre Altvorderen in der Bewertung al-Ghazālīs einst ausgegangen sind.
Als zweite Frucht dieser gedanklichen Arbeit al-Ghazālīs von drei Jahren wurde endlich im Jahr 1095 die Widerlegung der Philosophen unter dem Titel Tahāfut al-falāsifa veröffentlicht.
Was bedeutet »tahāfut al-falāsifa«?
al-falāsifa ist eine arabische Lehnübersetzung aus dem Griechischen und bedeutet »die Philosophen«. Der Singular lautet faylasūf (Philosoph). Und griechisch philosophia wurde mit falsafa übertragen.
Im geschichtlichen Kontext von al-Ghazālī sind mit falāsifa aber nicht schlechthin alle Philosophen gemeint, sondern vor allem einerseits die alten griechischen Philosophen (mutaqaddimūn) wie Sokrates, Platon und Aristoteles sowie andererseits die späteren arabischen Philosophen (mutaʾakhkhirūn) wie al-Kindī, al-Fārābī und Ibn Sīnā.
Durch die besondere Weise, in der die Werke der griechischen Philosophie ins Arabische übersetzt worden sind, wurde dieser eine bestimmte Gestalt verliehen. Was als griechische falsafa galt, war aristotelische Philosophie mit einer gewissen neoplatonischen Färbung. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass ein Werk des Neoplatonikers Plotin, nämlich ein Teil seiner Enneaden, fälschlich dem Aristoteles zugeschrieben wurde und als »Theologie des Aristoteles« in Umlauf war.
Diese Mischung aus aristotelischem und neoplatonischem Denken wurde sodann von den arabischen falāsifa weiter entwickelt. al-Fārābī und Ibn Sīnā stimmen auf dieser Grundlage daher in vielem überein, auch wenn es einige Unterschiede gibt. Diese sind aber für die Kritik von al-Ghazālī nicht von großer Bedeutung, da er sich vor allem auf die reifste Gestalt dieses Denkens bezieht, nämlich auf Ibn Sīnā.
tahāfut hat verschiedene Bedeutungen und wurde daher auch unterschiedlich übersetzt. Die lateinische Übersetzung wählte beispielsweise destructio (Zerstörung). Die heute wohl verbreitetste Übertragung dürfte »Inkohärenz« sein.
Die lexikalische Bedeutung der Wurzel hafata, von der tahāfut abgeleitet ist, ist: stürzen, zusammenstürzen, fallen, leichtfertig sprechen, Unsinn reden, Zusammenbruch erleiden, sich selbst widerlegen.
Ein Aspekt dieser Bedeutungen verdient besondere Erwähnung:
Der lexikalische Sinn des Wortes »Tahāfut« ist […] bezüglich der Schmetterlinge, dass sie sich ins Feuer stürzen […] In einem bekannten Ausspruch des Propheten heisst es, dass die Menschen sich in die Hölle stürzen (jatahāfatūn) wie Schmetterlinge ins Feuer.8
Abu Ridah gibt in seiner Untersuchung des Tahāfut auf der Grundlage der lexikalischen Bedeutung des Wortes tahāfut eine kleine Auflistung der möglichen Bedeutungen des Titels Tahāfut al-falāsifa:
1) »Schwäche der Philosophen«, weil sie nicht imstande sind, ihre Lehren zu beweisen.
2) »Widerspruch der Philosophen oder der (Systeme) der Philosophen«, weil ihre Lehren nicht in Harmonie miteinander stehen.
3) »Leeres Geschwätz der Philosophen«, weil ihre Lehren unbewiesene Behauptungen darstellen.
4) »Unüberlegtheit der Philosophen«, weil sie unbewiesenen gefährlichen Lehren folgen.
5) »Sturz der Philosophen oder ihrer Systeme«, weil ihre Lehren unbegründet und widerspruchsvoll sind.
Alle diese Bedeutungen lassen sich durch die Äußerungen Ghazālīs oder durch den allgemeinen Charakter seines Buches gegen die Philosophen begründen.9
Aufbau des Tahāfut
Es sei in Erinnerung gerufen, dass ich mich bei den Angaben zum Tahāfut auf die englische Übersetzung von Michael E. Marmura beziehe, die unter dem Titel The Incoherence of the Philosophers erschienen ist und dankenswerterweise auch das gesamte arabische Original reproduziert. Denn eine deutsche Übersetzung gibt es bis heute nicht.
al-Ghazālī hat den Tahāfut al-falāsifa in drei klar voneinander getrennte Teile gegliedert.
Der erste Teil besteht aus fünf kurzen Einleitungen von jeweils wenigen Seiten (S. 1-11). Die erste trägt keinen Titel, wohingegen die folgenden vier jeweils mit muqaddima (Einleitung) überschrieben sind. Am Ende der letzten muqaddima bringt al-Ghazālī ein Inhaltsverzeichnis, in dem alle behandelten Themen aufgelistet sind.
Der zweite Teil setzt sich aus zwanzig Kapiteln zusammen. Jedes Kapitel ist mit masʾala (Frage, Streitfrage, Problem) und der Anführung des darin behandelten Themas überschrieben. Das erste Thema lautet zum Beispiel: »Über die Widerlegung ihrer Lehre von der Ur-Ewigkeit der Welt«. Die Länge der Kapitel ist sehr unterschiedlich. Das erste und längste hat 35 Seiten, die kürzesten haben nur 3-4 Seiten.
Die Fragen 17-20 hat al-Ghazālī durch eine kleine Einleitung gesondert abgesetzt, in der er sie den tabīʿiyyāt (Physik oder Naturphilosophie im aristotelischen Sinne) zuordnet. Dadurch trennt er sie von den vorausgehenden Kapiteln, in denen Fragen der ilāhiyyāt (Metaphysik) erörtert werden.
Den dritten und letzten Teil bildet die khātima al-kitāb, das Schlusswort des Buches, das nur eine Seite lang ist. So kurz dieser Abschnitt ist, so berühmt ist er geworden, wodurch die Wirkungsgeschichte des Tahāfut weithin überschattet wurde.
In ihm antwortet al-Ghazālī auf die Frage, die er eine nicht näher bezeichnete Person stellen lässt (»wenn jemand sagt«), ob es sich bei den dargestellten Lehren der falāsifa um kufr (Nicht-Islam) handelt, also ob diese im Widerspruch zum Islam stehen. al-Ghazālī erwidert darauf, dass er in der Tat drei der Thesen als kufr beurteilt, während die übrigen siebzehn lediglich als bidʿa (problematische Neuerung) einzuschätzen sind. Letztere bewegen sich mithin im Rahmen dessen, was auch von anderen islamischen Gruppen wie der muʿtazila, die ausdrücklich genannt wird, vertreten wurde.
Die drei als kufr bewerteten Lehren sind: die Ur-Ewigkeit der Welt; Gottes Nicht-Wissen der »geschehenden Einzelheiten von den Individuen (Einzeldingen)«; die Leugnung der leiblichen Auferstehung.
Themen des Tahāfut
al-Ghazālī behandelt im Tahāfut in den zwanzig Kapiteln des Hauptteils jeweils ein Thema, das er als masʾala (Frage) bezeichnet und zu Anfang jedes Kapitels als knappe These einführt. Um einen Überblick über diese Streitfragen zu ermöglichen, gebe ich sie allesamt in einer Liste wieder, die ich von Elschazli übernehme, der sie im Anmerkungsapparat zu seiner Übersetzung des Munqidh anführt. Auch wenn es dafür Anlass gäbe, verzichte ich der Einfachheit halber darauf, Änderungen vorzunehmen, was ein Eindringen in den Inhalt selbst fast unvermeidlich machen würde. Denn dafür ist an dieser Stelle vorerst kein Raum. Jedenfalls ist die folgende Liste auch so gut geeignet, einen ersten Eindruck von Art und Vielfalt der Fragen zu bieten, die al-Ghazālī im Tahāfut verhandelt.
Die zwanzig Thesen (masʾala), die al-Ghazālī in seiner Widerlegung der falāsifa erörtert, sind also nach Elschazli folgende:
1. Widerlegung von der Lehre der Anfangslosigkeit der Welt;
2. Widerlegung ihrer Lehre von der Ewigkeit der Welt, der Zeit und der Bewegung;
3. Erörterung ihrer vorgetäuschten Aussage, Gott sei Schöpfer der Welt und die Welt sei von ihm gemacht; daß dies bei ihnen eine bloße Metapher ohne Wahrheitsgehalt sei;
4. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis für die Existenz des Schöpfers der Welt zu erbringen;
5. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis darüber zu führen, daß nur ein Gott sei und daß es nicht zwei Wesen geben könne, deren Existenz notwendig und ohne Ursache sei;
6. Widerlegung ihrer Lehre, Gott habe keine Eigenschaften, wie etwa Allwissen und Allmacht;
7. Widerlegung ihrer Aussage, daß es nicht möglich sei, daß der Erste mit einem Anderen an einem Genus teilhabe, und er sich von ihm im Hinblick auf die Spezies unterscheidet;
8. Widerlegung ihrer Aussage, daß der Erste einfach (ohne Eigenschaften) existiere, d.h. daß er reine Existenz sei;
9. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis zu erbringen, daß der Erste unkörperlich sei;
10. Erörterung ihrer Unfähigkeit, den Beweis zu führen, daß die Welt einen Schöpfer und eine Ursache habe;
11. Darlegung der Unfähigkeit derjenigen unter ihnen (der Philosophen), die der Ansicht sind, der Erste kenne zwar anderes außer sich selbst, aber nur Gattungen und Arten im universellen Sinne;
12. Über ihre Unfähigkeit, den Beweis zu führen, daß Er auch sich selbst kenne;
13. Widerlegung ihrer Aussage, daß Gott – erhaben sei Er – keine singularia kenne;
14. Über ihre Unfähigkeit, den Beweis zu erbringen, daß der Himmel ein Lebewesen sei, das Gott in freiwilliger Bewegung gehorche;
15. Widerlegung ihrer Aussage, daß es für die Himmelsbewegung einen Zweck gebe;
16. Widerlegung ihrer Aussage, daß die Seelen der Himmel um alle in dieser Welt geschehenden singularia wüßten;
17. Die Verknüpfung zwischen dem, was man gewöhnlicherweise als Ursache bezeichnet, und dem, was man für die Wirkung hält, ist für uns nicht notwendig;
18. Die Untauglichkeit rationaler Beweisführung darüber, daß die menschliche Seele als geistige Substanz in sich selbst existiere, keinen Sitz im Körper habe und weder selbst Körper noch einem Körper eingeprägt sei und weder mit einem Körper in Verbindung stehe noch von ihm getrennt sei;
19. Widerlegung ihrer Aussage, daß die menschlichen Seelen nicht vergehen könnten, nachdem sie einmal existierten, und daß sie ewig seien und ihre Vergänglichkeit unvorstellbar sei;
20. Beweisführung, daß sie (die Philosophen) zu Unrecht die Auferstehung der menschlichen Körper, die Rückkehr der Seelen in die Körper, die materielle Existenz der Hölle, des Paradieses, der Paradiesjungfrauen und alles anderen leugneten, was den Menschen im Jenseits versprochen ist.10
Zu den Einleitungen des Tahāfut
Zur Einführung
al-Ghazālī eröffnet den Tahāfut mit einführenden Worten, die er nicht mit einer Überschrift versieht, im Gegensatz zu den folgenden vier Einleitungen, die er als muqaddima betitelt. Wir wollen zunächst diese Einführung näher betrachten.
al-Ghazālī beginnt die inhaltliche Erörterung mit einer Darstellung seiner Beweggründe, den Tahāfut zu verfassen. Den Ausgangspunkt bildet die Beschreibung einer »Gruppe«, die sich von den Lehren und Geboten des Islam gelöst hat:
Ich habe eine Gruppe (tāʾifa) gesehen, die an ihre Überlegenheit gegenüber Gefährten und Kameraden kraft ihres größeren Begriffsvermögens und Intellektes glaubten, die islamischen Pflichten bezüglich der gottesdienstlichen Handlungen verwarfen, die Riten der Religion (dīn) hinsichtlich der Verrichtung der Gebete und der Vermeidung der verbotenen Dinge verachteten, die gottesdienstlichen Handlungen des Religionsgesetzes (scharʿ) und seiner Grenzen (hudūd) herabsetzten und angesichts seiner Gebote und Beschränkungen nicht haltmachten. Im Gegenteil, sie haben die Zügel der Religion durch verschiedenerlei Spekulationen abgeworfen, wobei sie einer Schar folgten, »die andere vom Pfad Gottes abwenden und versuchen, ihn krumm erscheinen zu lassen – da sie es sind, sie, die sich weigern, die Wahrheit des kommenden Lebens anzuerkennen!« [Koran 11:19] (Tahāfut, S. 1-2)
al-Ghazālī hat demnach eine »Gruppe« gesehen, die er nicht näher benennt, aber eindringlich beschreibt. Dass damit die falāsifa gemeint sind, dürfte außer Zweifel stehen, auch wenn hier noch nicht eindeutig zu erkennen sein sollte, wer genau damit gemeint ist.
Die erste Eigenschaft, die al-Ghazālī dieser »Gruppe« zuschreibt, ist ihre vermeintliche »Überlegenheit«. Denn sie waren davon überzeugt, dass sie ihren Mitmenschen überlegen waren, da sie über einen größeren Intellekt verfügten.
Sodann beschreibt al-Ghazālī weitere Eigenschaften dieser Leute, die sich darin zusammenfassen lassen, dass sie die islamischen Regeln, Gesetze und Gebote missachteten und herabsetzten, also kurzum »die Zügel der Religion (dīn)« abwarfen. Sie waren also offenbar der Auffassung, dass diese Gebote für sie nicht gültig und bindend waren. Wie sind sie dazu gekommen? »Durch verschiedenerlei Spekulationen«, so heißt es bei al-Ghazālī.
Ein bestimmtes Denken hat sie mithin zu dem zuvor beschriebenen Handeln, der Verwerfung der islamischen Praxis, geführt. Welches Denken? al-Ghazālī nennt es hier »Spekulationen« (dhunūn). In der Übersetzung von dhunūn mit »Spekulationen« folge ich der ersten englischen Übertragung des Tahāfut von Kamali, da damit der von al-Ghazālī gemeinte Bedeutungskranz wohl am besten getroffen wird. dhann (Pl. dhunūn) trägt etwa folgende Bedeutungen: Meinung, Annahme, Ansicht, Vermutung, Mutmaßung. Einerseits kann es sich nicht um völlig unbestimmte und vage Vermutungen handeln, da die dhunūn ja im Kontext des »größeren Begriffsvermögens« der falāsifa zu verstehen sind; andererseits soll gleichzeitig ihr subjektiver und zweifelhafter Charakter betont werden. Und da es um falsafa geht, drängt sich der philosophische Begriff der Spekulation geradezu auf, der in seinem metaphysischen Gebrauch die höchste Erkenntnisform bezeichnet und doch zugleich in seinem alltäglichen Gebrauch die Assoziation der auf bloßer Mutmaßung basierenden Behauptung weckt. Genau das scheint mir zu sein, was al-Ghazālī an dieser Stelle damit zum Ausdruck bringen wollte: Die falāsifa sind durch ihre philosophischen Spekulationen dazu verführt worden, die »Zügel der Religion« fallenzulassen und einem Pfad zu folgen, der nicht der Pfad Gottes ist.
Denn sie folgten dabei einer Schar – sagt al-Ghazālī, indem er einen Teil eines Koranverses zitiert -, von der sie vom Pfad Gottes abgewendet wurden. Und das tat diese Schar, indem sie den Pfad Gottes als krumm erscheinen ließ. Das muss wohl so verstanden werden, dass die falāsifa ihre Spekulationen von dieser Schar übernahmen, die vorgaben, in ihrem Denken über einen eigenen Pfad, jedenfalls über einen anderen Pfad als den Pfad Gottes, zu verfügen, der sich im Lichte ihres »größeren Intellektes« als überlegen erweist, eben den Pfad der falsafa.
Und dieser philosophische Pfad des überlegenen Intellekts ist den intellektuell minderbemittelten Mitmenschen nicht zugänglich, für die – das sagt al-Ghazālī hier noch nicht, lässt sich aber erschließen – die Religion (dīn) bestimmt ist. Die philosophische Religion (falsafa) steht also in einem gewissen, mehr oder weniger gegensätzlichen Verhältnis zur Religion (dīn) des Islam, das hier noch nicht näher erläutert wird.
Und was liegt dem Denken der falāsifa zugrunde? Ihre Weigerung, die Wahrheit des kommenden Lebens anzuerkennen! Die philosophische Religion hat also offensichtlich eine ganz andere Konzeption dessen, was das gemeine Leben übersteigt. Darauf wird noch zurückzukommen sein, insbesondere auch was das Schlusswort betrifft.
al-Ghazālī setzt nun seinen Gedankengang fort, indem er sich näher mit den Grundlagen dieser philosophischen Religion befasst:
Es gibt keine Grundlage für ihren kufr (Nicht-Islam, Ablehnung des Islam) außer der Nachahmung (taqlīd) dessen, was sie hören und womit sie vertraut sind, wie die Nachahmung der Juden und Christen, da ihre Erziehung und die ihrer Kinder einem anderen Weg gefolgt ist als dem der Religion des Islam (ghayr dīn al-islām). (S. 2)
Zuerst bestimmt al-Ghazālī die Beschreibung des Denkens der genannten »Gruppe« genauer, indem er es als kufr bezeichnet. kufr wird oftmals mit Unglauben übersetzt, so hier auch von Marmura, was jedoch meist nicht nur ungenau, sondern falsch ist. Denn kufr kann sehr wohl für einen Glauben stehen, der aber eben nicht der islamische ist. Daher wäre es angebracht, unter kufr den Gegensatz zum Islam oder islamischen Glauben (īmān), also den Nicht-Islam oder den nicht-islamischen Glauben zu verstehen, auch wenn dies sprachlich unschön ist.
al-Ghazālī bezeichnet daher hier gerade den Glauben der falāsifa, also ihre philosophische Religion, als kufr. Denn sie sind damit einem »anderen Weg gefolgt […] als dem der Religion des Islam«. Die Religion der falāsifa ist außerhalb der Religion des Islam (ghayr dīn al-islām), doch gleichwohl eine Religion – in Gestalt der Philosophie (falsafa).
Und worin sieht al-Ghazālī nun die Grundlage des kufr der falāsifa? In der »Nachahmung (taqlīd) dessen, was sie hören und womit sie vertraut sind«. Und durch ihre Erziehung bedingt ahmten sie eine andere Religion nach als die des Islam.
Daher trifft auch der Vergleich mit den Juden und Christen, deren Religionen zwar auf Offenbarungen zurückgehen, die jedoch auch nach der letzten Offenbarung durch den Gesandten Allāhs Muhammad (sas) entgegen der Botschaft ihrer eigenen Offenbarung und ihrer anerschaffenen, allgemein menschlichen Veranlagung (fitra) an ihren nunmehr überholten Religionen festhalten. Der Grund dafür ist das unreflektierte Verharren in ihrer Tradition, das – nach einem berühmten Hadith – durch die Erziehung vermittelt wird. Würden sie hingegen der im Koran wiederholt vorgebrachten Aufforderung nachkommen, ihre Traditionen und hergebrachten Glaubensüberzeugungen kritisch zu hinterfragen und aufzuklären, stünde ihnen der Weg zur vernünftigen Einsicht in die Wahrheit des Islam offen. So jedenfalls dürfte der eingeschobene Vergleich der falāsifa mit Juden und Christen zu verstehen sein.
al-Ghazālī sieht also die Grundlage des kufr der falāsifa in ihrer blinden Nachahmung. Auf den ersten Blick ist dies erstaunlich, da doch gerade die Philosophen für sich in Anspruch nehmen, eben nicht der Nachahmung zu folgen, sondern der selbständigen Leitung ihres Verstandes. Doch darin scheinen sie einer Täuschung zu erliegen.
Nachahmung an sich muss nicht zum Falschen führen. Sie ist für al-Ghazālī also nicht das eigentliche Problem. Nachahmung des Wahren führt zum Wahren, obschon solcherart gewonnene Erkenntnis der vollständigen Einsicht ermangeln und nicht ohne Risiken sein mag. Dem Falschen ist sie allemal vorzuziehen. Nachahmung gepaart mit Täuschung und Hochmut setzt allererst das ganze Potential an Gefahren frei.
Wenn wir noch einmal auf den ersten Absatz zurückblicken, können wir feststellen, dass al-Ghazālī dort als Grund für die Abwendung der falāsifa vom Islam das Bewusstsein ihrer Überlegenheit anführt. Und hier bringt er nun als zweiten Grund ihre Nachahmung einer nicht-islamischen Religion. Aber das eine bedingt das andere, ihr Hochmut, d.h. ihr Glaube an die Überlegenheit der philosophischen Religion die Nachahmung, und umgekehrt die unbewusste, da auf Täuschung basierende Nachahmung den Hochmut.
Das wahre Problem ist also die Nachahmung des Falschen. Aber was ist das Falsche, dem die falāsifa im Glauben, der bloßen Leitung der Vernunft zu folgen, doch in Wahrheit blind gehorchen? al-Ghazālī gibt folgende Antwort:
Der Ursprung ihres kufr ist, dass sie so hochtönende Namen gehört haben wie Sokrates, Hippokrates, Platon, Aristoteles und ihresgleichen und die Übertreibung und Fehlgeleitetheit von Gruppen von ihren Anhängern, wenn sie ihre Vernunft (ʿaql